Professor Zamorra 1060 - Simon Borner - E-Book

Professor Zamorra 1060 E-Book

Simon Borner

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Beschreibung

Läuft es wirklich endlich auf den großen Showdown in New York hinaus? Es sieht ganz so aus, als hätte Rathuul - derzeit Finn Cranston - endlich seinen Schöpfer gefunden. Doch wie der Kampf ausgeht, ist völlig offen ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Geburt der Erinnerung

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Michael Lingg

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-0813-6

www.bastei-entertainment.de

Die Geburt der Erinnerung

von Simon Borner

Gracie Mansion, New York. Zamorra wusste nicht, wie oft er den Wohnsitz des Bürgermeisters bereits betreten hatte, seit diese ganze elende Geschichte begann, seit John Roslyn und den Black Spots. Fünf Dutzend Male? Zehn? Nie war er zwanglos gekommen und nie war er mit dem Gefühl von hier aufgebrochen, einen Sieg errungen zu haben.

Höchstens einen Aufschub.

Doch das, so spürte er, als er und Sergeant Andy Sipowicz das von einer vampirischen Leibgarde bewachte Anwesen erreichten, würde sich ändern. Schon heute Nacht.

Wie sich überhaupt alles ändern würde.

Für immer …

»Im Abschied ist die Geburt der Erinnerung.«

Salvador Dalí

»Zu New York gehört man augenblicklich, nach fünf Minuten schon so sehr wie nach fünf Jahren.«

Tom Wolfe

Kapitel 1Letzte Bestellung

Das Diner lag in Poughkeepsie, in einer ruhigen und angenehmen Nachbarschaft fernab von allem Trubel. Shelley Michaels arbeitete erst seit wenigen Wochen dort, hatte den Laden und seine beinahe schon ländliche Umgebung in Upstate New York aber bereits ins Herz geschlossen. Nach zwanzig Jahren im Zentrum der Metropole namens Big Apple und Seite an Seite mit einem äußerst launischen Ehemann war sie froh um die Abwechslung, froh um die Ruhe. Manhattan fraß einen auf, wenn man nicht achtgab – in den Straßenschluchten, den U-Bahn-Schächten, im Gedränge der Passanten. Und schlechte Ehen taten ihr Übriges, einen fertigzumachen. Nun aber, frisch geschieden und bereit für ein neues Leben, genoss Shelley jeden Tag.

Bis der Typ in der Biker-Jacke das Diner betrat. Shelley hatte gerade den bis dahin letzten Gast des Abends abgefertigt und bereits anfangen wollen, die Stühle hochzustellen und den Boden zu wischen – Routine vor jedem Ladenschluss; sie war heute die Letzte, also blieb das Reinemachen an ihr hängen –, doch offiziell hatte das Diner noch eine halbe Stunde geöffnet und der Biker jedes Recht der Welt, sich hier aufzuhalten. Sofern er sich benahm, hieß das.

»Was darf’s sein?«, fragte sie ihn, als sie auf ihn zutrat. Ihr war ein wenig mulmig dabei, und das fand sie selbst albern.

Er hatte sich im hintersten Winkel des Lokals niedergelassen, in einer der bequemen Nischen, die aus mit rotem Plastik bezogenen Polsterbänken und einem Tisch bestanden. Merklich desinteressiert studierte er die in durchsichtiges Plastik eingeschweißte Karte mit den Speisen und Getränken. Vor dem Fenster wehte der Nachtwind das herbstliche Laub über den leeren, dunklen Parkplatz.

»Sir?«, hakte Shelley nach, da ihr unheimlicher Gast nicht antwortete. Sie stellte die Karaffe Wasser vor ihm ab, die sie stets mitbrachte, wenn neue Gäste kamen. Wasser ging aufs Haus. »Einen Kaffee vielleicht?«

Dann hob er den Blick, sah sie an. Und Shelley Michaels zog ein eiskalter Schauer über den Rücken. Dieser Blick … Sie kannte ihn. Oh, sogar sehr gut. Das war der Blick eines Mannes, der sich nichts sagen ließ. Der nicht zuhörte, sondern zuschlug, wenn ihm danach war. Der keinen Widerspruch duldete. Zwanzig Jahre lang hatte sie sich vor diesem Blick gefürchtet – und ausgerechnet hier, in ihrem neuen, besseren Leben und im Gesicht eines ihr völlig Fremden – sah sie ihn wieder.

