Professor Zamorra 1061 - Anika Klüver - E-Book

Professor Zamorra 1061 E-Book

Anika Klüver

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Beschreibung

Ein Mann im langen Mantel, mit Stetson und einer Peitsche ... und doch ist er keine Figur, die von der Leinwand in ein wirkliches Leben fiel. Doch wer ist der Fremde, der sich in der Nähe von El Paso in einer heruntergekommen Bar herumtreibt? Er wirkt dämonisch - und er fühlt sich auch so ...

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Seitenzahl: 149

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Inhalt

Cover

Impressum

Schattenwelt

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Arndt Drechsler

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-0814-3

www.bastei-entertainment.de

Schattenwelt

von Anika Klüver

Ein hohes misstönendes Kreischen erfüllte den großen Raum.

Eine dunkle Masse aus Beinen und Augen schoss explosionsartig auf sie zu. Sie konnte nicht erkennen, ob es sich um ein oder mehrere Wesen handelte, doch das spielte ohnehin keine Rolle.

Sie würde nicht zulassen, dass sich ihr etwas in den Weg stellte! Dieser Ort gehörte nun ihr. Nichts darin durfte sich ihrer Kontrolle entziehen.

Sara Moon richtete ihren Blick fest auf den Angreifer, ließ sich von den zuckenden schwarzen Beinen und gierigen Augen nicht ablenken. Sie wartete auf den richtigen Moment.

Und als er kam,sprangsie.

UT Southwestern Medical Center, Dallas, Texas

Das kalte weiße Neonlicht der wenigen eingeschalteten Lampen erleuchtete die breiten Flure um diese Uhrzeit nur spärlich. Wie künstlich erzeugter Mondschein spiegelte es sich auf den glatten Linoleumböden.

Tagsüber herrschte in diesem Bereich des Krankenhauses professionelle Betriebsamkeit. Ärzte, Schwestern und Pfleger gingen ihren Aufgaben nach. Auch Besucher kamen, doch hier auf der Intensivstation waren die meisten Patienten nicht in der Lage, sich darüber zu freuen. Überall herrschte nervöse Anspannung. Hier ging es nur darum, zu warten und zu hoffen. Und sobald die Nacht hereinbrach, schien selbst die Hoffnung für eine Weile zu verschwinden.

Kyle Hamilton bog zögernd in den nächsten Flur ein. Vorsichtig schaute er sich um. Hier musste irgendwo das Schwesternzimmer sein. Er musste jemanden finden, der ihm weiterhelfen konnte, ihm erklären konnte, wieso er hier war. Seine Erinnerungen waren verschwommen. Da waren eine junge Frau mit einem fröhlichen Lächeln und ein kleiner Junge, dem der rechte obere Schneidezahn fehlte.

Die Frau trug etwas auf dem Arm. Sie hielt es behutsam fest und hob nur kurz eine Hand, um zu winken. Er wusste, dass er ihr ebenfalls gewinkt hatte, doch er war sich nicht sicher, warum. Dann folgten Bewegungen. Eine Stadt, die an ihm vorbeizog, und plötzlich ein Wirbel aus Licht und Farben.

Kyle Hamilton erschauderte. Sein Blick fiel auf seine nackten Füße auf dem Linoleum. Ja, ihm war furchtbar kalt. Aber er spürte die Kälte nicht wie sonst. Sie kam nicht von außen, sondern von innen.

Langsam ging er weiter. Der Flur war vollkommen verlassen, aber nicht still. Ein konstantes mechanisches Piepen und Surren erfüllte den gesamten Bereich. Kyle warf einen Blick durch eine Scheibe, die teilweise mit einer Lamellenjalousie verdeckt war. In dem Zimmer dahinter lag eine alte Frau in einem Bett. Ein Beatmungsgerät pumpte geduldig Sauerstoff in ihre Lunge. Kyle beobachtete, wie sich ihre Brust rhythmisch hob und senkte. Zahlreiche Schläuche und Röhrchen waren an ihrem Arm befestigt und mit Geräten und Infusionsbeuteln neben dem Bett verbunden. Der Körper der Frau wirkte zwischen diesen ganzen Maschinen winzig und zerbrechlich. Das dumpf schimmernde Licht der Anzeigen und Kontrolllämpchen an den Gerätschaften ließ sie geisterhaft blass und fast durchsichtig wirken. Ihr schlohweißes Haar umgab ihren Kopf wie ein Heiligenschein. Kyle fragte sich, wie alt sie wohl war. Würde sie je wieder aufwachen oder bis ans Ende ihres Lebens in diesem Bett liegen?

