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Stella Nickel

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Beschreibung

Ein Klassentreffen verändert schlagartig das Leben der mittlerweile vierzigjährigen Freunde, als sie unter Alkoholeinfluss einen Pakt schließen und sich auf die Suche nach einer verschollenen Freundin begeben. Der Roadtrip führt die Protagonisten aus der Provinz ins weit entfernte Berlin - eine Reise zurück in die Jugend der 1990er Jahre.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Kapitel 1
Lebens-Halbzeit
Unbunt
(Über) Leben
Kater
Solokünstler
Schlachtplan
Loslassen
Aufbruchstimmung
Roadtrip
Potsdam
Fehler
Jugendliebe
Laster-Bar
Kapitel 2
Back to the Roots
Aufwachen
Alltag
Gesucht
Gefunden
Liebe
Trauer
Konsequenzen
Geständnis
Allein
Schwermut
Neuanfang
Abnabelung
Kapitel 3
Betriebsausflug
Beständigkeit
Neue Ufer
Hoffnung
Neue Wege
Alte Freunde
Schnittstellen
Loslassen
Das Leben vorwärts leben
Das Leben ehrlich leben
Das Leben lieben
Provinz-Anomalien unter sich

 

 

Provinz-Anomalien

 

von Stella Nickel

 

 

 

 

Buchbeschreibung:

Die Zukunft stand ihnen offen. Alles schien möglich, als Sonja, Lars, Philipp und Annika in den 1990er Jahren in dem kleinen Dorf Gutenheim aufwuchsen. Nun sind sie vierzig Jahre alt und vom Leben enttäuscht. Lars wird nach einem Seitensprung von seiner Ehefrau hinausgeworfen, Philipp leidet unter den narzisstischen Zügen seiner Partnerin und Annika ist alleinerziehend mit allerhand Problemen. Ein Klassentreffen führt die Freunde wieder zusammen, Sonja jedoch ist unauffindbar. Trotz ungeklärter Konflikte untereinander machen sie sich auf die Suche nach ihr. Dabei werden sie mit der Frage nach dem Sinn des Lebens konfrontiert, und sie müssen feststellen, dass ihr bisheriges Leben von Spießern und falschen Erwartungen geprägt wurde. Ihnen wird bewusst, dass tiefe Zufriedenheit nicht darin besteht, sich anzupassen, sondern sich selbst treu zu bleiben.

 

 

 

 

 

 

 

Provinz-Anomalien

 

 

 

von Stella Nickel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2025

© 2022 Judith Hages

Website: www.judith-hages.com

Umschlaggestaltung: AkiraGraphicz

Lektorat: Kristina Butz

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, postalisch zu erreichen unter: Judith Hages, Dürener Straße 31, 52388 Nörvenich, Deutschland.

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Kapitel 1

Lebens-Halbzeit

 

Den letzten Abend vor seinem vierzigsten Geburtstag verbrachte er allein. Nur der Joint leistete ihm Gesellschaft und darüber war er sehr glücklich. Es knisterte, als Lars an ihm zog. Tief atmete er ein und schloss die Augen. Endlich Ruhe. Die Kinder waren im Bett, die Frau auf dem Sofa und er hatte sich in die Garage zurückgezogen, um seinen wohlverdienten Feierabend zu genießen. Noch ein Zug und er spürte die angenehme Schwere in seinen Gliedern. Er lehnte sich zurück und blies graue Rauchkringel gegen die Windschutzscheibe.

