Prophet - Sin Blaché - E-Book

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Sin Blaché

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Beschreibung

Wenn die schönste Erinnerung zur gefährlichsten Waffe wird – ein genresprengender Thriller von Helen Macdonald und Sin Blaché

Im ländlichen England taucht ein amerikanisches Diner auf, hell, warm, einladend – aber ohne Strom, ohne Anschluss an die echte Welt. Als in der Nähe eine Leiche gefunden wird, werden zwei ungleiche Ermittler hinzugezogen: Dem zugeknöpften Adam Rubenstein widerstrebt alles an seinem chaotischen Partner Sunil Rao. Doch im Kampf gegen eine neue, bedrohliche Realität entwickelt sich zwischen den beiden eine unentrinnbare Anziehungskraft. Ein spektakulär spannender Roman über die beängstigende Macht nostalgischer Verklärung. Ein brillantes Spiel mit unseren Gewissheiten, ein messerscharfer Blick auf unsere Gegenwart und die mitreißende Liebesgeschichte zwischen zwei Geheimagenten.

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Das ist das Cover des Buches »Prophet« von Sin Blaché, Helen Macdonald

Über das Buch

Wenn die schönste Erinnerung zur gefährlichsten Waffe wird — ein genresprengender Thriller von Helen Macdonald und Sin BlachéIm ländlichen England taucht ein amerikanisches Diner auf, hell, warm, einladend — aber ohne Strom, ohne Anschluss an die echte Welt. Als in der Nähe eine Leiche gefunden wird, werden zwei ungleiche Ermittler hinzugezogen: Dem zugeknöpften Adam Rubenstein widerstrebt alles an seinem chaotischen Partner Sunil Rao. Doch im Kampf gegen eine neue, bedrohliche Realität entwickelt sich zwischen den beiden eine unentrinnbare Anziehungskraft. Ein spektakulär spannender Roman über die beängstigende Macht nostalgischer Verklärung. Ein brillantes Spiel mit unseren Gewissheiten, ein messerscharfer Blick auf unsere Gegenwart und die mitreißende Liebesgeschichte zwischen zwei Geheimagenten.

Sin Blaché

Helen Macdonald

Prophet

Roman

Aus dem Englischen von Thomas Gunkel

Hanser

»… die letzte, verborgene Wahrheit der Welt bestünde darin, etwas zu sein, das wir selbst hervorbringen und das daher auch verändert werden kann.«

David Graeber

Erster Teil

1

In dem Zimmer, in das sie ihn führt, riecht es nach schalem Zigarettenrauch und Raumspray. Die Einrichtung entspricht dem Military Standard eines Holiday Inn in den Achtzigern. Dunkelgrüner Teppichboden, gestreifte Sessel, ein Rauchglastisch, an der Wand ein Druck in vergoldetem Rahmen mit zwei F-15, die Kondensstreifen hinter sich herziehen. Das Dröhnen der Motoren ist hier zu einem dunklen Niedrigfrequenzlärm abgeschwächt.

Miller zieht ihre Jacke aus, legt sie über die Lehne eines Stuhls, zuckt beim Anblick einer halb ausgetrunkenen Tasse Kaffee auf dem Tisch zusammen und blickt Rao entschuldigend an. Ihre Augen sind hellblau wie Luftpostpapier, die Fältchen in den Augenwinkeln auf die Sonne zurückzuführen. Ihr Haar ist blondiert, oben zerzaust, an den Seiten und hinten raspelkurz, und ihr Kostüm schmiegt sich so perfekt an ihre hagere Figur, dass es ein Vermögen gekostet haben muss. Am linken Handgelenk trägt sie eine Cartier Tank Solo, an den Ohren prangen Goldstecker, und sie gibt sich so große Mühe, nett zu sein, dass Rao Zahnschmerzen hat.

Sie setzen sich.

»Möchten Sie irgendwas?«

»Einen Drink.«

»Mr. Rao«, sagt sie mit tadelndem Unterton. »Ich kann Ihnen Kaffee, Tee oder Sprudel anbieten.«

»Wasser«, sagt er angespannt. »Ohne Eis.« Sie amüsiert sich, aus dem richtigen Grund. Sie erkennt Geringschätzung, auch wenn sie freundlich vorgebracht wird. Nach Raos Erfahrung besitzen nicht viele Amerikaner dieses Talent.

»Da drüben ist eine Kühlbox.«

Sie erwartet nicht, dass er aufsteht. Und er tut es auch nicht.

»Wahrscheinlich wissen Sie nicht, warum Sie hier sind.«

»Warum ich von zwei Beamten des Verteidigungsministeriums aus dem Gefängnis geholt und zu einer amerikanischen Air Base im hintersten Winkel Englands gebracht wurde? Nein, das weiß ich nicht. Sie wollten es mir nicht sagen.«

»Die beiden wussten es nicht. Wollen Sie raten?«

O Mann. Rao starrt ihr dunkles Spiegelbild auf der Platte des Rauchglastischs an, die Wölbung ihres Kinns, ihren erwartungsvoll geneigten Kopf. »Wissen Sie was? Sie können mich mal. Sagen Sie mir doch einfach, was Sie wollen, sonst kehre ich in meine lauschige Zelle zurück und widme mich wieder dem Rest meines Lebens.«

»Ach so?«

»Ganz genau.«

»Okay«, sagt sie gelassen. Sie greift in die Tasche vor ihren Füßen, zieht eine Akte heraus und schlägt sie auf. »Sunil Rao, sechsunddreißig Jahre alt, geboren 1974 in Kingston upon Thames, UK. Britischer Staatsbürger, im Besitz einer OCI-Karte. Sohn von Himani und Bhupinder. Mutter arbeitet für Christie’s. Vater Familienbetrieb, edler Schmuck.« Sie liest weiter, hebt eine Braue. »Sehr schön. Schulzeit in St. Elgin’s. Abschluss in Kunstgeschichte am St. John’s College, Oxford. Sechs Jahre bei Sotheby’s, Echtheit und Zuordnung, dann MI6.« Sie blickt auf und lächelt. »Sehr patriotisch.«

Sie ist offensichtlich auf eine Reaktion aus. Was bedeuten könnte, dass sie nicht genug Informationen hat, um ihn zu irgendetwas zu drängen. Wahrscheinlich will sie bloß seine Geduld auf die Probe stellen. Beides spräche dafür, dass sie ihn nicht in den nächsten zwanzig Minuten in ein Flugzeug zurück nach Kabul setzen, doch das macht ihre Strategie nicht erträglicher.

»Im letzten Herbst acht Wochen gemeinsame Operation in Zentralasien.« Ihre Stimme wird weicher. »Ihr Partner bei der DIA hat Ihre Fähigkeiten in den höchsten Tönen gelobt.«

»Tatsächlich? Ich habe den Dienst quittiert.«

»Das ist uns bekannt.« Sie blickt stirnrunzelnd in die Akte. »Dann Afghanistan. Wo es offenbar nicht ganz so gut lief. Hier steht, dass Sie unzuverlässig wurden.«

»In höchstem Maße.«

»Hier steht, Sie hätten in einem Hotelzimmer eine Überdosis genommen.«

»Stimmt. Es war allerdings kein Hilferuf.«

Darauf reagiert sie mit Schweigen, aber nicht dem Schweigen, das er auslösen wollte. Es wirkt eher nachdenklich. »Könnten Sie mir von dem Vorfall bei der Entziehungskur erzählen?«, fragt sie nach einer Weile behutsam. »Davon steht nichts in der Akte.«

»Nicht?« Er sieht ihr in die Augen. »Ich hab einem widerwärtigen Arsch, der gelogen hat wie gedruckt, in der Gruppentherapie eine reingehauen.«

»Ich hab gehört, dass es richtig zur Sache ging.«

Rao spreizt die Hände auf der Tischplatte, zieht Luft durch die Nase ein, atmet aus.

»Warum bin ich hier?«

»Sind Sie fit genug, um zu arbeiten?«

»Das bezweifle ich.«

Sie legt die Akte auf den Tisch zwischen ihnen und streicht sie an einer Ecke glatt. Zieht in einer wohlüberlegten Bewegung den Finger über den Umschlag. »Wie’s aussieht, brauchen wir Sie, Mr. Rao.« Sie klingt nicht besonders glücklich. »Wir haben niemanden mit Ihren Fähigkeiten.«

»Soso«, knurrt er. »Hab ich mir schon gedacht.«

»Das haben Sie sich gedacht?«

»Ja.«

Sie führt ihn durch einen Flur zu einem leeren Sitzungssaal, in dem ein Sternenbanner schlaff neben einer Leinwand hängt. Auf dem langen Tisch in der Mitte sind Tassen, Becher, Teller und Schüsseln aufgereiht. Miller lässt den Blick darüber gleiten und sieht ihn erwartungsvoll an. Jetzt weiß er, was hier läuft. Angesichts der vertrauten Szenerie reibt er sich den Nacken. Erinnert sich an das schräg durch die Fenster fallende Licht, den darin aufsteigenden Zigarettenrauch, an die Frage seines Vaters, während er auf die Schmuckschatullen auf dem Schreibtisch deutete. Was, würdest du sagen, ist davon am interessantesten, Sunil?

»Das Kim-Spiel, oder?«

»Nein, Mr. Rao«, sagt sie.

Ein Heizkörper surrt und zischt. Rao steckt beide Hände tief in die Taschen seiner Jeans und wartet auf Millers Aufforderung, die er bereits zu kennen glaubt.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich diese Objekte ansehen und mir sagen könnten, ob irgendwelche nicht zu den anderen passen.«

»Das dritte von links«, sagt er. »Die weiße Tasse.«

»So schnell, mit bloßem Auge? Können Sie mir sagen, was daran anders ist?«

»Sie ist falsch.«

»Falsch?«

»Einfacher kann ich es unter diesen Umständen nicht ausdrücken.«

Sie legt den Daumen kurz an ihren geschlossenen Mund und zieht ihn dann wieder weg.