Er riss sich von dem Anblick los und setzte seinen Weg fort. Hinweisschilder an den zahlreichen Türen teilten ihm mit, dass man die Räume dahinter nur mit Schutzkleidung betreten dürfe. Andere ermahnten potenzielle Besucher, sich beim Betreten und Verlassen der Station die Hände zu desinfizieren. Erst als er das las, nahm Kyle den stechenden Geruch von Desinfektionsmitteln wahr.

Wieso war der ihm vorher nicht aufgefallen? Der Geruch war nicht übermäßig stark, hing aber doch unverkennbar in der Luft. Und er erinnerte ihn an etwas. Er war erst kürzlich an einem Ort gewesen, der ganz ähnlich gerochen hatte. Es hatte etwas mit der jungen Frau zu tun und mit dem kleinen Bündel, das sie im Arm trug.

Plötzlich sah er ein kleines Gesicht vor sich. Es war winzig und rosig und ein wenig zerknautscht, aber trotzdem wunderschön. Und dann erinnerte er sich daran, dass es das Gesicht seiner Tochter war. War er deswegen hier? Weil seine Frau ihr zweites Kind zur Welt gebracht hatte? Nein, das war schon eine Weile her. Er hatte sie und das Baby längst nach Hause geholt.

Aber warum war er dann hier? Hatte er jemanden besucht? Nein, um diese Uhrzeit waren keine Besuche mehr gestattet, da war er sich sicher.

Rechts von ihm tauchte wie eine Leuchtbake auf dunkler See das helle Schwesternzimmer auf. Es handelte sich um einen Glaskasten, der wie fast alle Scheiben hier teilweise mit Lamellenjalousien versehen war. Darin saßen zwei Frauen in einfachen weißen Kitteln. Die jüngere von beiden sortierte Karteikarten in einer Schublade und tippte immer wieder etwas in einen Computer ein, der direkt neben ihr stand. Die ältere Frau hatte einen Telefonhörer am Ohr. Sie hatte ihn zwischen Kopf und Schulter festgeklemmt und murmelte hin und wieder bestätigend, während sie sich Notizen machte.

Kyle Hamilton trat vor die Glasscheibe mit dem kleinen Sprechfenster und wartete. Keine der Schwestern schaute zu ihm auf. Nach einer Minute räusperte er sich vorsichtig. Er wollte sie nicht bei ihrer Arbeit stören, aber er brauchte Hilfe. Die ältere Frau hob den Kopf und drehte sich zu ihrer Kollegin um.

»Gib mir mal die Akte von Mrs. Mackenzie«, sagte sie, ohne Kyle Beachtung zu schenken.

Die jüngere Frau blätterte in der Schublade herum und zog eine hellbraune Mappe heraus, die sie ihrer Kollegin reichte.

»Verzeihung«, sagte Kyle nun und trat noch ein Stück näher an die Glasscheibe heran. Die Frau klappte seelenruhig die Aktenmappe auf und blätterte darin, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Dann gab sie die Information an die Person am anderen Ende der Telefonverbindung weiter.

»Entschuldigen Sie bitte …!«, versuchte Kyle es erneut. Doch die Frauen reagierten immer noch nicht auf ihn.

Verwirrt trat er ein paar Schritte zurück und ließ sich auf einen der Stühle im Wartebereich sinken. Eine Weile lang saß er einfach da und starrte vor sich hin. Das gedämpfte bestätigende Murmeln und das Klappern der Computertastatur hinter der Scheibe wurden zu einem Hintergrundrauschen.

Plötzlich nahm Kyle aus dem Augenwinkel ein Flackern wahr. Er drehte den Kopf und sah, dass das Licht im Flur rechts von ihm unregelmäßig zuckte, als würde die Neonlampe an der Decke nicht richtig anspringen. Er stand auf und bog vorsichtig um die Ecke in den Gang ein. Der Flur sah genauso aus wie alle anderen, durch die er gegangen war. Aufgrund des flackernden Lichts war er ein wenig dunkler, aber ansonsten wirkte er genauso steril und kalt wie alles in diesem Krankenhaus.

Kyle wusste nicht, warum er es tat, aber er ging auf die flackernde Neonlampe am Ende des Gangs zu. Er führte in einen Aufenthaltsbereich, der offenbar für Besucher der Station gedacht war. Ein Getränkeautomat gab ein leises elektronisches Brummen von sich. Stühle standen nebeneinander aufgereiht an zwei Wänden. Die dazwischen platzierten Tische mit den abgegriffenen Zeitschriften und den lieblos verteilten Plastiktopfpflanzen darauf trugen wenig dazu bei, die Atmosphäre des Bereichs angenehmer zu machen. Trotzdem – hier wollte man sich nicht länger als nötig aufhalten.