Wie ihn das ankotzte! Er wünschte sich nur einen Tag, an dem er seine Schwiegereltern nicht sehen musste, und nun würde er sie auch noch an seinem Geburtstag aushalten müssen. Sandra hatte die halbe Nachbarschaft eingeladen, obwohl sie wusste, dass er weder diese Leute noch ihre Eltern leiden konnte. Doch bevor es morgen so weit war, hatte er sich ein bisschen Ruhe verdient. Er zog an dem Hebel unter dem Fahrersitz und lehnte sich zurück. Der würzige Dunst sammelte sich am Dachhimmel des Autos und Lars beobachtete amüsiert, wie der Nebel die Silhouette seines übergewichtigen Schwiegervaters annahm. Mit dem Zeigefinger peilte er den mächtigen Bierbauch an und stach zu. Die Kontur verschwamm und er lachte befriedigt.

»Willst du mich verarschen?«

Lars schreckte hoch. Er kniff die Augen zusammen, um besser durch den wabernden Dunst sehen zu können. Dann erkannte er seine Frau, die ihn wütend durch das Beifahrerfenster anstarrte. Bevor er etwas sagen konnte, drehte sie sich um und verschwand durch den Nebeneingang ins Haus.

»Kacke.« Lars zog ein letztes Mal am Joint und drückte den Stummel durch die Öffnung der halb vollen Bierdose im Flaschenhalter. Es zischte. Sein Feierabend endete damit abrupt und nicht wie geplant. Die gute Stimmung war dahin. Nun würde ihm eine weitere lange Nacht mit Diskussionen und Anschuldigungen bevorstehen.

Er betrat das Wohnzimmer. Sandra saß auf dem Sofa und schien ihn nicht bemerkt zu haben. Er näherte sich ihr vorsichtig wie einem gefährlichen Raubtier und versuchte, die Stimmung anhand ihrer Miene abzuschätzen. Der flackernde Schein des Fernsehers ließ ihr Gesicht eisig wirken. Nun war er sich sicher, dass sie ihn ignorierte. Er setzte sich zu ihr und betrachtete den Ehering an seiner Hand. Er verabscheute es: dieses Kriechen und Entschuldigen. Dabei fühlte er sich meistens im Recht. Doch er wollte seine Ruhe und keinen Streit, weswegen er vorzugsweise um Verzeihung bat, anstatt mit ihr zu diskutieren.

Schweigend sah er sich die Dokumentation an, die im Fernsehen lief, und hoffte, dass er um einen Streit herumkommen würde. Doch das lautstarke Vibrieren seines Handys machte ihm einen Strich durch die Rechnung.

Sandra explodierte. »Was denkst du dir eigentlich? Da oben schlafen deine Kinder und du ziehst dir seelenruhig einen Joint rein wie so ein beschissener Teenager?«

Lars, der sein Handy aus der Hosentasche gefischt hatte, setzte zur Verteidigung an, doch seine Frau kam ihm zuvor: »Und wer schreibt dir da eigentlich immer? Ist das dein Dealer oder deine Geliebte?«

Bevor er antworten konnte und der Streit womöglich eskalierte, rettete ihn sein Jüngster: Heulend stand der Vierjährige auf dem Treppenabsatz und rieb sich die Augen. »Mama, ich habe gespuckt.«

Sandra erhob sich seufzend, um Julian zu trösten, der von Kopf bis Fuß mit Erbrochenem bespritzt war.

»Lass mich das doch machen, Schatz«, schlug Lars vor – in der Hoffnung, sie würde ablehnen, denn er hasste nichts mehr als Kotze.

Sandra zuckte bloß mit den Schultern und beobachtete mit einer gewissen Genugtuung, wie er, nur durch den Mund atmend, mit Julian hinaufging.

Mit spitzen Fingern befreite er seinen Sohn aus dem nassen Schlafanzug, an dem die halb verdauten Reste des Abendessens klebten. Ihm war übel. Julian nuckelte an seinem Daumen, was er nur noch dann machte, wenn es ihm nicht gut ging. Auch seine Stirn fühlte sich heiß an. Ein krankes Kind war das Letzte, was er nun gebrauchen konnte.