»Mr. Rao, wir würden Ihnen gern etwas zeigen. Ich glaube, Sie dürften das interessant finden. Wenn Sie mir bitte folgen, draußen wartet ein Fahrzeug.«

Die Dringlichkeit des Ganzen ist plötzlich so offensichtlich, dass Rao im Flur stehen bleibt, um irgendwelche Aushänge zu lesen. Baseballtraining, Ernährungsberatung, entlaufener Hund, Seilrutschentour, Flohmarkt, Pizzaabend, Motorradrennen. Er blickt zu Miller hinüber, sieht ihre geballten Fäuste, ihre stille Unruhe und liest mit aufwallender Kleinlichkeit alles noch mal.

Ihre Schritte hallen auf dem nassen Asphalt. Suffolk ist in Nebel gehüllt: ein dichter, unbeständiger Dunst, der in der Abenddämmerung schillernd um die Lichter der Air Base wabert. Miller nimmt einen Parka vom Rücksitz eines unbeschrifteten Land Cruisers und reicht ihn Rao wortlos. Ihr Fahrer ist angespannt. Er will die Zündung einschalten, obwohl der Motor schon läuft, und setzt den Blinker viel zu früh für die Kreuzung. Es liegt nicht an Millers Anwesenheit. Er hat Angst. Rao spreizt die Hände auf seinen Schenkeln, mustert seine Finger und weiß, dass auch er Angst hat. Es ist eine Lüge im Spiel, und dabei geht es nicht bloß um die übliche Verheimlichung irgendeines Blödsinns. Das Ganze schlägt ihm aufs Gemüt. Er blickt aus dem Fenster, um sich abzulenken. Lichter im Nebel. Vorbeiziehende Formen, die sich als Scheunen und Hühnerfarmen erweisen, Scheinwerferstrahlen auf den Hecken am Straßenrand. Nach einem Kilometer biegen sie auf einen Feldweg voller Schlaglöcher. Ein paar hundert Meter weiter halten sie an einem in Betonblöcke eingelassenen Hochsicherheitszaun. Ein Wächter kommt mit einer Taschenlampe auf sie zu. Nach einem kurzen Gespräch öffnet er das Tor. Der ausgefahrene Weg dahinter führt zur Air Base zurück.

Der Fahrer bremst und schaltet den Motor aus. Miller steigt aus und öffnet Raos Tür, kündigt einen dreiminütigen Fußmarsch an. Er steigt aus in die nasskalte, windstille Luft, folgt ihr und stapft durch fleischige Blätter, die unter den Schuhen knirschen. Nasse Lehmklumpen an seinen Converse-Schuhen verlangsamen seine Schritte und erschweren das Gehen. Er hat keine Ahnung, was das hier soll, was sie ihm zeigen will. Eine Absturzstelle, eine Leiche, ein Waffenarsenal, ein ausgebranntes Auto. Nein. Nichts dergleichen. Vielleicht einen Pub? Ja. Soll Miller mit ihm in einen Pub gehen. Einen Pub mit erstaunlich erlesener Auswahl an Single Malts und einem lodernden Holzfeuer. Er weiß, dass das nicht passieren wird, stellt sich das selige, verbotene Idyll aber vor, als sie die Kuppe der Anhöhe erreichen.

Er bleibt stehen.

Was zur Hölle, murmelt er.

Unterhalb von ihnen, gestrandet im Nebel, genau in der Mitte des Felds, steht ein kleines einstöckiges Gebäude mit einer Fassade aus glänzendem Stahlblech. Ein Kreis aus Scheinwerfern hüllt es in eine weiche, weiß gleißende Luft. Die Größe des Gebäudes ist seltsam ungewiss. Für einen flüchtigen Augenblick kommt es Rao nicht größer vor als eine Streichholzschachtel, als könnte er einfach danach greifen und es aufheben. Aber es besteht kein Zweifel: Es ist ein amerikanisches Diner. Es sieht nicht bloß aus wie ein typisches Straßenrestaurant, über dem Eingang prangt auch ein rotes Neonschild mit dem Schriftzug AMERICAN DINER. Innen brennt Licht. Doch es führt keine Straße hin, daneben befindet sich auch kein Parkplatz, und in dem Getreide, das ringsherum wächst, sind keinerlei Spuren zu erkennen außer dem schmalen, schlammigen Pfad, der von ihren Füßen geradewegs zu der Flügeltür führt.

»Nicht richtig, oder?«, sagt die Stimme neben ihm.

»Nein«, sagt er. Er wiegt sich im Schlamm auf den Fußballen und leckt sich die Lippen. »Absolut ungewöhnlich.«

»So wie die Tasse?«

»Ja. Aber …« Er blinzelt, sieht sich außerstande, den Satz zu beenden. Das Diner zu betrachten, ist, als würde er dabei zusehen, wie Wasser in einem Abfluss verschwindet, und er schreckt davor zurück, sein Bauchgefühl weiterzuverfolgen. Am Rand seines Gesichtsfelds ist etwas, das ein Lächeln sein könnte.

»Die Tasse, die Sie identifiziert haben, stammt von dort. Aber das dürften Sie bereits wissen. Wollen Sie es sich näher ansehen?«

»Gehen Sie vor.«

»Es ist siebzig bis achtzig Stunden alt«, erklärt sie im Gehen. Ihre Stimme klingt jetzt lockerer. Das hier ist zu einer Besprechung geworden, bei der es darum geht, etwas zum Problem eines anderen zu machen. »Um genau zu sein: So lange steht es an diesem Ort. Dem äußeren Anschein nach würde man es für ein Gebäude aus der Mitte des letzten Jahrhunderts halten. Aber wir wissen nicht, wie alt es wirklich ist.«

»Siebzig bis achtzig Stunden.«

»Sind Sie sicher?«, fragt sie.

»Nennen Sie’s eine Ahnung. Das Licht?«

»Es gibt keinen Stromanschluss. Und die Umgebung ist offenbar interessant.«

»Für wen?«

»Für uns alle.«

»Uns?«

»Ich hoffe es, Mr. Rao.«

»Und wer ist dieses Wir genau?«

»Ich kann Sie nicht belügen, was?«

»Sie können so viel lügen, wie Sie wollen. Ich weiß einfach, wenn Sie’s tun. Dann soll ich also reingehen?«

»Nur zu.«

Er geht zur Tür. Es riecht nach gebratenen Zwiebeln und ganz leicht nach Diesel. Er streckt die Hand aus und streicht mit zwei Fingerspitzen über das Chrom. Das Metall ist kalt, glänzend, mit Wasserperlen bedeckt. Die Tür geht problemlos auf, als er dagegen drückt. Er tritt ein und betrachtet seine schmutzigen Turnschuhe auf den schwarz-weißen Fliesen, hinter sich hört er Miller.

Später versuchte er, es zu beschreiben. Es habe sich angefühlt, als würde er in ein heißes Bad steigen. Nicht der Temperaturwechsel an sich, sondern die jähe Veränderung, wie tief sie eindrang, wie willkommen sie war. Er ist noch nie im Innern einer Attrappe gewesen. So ein Ding hat er noch nie erlebt. Von der Falschheit juckt seine Haut. Aber das Ringen mit dieser Falschheit ist ein wohliger Schauer, der ihm über den Rücken läuft, eine sich rasch entfaltende Wärme in seiner Brust. Plötzlich stellt er zu seiner Überraschung fest, dass er den Tränen nahe ist.

Im Innern des Diners befindet sich niemand. Das Gebäude ist menschenleer.

Dennoch fühlt es sich an, als wäre es voller Leute.

»Schön hier drin, oder?«, sagt er.

Miller weiß nicht genau, wie sie reagieren soll. Sie hat die Arme verschränkt, ihr Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten. »Sehen Sie sich um, Mr. Rao. Lassen Sie sich Zeit. Die Pancake-Platte ist heiß. Ich rate Ihnen, nicht damit in Berührung zu kommen.«

Er sieht einen türkisfarbenen Tresen, verblendet mit Schachbrettfliesen. In einer Ecke eine beleuchtete Jukebox. Rote Sitzbänke, Stahlstühle mit gepolsterten Sitzen und Rückenlehnen. An den kirschroten Wänden gerahmte Fotos. Elvis, Sinatra, Marilyn, Bill Haley, die Everly Brothers, Rita Hayworth als Gilda. Nachdem sein Blick die Fotos mehrmals gestreift hat, merkt Rao, dass sie auf eine ganz spezielle Art falsch sind. Je öfter er sie betrachtet, desto schwerer sind die darauf Abgebildeten zu erkennen, ist das nicht interessant? Er tritt vor eins der Bilder. Blinzelt. Das in seinen Augen gespiegelte Dinerlicht und ein Gesicht, das nicht ganz das von Sinatra ist. All das könnte sich bloß in seinem Kopf abspielen, denn er weiß, dass er nicht ganz bei Verstand ist. Aber das glaubt er nicht; er glaubt nicht, dass es daran liegt. Er blickt über die Schulter und sieht Miller an. So wie sie an der Tür steht, hat er hier nicht die ganze Nacht Zeit. Widerwillig beschließt er, dass dieses spezielle Geheimnis noch warten muss.

Je länger sich Rao umschaut, desto mehr Falschheit wird offengelegt. Die ölglänzenden Pancake-Platten hinter dem Tresen sind tatsächlich heiß — er hält die Hand drüber, um sich zu vergewissern. An einem schmalen Stahlband an der Wand sind abgerissene Bestellzettel aufgereiht — auf allen steht eggs over easy — aber sonst ist da nichts. Kein Spülbecken, kein Grill, keine Teller, keine Kochutensilien. Jede Menge Kaffeetassen, Thermoskannen, nichts zum Kaffeekochen.

»Und keine Toilette«, sagt sie und beobachtet ihn. »Was meinen Sie?«

»Es ist wie ein Modell. Ein Requisit in voller Größe. Was hat es mit der Umgebung auf sich?«

»Es hat kein Fundament. Das Diner steht auf genau fünfzehn Zentimetern Sand. Und auch an den Seiten sind es genau fünfzehn Zentimeter Sand bis zum Feld.