Shelley wich zurück, nur einen winzig kleinen Schritt. Sie schluckte. Das mulmige Gefühl wurde zu echter, substanzieller Angst. Auch die kannte sie gut.

Bleib cool, Mädchen, hörte sie die Stimme der Überlebenskünstlerin wieder in ihrem Innern. Die imaginäre Stimme hatte ihr zwei Jahrzehnte lang geholfen, die Hölle ihrer Ehe zu überstehen. Shelley hatte gehofft, sie hinter sich gelassen zu haben, als sie ihren Mann hinter sich ließ, doch alte Gewohnheiten vergingen ganz offensichtlich nie. Scheiße. Ganz ruhig. Vielleicht hat er nicht gemerkt, dass du Schiss vor ihm hast. Vielleicht reagiert er gar nicht darauf, wenn er es nicht merkt. Spiel ihm was vor. Du kannst das, das weißt du. Du hast es immer gekonnt.

Doch der Biker war echt groß. Mindestens zwei Meter. Er hatte militärisch kurzes blondes Haar. Ein verschlagenes Gesicht; kaltblaue Augen, markante Züge, Stoppelbart. Ein Kinn, an dem man Flaschen öffnen konnte. Seine Schultern, Arme und sein Oberkörper waren breit wie die eines Preisboxers. Sie steckten in der schwarzen Nietenjacke. Ein schwarz-weißes Emblem zierte den Rücken dieses Kleidungsstücks, und Shelley vermutete, es kennzeichne seinen Club. Der Mann trug dunkle Jeans und schwere Stiefel. Narben zierten seine Stirn und die linke Wange. Sie sahen uralt aus.

Shelley leckte sich nervös über die Lippen. »Sir?«

»Wir sind kein Wartesaal. Sie müssen schon was bestellen, wenn Sie hier sitzen wollen.« Na los, sag ihm das. Das sagst du doch sonst immer, wenn einer nicht spurt.

Da hatte die Stimme recht, aber sonst saß ihr auch nie jemand mit dem Blick gegenüber.

»Steak«, kam es plötzlich über die Lippen des Blonden. Seine Stimme war tief wie der Meeresboden und grimmig wie der Wald in einer gottverlassenen Winternacht.

Shelley brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass er ihr geantwortet hatte. Einsilbig, aber immerhin. »S-steak, kein Problem«, mühte sie sich erneut um ein joviales Auftreten, doch ihre Knie waren weich wie Butter. »Mit Pommes, Zwiebeln, Ketchup …?«

»Roh.«

Sie blinzelte. Fast hätte sie aufgelacht, so nervös war sie. So absurd schien ihr die Bestellung. »Verzeihung, sagten Sie roh?«

»Roh«, wiederholte der Biker. Er klang mehr als genervt ob ihrer Fragerei. Wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Seine Lippen wurden schmal. Der Blick kehrte zurück.

Roh. Kein Problem. Spart dir die lästige Kocherei, so spät am Abend.

Doch die Stimme der Überlebenskünstlerin war keine große Hilfe, und Shelley hasste sie. Die Überlebenskünstlerin war nicht stark, auch wenn ihr Name das suggerieren mochte. Sie hatte im Gegenteil nur überlebt, weil sie schwach war und sich duckte. Weil sie aufgab, wenn es darauf ankam. Die neue Shelley Michaels war anders. Das war es doch, worum es der neuen Shelley Michaels überhaupt ging!

»Roh«, murmelte sie leise. Für einen Moment wusste sie nicht, was sie tun sollte, und blieb einfach stehen. Dann wandte sie sich zur Küche um, gab auf. Alte Gewohnheiten.

»Hey, anmachen!«, rief ihr der Biker nach. Ein Befehl, keine Bitte.

Shelley blieb fragend stehen, sah zu ihm zurück. Er hatte den Arm ausgestreckt und deutete auf den Flachbildschirm unter der Decke des Schankraumes, gleich oberhalb des Ausgangs. An den Wochenenden liefen dort immer die Sportübertragungen, sonst ließen die Angestellten das lärmende Ding meist aus.

»Sir?«

Er sah zu ihr – der Blick, oh, dieser elende, entsetzliche, bis ins Mark fahrende Blick voller schrecklicher Erinnerungen, die doch nicht hierher nach Poughkeepsie gehörten! – und knurrte. Kein Scherz, und ganz, ganz wirklich: Er knurrte. Laut, wie ein Löwe, kurz bevor er die Gazelle reißt.