Nachdem er ihn gewaschen und ihm neue Schlafkleidung angezogen hatte, brachte er ihn ins Kinderzimmer. Auch das Bett war feucht und roch säuerlich. Lars seufzte genervt und bezog das Bett neu, während Julian nuckelnd neben ihm stand und ihn beobachtete.

»Rein mit dir«, sagte Lars und hob die frisch bezogene Decke. Julian krabbelte ins Bett und kuschelte sich an seinen Stoffhasen. Lars wünschte ihm eine gute Nacht und strich ihm übers Haar, bevor er das Zimmer verließ.

Langsam ging er die Treppe hinunter. Er hatte keine Eile, wieder ins Kreuzverhör genommen zu werden. Am liebsten wäre er oben geblieben und ins Bett gegangen, doch das hätte Sandra nur noch mehr gereizt. Als er auf der letzten Stufe angekommen war, stockte er. Sein Handy lag auf dem Couchtisch. Er hatte es dort vergessen, stellte er nervös fest. Der Fernseher war ausgeschaltet und Sandra nirgends zu sehen. Er vermutete, dass sie zu Bett gegangen war, während er Julians Bettwäsche gewechselt hatte.

Er nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich auf die Couch. Vielleicht konnte er doch noch einen ruhigen Abend verbringen und allein mit seinem Bier um Mitternacht auf seinen Vierzigsten anstoßen. Es zischte, als er die Dose öffnete. Er nahm einen großen Schluck, rülpste und legte die Füße auf den Couchtisch. Gerade wollte er sein Handy nehmen, als ein Heulen die nächtliche Stille durchbrach. Es kam von oben: Julian.

Lars ließ seufzend die Schultern hängen. Wenn er Glück hatte, würde Julian ins Schlafzimmer zu Sandra gehen, anstatt nach unten zu kommen. Bewegungslos lauschte er der Lautstärke des Weinens. Es kam näher. Als er sich umdrehte, stand sein Sohn wieder jammernd auf der Treppe. Diesmal mit dem Hasen im Schlepptau. Lars stellte sein Bier ab und erhob sich. Erleichtert stellte er fest, dass wenigstens Julians Klamotten trocken geblieben waren, und ging mit ihm nach oben.

»Bleibst du bei mir, Papa?«, fragte Julian in weinerlichem Ton.

Am liebsten hätte er geantwortet: Nein, frag deine Mutter. Sie wollte unbedingt dieses Familiending. Auf mich wartet unten ein halb volles Bier und noch weitere im Kühlschrank.

Doch stattdessen versuchte er, zu lächeln, und sagte: »Na klar, mein Kleiner.«

Zum zweiten Mal an diesem Abend deckte er Julian zu und hoffte, er würde schnell einschlafen.

»Kannst du mir was vorlesen?«

Lars schloss die Augen und atmete tief durch. »Klar«, presste er hervor und nahm das Bilderbuch vom Nachttisch. Lustlos begann er, daraus vorzulesen. Gefühlte Stunden später war Julian endlich eingeschlafen. Auf Zehenspitzen schlich Lars hinaus, löschte das Licht und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Ächzend ließ er sich aufs Sofa fallen. Er wollte gerade nach dem Bier greifen, da hörte er wieder das gedämpfte Heulen seines Sohnes. »Alles Gute zum Vierzigsten«, sagte Lars und nahm die Dose vom Tisch. Er prostete in Richtung Wanduhr und kippte den Rest des schalen Bieres hinunter.

 

Lars erwachte auf dem Fußboden des Kinderzimmers. Sein Rücken schmerzte. Anscheinend war er eingeschlafen, als er zum wiederholten Mal nach Julian gesehen hatte. Er konnte Stimmen im Haus hören – vermutlich war es schon spät am Morgen.

Er schlich aus dem Zimmer, um Julian nicht zu wecken. Der Kindergarten würde heute ausfallen müssen.