»Was für ein Sand?«

»Wir hatten noch keine Zeit zur Analyse. Es steht hier erst seit siebzig bis …«

»Achtzig Stunden.« Er betrachtet das rubinrote beschriftete Neonschild über dem Tresen. Service steht darauf. Es gibt keine Leitungen. Gar keine. »Also. Sie haben mir das gezeigt, und bevor Sie mir noch irgendwas darüber erzählen, muss ich eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben, oder?«

Sie nickt.

»Mit Blut.«

»Es ist kalt, Mr. Rao. Essen wir etwas. Man kann uns etwas aus dem Offizierskasino bringen, und danach gebe ich mir alle Mühe, Ihre Fragen zu beantworten.«

*

Miller stochert in ihrem Caesar Salad, während Rao einen Teller Hähnchen-Fajitas vertilgt. Als er fertig ist, nimmt sie ihren Kaffee, lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und sieht ihn nachdenklich an.

Na dann mal los, denkt Rao.

»Also, der Ausdruck, den Ihre früheren Arbeitgeber für Sie verwendet haben, Mr. Rao — und sie haben gesagt, das soll absolut vertraulich bleiben —, ist kaputt.«

»Sie können mich einfach Rao nennen.«

Sie mustert eine Zeit lang ihre Tasse, schwenkt den Kaffee ein wenig, beobachtet, wie sich die Flüssigkeit im Kreis dreht.

»Es muss schwer gewesen sein.«

»Was?«

»Das, was Sie durchgemacht haben.«

Er schließt die Augen. »Können wir das bitte lassen? Das hatte ich in letzter Zeit im Übermaß. Wenn Sie Lass uns Freunde sein spielen wollen, sollte ich die Fragen stellen.«

»Nur zu, Rao.«

»Was ist Ihr Ressort?«

»Verteidigung.«

»Tätigkeit?«

»Ermittlerin.«

»Ah«, sagt er. »Columbo.«

»Kein Hund, keine Frau, und ich hasse Zigarren.«

»Wo sind Sie aufgewachsen?«

»In Wyoming.«

»Woher haben Sie Ihre Uhr?«

»Das geht Sie nichts an.«

Er grinst. »Stimmt. Macht dieses Ding Ihnen Angst?«

Sie blinzelt zweimal. »Das Diner? Ja.«

»Gut.« Sie blickt ihn mit todernster Miene an. Er fragt sich, was sie wohl sieht. Sie behandelt ihn nicht mehr wie eine scharfe Granate, eher wie eine schreckliche Bürde, und das ist nur gerecht. Er fragt sich, ob sie irgendwo einen Sohn hat. Mit dem es schwierig ist. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck spricht dafür. Ja. Er zieht an dem losen Faden an seinem Pulloverärmel, reibt ihn träge zwischen Daumen und Zeigefinger. »Sie können Ihr Geheimhaltungsformular jetzt rausholen. Ich unterschreibe es. Haben Sie einen Stift, oder muss ich mir eine Vene aufschneiden?«

»Ich habe einen Stift.«

Er unterschreibt, ohne es zu lesen. Er hat solche Formulare schon oft unterschrieben, und keins davon hat die geringste Bedeutung.

»Also, was ist der Deal?«

»Es gibt keinen Deal, Rao«, sagt sie. »Keine Transaktion.«

»Ich hab’s nicht wortwörtlich gemeint. Sagt man bloß so. Worum geht’s hier?«

Sie beißt sich auf die Lippe, spricht bedächtig. »Auf der Air Base gab es einen Todesfall. Unter verwunderlichen, verdächtigen Umständen. Ich soll als Verbindungsperson zwischen den britischen und den amerikanischen Ermittlungen fungieren.«

»Aber Sie sind eigentlich wegen des Diners hier.«

»Meine Rolle als Verbindungsperson ist keine Tarnung, Rao. Aber uns beschäftigt nicht nur das Diner. Ich habe den Auftrag, ein kleines Team zur Untersuchung weiterer Vorfälle an diesem Ort zusammenzustellen. Möglicherweise stehen sie mit dem Diner und vielleicht auch mit dem Todesfall in Zusammenhang. Sie wurden uns wärmstens empfohlen.«

»Von wem?«

»Sie werden mit Lieutenant Colonel Adam Rubenstein zusammenarbeiten.«

»Ach du Scheiße, ist der nicht längst tot?«

Ein schiefes Lächeln. »Nein.«

»Was ist der Zweck dieses Teams, falls jemand fragt?«

»Ermittlung. Es gibt eine Leiche, und die Leute wollen Antworten.«

»Und was ist die tatsächliche Aufgabe?«

»Ermittlung. Nur ein bisschen komplizierter. Hier sind eine Reihe von Objekten aufgetaucht. Vor allem innerhalb der Umzäunung. Niemand weiß, wo sie hergekommen sind. Zuerst hielt man das Ganze für einen Schabernack. Aber dann tauchte das Diner auf.«

»Was für Objekte?«

»Verschiedenes. Überraschend viel Kinderspielzeug. Das erste war eine Cabbage-Patch-Kids-Puppe, die bei der routinemäßigen Suche nach Fremdkörpern auf der Start- und Landebahn entdeckt wurde, das letzte eine abgerissene Eintrittskarte für eine Aufführung von Die Nacht vor der Hochzeit im Arlington Theatre.

»Furchtbares Stück.«

»Ablenkung ist nicht sonderlich hilfreich«, sagt sie, »aber ich stimme Ihnen zu. Ich sollte erwähnen, dass diese spezielle Inszenierung 1982 stattfand.«

Rao gähnt. Das ist eine Stressreaktion. Sie interpretiert es falsch, blickt auf die Uhr und runzelt die Stirn. »Es ist schon spät. Man hat bei Ihnen eine Kaution abgelehnt, weil Fluchtgefahr bestünde, Rao, deshalb befürchte ich, dass vor Ihrem Schlafsaal eine Wache postiert wird. Aber wir stecken Sie nicht ins Gefängnis, und Sie werden es hier gemütlicher haben als in Pentonville. Brauchen Sie irgendwas?«

Rao schüttelt den Kopf. Er braucht nichts. Es gibt einiges, was er jetzt gern hätte, aber nichts davon täte ihm gut, und man würde es ihm auch nicht geben. Er beobachtet, wie sie dem Uniformierten drei Tische weiter zunickt und dieser sich erhebt, und wartet darauf, abgeführt zu werden.

2

Sashas Hauptproblem an der Sache war gewesen, dass es eigentlich ganz anders hätte laufen sollen. Klar, wenn sie komplett ehrlich war, hatte sie einiges in ihrem Leben anders geplant, aber das hatte alles übertroffen. Sie wäre wahrscheinlich mit einer Bein- oder Armamputation besser klargekommen als damit, dass ihr verklemmter älterer Bruder eine bedauernswerte Frau geschwängert hatte. Dass sie dann gleich für fünf Jahre abtauchte und nach Erhalt der freudigen Nachricht die Nummer ihres Bruders erst einmal verlegte, ging natürlich auch nicht wirklich als verantwortungsvolles Verhalten durch.

Aber was hätte sie mit der Information anfangen sollen? Seine Frau an den Schultern packen, sie gründlich schütteln und schreien, dass sie sich verpissen soll, bevor sich das Baby senkt? Dafür war es zu spät gewesen. Wenn Sasha etwas für sie hätte tun können, dann vor der Schwangerschaft. Schon vor der verdammten Hochzeit.

In ihrer Familie gab es keine gesunden Bewältigungsmechanismen. Als Kinder hatten sie früh gelernt, dass es bei einem Problem am besten war, für sich allein zu bleiben. Es in sich einzuschließen und zu begraben.

Sie hatte die ganze Schwangerschaftssache damals einfach vergessen. Sie war in ihre eigene Scheiße geraten, zu tief eingeschlossen und begraben, um sich zu erinnern, dass sie den Kopf über Wasser halten musste. Und jetzt stand Sasha fünf Jahre später mit eindrucksvollen Spielschulden und ein paar Narben, von denen niemand erfahren sollte, bei ihrem Bruder vor der Tür. Schon komisch, so eine Familie, oder? Egal, was passierte, keinem von ihnen gelang es, die Brücken vollständig hinter sich abzubrechen. Man konnte sie stets noch überqueren.

Als er die Tür öffnete, begrüßte er sie nicht mal. Sah sie bloß an, sah den Koffer an, der hinter ihr stand, und beobachtete, wie das Taxi wegfuhr. »Wie lange willst du bleiben?«, fragte er.

»Wie lange geht’s denn?«, erwiderte sie.

»Ich lass das Gästezimmer herrichten«, sagte er und trat zur Seite. Bot nicht an, den Koffer zu nehmen, aber das hätte sie sowieso nicht zugelassen. »Das Mittagessen dürfte gleich fertig sein. Ich mach dich mit meiner Familie bekannt.«

Irgendwann fiel Sasha die Schwangerschaft wieder ein und wie grausam sie das Ganze gefunden hatte. Seine Frau in einem Gefängnis einzusperren, das er vermutlich als Liebe bezeichnen würde. »Ja, Mittagessen klingt gut«, sagte sie.

»Das ist deine Tante Sasha.«

Reicht man einem Fünfjährigen die Hand, wenn man ihn kennenlernt? Wahrscheinlich nicht, aber die Augen des Kindes verlockten Sasha dazu. Sie kämpfte dagegen an.

»Hallo, Kleiner. Wow, du bist ja schon richtig groß, hm? Als ich dich letztes Mal gesehen hab, warst du noch nicht fertig gebacken.« Sie grinste den Jungen an, der, ein vollkommen quadratisches Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade vor sich, am Tisch saß. Er reagierte nicht. Niemand in der Küche reagierte. Ihr Bruder, seine Frau, der Junge, alle sahen Sasha bloß an, als spräche sie italienisch und tanzte dazu einen Jig.

