Professor Zamorra 1070 - Simon Borner - E-Book

Professor Zamorra 1070 E-Book

Simon Borner

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Beschreibung

Das alte Haus am Hafen brannte lichterloh. Mannshohe Flammen nagten an seinen Wänden, seinem Dach und seinen schrecklichen Geheimnissen. An der Wahrheit, deretwegen doch so viel Leid geschehen war. Und Nicole Duval konnte nur tatenlos zusehen, wie auch die letzte Chance verging.

Nein, dachte die Dämonenjägerin entschlossen und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Heute nicht. Nicht so, verdammt!

Dann lief sie los, dem Tod entgegen.

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Inhalt

Cover

Impressum

Codename Nightfall

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Arndt Drechsler

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-1157-0

www.bastei-entertainment.de

Codename Nightfall

von Simon Borner

Das alte Haus am Hafen brannte lichterloh. Mannshohe Flammen nagten an seinen Wänden, seinem Dach und seinen schrecklichen Geheimnissen. An der Wahrheit, deretwegen doch so viel Leid geschehen war. Und Nicole Duval konnte nur tatenlos zusehen, wie auch die letzte Chance verging.

Nein, dachte die Dämonenjägerin entschlossen und wischte sich das Blut aus dem Gesicht.Heute nicht. Nicht so, verdammt!

Dann lief sie los, dem Tod entgegen.

Das Versagen sollte uns Lehrmeister sein, nicht Totengräber. Wer versagt, gibt nicht auf, sondern schiebt bloß auf. Das Versagen ist ein befristeter Umweg, aber keine Sackgasse. Wir können es gar nicht verhindern zu versagen – es sei denn, wir sprechen nichts, machen nichts und sind nichts.

Denis Waitley

Prolog The Shape of Things to Come Die

Das Paket kam übers Wasser, wie so viele vor ihm, und es sah beinahe so aus, wie alle anderen ausgesehen hatten: braunes Packpapier, ein paar Marken, eine Kordel, die alles zusammenhielt. Little Big Rock stand in nahezu wie gedruckt wirkenden Lettern auf seiner Oberseite, nichts weiter.

Und niemand achtete darauf. Es war doch nur ein Paket, oder?

Zumindest in Colins Augen. Colin Baxter war Postbeamter drüben in Camden, Maine, und fuhr in den Sommer- und Herbstmonaten zwei Mal pro Woche mit der Fähre raus zu Little Big Rock, um die Briefe und Pakete der wenigen Insulaner abzuladen und abzuholen. Und er hasste diese Fuhren fast so sehr, wie er das raue Wetter vor Maines Küste hasste. Gäbe es einen Gott, er hätte Colin auf seine alten Tage mit einem Schreibtischposten beglückt, nicht mit dem Außeneinsatz für verschnarchte Insulaner. Für diejenigen, die noch immer den Traum vom freien Leben in den Fluten des Meeres träumten, anstatt einfach aufs Festland zu ziehen, wo die »richtigen« Menschen waren.

»Schwachsinnige, allesamt«, murmelte Colin ungehalten, während die Hafenbauten der Insel vor seinem Bug größer wurden. »Hinterwäldler mit zu viel Zeit und zu wenig Schneid, um sich einfach auf ihren Hosenboden zu setzen und das Maul zu halten.« Er zog Rotz durch die Nase hoch und spuckte ihn über die Reling. Eine kleine Geste, aber sie tat gut.

Das Paket kam übers Wasser. Unbehelligt, unauffällig. Denn nie wäre es jemandem wie Colin in den Sinn gekommen, das Briefgeheimnis zu verletzen und einen Blick in das zu werfen, was er Woche für Woche nach Little Big brachte.

Leider.

***

Das Paket kam am frühen Abend, mit dem zweiten Postschiff. Diane Colbert nahm es in Empfang, denn es war spät geworden, und Colin Baxter hatte sichtlich keine Lust, sich noch großartig ins Innere der winzigen Inselgemeinde zu begeben. Zeit war immerhin Geld, und von letzterem bekam man in diesem »Scheißjob« seiner Ansicht nach sowieso viel zu wenig.

Dianes kleiner Drugstore – schon im vollgestopften Schaufenster gänzlich unbescheiden als Colbert’s Fine Olde Goods ausgewiesen – lag dem Hafen schlicht am Nächsten und bekam deswegen an diesem Abend die komplette Fuhre ab, herzlichen Glückwunsch.