In der Küche saßen bereits Simon und Mark, die ihre Cornflakes löffelten und überall Milchpfützen auf dem Tisch hinterließen. Sandra stand mit dem Rücken zu ihm an der Spüle. Sie strahlte eine unfassbare Kälte aus – der Streit war noch nicht vorbei.

»Guten Morgen«, begrüßte Lars seine Söhne und nahm eine Tasse aus dem Küchenschrank. »Warum hat mich keiner geweckt?«

»Morgen. Happy Birthday«, antwortete Mark schmatzend.

Auch Simon gratulierte, doch Sandra schwieg. Sie vermied jeden Blickkontakt. Er füllte seine Tasse mit Kaffee und fragte sich, wie man sich nur wegen eines Joints dermaßen anstellen konnte. Es sei denn, sie hatte gestern die Nachrichten auf seinem Handy gelesen ...

»Julian ist krank. Ich war die ganze Nacht bei ihm.« Er versuchte vergeblich, es nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen. »Er sollte heute zu Hause bleiben.«

Ohne sich zu ihm umzudrehen, antwortete sie: »Ach, wirklich?« Ihr Stimme triefte vor Sarkasmus.

Er nahm sich vor, zu prüfen, welche Nachrichten er auf seinem Handy nicht gelöscht hatte. Er hoffte, sie waren unverfänglicher, als er befürchtete.

»Du musst die Jungs in die Schule fahren«, sagte sie. Ohne ihn anzusehen, verließ Sandra mit einem Glas Wasser die Küche und ging die Treppe hinauf zu Julian.

Lars zog sich an, scheuchte die Jungs ins Badezimmer und stand zwanzig Minuten später in der Garage und wartete auf seine Söhne. Seelenruhig stiegen sie ins Auto. Er fuhr los.

 

Als Lars eine halbe Stunde später vor dem Firmengebäude parkte, atmete er tief durch und streckte sich. So hatte er sich den Morgen seines vierzigsten Geburtstages nicht vorgestellt. Seine Lebensplanung war sowieso völlig anders gewesen. Ohne Kinderkotze und nörgelnde Ehefrau in einem Provinzkaff am Ende der Welt.

Er blickte wie jeden Morgen in den Spiegel, bevor er das Fahrzeug verließ, und strich seinen Bart glatt. Dunkle Ringe ließen seine Augenhöhlen noch tiefer wirken. Normalerweise war er mit seinem Spiegelbild zufrieden, doch heute sah er furchtbar aus.

Er nahm seine Tasche und stieg aus dem Auto. Dieser Schritt war täglich der Schwerste von allen. Wieder und wieder war es eine Überwindung, auszusteigen und das Gebäude zu betreten, in dem er den ganzen Tag verbringen musste, um dummen Leuten überflüssige Versicherungen anzudrehen. Niemand konnte ihm zum Vorwurf machen, dass er vor lauter Langeweile auf blöde Ideen kam – wie zum Beispiel die fünfzehn Jahre jüngere Kollegin auf der Kundentoilette zu vögeln. Es war keine große Sache, nur ein kleiner Zeitvertreib, der gleichzeitig sein Ego streichelte und verhinderte, dass er vor lauter Langeweile und Enttäuschung über sein Leben den Verstand verlor.

»Alles Gute zum Geburtstag, Lars«, wurde er von Thomas begrüßt, der das Büro mit ihm teilte. »Da hat gestern jemand für dich angerufen, als du schon weg warst.«

»Wer?«

»Keine Ahnung. Hab‘ den Namen nicht verstanden. Die Nummer steht auf deinem Block.«

Lars warf die Tasche unter seinen Schreibtisch und ließ sich auf den Bürostuhl fallen. Am liebsten hätte er sich übergeben, als er die Papierberge sah, die sich auf seinem Tisch stapelten. Jeden verdammten Tag der gleiche Mist – und das noch weitere fünfundzwanzig Jahre! Beinahe hoffte er, vorher das Zeitliche zu segnen.