»Deine Tante war das letzte Mal da, als ich mit dir schwanger war«, erklärte die Frau seines Bruders.

Der Junge nickte. »Ah.«

Das war alles, was er sagte. Er aß schweigend sein Sandwich, während Sasha der Frage auswich, was sie in den letzten Jahren getrieben habe. Er saß still da und beobachtete mit seinen großen braunen Augen, wie die Erwachsenen im Zimmer das Thema mieden, wie lange Sasha bleiben wollte. Soweit Sasha das sah, landeten sie bei »unbefristet«, mit der unterschwelligen Drohung, ihr dieses Privileg zu entziehen, sobald sie einen Hauch von schlechtem Benehmen zeigte.

Schlechtes Benehmen war bei ihrem Bruder eine Grauzone. Im Haus rauchen, von ihren Künstlerfreunden reden, Musik abspielen, die er für subversiv hielt: All das war schlechtes Benehmen. Aber wenn sie draußen auf der Veranda saß und alle Nachbarn sie beim Rauchen sahen, was ihn eigentlich verrückt machen musste, dann war das seltsamerweise in Ordnung. Wenn sie ihn und seine Frau zu einer Kunstgalerie in der Stadt mitnahm und sie gratis hineinschleuste, dann war das Kultur. Das war ganz und gar kein schlechtes Benehmen. Und wenn ein paar von Sashas Lieblingssongs im Radio kamen, na, was sollte er da schon tun?

Es war fast so, als würde sie wieder mit ihrem Vater zusammenleben. Jeder bewältigt so was auf seine eigene Art. Sasha drehte durch und zog viel zu jung in die Stadt. Ihr Bruder drehte durch und verwandelte sich in eine etwas sanftere Version ihres Vaters. So ist das Leben. Sie hat ihm sowieso nie vorgehalten, wie er geworden ist. Sie hatten keine Schuld daran. Manchmal fragte sich Sasha, ob ihr Bruder wusste, dass er schuldlos war. Aber das würde sie nie herausfinden. Es war leichter, alles in sich einzuschließen. Viel besser, es zu begraben.

3

»Haben Sie schon gefrühstückt?«

Rao nickt im Gehen. Hat er noch nicht. Wahrscheinlich hätte er es tun sollen, denn wenn er in den nächsten zehn Minuten keinen Kaffee bekommt, ist das bestimmt sein Tod.

»Ich habe eine Besprechung, also lasse ich Sie jetzt allein. Da drin«, sagt Miller, bleibt im Flur stehen und deutet auf eine unbeschriftete Tür zu ihrer Linken. Rao zögert. Im Lauf der Zeit hat er gelernt, dass man so einen Raum nicht blindlings betritt. »Rao, bitte holen Sie sich etwas zu essen«, fügt sie mit müdem Lächeln hinzu und zeigt wieder auf die Tür.

Er stößt die Tür auf. Betritt ein Großraumbüro. Vorhänge zwischen den Arbeitsplätzen, verschlissener grauer Teppichboden, Schreibtischstühle mit Netzrückenlehnen. Die Leute starren auf Bildschirme. Manche tragen Anzüge, andere Kampfuniformen. Vier der Letzteren runzeln die Stirn über etwas, das auf einem Besprechungstisch liegt. Pornohefte? Nein. Er blickt sich um. Wurde ihm ein Schreibtisch zugeteilt? Hat Miller ihn hier untergebracht, damit man ihn im Auge behalten kann?

Die Antwort heißt jeweils nein. Er sucht einen freien Schreibtisch mit einem Bildschirm, hinter dem er sich verstecken kann, als er in seinen Stirnhöhlen und der Brust eine winzige Verschiebung spürt. Etwas hier drin ist nicht richtig. Es dürfte etwas sein, über das er den Blick hat gleiten lassen, ohne es wirklich wahrzunehmen. Vermutlich irgendwas aus dem Diner.

Nein. Es ist Adam.

Lieutenant Colonel Adam Rubenstein, auf der anderen Seite des Raums über eine Akte gebeugt. Ein weiterer dunkelhaariger Mann in billigem Anzug. Davon gibt es hier mindestens fünf. Alle wie er und doch völlig anders.

Er sieht noch genau wie damals aus, denkt Rao, aber irgendwie wirkt er fremd. Vielleicht sollte er nicht überrascht sein. Es gab einen Rao vor Afghanistan, doch Rao weiß nicht, wie viel von ihm noch übrig ist, was den Adam, den er gerade betrachtet, zu einem Andenken aus einer unglaublich fernen Vergangenheit macht. Die Schultern seines Jacketts hängen immer noch schlaff herunter, sein Haar ist immer noch kurz und auffällig schlecht geschnitten. Der Hemdkragen eng anliegend, der Knoten seiner Krawatte zu fest: Adam hat sich immer gekleidet, als wollte er nichts über sich verraten. Sein Dreitagebart ist ein besorgniserregendes Zeichen. Wenn Adam keine Zeit zum Rasieren hatte, muss die Lage ernst sein.

Rao kann sich noch an die letzten Worte erinnern, die Adam zu ihm gesagt hat. Ein Spätnachmittag in Taschkent vor knapp einem Jahr. Ein strahlendes, landumschlossenes Licht fiel durch das Fensterglas in die Abflughalle und raspelte wie Sandpapier über Raos schweren Brummschädel. Schwacher schwarzer Tee in Pappbechern. Eine ziemliche Befangenheit. »Pass auf dich auf«, hatte Rao gesagt, als er aufstand, um sich zum Gate zu begeben. Das schien ihm am sichersten, doch kaum hatte er es ausgesprochen, da wusste er schon, dass es klang, als glaubte er, Adam wisse sich nicht zu helfen. Adam hatte kurz genickt, dann seinen Blick auf die Stange Zigaretten gerichtet, die Rao unter den Arm geklemmt hatte, und die Stirn gerunzelt. »Du weißt, dass die gefälscht sind?« Keine Spur eines Lächelns, doch es hatte Raos Laune gehoben. Adams seltene Friedensangebote hatten stets etwas Messerscharfes.

Rao sagt kein Wort, als er näher tritt. Aber Adam wäre nicht so gut, wie er ist, wenn er ihn nicht längst bemerkt hätte. Er blickt nicht auf.

»Du siehst beschissen aus«, sagt er ausdruckslos.

»Ja, danke«, erwidert Rao. »Und du undefinierbar.«

Adam hebt den Blick von der Akte. Seine Augen sind dunkel, geschult in der üblichen Feindseligkeit, mit der er Gespräche abblockt. Rao versucht sich die wenigen Augenblicke ins Gedächtnis zu rufen, in denen Adam über etwas, das er gesagt hat, lächelte. Hinter diesen Augen verbirgt sich ein Sinn für Humor, Rao ist sich ganz sicher. Adam hat Rao früher zum Lachen gebracht. Seine Gleichgültigkeit, seine Unempfänglichkeit für Scherze und Sticheleien — das ist Kontrollsucht. Dieser Mann ist straffer aufgezogen als diese ausgeklügelten Schwarzwalduhren, und Adam hat das bestimmt selbst erledigt. Nachrichtenoffiziere wie er drehen ihr eigenes Ding. Das ist ihr Zweck.

Er mustert Rao kurz. Er hat bereits alles erfasst, was nötig ist, doch jetzt will er Rao einen Gefallen tun und ihn in sein Urteil einbeziehen. Für Adam ist das eine Rücksichtnahme, die an Großmut grenzt. »Freut mich, dass du vor mir stehst«, sagt er. Wahrscheinlich meint er das auch so, denkt Rao und blickt auf die Akte, deren Ränder mit schwärzlichen Fingerabdrücken verziert sind. Schreibgeräte rebellieren in Adams Händen. Vermutlich hat er auf ihre Tinte die gleiche Wirkung wie auf den Blutdruck der meisten Menschen. »Das war nicht wörtlich gemeint«, fügt Adam hinzu. »Du kannst ruhig Platz nehmen.«

Rao setzt sich. »Wollen wir über meine Haltung reden, oder erzählst du mir was über die Akte, die du grade ruiniert hast?«

»Das ist eine Kopie«, murmelt Adam und schiebt Rao die Papiere hin. »Ist egal, was damit passiert, solange sie nicht den Raum verlässt.«

Jetzt geht das wieder los, denkt Rao und spürt den undefinierbaren Kopfschmerz, der sich über Tage hinweg zu einem tiefen, stampfenden Pochen hinter seinen Augen entwickelt hat. Er gräbt die Fingernägel in seine Hand. Er würde Adam gerne fragen, was er über Raos Rolle, seinen Platz in dieser Geschichte und vieles andere weiß, aber das ist ohne ein übelkeiterregendes Maß an Verletzlichkeit völlig unmöglich. Später, beschließt Rao. Vielleicht. Wenn sein Kopf nicht mehr so stark pocht und die Augen richtig fokussieren können. Er nimmt die Akte, schlägt sie auf, blättert sie ratlos durch. »Adam, ich mag beschissen aussehen, aber ich fühle mich noch viel schlechter. Sag mir einfach, was drinsteht.«

»Vor drei Tagen hat ein Landschaftsgärtner, der für die Außenanlagen verantwortlich ist, in einem ungenehmigten Lagerfeuer im südöstlichen Sektor der Air Base die Leiche eines Unteroffiziers entdeckt. Senior Master Sergeant Adrian Straat.«

»Schon vor dem Feuer tot?«

»Nein.«

»Todesursache?«

»Feuer.«

»Steht das in der Akte, oder verarschst du mich?«

»Vielleicht beides. Das ist eine gesonderte Akte. Miller hat dir von den Objekten erzählt. Sie sind zur selben Zeit aufgetaucht wie die Leiche, in einem Radius von vierhundert Metern. Bisher hat niemand gestanden, sie abgestellt oder irgendwas gesehen zu haben. Sie wurden eingetütet und inventarisiert. Miller will, dass du sie dir nachher mal ansiehst. Abgesehen von einem 1950er-Jeep, der hinter einem Munitionsbunker aufgetaucht ist, und einer Browning Citori, Kaliber 28, im Waffenlager liegt alles in der Asservatenkammer.«

»Das ist eine Schrotflinte.«

»Richtig. Um genau zu sein, eine Citori-White-Lightning-Bockdoppelflinte, circa 1983 handgefertigt in Japan. Ich lasse einiges weg, Rao. Es gibt Details, die noch warten können, bis du besser im Bilde bist.«

»Du manipulierst mich.«

»Und das mache ich gut.«

»Du kannst mich mal. Gibt’s hier irgendwo Kaffee?«

»Du willst Kaffee.«

»Fang nicht wieder damit an.«

Adam steht auf, kehrt mit zwei Tassen zurück und stellt sie vor Rao auf den Schreibtisch. Er fingert an der Akte herum, zieht zwei zusammengeheftete Seiten heraus und reicht sie ihm. Auf dem oberen Blatt ist eine Übersichtskarte der Air Base mit nummerierten Kreuzen zu sehen, die an manchen Stellen konzentriert, an anderen eher spärlich sind.