Das Paket kam auf die Ladentheke von Colbert’s Fine Olde Goods, genau wie der Rest der Post. Fünfzehn Sendungen, hergeschickt von Gott weiß wo. Die Adressaten würden sie sich schon abholen kommen, das wusste Diane. Ihr Laden war der einzige auf Little Big. Früher oder später kam dort jeder vorbei.

Heute allerdings nicht mehr. Ein Sturm zog auf, außerdem war es schon fast dunkel. Diane begann, die Lichter zu löschen. In Gedanken hing sie noch immer im Geschehen der Romantikschnulze fest, die sie gelesen hatte, als die Fähre kam. Sie liebte diese Liebesschmonzetten mit viel Herzschmerz, in deren Titelbildern anatomisch beeindruckend weltfremd gezeichnete Männer mit Löwenmähnen, aber dafür ohne Oberbekleidung, gerade sehnsuchtsvoll schmachtenden Früh-Matronen mit Atom-Dekolletés an die Wäsche gingen. Dianes Bridgefreundin Maud Stevens nannte solche Schnulzen immer »Nackenbeißer« – weil die Jungs in diesen Coverzeichnungen der wohl leidenschaftlich gemeinten Kopfhaltung nach zu urteilen meist aussahen, als wollten sie ihren Herzdamen nicht nur ans Döschen, sondern gleich an die Halsschlagader.

An diesem Abend war wieder Bridge angesagt und Diane bereits spät dran. Die letzten Touristen hatten sich schon vor über einer halben Stunde aus dem Laden verabschiedet, doch bevor die Post da war, machte Diane nie zu. Es hatte nämlich Vorteile, so nah am Wasser zu sein, fand sie. Vorteile rein wirtschaftlicher Natur. Diese fünfzehn Sendungen zum Beispiel, die nun bei ihr gelandet waren – und deretwegen potenzielle Kunden kommen würden.

Diane schmunzelte zufrieden, als sie die Tür ihres Drugstores absperrte. Auch sie hatte keinen Blick in das so schlicht an ihren Laden adressierte Paket geworfen. Selbst am morgigen Tag, wenn sie es auspacken und seinen Inhalt in ihre Regale stellen würde, würde sie dem Kristall, der sich unter dem braunen Packpapier befand, vermutlich keinen einzigen Gedanken widmen.

Was vielleicht ein Fehler war.

***

Das Paket beeindruckte Diane Colbert nicht. Auch sein Inhalt – ein seltsam vieleckiger, etwa handtellergroßer Klotz aus durchsichtigem Material, einem eigenartig beschnittenen Glasbaustein nicht unähnlich – vermochte sie auf den ersten Blick nicht zu begeistern. Sie entsann sich nicht einmal, das Ding überhaupt bestellt zu haben. Vermutlich hatte ihr Großhändler einen Fehler begangen, als er es ihr schickte. Sie betrachtete es genauer. Eine seltsame Faszination ging davon aus, beinahe konnte man in den glitzernden Tiefen des Kristalls versinken – wenn man ihn nur lange genug ansah …

Doch Diane war Profi im Bereich des Verkaufs. Entschlossen wandte sie den Blick von dem hübschen Glitzerding ab. Sie würde das Ding erst zurückschicken, wenn sie sicher war, es nicht in bare Münze verwandeln zu können.

Also stellte sie es schon am frühen Morgen ins Schaufenster des Drugstores.

Wo es prompt von einem Backpacker gestohlen wurde, der eine Dorfschönheit beeindrucken wollte.

Kapitel 1 Verloren an dünnen Orten

Sie hatte gesagt, dass es kalt werden würde, aber Kevin fühlte sich so warm wie nie zuvor in seinem Leben. Innerlich warm.

Sie hatte viel gesagt, vorhin auf dem Parkplatz des kleinen Drugstores. Fast schon zu viel. Kevin mochte Mädchen nicht, die plapperten. Das wirkte so teeniehaft, irgendwie unreif. Wer plapperte, war nervös, und dies war nicht der Moment für Nervosität. Unter anderem hatte sie gesagt, dass sie achtzehn sei – seine absolute Untergrenze für Jagdabende wie diesen. Nun, allmählich kamen ihm Zweifel an dieser Angabe, aber er war längst über das Stadium hinaus, indem ihm Zweifel noch etwas bedeutet hätten. Es gab eine Grenze zwischen Vernunft und Geilheit, und sie überschritt sie gnadenlos. Spielend.