Und Shelley spurte. Nahezu hektisch schnell eilte sie hinter den Tresen. Zitternde Hände suchten und fanden die Fernbedienung, schalteten das Gerät ein. Erst dann, als es flackernd und plärrend zu neuem Leben erwachte, begriff Shelley, dass sie instinktiv getan hatte, was der Fremde von ihr verlangte. Noch so eine alte Gewohnheit: Erst gehorchen, dann nachdenken. Denn wer spurte, bekam weniger Prügel ab.

Willkommen in Upstate New York, spottete die Stimme der Überlebenskünstlerin. Häme und Tadel troffen aus jedem Wort, ja, sogar Abscheu. Wo du genauso klein und schwach bist wie in der großen Stadt.

Shelleys Unterlippe zitterte, als sie die Fernbedienung wieder sinken ließ. Für einen Moment blieb ihr Blick an dem Baseballschläger unterhalb der Theke hängen. Am Notfallwerkzeug, wie ihr Boss ihn nannte. Dann am Telefon. Das NYPD war im Kurzwahlspeicher.

Aber was sollte sie den Cops sagen, hm? Dass ihr der Typ nicht gefiel? Das war kein Verbrechen. Dass er rohes Fleisch haben wollte? Höchst unüblich für einen Besucher eines Diners, aber bestimmt ebenfalls nicht verboten. Dass er darauf bestand, fernzusehen, während er aß? Kinderkram.

Und wozu den Baseballschläger zücken? Was hatte der Kerl ihr denn groß getan, hm? Er war schroff und ungepflegt, hatte keine Manieren. Okay. Aber sonst?

Er gefällt mir nicht, dachte Shelley. Ein Satz, wie aus Trotz geboren. Ein Satz voller übler Vorahnung.

Das muss er auch nicht, erwiderte die Stimme der Überlebenskünstlerin in ihrem Kopf. Geduldig, nüchtern, defensiv. Mach, was er will. Mehr ist gar nicht nötig. Gehorche und überlebe.

Also ging Shelley in die Küche. Nahm ein rohes, drei Handteller großes Stück Rindfleisch aus dem Kühlschrank. Legte es auf einen Teller. Sollte sie es würzen? Garnieren? Und war es nicht absolut lächerlich, dass sie sich diese Fragen tatsächlich stellte? Himmel, was geschah hier mit ihr? So war sie doch gar nicht, so klein und duckmäuserisch! So verschüchtert. Nicht mehr! Dies war doch Poughkeepsie, verdammt. Dies war die Zukunft, ihre Zukunft, nicht die Vergangenheit.

Sie atmete tief durch, schloss kurz die Augen.

Schmeiß ihn raus, sagte sie sich. Sei die neue Shelley und schmeiß das Arschloch einfach raus. Das kannst du. Das musst du.

Er wird dir wehtun, warnte die Stimme der Überlebenskünstlerin. Sie klang beinahe schon überheblich. Als spräche sie zu einem absoluten Dummerchen, das einfach nicht hören wollte. Wenn du nicht gehorchst, wird er dich das spüren lassen.

Nein, dachte Shelley. Nicht er mich. Ich ihn!

Sie ließ das Steak Steak sein. Stattdessen griff sie sich ein Messer, bevor sie zurück zur Schwingtür ging, die die Küche vom Schankraum trennte. Doch kaum wollte sie sie öffnen, schlug die Tür ihr auch schon ruckartig ins Gesicht!

Shelley taumelte zurück. Das Messer fiel ihr aus der Hand und klirrend zu Boden, irgendwo jenseits des Schmerzes. Dann war der Biker da.

Seine Miene war purer Zorn, seine Muskeln waren aus Stahl. Die stählernen Pranken packten Shelley am Haar und an den Schultern, zerrten sie mit in den Gastraum des Diners.

»N-nein«, hörte sie sich protestieren, doch sie klang schwach und eigenartig nasal, halb weggetreten. Ihre Nase pochte, blutete. »Nicht.«

Der Biker scherte sich nicht um ihren Widerstand. Er zog Shelley mit sich, hinter dem Tresen hervor, vorbei an den leeren Sitznischen. In Richtung Ausgang.

Shelley begann, ihn zu schlagen.