»Zeigen die Kreuze an, wo die Objekte gefunden wurden?«, fragt Rao und stürzt den Kaffee hinunter, der so grauenhaft schmeckt, dass er wie ein Schlag ins Gesicht ist.

»Ja. Der Kreis bezeichnet das Feuer.«

»Soll ich in dem Muster etwas erkennen?«

»Erkennst du denn was?«

»Nein. Du?«

»Nein.«

»Warst du in dem Diner?«

»Noch nicht.«

»Das überrascht mich, Adam.«

»Rao, ich bin um drei Uhr früh mit einem Flug von Dulles gekommen. Ich hatte noch keine Zeit.«

»Ja, klar.«

»Ich sage die Wahrheit.«

»Klar.«

Rao spürt das Grinsen in seinem Gesicht und staunt darüber. Er blättert die Seite um, überfliegt ein paar Zeilen. Es ist, als wäre über der Air Base ein Flohmarkt explodiert, und jemand hätte den Fallout aufgelistet.

29 Motorradjacke (schwarzes Leder)

30 Plüschdinosaurier (gelb, verschlissener Zustand, ein fehlendes Auge)

31 Liegesessel (weinrot, Leder)

32 Werkzeugkasten (lackierte Kiefer)

33 Rosenstrauß (rot)

34 Vier-gewinnt-Spiel (zusammengebauter Rahmen mit vollständigem Satz Spielmarken)

35 Beanie-Baby (Bär, schwarz, verschlissener Zustand)

»Der Weihnachtsmann?«, schlägt er vor. »Vielleicht ist das gesamte Personal brav gewesen.«

»Der Weihnachtsmann ist keine plausible Antwort«, murmelt Adam. »Die Überwachungskameras zeigten zwischen sechs Uhr achtundvierzig und einundfünfzig nur ein statisches Rauschen. Davor: nichts. Danach«, er deutet mit dem Kopf auf die Karte, »das hier.« Er zögert. »Ich will nicht von Twilight Zone sprechen, aber ich habe keine Erklärung.«

»Ich hab schon immer gedacht, Rod Serling hätte dir beigebracht, deine Krawatte zu binden, Adam, aber okay, lassen wir …« Rao hält inne. Überlegt noch mal. »Ja. Also, ich war in dem Diner, und es war komplett Twilight Zone. Ein Mann stirbt in einem mysteriösen Lagerfeuer, und überall taucht seltsames Zeug auf. Warum sollten wir da nicht auf irre Gedanken kommen? Kennst du den Todeszeitpunkt?«

»So ungefähr.« Adam nimmt eine andere Akte und schlägt sie auf. »Es gibt Fotos vom Ort des Geschehens, falls du …«

»Jetzt nicht, danke.«

»Sechs Uhr vierzig.«

»Und wann wurde das erste dieser Objekte entdeckt?«

»Sechs Uhr einundfünfzig.«

»Die Cabbage-Patch-Puppe?«

»An der Startbahn, ja.«

Rao sieht den Zweifel in Adams Augen. Er leert seine Tasse, nimmt die zweite, trinkt einen Schluck und zuckt zusammen. Der schmeckt noch schlechter. Dafür ist er absolut dankbar.

»Das Diner ist übersinnlich, mein Herz. Ich war drin. Und wenn wir diesen ganzen Weihnachtsmannkram betrachten, dann ist der auch übersinnlich. Das Ganze dürfte eine gewisse Logik haben, aber ich bin überzeugt, dass es Twilight Zone-Logik ist, und damit müssen wir klarkommen. Für alles offen bleiben.«

»Sei nicht so belehrend, Rao. Und wenn es Elfen sind. Mir geht’s bloß um das Wie und Warum.«

*

Bis zur Asservatenkammer brauchen sie drei Minuten, erklärt Adam. Während er, die Hände tief in den Taschen, über die Pfützen auf dem Fußweg steigt, die Schultern hochgezogen gegen den stärker werdenden Regen, beschließt Rao, dass er genug Koffein im Blut hat, um zu fragen, wie es Adam ergangen ist.

»Und, Adam?«

»Rao.«

»Wie ist es dir ergangen?«

»Wie es mir ergangen ist?«

»Ja.«

»Ich war beschäftigt.«

»Gut oder schlecht?«

»Beschäftigt.«

So ist es, mit Adam zu sprechen, erinnert sich Rao. »Ist es geheim?«

Adam runzelt ganz leicht die Stirn. »Mehr Schreibtischarbeit als vorher«, sagt er schließlich.

»Du hast einen Schreibtisch, Adam?«

»Genau genommen hat jeder einen.«

»Genau genommen?«

»Es ist eher ein Konzept.«

»Was soll das denn heißen?«

»Wenn man lang genug lebt, endet man an seinem Schreibtisch.«

»Ah, du meinst, da draußen ist eine Kugel mit deinem Namen drauf, oder? Eine Kugel, ein Schreibtisch, ein Grab?«

»Die immer auf dich warten.«

»Du bist ein theatralischer Idiot.«

»Ja, Rao.«

»Ein Schreibtisch«, raunt Rao. »Hast du Scheiße gebaut?«

»Nein.«

»Kein escándalo? In einer ungünstigen Situation im Besenschrank einer Botschaft erwischt?« Rao unterdrückt ein Lachen, das sich in ein kaum hörbares Piepsen verwandelt. Allein der Gedanke, dass Adam irgendwo mit jemandem rummacht. Unvorstellbar.

»Nein.«

»Erzähl mir nicht, dass du es satthast, Leute zu erschießen. Verdammte Scheiße, Adam! Hast du zu Gott gefunden oder was?«

»Rao, du wolltest wissen, wie’s mir ergangen ist. Ich war beschäftigt.«

»Klar. Herrgott nochmal. Bei dir auf den neuesten Stand zu kommen, ist, als wollte man in Fort Meade einbrechen. Keine Ahnung, warum ich überhaupt gefragt hab.« Rao grinst. Zwei waffenstrotzende F-15 fliegen dicht über ihre Köpfe hinweg. »Und?«, sagt er, als der Lärm es zulässt.

»Und was?«

»Willst du nicht fragen, wie es mir ergangen ist?«

Adam schüttelt den Kopf. »Das erzählst du mir schon.«

*

Die Asservatenkammer befindet sich in einem kompakten roten Backsteingebäude auf der anderen Seite der Air Base. Die Eingangstür ist von zwei traurigen Lorbeersträuchern flankiert. In der schwarz gestrichenen Dachrinne gluckert Regenwasser. Vermutlich ein Überbleibsel aus dem Krieg. Der alte Operationskomplex der Royal Air Force? Ja.

Adam führt ihn in den Keller und marschiert direkt zu einer Tür am anderen Ende eines Flurs, der noch immer dieselbe beige-grüne Wandfarbe wie damals hat. Adam hält kurz seinen Ausweis hoch, die Wache vor der Tür nimmt Haltung an, blafft ein Sir, schließt dann auf und tritt zur Seite. Die Leuchtröhren gehen flackernd an.

Rao zieht die Nase kraus. Hier drin riecht es seltsam. Vermutlich ausgasende Kohlenwasserstoffe. Nein. Wo auch immer es herkommt, es riecht nach Jasmin und Lehm. Regenwasser, Sandelholz. Er fröstelt. Der Raum ist schmal und lang. Deckenhohe Stahlregale voll durchsichtiger Plastiktüten ziehen sich die Wände entlang, und am anderen Ende des Raums liegen sperrigere Gegenstände verpackt auf dem Boden. Raos Blick streift ein Lederpolster, das unschön gegen eine straffe Plastikhülle gepresst wird: eine 50er-Yamaha.

Adam bleibt geschäftsmäßig. »Die Kriminaltechniker vom OSI haben gesagt, auf den Objekten, die sie untersuchten, waren nur die Fingerabdrücke der Leute, die sie aufgehoben haben. Miller will alles wissen, was du uns noch sagen kannst.«

Rao zieht ein Paar Nitrilhandschuhe aus einer Schachtel auf einem stählernen Untersuchungstisch und streift sie über. »Bis jetzt weiß ich nur, dass sie alle unglaublich falsch sind. Gib mir mal eins.«

»Welches?«

»Egal. Spielt keine Rolle.«

Rao nimmt die Tüte, die Adam ihm reicht, und späht hinein. »Ich glaube, das ist ein Glücksbärchi«, sagt er. »Ja, ein Glücksbärchi.«

»Es ist ein Sonnenscheinbärchi.«

»Adam, woher weißt du, was ein Sonnenscheinbärchi ist?«

»Aus dem Fernsehen.« Adam hat seine Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegenstand aus dem Regal gerichtet.