Unter einer Akte fand er den Notizblock und tippte die Ziffern ins Telefon.

»Bielinski«, meldete sich eine ihm unbekannte, tiefe Stimme.

»Hallo, Herr Bielinski, Lars Dreesen hier. Sie hatten gestern versucht, mich zu erreichen?«

»Hey, Lars. Mein Gott, wie lange ist das her?«

Lars kniff die Augen zusammen. Er hatte kaum geschlafen, zusätzlich Rückenschmerzen, die allmählich bis in den Kopf ausstrahlten, und war absolut nicht in der Stimmung für Ratespiele. »Wer ist denn da?«, fragte er genervt.

»Ich bin‘s: Philipp.«

»Ich kenne keinen Philipp.« Er war kurz davor, aufzulegen.

»Philipp Dahmen. Kannst du dich an ›Schluck, du Luder‹ erinnern?«

Irgendwas klingelte da bei ihm. Bilder eines verpickelten Teenagers mit Haaren wie ein Wischmopp manifestierten sich vor seinem inneren Auge. Und wie Lars ihm den Inhalt einer Bierflasche in den Rachen kippte und rief: ›Schluck, du Luder‹.

»Ach, Phily. Das gibt‘s doch nicht«, rief Lars. »Warum meldest du dich nicht mit Dahmen? Dann hätte ich es früher gecheckt.«

»Oh, stimmt, hab‘ ganz vergessen, dass du mich unter Bielinski gar nicht kennst. Ich habe den Namen meiner Frau angenommen.«

Lars lachte, bemerkte aber, dass Philipp nicht scherzte, und wechselte das Thema. »Wie geht es dir denn? Wo wohnst du jetzt? Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«

»Das ist bestimmt über zwanzig Jahre her. Ich wohne jetzt in Köln. Und du bist in Gutenheim hängen geblieben?«

»Ja«, gab Lars deprimiert zu. »Ist ja nicht gerade mein Plan gewesen.«

»Pass auf, weshalb ich dich anrufe: Ich plane ein Klassentreffen. Nächste Woche Freitag. Bist du dabei?«

Wie lange hatte er nicht mehr an diese Zeit zurückgedacht? An seine Jugend mit all den Träumen und Hoffnungen, die er sich nie hatte erfüllen können. Irgendwann in der Vergangenheit musste er falsch abgebogen sein und war in einer Sackgasse namens Gutenheim gelandet. Es dauerte einige Zeit, bis Lars schließlich zusagte.

Als sie das Gespräch beendeten, starrte Lars gedankenverloren aus dem Fenster. Wollte er überhaupt all diese Leute, mit denen er zufällig ein paar Jahre seines Lebens verbracht hatte, wiedersehen? Seine Freunde natürlich schon, aber die anderen? Ehrlich gesagt wollte er nicht zugeben müssen, dass er, der damalige Gitarrist und Draufgänger, nicht weiter als bis zum anderen Ende seines Heimatdorfes gekommen war, während Philipp, der Nerd, nun in Köln lebte. Und nun wurde er vierzig, hatte die Familienplanung abgeschlossen und einen langweiligen, wenn auch sicheren Job. Nichts Neues erwartete ihn; er hatte bereits alles erlebt. War das der Sinn seines Lebens? Tag für Tag immer dasselbe zu erleben, seine Energie und Freizeit für den Nachwuchs zu opfern, der irgendwann auszog und ihn ausgebrannt zurückließ?

Das Klingeln des Telefons stoppte seine Gedankenspirale und bewahrte ihn davor, aus dem Fenster zu springen. Dankbar hob er den Hörer ab.

»Hi, Lars, Bock auf Pause?« Es war Marie, die ein Stockwerk tiefer arbeitete und anscheinend gelangweilt oder notgeil oder beides war.