Kyle Hamilton bemerkte den Mann erst, als er sich bewegte. Die Gestalt löste sich lautlos aus den dunklen Schatten neben dem Getränkeautomaten und kam auf ihn zu. Kyle wich erschrocken einen Schritt zurück, merkte dann jedoch, wie albern er sich verhielt, und blieb stehen.

Der Mann war groß, dunkelhaarig und hatte eins dieser Allerweltsgesichter, die man sofort wieder vergaß, nachdem man sie gesehen hatte. Das Auffälligste an ihm war zweifellos der lange Trenchcoat, der ihn ein bisschen wie einen Privatdetektiv aus einem Schundroman wirken ließ. Kyle hatte den Eindruck, dass der Mann ein wenig geduckt ging. Er ließ die Schultern hängen und schien sich unter dem großen Mantel zusammenzukauern. Es sah so aus, als wollte er möglichst unauffällig und harmlos erscheinen.

Kyle wurde plötzlich unangenehm bewusst, dass er nur ein Krankenhausnachthemd trug. Auch das war ihm zuvor gar nicht aufgefallen. Was war mit seiner richtigen Kleidung passiert? Er war doch kein Patient.

Unsicher verlagerte er sein Gewicht und trat auf der Stelle. Wieder tauchten Bildfetzen in seinem Kopf auf. Er schloss kurz die Augen und versuchte, sie seinen Erinnerungen zuzuordnen. Die lächelnde Frau. Laura. Seine Frau. Der kleine Junge mit der Zahnlücke. Tommy. Sein Sohn. Das Baby auf Lauras Arm. Abigail. Seine Tochter.

Plötzlich war alles wieder da. Er hatte sich von ihnen verabschiedet und war zu einer Tagung gefahren. Wann war das gewesen? Es konnte noch nicht lange her sein. Er wusste noch, dass er nicht hatte fahren wollen, weil er so viel Zeit wie möglich mit seiner Familie verbringen wollte. Doch Laura hatte darauf bestanden. »Du wirst noch genug Zeit haben, den Kindern beim Wachsen zuzusehen«, hatte sie gesagt. »Diese Tagung ist wichtig für deine Karriere und es sind nur ein paar Tage. Ruf an, wenn du angekommen bist.«

Dann hatte sie ihm einen Abschiedskuss gegeben und ihn zum Auto begleitet. Hatte er angerufen, als er angekommen war? Er konnte sich nicht daran erinnern. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, wo die Tagung stattfinden sollte.

Als er die Augen wieder öffnete, stand der Mann im Trenchcoat immer noch vor ihm und schaute ihn geduldig an. Seine dunklen Augen wirkten ein wenig traurig.

»Kyle Hamilton«, sagte der Mann.

Es war keine Frage. Dennoch antwortete Kyle mit einem unsicheren: »Ja?«

»Komm mit.« Die Stimme des Mannes war tief und klang gleichzeitig wie ein Flüstern im Wind. Sie strahlte eine seltsame Ruhe aus, die fast greifbar war. Es war kein unangenehmer Laut, doch Kyle war von der unvermittelten Aufforderung völlig überrumpelt.

»Ich … ähm … Verzeihung, aber woher kennen Sie meinen Namen?«, wollte er wissen. »Kennen wir uns? Ich fürchte, ich habe ein paar Gedächtnislücken und bin deswegen nicht ganz auf der Höhe.«

Der Mann lächelte nicht, aber sein neutrales Gesicht wirkte plötzlich trotzdem ein wenig freundlicher.

»Du wirst alles verstehen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Aber jetzt müssen wir los.«

»Los?«, hakte Kyle nach. »Wo-wohin denn? Weiß meine Familie Bescheid? Ich würde gerne kurz meine Frau anrufen und ihr sagen, dass alles in Ordnung ist, wenn das möglich wäre.«

»Das ist nicht möglich, Kyle Hamilton«, erwiderte der Mann. Kyle glaubte, einen Hauch von Bedauern in den Worten zu erkennen.

Dann legte ihm der Mann eine Hand auf die Schulter. Kyle wäre fast zurückgezuckt. Er hatte sich so sehr an diese seltsame Kälte, die in diesem Krankenhaus herrschte, gewöhnt, dass die Wärme, die von der Hand des Fremden ausging, beinahe ein Schock war. Es war ein angenehmes Gefühl. Kyle wunderte sich flüchtig darüber, dass eine menschliche Hand so viel Wärme ausstrahlen konnte, aber ebenso schnell war der Gedanke auch wieder verschwunden.