»Blödsinn. Du hattest mit Sicherheit ein Sonnenscheinbärchi«, sagt Rao und hält dann verwundert inne. »Scheiße, Adam, da hab ich noch nie drüber nachgedacht. Als du klein warst, musst du doch Spielsachen gehabt haben. Was denn für welche? Kleine Plastiksoldaten? Dolche mit einziehbarer Klinge? Sturmgewehre?«

Rao erwartet, dass Adam es mit dem üblichen Schweigen quittiert. Doch zu seiner Überraschung antwortet er. »Modelle«, sagt er tonlos. »Maßstabsgetreue Modelle. Aus Bausätzen. Vor allem Flugzeuge.«

»Ich liebe solche Modelle«, sagt Rao. »Hast du die noch irgendwo? Kann ich sie sehen?«

»Nein. Du solltest dir das hier anschauen«, sagt Adam und streckt die Arme aus.

Es ist ein Strauß rote Rosen.

»Ich weiß die Geste zu schätzen, mein Herz, aber ich mag eher Mimosen.«

»Rao.«

Rao nimmt die Tüte. Die Blüten sind scharlachrot und äußerst wohlriechend: Als er den Verschluss öffnet, spürt er den Duft im Rachen. Er lässt die Rosen auf den Tisch gleiten. Sie sind schon etwas welk. Er schaut auf die Karte, die mit einem roten Band um die Stängel gebunden ist. Eine handgeschriebene Nachricht in blauer Tinte. Für meine Millie. Wie gesagt, für immer.

»Da ist ein Datum. Ah. Die Blumen wollen mir sagen, dass sie von 1973 sind, Adam.«

»Sind sie auch. Könntest du sie dir einfach anschauen, Rao?«

Sie sehen aus wie ein Strauß Rosen. Doch an dem Abstand zwischen den Blumen ist irgendwas nicht ganz … Rao runzelt die Stirn und schiebt die Finger vorsichtig, forschend zwischen die Blüten.

Ach du Scheiße.

Außen sind es Rosen. Doch innen ist der Strauß ein Monstrum, eine klumpige Masse aus gekräuseltem, samtweichem rotem Pflanzengewebe, mit Flecken aus glänzendem, geädertem Grün, als wären Blätter und Blüten miteinander verschmolzen. Rao kann den Blick nicht abwenden. Ihm kommt ein Foto aus einem Fachbuch in den Sinn, eine Pflanze, die Gammastrahlen ausgesetzt worden war und sich zu einem üppigen Gewächs von konfusem Schrecken entwickelt hatte. Als er die Finger wegzieht, schnappt der Strauß zu.

Und sieht wieder aus wie ein Strauß Rosen.

»Sind das Rosen?«, fragt Adam bedächtig, als wäre die Frage nicht nur überraschend, sondern auch unangenehm.

»Tja, was ist eine Rose? Weißt du, ich habe früher mal viel über die Metaphysik der Identität gelesen. Das ist keine Frage, bei der es um wahr oder falsch geht. Aber es gibt andere Dinge, die ich überprüfen kann. Zum Beispiel, ob diese Blumen von einer Pflanze abgeschnitten wurden.«

»Und?«

»Nein, wurden sie nicht. Scheiße. Gib mir was anderes. Etwas«, sagt er und denkt nach, »in einem Behältnis. Da war doch ein Werkzeugkasten, oder? Nein, Scrabble. Such die Scrabble-Schachtel.«

»Es gibt zwei«, sagt Adam und schaut auf die Liste.

»Hol uns beide.«

Die erste ist ein Spiel alten Stils. Das Brett ist nicht weiter bemerkenswert: graugrün, gesprenkelt mit rosa und pastellblauen Feldern. Ablagen aus Holz für die Steine. Steine aus Holz. Die andere Schachtel lässt sich nicht öffnen. Als Adam sie mit einem Messer an der Ecke aufschneidet, zeigt sich, dass sie ganz und gar massiv ist, eine faserige graue Materie, bei der die Klinge nur mühsam durchkommt. Danach verbringt er unglaublich viel Zeit damit, die Messerklinge mit angewidertem Gesicht an seiner Hose abzuwischen. Er streicht mit den Fingern mehrmals über den entstandenen Fleck und sieht dann Rao an.

»Die sind alle so, oder?«

»Ja, wahrscheinlich, mein Herz. Ja.«

4

»Wo?«

»In England. Royal Air Force Base Polheath. Stützpunkt einer amerikanischen Jagdstaffel, äh, der Name ist irreführend.«

»Ich kenne Polheath.«

»… Hallo? Bist du noch dran?«

»Klar und deutlich. Ich hab nachgedacht. Das ist ziemlich suboptimal.«

»Ist nicht ideal, nein. Aber du kennst ja das Sprichwort. Jedes Unglück …«

»Jedes Unglück?«

»Ich hab an Dennett gedacht. Kennst du Dennett? Daniel Dennett.«

»Philosophie des Geistes, ja. Was ist mit ihm?«

»Er behauptet, dass Fehler der Schlüssel für Fortschritte sind. Ich glaube, diese Komplikation könnte sich noch als sehr, sehr günstig erweisen.«

5

»Das Geschirr könnt ihr mir überlassen«, hat Sasha zu ihrem Bruder gesagt, woraufhin die ganze Familie wie durch Zauberei aus der Küche verschwunden ist, ohne es ihr auch nur zum Schein ausreden zu wollen. Jetzt ist sie allein. Was völlig in Ordnung ist, denn sie hat es angeboten, und es macht ihr nichts aus zu spülen. Es ist eine Art Bezahlung, und genau das hatte Sasha geplant, als sie es anbot, wohl wissend, dass es die ganze Zeit, in der sie bei ihrem Bruder wohnte, ihre Rolle sein würde. Es hätte schlimmer kommen können, und sie wird mit Sicherheit noch ein paar andere Arbeiten übernehmen. Immerhin keine Miete. Wahrscheinlich ist nicht mal er so ein Arschloch, ihr wegen eines monatlichen Schecks Druck zu machen.

Plötzlich spürt Sasha, dass jemand in die Küche gekommen ist, als hätte sich die Luft irgendwie verändert, und sie ahnt, wer es ist. »Hör zu. Du kannst mir bei deinem Porzellan vertrauen, okay? Ich bin nicht so ein Tollpatsch wie andere, die ich kenne …«, und sie ist kurz davor, nur zum Spaß einen alten Kindheitsstreit auszugraben, doch als sie sich umdreht, verstummt sie.

Er ist es gar nicht. Es ist sein Sohn. Er steht an der Tür und beobachtet sie mit seinen großen Augen. »Hm. Du bist echt leise«, sagt sie. »Wie ein Gespenst.«

Er schüttelt mit ernstem Gesicht den Kopf. Sasha kräuselt die Stirn.

»Nein? Kein Gespenst?«

Wieder schüttelt er den Kopf. Sie lehnt sich an die Spüle und ignoriert die Feuchtigkeit, die in ihr Hemd und auf ihren Rücken sickert. Fühlt sich nicht unbedingt schlecht an. Lauwarm und seltsam anheimelnd. All der Schmutz und Schmerz, der mit einem Elternhaus einhergeht. Kleinigkeiten, die sie vergessen hatte, während sie bei ihren herumgammelnden Freunden auf dem Sofa übernachtete. »Willst du mir verraten, warum du kein Gespenst bist? Denn ich sehe da keine andere Möglichkeit.«

Sie glaubt nicht, dass er antworten wird. Er steht so lange schweigend da, dass Sasha mit den Schultern zuckt und sich wieder umdreht. Sie taucht die Hände ins Seifenwasser. Tastet nach der Tasse, die zusammen mit den Tellern und dem Besteck im Spülbecken liegt. Sie weiß nicht, warum es mehr Spaß macht, Tassen zu spülen, und vielleicht redet sie es sich auch bloß ein, doch sie tastet trotzdem danach.

Als ihre Hände den Henkel finden, murmelt der Junge etwas.

»Nicht echt«, sagt er. Er steht jetzt neben ihr. Ist von der Tür zur Küchentheke gekommen. Er sieht furchtbar klein aus und reckt den Hals, um sie besser sehen zu können. »Gespenster sind nicht echt.«

Vielleicht ist es das Ergebnis eines ernsten Familiengesprächs, denkt sie. Vielleicht hat der Junge eines Nachts Angst gehabt, und seine Eltern mussten sich an ihn kuscheln und ihm erklären, dass Gespenster nicht real sind. Sasha lächelt das zu ihr aufblickende kleine Gesicht an und stellt sich die imaginäre Szene vor, die ganze unglaubwürdige Häuslichkeit. Sie passt weder zu ihrem Bruder noch zu seiner Frau, und sie passt nicht zu diesem Haus. Als wäre sie zu klein, um sie alle einzubeziehen, und zugleich zu groß für das Haus. Sie weiß, dass dieses Gespenstergespräch nie stattgefunden hat, aber es ist eine schöne Vorstellung. Besonders wenn diese großen Augen sie ansehen.

»Okay. Gespenster sind also nicht echt. Da hast du mich erwischt, Junge«, gesteht sie. Er runzelt verwirrt die Stirn. »Wenn es in einer Geschichte vorkommt, ist es eigentlich nicht gelogen. Das verstehst du doch, oder? Manchmal erzählen die Leute Geschichten über sich, und nicht alles ist hundertprozentig wahr, aber es ist auch nicht völlig gelogen. Hast du schon mal jemanden sagen hören, dass es aus Eimern schüttet?«

Er nickt.

»Das bedeutet bloß, dass es stark regnet.«

Wieder nickt er.

»Wenn ich sage, du bist ein Gespenst, heißt das nicht, dass du nicht echt bist. Unecht wie ein Gespenst«, sagt sie und meidet sorgsam das Thema Tod. Vielleicht sollte sie dieses Gespräch nicht am ersten Tag ihrer Bekanntschaft führen. »Aber du bist leise und bewegst dich, als wäre es ein Geheimnis. Wie ein Gespenst. Verstehst du?«

Er denkt darüber nach. Er denkt wirklich darüber nach. Sasha fragt sich, ob es vielleicht zu kompliziert für ihn ist. Wie alt ist er noch mal? Sie hat zu schnell und zu viel erzählt. Aber plötzlich summt er ihr etwas vor. Eine kleine Kopie ihres Bruders, ernst und unumwunden, viel zu jung, um all das Lachen in seinem Innern verloren zu haben. Scheiße. Sie muss eine rauchen.