Oh, er wusste genau, warum sie ihn zu seinem Zeltplatz vor den Toren der kleinen Siedlung begleitet hatte. Nicht wegen seines Aussehens oder Charmes. Sondern wegen seiner Herkunft. Für ein Provinzweibchen wie Ellie es in Kevins Augen war, stellte er vermutlich die große weite Welt dar, den erfahrenen Städter vom College, ein wandelnder Exot. Kevin war nun seit knapp drei Tagen auf der Insel, und nach allem, was er von Little Big Rock gesehen hatte, schien sich die hiesige Bevölkerung zum Großteil aus Hummerfischern, Säufern und Menschen im Rentenalter zu rekrutieren. Das bisschen Tourismus, das sich noch hierher verirrte, passte vermutlich ins gleiche Schema. Kein Wunder, dass sich Ellie direkt angesprochen gefühlt hatte, als mal jemand unter fünfzig des Weges kam.

»Alles klar?« Sie zwinkerte schelmisch, und der rötliche Schein des kleinen Lagerfeuers spiegelte sich auf ihren Lippen. Mit einem leisen Raaatsch öffnete sich der Reißverschluss ihrer braunen Sweaterjacke. Weiße Unterwäsche lugte dahinter hervor, ein stummes Versprechen.

Kevin schluckte. »Klar ist alles klar«, log er. Was war nur mit ihm los? Er war doch sonst nicht so?

»Siehst nicht so aus.« Lächelnd streifte sie sich den Sweater von den Schultern. Die Flammen zauberten wabernde Schatten auf ihre Haut, spielten mit ihren Rundungen, brachten ihn um den Verstand. »Angst vor der eigenen Courage?«

Okay, das war ernst. Noch klang sie amüsiert, aber sie klang auch wie eine, die allergisch auf Weicheier reagierte. Fraglos war er nicht der erste Backpacker, den sie sich angelte. Und ebenso fraglos würde sie ihn kurz vor dem Ziel noch fallen lassen, wenn er nicht ihrem Beuteschema entsprach. Anders gesagt: Wenn er jetzt nicht handelte, konnte er sich die gesamte Aktion in die Haare schmieren. Reiß dich zusammen, Alter!, dachte er. Und dann ran den Feind!

»Machst du Witze?« Er lachte leise. »Das hier war schließlich meine Idee, oder?« Damit trat er einen Schritt vor. Laub raschelte unter seinen nackten Füßen. Hohe Tannen, mondbeschienen vor einem sternenklaren Himmel, wehten im leichten Wind.

»Das glaubst auch nur du …« Wieder das Lächeln. Eine Waffe, die ihr Ziel nie verfehlte. Ellie drehte sich um, präsentierte ihm ihren Rücken, lehnte sich gegen seine Brust. Sanft fuhr er mit den Händen ihre Arme entlang, ihre Taille, küsste ihren Nacken.

Nichts. Absolut nichts regte sich in ihm.

Es war unfassbar.

Kevin Ginsberg, zwanzigjähriger Collegestudent aus Seattle und derzeit auf Selbsterfahrungstrip unterwegs, war kein Kostverächter. Aber auch kein Casanova. Die Frauen, die er bisher rumgekriegt hatte – im Zimmer seines Wohnheims, auf Partys und einmal sogar auf dem Rücksitz des elterlichen Fords –, waren es in seinen Augen wert gewesen. Aber keine kam an die hier ran. Keine!

Ihr Name war Ellie Dilmore, und ihr Körper war der Stoff, aus dem die feuchten Träume waren. Sie stammte aus Little Big, hatte sie zumindest behauptet, und ihrem gesamten Auftreten haftete eine zutiefst nymphomanisch anmutende Aura an, die absolut abstoßend wirken würde, wenn – ja, wenn Ellie eben nicht auch über einen Körper verfügt hätte, der jedes charakterliche Defizit in Kevins Augen mehr als ausglich. Klare, zarte Haut, kastanienbraunes und schulterlanges Haar, kein Gramm zu viel. Grübchen in den Mundwinkeln, Sommersprossen auf der Nase und ein Atem, der nach mehr schmeckte. Sie lag in seinen Armen, als hätte sie von Anfang an dorthin gehört. Ihr Kopf passte unter sein Kinn, ihre Finger fanden genau die Stellen, die zu finden er sich nicht einmal zu bitten getraut hätte, ihr Duft allein ließ seine Fantasie in den Turbo schalten – und doch: nichts.