»Komm«, sagte der Mann und übte sanft, aber bestimmt Druck auf seine Schulter aus.

Kyle setzte sich in Bewegung. Der Mann führte ihn schweigend durch den Gang zurück, durch den er gekommen war. Als sie das Schwesternzimmer passierten, schaute keine der beiden Frauen auf. Sie gingen unbemerkt daran vorbei und bogen in den nächsten Flur ab.

Kyle wusste nicht genau, warum er sich von dem Mann führen ließ. Aber er war sich sicher, dass das momentan seine einzige Möglichkeit darstellte. Er hatte das deutliche Gefühl, dass der Fremde den Weg kannte und ihn aus diesem Krankenhaus hinausführen konnte. Wahrscheinlich stand sein Wagen draußen auf dem Parkplatz. Er würde sich bei dem Mann bedanken und dann nach Hause zu Laura und den Kindern fahren.

Sicher wäre es am besten, wenn er sich ein paar Tage Urlaub nahm, bis er wieder klar denken konnte.

Das beklemmende Gefühl ergriff so plötzlich von ihm Besitz, dass er fast gestolpert wäre. Nur die Hand des Fremden an seiner Schulter hielt ihn auf den Beinen. Bilder brachen über Kyle Hamilton herein. Doch dieses Mal waren es keine Erinnerungen an Laura und die Kinder. Er sah Rauch, roch verschmortes Gummi. Seine Sicht war mit einem Mal gebrochen, als würde er durch eine eingeschlagene Fensterscheibe schauen. Etwas Feuchtes rann über seine Stirn. Er streckte eine Hand aus, um es wegzuwischen, doch da war nichts. Sirenen heulten in der Ferne und kamen näher. Wäre der Fremde nicht gewesen, hätte Kyle wohl nicht weitergehen können. Seine Beine fühlten sich taub an, fast so, als wären sie nicht mehr Teil seines Körpers. Er keuchte erschrocken auf und starrte den Mann im Trenchcoat mit weit aufgerissenen Augen an.

»Das geht vorbei«, antwortete der Mann auf Kyles unausgesprochene Frage. »Wir haben es nicht mehr weit.«

»Warum habe ich diese Erinnerungen?«, fragte Kyle. »Bitte sagen Sie mir einfach, was mit mir passiert ist.«

»Das ist nicht meine Aufgabe«, erwiderte der Mann. Seine Worte duldeten keine weiteren Nachfragen. Er verhielt sich weder herrisch noch bedrohlich und doch wusste Kyle, dass er keine weiteren Fragen stellen durfte.

Er ließ sich weiter durch den Gang führen. Mit jedem Schritt nahm er seine Umgebung weniger wahr. Alle Farben bluteten langsam aus. Das blasse Olivgrün der Wände verschmolz mit den restlichen Farben zu einem trüben Grau, sämtliche Umrisse wirkten verschwommen, als würde Kyle die Welt durch einen Tränenschleier betrachten.

Sie passierten das vorletzte Krankenzimmer des Gangs. Kyle verspürte ein Ziehen in der Brust, nicht schmerzhaft, aber doch unangenehm. Im gleichen Moment ertönten hektische hohe Pieplaute. Er blieb stehen und starrte durch die Scheibe neben der Tür ins Zimmer. In dem einzelnen Bett lag ein Mann. Er mochte etwa Mitte dreißig sein, so genau ließ sich das aufgrund seines Zustands jedoch nicht beurteilen.

Sein Kopf war fast vollständig von einem Verband bedeckt und auch der Rest seines Körpers wies Verletzungen auf. Schläuche verbanden ihn mit medizinischen Geräten, die für ihn lebenswichtige Funktionen übernahmen. Er schien nicht bei Bewusstsein zu sein. Der Monitor, von dem das hektische Piepen ausging, zeigte die Herzfrequenz des Mannes an. Plötzlich wurde aus den hektischen Ausschlägen eine flache Linie, die ein monotones Fiepen begleitete. Kyle musste kein Arzt sein, um zu erkennen, dass etwas nicht stimmte.

Noch während er das dachte, kamen bereits mehrere Leute in weißen Kitteln herbeigelaufen und eilten ins Zimmer. Kyle beobachtete durch die Scheibe, wie sie mit schnellen, routinierten Bewegungen ans Werk gingen.

»Kammerflimmern!«, verkündete eine Frau mittleren Alters. »Defibrillator vorbereiten!«

Ein Wagen wurde ans Bett geschoben und Kyle sah, was er schon oft im Fernsehen, aber noch nie in der Realität gesehen hatte. Ein Pfleger legte die Brust des Patienten frei, die Ärztin griff nach den beiden großen Elektroden, zählte herunter und drückte sie auf den Körper des Mannes.