Gehorche!, schrie die Überlebenskünstlerin panisch. Verdammt, Mädchen, wehr dich doch nicht. Frag ihn, was du tun sollst!

Doch sie dachte gar nicht daran. Sie war nicht mehr die kleine Mrs. Devon Jenkins aus Manhattan, die still hielt. Sie war Shelley Michaels, verflucht noch mal. Und Shelley Michaels verharrte nicht wehrlos, wenn ihr Übles widerfuhr. Shelley Michaels hielt nicht still! Wieder und wieder hämmerte sie auf den Biker ein, auf die Arme, den breiten Brustkorb, das vernarbte Gesicht. Es lag viel mehr als bloße Angst in diesen Schlägen. Auch die Frust über zwanzig Jahre der Schmerzen und der verlorenen Selbstachtung.

Doch Shelleys Schläge prallten an dem hünenhaften Fremden ab, wirkungslos wie Regentropfen auf heißen Steinen. Der Biker schien sie gar nicht zu bemerken.

Shelley schrie nun, weinte. Sie war eine Furie, wütete und wehrte sich. Sie riss an seinen Pranken, die sie so festhielten wie ein Schraubstock, und konnte sich trotzdem nicht aus seinem Griff befreien.

Vor dem Ausgang blieb er stehen. Zog Shelley näher an sich. Hob eine raue, erbarmungslose Hand an ihr Kinn und zwang ihren wimmernden Kopf höher.

»W-was woll-en Sie?«, drang es über ihre zitternden Lippen. Schwach und flehend. Ängstlich und ratlos.

Bis sie es sah. Das, worum es ihm ging.

Nicht sie, sondern ihn. Den Kerl im Fernsehen.

»Wo?«, knurrte die tiefe, fordernde Grabesstimme.

Shelley blinzelte, keuchte. Auf dem Flachbildschirm über dem Eingang des Diners lief eine Nachrichtensendung, Lokalnews aus Upstate New York. Archivaufnahmen von City Hall, der Machtzentrale unten in der großen Stadt, aufgenommen vor knapp einer Woche. Sie zeigten den Bürgermeister der fünf Bezirke, wie er gerade die Stufen zum Eingang des altehrwürdigen Gebäudes erklomm. Und sie waren etwas wie eine Seltenheit, denn Mayor Finn Cranston trat nur äußerst selten vor Kameras. Mehr als ein paar unscharfe Paparazzi-Fotos bekam man kaum einmal von ihm zu sehen.

»Wo?«, knurrte der Biker erneut. Lauter, unbeherrschter. Und er schüttelte Shelley dabei, dass ihr Kopf vor und zurück zuckte.

Als sie ihn ansah, blickte sie in eine Fratze aus Hass. Der Vulkan in seinem Innern brodelte, und seine Lava würde alles vernichten, was in ihrem Weg lag. Das sah sie genau.

»C-city Hall«, antwortete sie, hilflos und perplex. »Downtown Manhattan.«

»Wer?«, knurrte der Hüne.

Was? Shelley verstand nicht. Wollte er den Namen wissen?

»Rathuul«, knurrte der Mann, den ausgestreckten Finger auf Cranston gerichtet. Es war erst das zweite mehrsilbige Wort, das Shelley von ihm hörte – und das erste, das für sie überhaupt keinen Sinn ergab.

Sie schüttelte den Kopf.

»Beaufort«, fuhr der Mann fort. »di Aquino. Pappadopolus. Wilson. Schulte.«

Wieder musste sie stumm verneinen. All diese Namen – und waren es das überhaupt? – sagten ihr nichts. Doch irgendwie schien er das Gegenteil von ihr zu erwarten.

»Wie?«, knurrte er wieder.

Wie dann, übersetzte die Stimme der Überlebenskünstlerin. Er hat dir Namen genannt, unter denen er den Mann auf dem Bildschirm kennt. Und da du sie nicht kennst, will er von dir wissen, wie er sich hier nennt. Bei dir.

»C-cranston?«, sagte Shelley leise, hilflos. »Finn Cranston.« Oder etwa nicht?

Der Mund des Riesen mit der Nietenjacke verzog sich zum grauenvollsten kalten Lächeln, das Shelley Michaels und Mrs. Devon Jenkins in ihren langen Leben je gesehen hatten. »Cran-ston«, brummte der Hüne, so langsam als müsse er den Begriff erst anprobieren. »Finn Cranston. City Hall.« Dann begann er zu lachen – erst leise, und schließlich so laut, dass es von den Wänden des Diners widerhallte wie das Echo in einer tiefen, tiefen Mine.