»Ich hab’s verstanden«, sagt er.

»Super. Willst du ein Glas Wasser haben?«

»Ja.«

Sie nimmt ein Glas aus dem Seifenschaum und spült es rasch ab. »Wir kriegen es schon noch hin, dass du irgendwann mehr als drei Wörter auf einmal sagst, Kleiner. Versprochen«, murmelt sie.

6

Miller hört sich Raos Bericht aufmerksam an. »Zur Kenntnis genommen«, sagt sie. »Rubenstein, haben Sie etwas hinzuzufügen?«

»Nein, Ma’am.«

Sie nickt. Ihr Auftreten ist energisch, ihr Gleichmut nervtötend. »Ich möchte, dass Sie mit Ed Gibbons reden«, verkündet sie. »Der Landschaftsgärtner, der als Erster am Lagerfeuer war.«

»Wo ist er? Sitzt er in einer Zelle?«

»Nein, Rao. Er ist zu Hause in Brandon, bei seiner Frau und den beiden Hunden. Er war wegen einer Migräne drei Tage krankgeschrieben. Aber es geht ihm gut genug« — sie kräuselt die Lippen — »für ein kleines Gespräch.«

»Wir sollen ein nettes Gespräch mit einem Gärtner führen?«, fragt Rao.

»Genau.«

Adam sieht Rao an, der ihm einen scharfen Seitenblick zuwirft. Ein wortloses Ja, Adam, ich weiß, dass das auch schneller geht.

*

Rao erinnert sich an die Nacht vor elf Monaten. Auf der Fahrt zwischen Chudschand und Taschkent, angespannt wegen des bevorstehenden Grenzübertritts, durchgeschüttelt von einer Wüstenstraße voller Betonbrocken und Wellen aus zusammengepresstem Sand, waren sie über ein bevorstehendes Treffen in Streit geraten.

»Er wird nicht aufkreuzen.«

»Doch, er wird da sein.«

»Nie im Leben. Wie kannst du nur so vertrauensselig sein, Adam? Haben sie dir das in Langley nicht abgewöhnt?«

»Ich war nie in Langley. Und wir müssen ihn nicht unbedingt treffen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir gar nicht hier zu sein bräuchten. Denn ich hab’s begriffen, Rao. Ich weiß, dass du kein Lügendetektor bist. Sie halten dich dafür, aber es stimmt nicht. Du erkennst bloß irgendwie, was wahr ist und was nicht. Ich könnte eine Liste wahrscheinlicher Möglichkeiten auf einen Zettel schreiben, und dann zeigst du auf irgendeine. Wir bräuchten nicht hier zu sein. Wir könnten in Ohio sein.«

Das Schweigen hatte sich wie geschmolzenes Glas zu einem unglaublich dünnen, unglaublich spröden Faden gedehnt, der jeden Moment zerreißen konnte.

»Wir müssen hier sein«, sagte Rao schließlich.

»Nein, eigentlich nicht.«

Er packte Adam am Arm. »Adam. Hör mir zu. Ich muss hier draußen sein.«

Verdutzt starrte Adam auf Raos Finger, bis er ihn losließ. Richtete den Blick wieder auf die vor ihnen liegende Straße. Es dauerte fünf Sekunden, bis er begriff. Rao zählte jede einzelne.

»Sie würden dich niemals gehen lassen.«

»Ja, genau. Sie würden mich einsperren, den Schlüssel wegwerfen, mir Papier zu essen geben. Mir wär’s wirklich lieber, sie wüssten es nicht.«

Darauf folgte ein langes, gefährliches Schweigen. Schließlich kurbelte Rao die Scheibe herunter, und die wohlriechende Nachtluft strömte ins Wageninnere. Er streckte den Kopf ins Freie, reckte den Hals, um zu sehen, wie die Fledermäuse zu ihrem Jeep hinabtauchten, um sich die vom Scheinwerferlicht angelockten Falter zu schnappen. »Der Agent kommt zu unserem Treffen«, sagte er schließlich und lehnte sich wieder zurück.

»Ja, er kommt.«

Noch zwei Kilometer.

»Meine Fähigkeiten haben Grenzen«, begann Rao, überzeugt, dass es keine gute Idee war, irgendetwas davon zu sagen, aber es passierte halt einfach, so wie es zu einer Entschuldigung kommt. Rao war noch nie ein Freund von Entschuldigungen gewesen. »Es gibt Ausnahmen. Zum Beispiel Gemütszustände: Da ist alles ganz vage. Ich kann sie nicht nachverfolgen. Aber ich kann die Aufrichtigkeit von Aussagen über die Welt beurteilen. Ob schriftlich, mündlich oder nur angedeutet. Und nein, ich weiß nicht, wie es funktioniert.«

»Was für ein Gefühl ist es?«

Rao schüttelte den Kopf. »Zu wissen, was stimmt und was nicht? Scheiße, Adam, das ist, als sollte ich beschreiben, wie sich Atmen anfühlt. Du weißt, ob die Luft, die du einatmest, kalt oder heiß ist. Du weißt, wie man ein- und ausatmet. Das geht automatisch, es gehört zu dir. So ist das für mich. Ein Gefühl. Es ist nichts, das ich beschreiben kann, es ist einfach da.«

»Hast du es gelernt?«

»Nee, war schon immer da.«

»Wie weit kannst du zurückgehen?«

»Wie meinst du das?«

»In der Zeit. Historisch gesehen.«

Rao rieb sich die Wange. »Wenn es konkret genug ist, so weit, wie du willst.«

Adam dachte eine Zeit lang darüber nach. »Abraham und Isaak? Ist das wirklich passiert?«

Ach, wie entzückend, dachte Rao. »Das ist unmöglich. Keiner der Beteiligten ist real genug, um ihn nachzuverfolgen, weißt du?« Er blickte hinüber. Adam wirkte aufrichtig enttäuscht, und Rao fühlte sich wegen seiner Lüge unwohl. Abraham hatte gelebt, genau wie Isaak. Ob Gott Abraham befohlen hatte, seinen Sohn zu töten … tja, er wollte einfach nicht in die schwierige Lage geraten, erklären zu müssen, warum das Wörtchen »das« aus Adams Frage ein Problem war. Wenn Aussagen über Götter überprüfbar wären, wäre Rao etwas ganz anderes als ein Spion.

»Und wahrscheinlich solltest du wissen, dass es noch eine Ausnahme gibt.«

»Nämlich?«

»Du. Ich weiß nie, wann du lügst.«

Rao sah, wie Adams Gesicht sich verhärtete. Eigentlich eine völlig angemessene Reaktion. »Ich verarsche dich nicht, Adam. So war es von Anfang an, keine Ahnung, warum.«

»Die Fragen. Dann hast du dich deshalb so verhalten, als wir uns kennenlernten.«

»Wie denn?«

»Als wärst du auf Aufputschmitteln.«

Rao kratzte sich im Augenwinkel. »Ähm, ehrlich gesagt, mein Herz, war ich das auch. Aber ja.«

Adam nickte zögerlich. »Und du weißt nicht, warum? Im Ernst?«

»Ich hab mir alle möglichen Theorien zurechtgelegt. Aber ich weiß nicht, ob eine davon stimmt. Es ist unglaublich. Es ist total bizarr, und ich erzähl’s dir jetzt aus einem bestimmten Grund.«

»Nämlich?«

Rao lehnte sich mit pochendem Herzen zurück.

»Du behältst mein Geheimnis doch für dich.«

»Natürlich.«

»Es erleichtert mich, das zu hören. Ich kann es nicht überprüfen, verstehst du? Und, um die Karten auf den Tisch zu legen, es ist noch viel unheimlicher, denn es betrifft nicht nur dich, sondern auch alles, was mit dir zu tun hat. Als sie dich zum ersten Mal bei einer Besprechung erwähnten, lief es mir eiskalt den Rücken runter. Als sie deine bisherigen Einsätze durchgingen, war es wie ein weißes Rauschen.« Rao runzelte die Stirn. »Nein. Kein weißes Rauschen. Wenn die Leute von dir sprechen, denke ich eher an ein Rouletterad.«

»Ein Rouletterad.«

»Ja, aber nicht an den Moment, wenn die Kugel in eine Tasche fällt, sondern an das Geräusch, wenn sie im Kessel kreist. Bevor sie fällt.« Er schnaubte. »Ich bin ziemlich ausgeflippt, als du mir gesagt hast, du wärst in Vegas aufgewachsen.«

»In der Nähe von Vegas. Könnte allerdings gelogen sein.«

Rao verdrehte die Augen. »Ich weiß. Aber ich hab dich Karten spielen sehen, Adam. Und ich habe deine Akte gesehen.«

»Nein, hast du nicht. Also. Du arbeitest mit mir, weil es dir eiskalt den Rücken runterlief, als du zum ersten Mal meinen Namen gehört hast, und weil ich ein Freak bin?«