Kyle starrte wie gebannt auf das Geschehen. Er konnte nicht viel vom Gesicht des Mannes erkennen, aber irgendwie kam er ihm seltsam bekannt vor. Er war sich sicher, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben. War er seinetwegen hier im Krankenhaus gewesen?

Die Behandlung mit dem Defibrillator zeigte offenbar nicht die gewünschte Reaktion. Die Ärztin setzte zu einem weiteren Versuch an. Kyles Blick wanderte zu einem Tisch, der neben dem Bett gestanden hatte und von einem der Pfleger beiseitegeschoben worden war, um Platz für die Behandlung zu machen.

Auf dem Tisch saß ein leicht abgewetzt wirkender Stoffesel.

»Freddy«, hauchte Kyle tonlos. Woher wusste er, wie dieser Esel hieß? Dann entdeckte er das gemalte Bild, das durch die Aktion des Pflegers vom Tisch gefallen war und nun auf dem Boden lag. Es handelte sich um ein mit Wachsmalstiften angefertigtes Bild. Der Künstler konnte nicht viel älter als sechs oder sieben Jahre sein. Es zeigte ein recht krude gemaltes Haus, einen Baum mit einer Schaukel daran und davor eine Familie. Obwohl es eher Strichmännchen als richtige Figuren waren, ließ sich das Motiv leicht erkennen. Es waren ein Vater, eine Mutter und ein Kind. Die Mutter hielt außerdem ein kleineres Kind auf dem Arm. Von der oberen linken Bildecke lachte eine große gelbe Sonne auf die Familie hinunter und am unteren Rand standen die Worte: »Wir hoffen, dass du bald wieder nach Hause kommst, Daddy! Laura, Tommy und Abigail.« Das Wort »Tommy« war eindeutig vom Künstler selbst geschrieben worden. Das kleine Ypsilon am Ende war spiegelverkehrt. Der Rest war in der Handschrift seiner Frau geschrieben.

Kyle Hamiltons Herz gefror zu Eis. Wie betäubt beobachtete er, wie die Ärztin, die Pfleger und die Schwestern weiterhin um sein Leben kämpften. Die ganze Zeit über spürte er die Präsenz des Mannes im Trenchcoat an seiner Schulter. Der ohnehin schon wortkarge Fremde war verstummt und schien einfach abzuwarten.

Schließlich legte die Ärztin die Elektroden des Defibrillators weg und schaltete das Gerät ab. Sie schloss kurz die Augen und schien sich sammeln zu müssen. Als sie sie wieder öffnete, sagte sie: »Das war’s. Wir haben ihn verloren.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Notieren Sie den Todeszeitpunkt, Diane. Drei Uhr vierundzwanzig.«

Eine junge Frau mit kurzem lockigem Haar holte von irgendwo ein Klemmbrett hervor und machte sich pflichtbewusst ans Werk. Die Ärztin zog unterdessen ein Laken vom Ende des Bettes über den Toten.

»Kümmern Sie sich um alles Weitere, Phil«, sagte sie zu einem der Pfleger. Sie hielt kurz inne und fügte dann bitter hinzu: »Ich informiere die Familie.«

»Irgendwie trifft es immer die Falschen, nicht wahr?«, erwiderte Phil halbherzig und hob das gemalte Bild vom Boden auf, um es wieder neben den Stoffesel zu legen.

»Wir können eben nicht alle retten«, meinte die Ärztin. »Wir können nur unser Bestes versuchen.«

Kyle Hamilton – nein … das, was noch von Kyle Hamilton übrig war – drehte sich zu dem Mann im Trenchcoat herum.

»Das ist es also?«, fragte er. »Es endet einfach so?«

»Es endet niemals einfach so«, sagte der Fremde.

»Was passiert, wenn ich nicht mit Ihnen gehe?«, wollte Kyle wissen. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Trotz mit. Den Mann schien das nicht zu beeindrucken.

»Du wirst mit mir kommen«, erklärte er. »Entweder jetzt oder später. Die Entscheidung liegt bei dir, aber irgendwann musst du gehen.«

Kyle schaute noch einmal durch die Glasscheibe. Phil, der Pfleger, war damit beschäftigt, die zahlreichen Schläuche vom Körper des Verstorbenen zu entfernen. Seine Bewegungen wirkten routiniert, fast ein wenig gelangweilt.

So ist das wohl, wenn der Tod zum Alltag gehört