Obwohl … so ganz stimmte das nicht.

Unvermittelt wanderte Kevins Blick zurück zu seinem Zelt, das nur wenige Schritte entfernt aufgeschlagen zwischen zwei hohen Nadelbäumen stand. Dem Zelt, in dem das Ding lag. Und wartete.

»Hey, hier bin ich.« Ellies Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sie war tiefer geworden. Klang frustrierter. »Komm langsam mal zur Sache, Fremder.«

Gott, wer redete denn so? Für einen kurzen Moment war Kevin hin und her gerissen zwischen seinem Drang zu lachen und einem absonderlichen Pflichtgefühl, das ihn diese Scharade von Leidenschaft bisher hatte durchspielen lassen. Ellies Schäferstündchenvokabular klang, als stamme es aus billigen Wildwestromanen. Schmachtfetzen, in denen die Männer noch echte Kerle waren und sich von nichts und niemandem ablenken ließen, wenn sich mal die Gelegenheit dazu bot, die Prärie mit Nachwuchs zu bevölkern.

»Sorry, ich …« Kevin biss sich auf die Lippe, um die Worte im Zaum zu halten. Jetzt entschuldigte er sich schon? Mensch, wenn die Jungs vom College ihn hier sehen könnten. Von der Schande würde er sich bis ins hohe Rentenalter nicht erholen. »Es ist nur …«

Nein, das war zu bescheuert. Ihr das zu sagen, hieße, seine ohnehin stetig schwindenden Aussichten auf ein wenig Luftmatratzenakrobatik endgültig zu den Akten zu legen.

Ellie drehte sich zu ihm um. Das Feuer, das in ihrem Blick gelodert hatte, drohte merklich zu erlöschen. »Was ist nun, hm?«, fuhr sie ihn nicht gerade Süßholz raspelnd an. »Bin ich den ganzen Weg zu den Klippen mitgegangen, nur damit du kneifst? Ich dachte, ihr Städter seid nicht prüde.«

Ich bin nicht prüde, dachte er. Ich glaube, ich bin verliebt.

Das war es. Sie war mehr für ihn als eine Eroberung. Viel mehr. Warum sonst hatte er vorhin im Drugstore diesem spontanen Impuls nachgegeben, und den glitzernden Stein für sie aus dem Schaufenster gestohlen? Er hatte gesehen, dass er ihr gefiel. Und dann, als er im Laden nach Konserven für seine Campingpläne gesucht hatte, hatte er das handtellergroße Ding einfach in die Jackentasche gesteckt. Unbemerkt. Warum, wusste er selbst nicht so genau, denn er war kein Dieb. Mehr noch: Er kannte sich so gar nicht. Wenn das nicht so bescheuert klänge, hätte er sogar gesagt, bei diesem Diebstahl fremdgesteuert gewesen zu sein. Nicht Herr seiner Handlungen.

Aber das war natürlich völliger Quatsch. Dümmer noch, als seine Ladehemmung hier vor dieser halb nackten Schönheit mit den atemberaubenden Kurven.

»Hallo?« Ellie kniff die Lider enger zusammen. Ihre Laune sank. »Erde an Kev. Sag mal, willst du mich verarschen?«

Kevin schluckte. Jetzt oder nie. »Nein«, antwortete er und staunte fast, wie fest und klar seine Stimme dabei klang. Seine Knie fühlten sich nämlich alles andere als fest an. »Im Gegenteil. Warte kurz, ja?«

Er kroch ins Zelt, zog das Kristalldings aus seiner Jackentasche und präsentierte es Ellie am Feuer. »Hier. F-für dich, oder so.«

Gott, was für ein Scheißsatz! Für dich, oder so? Genauso gut hätte er ihr attestieren können, sie sei »unter Umständen die vielleicht schönste Frau meines Lebens, wenn ich nicht irre«. Was ist nur mit mir los?, ärgerte er sich. So wischiwaschi kenne ich mich gar nicht.