Und er ließ Shelley los. Einfach so. Als habe er spontan jegliches Interesse an ihr und ihrem Laden verloren, zog er seine Schraubstockpranken zurück. Ihres Halts beraubt, sank Shelley sofort zu Boden, wo sie zitternd verharrte und es kaum wagte, zu atmen, geschweige denn einen Muskel zu rühren.

Quietschende Schritte auf dem PVC-Belag. Das Klingeln des Glöckchens über der Tür. Zögernd sah Shelley auf. Der Hüne war fort, das Diner leer. Er war einfach gegangen.

Sie brauchte drei Versuche, bis sie sich endlich vom Boden aufstemmen konnte. So sehr saß ihr der Schreck in den Gliedern. Shelley ging zurück hinter die Theke, nahm den Notfallplan aus seiner Halterung und fest in beide Hände. Dann trat auch sie ins Freie, raus auf den Parkplatz.

Wo bist du, du Arschloch?, dachte sie und war froh, dass es ihre eigene Stimme war. Die der Zukunft, nicht der Vergangenheit. Wo steckst du Freak, hm? Komm und zeig dich.

Doch der Fremde war nirgends zu sehen. Der Parkplatz vor dem Diner war vollkommen verlassen. Dank der Straßenlampen konnte Shelley jeden Winkel des Geländes genau erkennen. Sie hätte den Mann mühelos gefunden, wäre er noch da gewesen.

Und das, so ahnte sie in einem Winkel ihres Verstandes, über den sie lieber nicht genauer nachdachte, hätte er nach allen Regeln der Logik und der Naturgesetze auch sein müssen. Niemand konnte so schnell aus dem Lichtkegel der Laternen verschwinden, oder? So schnell. So geisterhaft schnell.

Shelley Michaels ließ den Baseballschläger sinken und kehrte zurück ins Innere des Diners. Doch es war Mrs. Devon Jenkins, die hinter ihr die Tür abschloss.

Mit zitternden Fingern.

Kapitel 2Objekte im Rückspiegel

»Es tut mir leid, wirklich. Aber du klingst völlig verrückt. Und ich verstehe dich einfach nicht.«

Diane Millerton, stämmige und irischstämmige Gerichtsmedizinerin im Dauereinsatz des New York Police Departments, sah ihren alten Kollegen traurig an. Sergeant Andy Sipowicz zählte zu ihren liebsten Menschen auf der ganzen Welt, und es schmerzte sie zutiefst, ihn leiden zu sehen. Aber sie war überzeugt, dass er sich vor lauter Leid in eine Illusion verrannte, aus der sie ihn befreien musste, bevor er den letzten Kontakt zur Realität verlor. Der Moment schien nah.

Sie saßen gemeinsam in einem winzig kleinen Starbucks an der Upper East Side von Manhattan, der die ganze Nacht über geöffnet war. Dampfende Tassen überteuerten Bohnengebräus vor sich, hatten sie sich unterhalten. Und mit jeder verstreichenden Minute hatte sich Millerton mehr Sorgen um die geistige Gesundheit ihres alten Weggefährten gemacht. Seit dem Tod seiner Partnerin war Andy Sipowicz sichtlich am Trudeln.

Dumm nur, dass er das anders sah. »Okay, okay«, sagte er und seufzte nur ein kleines bisschen. »Dann versuche ich’s eben noch mal, aber langsamer. Das macht es hoffentlich klarer.«

Millerton schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um fehlende Erklärungen, Andy. Es geht um Logik. Um Kohärenz. Du … du redest wirres Zeug und …«

Er hob abwehrend die Hand, unterbrach sie mit einem schwachen Lächeln. »Lass mich dir eine Frage stellen. Ganz kurz, in Ordnung?«

»Nämlich?«, erwiderte sie verwundert.

»Was«, begann er und nippte kurz an seinem pechschwarzen Kaffee, »ist das Bemerkenswerteste, das dir je passiert ist? Nicht das Beste, nicht das Schlechteste, nicht einmal das Beeindruckendste, Diane – das Bemerkenswerteste. Wenn du deinen kompletten Lebenslauf durchforsten und ein Ereignis herauspicken müsstest, das dir am prägendsten erschien, welches wäre das?«