»Ja. Und weil sie es mir befohlen haben.«

*

In Wahrheit hatte Rao nicht mal Adams Namen verstanden, nur das Ende des Satzes, in dem sein Name vorkam. Er hatte im tiefen Glanz der Tischplatte sein eigenes Spiegelbild angestarrt und die Gedanken schweifen lassen. Französische Politur. Schellack, hatte er gedacht. Schellack und denaturierter Alkohol. Mehrere übereinandergelegte Schichten. Chatoyance, der richtige Name für diesen schimmernden Lichteffekt. Wie bei einem Chrysoberyll, bei einem Tigerauge — und er hatte über die optischen Phänomene nachgedacht, die bestimmte Edelsteine zeigen, wenn sie auf eine besondere Art geschliffen werden, als er die Formulierung »hervorragender Leumund, sechs Jahre bei der DIA« hörte und sein Kopf sich mit einer widerwärtigen Hitzewallung entleerte. Wie Zauberpapier, eine Feuersbrunst, die unverzüglich in sich zusammenfiel. Rao hatte die Augen geschlossen, und sie sagten ständig irgendwas über diesen Lieutenant Colonel Rubenstein, und alles war Unsinn, und das Gefühl in seinem Kopf blühte und wuchs und war so anders als alles, was er je empfunden hatte, dass er sich vor Angst an der Tischkante festhalten musste, überzeugt, dass er irgendeinen neurologischen Anfall hatte. Das Gefühl schwankte und flackerte, während die Sekunden sich in die Länge zogen, und verwandelte sich allmählich in eine Mischung aus einem Geräusch und einem Bild. Das rotierende Rouletterad in dem ungewissen Moment, bevor die Kugel in eine der Taschen fällt. Der Moment, der lediglich aus Möglichkeiten besteht, deren Bedeutung sein eigenes unvermeidliches Ende ist. Doch in der ganzen Zeit, in der sie über Rubenstein sprachen, wollte er einfach nicht enden. Und Rao versuchte dem, was sie sagten, zu folgen, versuchte zu verstehen, was passierte, wenn sie von ihm sprachen, versuchte herauszufinden, was an diesem Mann anders sein konnte, und begriff schließlich den Zweck des ganzen Gesprächs. Sie wollten, dass Rao mit ihm zusammenarbeitete? Scheiße.

In dem schwarzen Taxi, mit dem Rao zu ihrem ersten Treffen fuhr, hatte er sich gefragt, ob er sich mit seiner Kleidung hätte mehr Mühe geben sollen. Er war nervös gewesen, und bei Nervosität stellte er sich quer. Er hatte sich für sein ältestes, beschissenstes Jackett entschieden, abgetragen, mit einem Brandfleck am Ärmel. Übelriechende Turnschuhe und eine kastanienbraune Kordhose, die seiner Mutter zufolge zu kurz war. Eine um die Schulter geschlungene Tasche: Laptop, Stifte, Notizheft, zwei Schachteln Marlboro Lights, ein eselsohriger Mills-and-Boon-Spionageroman aus den achtziger Jahren, der Mantel des Schweigens hieß. Den hatte er in einem Bed and Breakfast in Brighton mitgehen lassen, und inzwischen war er für ihn so etwas wie ein Glücksbringer.

Möglicherweise ein bisschen zu viel Terre d’Hermès an jenem Morgen, doch das unterschied Männer von Knaben. Vielleicht war die Line Koks vor dem Verlassen des Hauses eine schlechte Idee gewesen — auf dem Rücksitz des Taxis musste er einige Mühe aufwenden, um nicht über alles mit dem Fahrer zu reden, doch er machte sich keine übertriebenen Sorgen. Sie hatten ihn schon schlimmer erlebt.

Der informelle Empfang hatte in einem Saal stattgefunden, wie ihn der MI6 gern benutzt, wenn er sich gegenüber Amerikanern besonders britisch geben will. Magnolienfarbene Wände, Axminster-Teppich, Ledersessel, über dem Kamin das matte Ölgemälde eines Landseer-Epigonen von einem Hirsch, kunstvolle Stuckleisten, überstrichen mit weißer Glanzfarbe, um den Zigarettenrauch von Jahrzehnten zu verdecken.

Kaum hatte Rao den Saal betreten, blieb er abrupt stehen, und sein entwaffnendes Lächeln erstarrte.

Rubenstein.

Hm, dachte Rao. Wie putzig. Doch zugleich zuckte er zurück, als sähe er etwas, das den Naturgesetzen widersprach. Rubenstein trug einen dunkelgrauen Anzug, schwarze Krawatte und weißes Hemd und stand bequem da. Seine Augen waren dunkel und ausdruckslos, doch an der Art, wie Rubenstein den Kopf neigte, bevor er Hallo sagte, erkannte Rao, dass er ihn blitzschnell taxiert hatte.

Bariton. Unidentifizierbarer amerikanischer Akzent, ohne jegliche Betonung. Ihn zu hören, war, als würde man versuchen, an einer Glasscheibe hinaufzuklettern. Rao hatte keinerlei Ansatzpunkt.

»Hallo«, sagte auch er und blickte etwas verzweifelt seinen Führungsoffizier an, der links von Rubenstein stand. Morten Edwards verzog die Nase und lächelte zurück. Rechts von Rubenstein nickte ihm ein weißhaariger Mann zu, der das sorgfältig gebügelte blaue Hemd und die rote Krawatte trug, die die inoffizielle Uniform für inoffizielle Mitglieder der amerikanischen Regierung sind.

Edwards räusperte sich. »Da wären wir also«, sagte er aufgeräumt. »Schön. Sollen wir alles durchgehen?«

Sie setzten sich, und Rao hörte sich fast zwei Stunden lang an, wie der Mann mit der roten Krawatte — dessen Name ungenannt blieb — ihre bevorstehende Operation durchging. Acht Wochen in Zentralasien, hauptsächlich in Usbekistan, wo sie die Zuverlässigkeit von Nachrichtenquellen und Agenten vor Ort beurteilen sollten. Viel Gerede von Five Eyes und ressortübergreifender Zusammenarbeit. Immer wenn Rao das hörte, zuckten seine Mundwinkel. Er wusste, dass er aus Gefälligkeit an die Amerikaner ausgeliehen wurde, im Zuge eines Quidproquo. Egal. Der Krawattenmann informierte ihn über einige der nicht so geheimen Glanzlichter von Rubensteins Karriere — Ja, das hab ich gelesen, dachte Rao hilflos, aber ich weiß es einfach noch nicht mit Sicherheit — und betonte, dass er nicht nur Raos Partner sei, sondern auch den Personenschutz übernehme.

Im Verlauf dieser zwei Stunden sprach Rubenstein höchstens knapp drei Minuten. Alles, was er fragte, zielte genau auf den Punkt, und Rao, der beim Versuch, das Ganze zu begreifen, Methoden verwendete, die ihm völlig fremd waren, kam schließlich zu dem Schluss, dass er der Scharfsinnigste im Raum war. Und in Anbetracht von Rubensteins ausdruckslosem Gesicht und dem Ton seiner Stimme würde es unglaublich langweilig sein, Zeit mit ihm zu verbringen. Acht Wochen. Acht Wochen lang zusammen in Hotelzimmern. Er würde Rao auf die Palme bringen. Rao würde völlig durchdrehen.

7

Er lernt vieles ohne Unterricht. Er lernt vom Zuschauen, ohne Fragen zu stellen, ohne dass man sich mit ihm hinsetzt und ihm etwas erklärt. Wenn er Fragen stellt, heißt das, er ist dumm. Wenn man ihm etwas erklären muss, heißt das, er bekommt Ärger. Er lernt vom Zuschauen, wo seine Mutter den Wein für freitags aufbewahrt und dass es ein anderer ist als der, den sie unter der Woche trinkt. Er lernt, dass niemand das Feuerzeug im Schrank anrühren soll, es sei denn, seine Mutter zündet Kerzen an. Er lernt die Worte, mit denen sein Vater betet. Er kennt alle Wörter für das, was die beiden machen, kann sich aber nicht erinnern, wann sie ihm erklärt wurden.

Er weiß nicht mehr, wie er herausgefunden hat, dass beobachten besser ist als fragen. Das ist einfach so.

Im Moment beobachtet er, und niemand bemerkt ihn, und seine Eltern reden über seine Tante. Sein Vater denkt, dass sie nichts als Umstände macht, aber nun mal zur Familie gehört. Seine Mutter findet, dass seine Tante genau zum richtigen Zeitpunkt aufgetaucht ist, da sie zu einem wichtigen Abendessen eingeladen sind und jetzt keine Babysitterin suchen müssen.

Als seine Eltern an jenem Abend zu dem Essen gefahren sind, lächelt ihn seine Tante an. Sie sagt, sie hätten das Haus für sich und könnten alles tun, was er will. Ihm fällt nichts ein, doch das macht seine Tante nicht wütend. Sie entdeckt ein Kartenspiel und bringt ihm Spiele bei. Er redet nicht viel und stellt keine Fragen, aber das ist okay. Sie erklärt ihm die Regeln des Spiels, und er bekommt keinen Ärger, weil er sie noch nicht kennt.

Sie fragt ihn, was sie freitags machen. Er erzählt es ihr. Benutzt die richtigen Wörter. Sagt ihr, wo der Wein ist. Auch wenn sie nicht danach fragt, sagt er ihr, dass er den Geruch nicht ausstehen kann.

»Als wäre Essig zu süß, hm?«, sagt sie und stimmt ihm zu, sie lächeln beide, und alles ist gut.

Sie zündet die Kerzen an, aber anders als seine Mutter. Sie wedelt mit den Händen, damit er näher kommt. Legt ihm beide Hände auf die Schultern. Er reckt den Hals, um zu ihr aufzublicken, doch sie hat die Augen geschlossen. Und als sie betet, sind es nicht die Worte, die er gewohnt ist.

Er hört zu. Er beobachtet. Versucht sich ihre Worte einzuprägen.

»Was ist los?«, fragt sie, als sie fertig ist. Ihre Hände liegen noch immer auf seinen Schultern. »Hab ich was falsch gemacht?«

Er schüttelt den Kopf, weiß aber nicht, ob alles richtig war. Er bleibt stumm. Stellt keine Fragen. Er hat viele Fragen, doch sie soll nicht denken, dass er dumm ist. Auch wenn sie es ahnt.

»Dieses Gebet sprechen deine Eltern nicht«, sagt sie. Es klingt wie eine Frage. Er schüttelt wieder den Kopf. »Ist schon okay, Kleiner. Dann ist es eben mein Gebet, wenn du willst.«