Doch seine untypische Unsicherheit verging, ebenso wie seine Gedanken an den Diebstahl, kaum dass er Ellies Gesicht sah. Die Schönheit des kleinen Inseldorfes war hellauf begeistert von seinem Geschenk! Kaum hatte er es ihr überreicht – stammelnd und ein wenig ungelenk, fast schon schüchtern –, da fiel sie ihm auch schon wieder um den Hals, bedeckte ihn mit heißen Küssen.

Und dieses Mal verfehlten sie ihre Wirkung nicht.

Als der Kristall begann, giftgrün zu leuchten, lagen Kevin und Ellie bereits eng umschlungen neben dem Feuer und achteten kaum noch auf ihn.

Sie hätten vermutlich ohnehin nicht geglaubt, dass er ihretwegen leuchtete.

***

Sieh!

Eine Öffnung.

Sie ist wie ein Wirbel, ein Sog. Drängend, fordernd. Unwiderstehlich? Weiß wabernd hängt sie im Nichts, bebend wie ein Herz. Und sie lockt. Nichts kann sich diesem Locken widersetzen, und warum auch? Hat ES nicht genau darauf gewartet?

ES zögert, wägt ab. Risiken gegen Nutzen. SEINE Erfahrungen haben ES klüger gemacht. Die kostbarste Weisheit ist die, die mit Schmerz bezahlt werden musste. Also tastet ES sich heran, vorsichtig, und sondiert die Lage. ES darf nicht überstürzt handeln, muss SEINEN Instinkt beherrschen und darf sich erst ganz der Strömung ergeben, wenn auch wirklich sicher ist, dass sie …

Schemen bewegen sich auf der anderen Seite, jenseits des Waberns. Licht flackert, wirft Schatten auf nackten, menschlichen Körpern. Je näher ES der Öffnung kommt, desto genauer sieht ES sie. Und ES versteht.

Keine Gefahr. Keine Tricks. Dies ist der Moment, die Chance. ES wird sie nutzen.

Hätte ES Gefühle wie die beiden Wesen jenseits der Schwelle, ES würde sich freuen, denn die Gelegenheit scheint ideal, die Szenerie nur zu passend für SEINE Zwecke. Hätte ES ein Zeitverständnis wie sie, ES würde sich sagen, dass sich Geduld auszahlt. Dass Ziele erreicht werden, egal wie lange es dauert.

Doch ES hat keine Gefühle, kennt keine Emotionen. ES ist ein Reflex, nicht mehr. Ein Trieb. Und nun gibt ES diesem Trieb nach. Die Öffnung kommt näher, näher. Weiße Blitze zucken durch das Nichts, gleichzeitig kalt und heiß. Sie faszinieren ES, nehmen ES in ihren Bann, und erleichtern IHM den Übergang, die Geburt.

Die Geburt …

***

Kevin rannte. Blut rauschte in seinen Ohren und floss in Sturzbächen aus seiner Nase. Es schmeckte metallisch, warm. So schmeckte Panik.

Schweiß lief ihm in die Augen. Sein Hemd klebte ihm am Körper. Und jeder Schritt trug ihn weiter in das Dickicht aus Bäumen und Sträuchern. Er hätte es nie betreten dürfen, das wusste er nun. Doch es war zu spät für hätte, viel zu spät. Vermutlich auch für ihn.

Bei dem Gedanken heulte Kevin auf. Tränen stiegen in seine Augen und raubten ihm kurzzeitig die Sicht, doch als er die Hände hob, um sie wegzuwischen, schlugen ihm Äste auf die Haut, hart wie Peitschenhiebe, und hinterließen rot schimmernde Striemen. Mittlerweile schmerzte sein ganzer Körper; jeder Knochen und jede Hautpartie schien in Flammen zu stehen, doch Kevin ignorierte die Pein. Sie würde vergehen, wenn er es zurück ins Dorf schaffte, zu den Menschen. Und wenn nicht … machte es auch keinen Unterschied mehr. Wenn er es nicht schaffte, war der Schmerz nur der Anfang. Nur das Geringste seiner Probleme.

Er wusste nicht, woher er diese Gewissheit nahm, aber sie war da. So sicher, wie das Ding plötzlich da gewesen war, auf der Lichtung. Diese grauenvolle, todbringende Monstrosität aus Nacht und Sternen. Das Ding, das aus Ellie geschlüpft war!