Unwillkürlich fragte er sich, warum diese junge, nicht übel aussehende Frau gerade ihn ausgewählt hatte. Bisher war er davon ausgegangen, dass sie seinem Charme erlegen war. Doch nun zweifelte er an seiner Verführungskunst. Sie hatte etwas Besseres verdient als einen depressiven Familienvater in der Midlife-Crisis, der sie ausnutzte. Denn war es nicht genau das, was er machte? Er fühlte sich durch sie attraktiver und vor allem jünger. Überraschenderweise war er nun hin- und hergerissen – zwischen dem Wunsch nach Abwechslung und Bestätigung und den Gewissensbissen der jungen Frau gegenüber. Um seine Frau machte er sich kaum Gedanken. Ihre Ehe diente einzig und allein nur noch dem Zweck, die drei Jungs großzuziehen. Schließlich beschloss er, sich mit Marie in der Kundentoilette zu treffen, um die Affäre zu beenden.

Als er den Toilettenraum betrat, wartete sie schon in der letzten Kabine auf ihn – wie immer sexy und heiß in ihrem kurzen Rock. Und bevor er etwas sagen konnte, zog sie ihn am Hosenbund zu sich heran und küsste ihn wild, während sie seinen Gürtel öffnete. Lars‘ nobler Vorsatz erlosch in dem Moment, als Marie ihre Hand in seine Hose schob.

 

Nach der Arbeit bog Lars in die Straße ein, in der sein Haus stand, und bremste abrupt. Die Fahrzeuge, die die Einfahrt zuparkten, und die zahlreichen Menschen im Vorgarten erinnerten ihn wieder daran, dass seine Frau Gäste zu seinem Geburtstag eingeladen hatte. Sein rechter Fuß zuckte über dem Gaspedal, doch man hatte sein Auto trotz der Dunkelheit bereits erkannt. Fluchend parkte er vor dem Haus. Er schaltete den Motor ab und schloss für einen Moment die Augen. Er wollte das nicht. Er wollte nicht hineingehen, dämlichen Small Talk führen und über die immer gleichen Witze seines Schwiegervaters lachen müssen. Er wollte nicht den neuesten Tratsch der Nachbarn hören – wer sich getrennt oder wer mit wem aus dem Dorf fremdgegangen war. Er wollte nicht mehr so tun, als würde er diese Leute und das Dorf mögen. Der Drang, zu flüchten, überwältigte ihn beinahe.

Sein Handy vibrierte in der Jacke. Es war eine Nachricht von Marie. Wieder etwas, das er nicht mehr wollte. Hatte er nicht heute Morgen vorgehabt, es zu beenden? Nun sah er eine Chance, wenigstens eine Sache in seinem Leben zu verändern. Er schrieb Marie, dass er eine Pause brauchte. Ihm war bewusst, dass sie ihn für feige und unsensibel halten musste, weil er es ihr nicht persönlich sagte. Doch irgendwann würde sie ihm dankbar sein, weil sie etwas anderes, etwas Echtes verdient hatte.

Er vernahm gedämpfte Rufe und sah, wie ihm mehrere menschliche Silhouetten im dunklen Vorgarten zuwinkten. Seufzend schob er sein Handy in die Hosentasche und stieg aus. Man erwartete ihn bereits vor der Haustür. Hände wurden geschüttelt und man beglückwünschte ihn. Er lächelte gequält, bedankte sich und trat ein. Es duftete nach Sauerbraten. Der große Esstisch war feierlich gedeckt und die älteren Herrschaften hatten bereits Platz genommen und unterhielten sich.

»Vierzig! Du alter Sack«, sagte Herr Breuer, sein Schwiegervater, lachte und klopfte ihm einen Tick zu heftig auf die Schulter. »Wird Zeit, dass sich unsere Sandra einen Jüngeren sucht.«

»Wird Zeit, dass ich mir andere Schwiegereltern suche«, sagte er und verzog den Mund zu einem Lächeln. Herr Breuer brüllte vor Lachen über den vermeintlichen Scherz und bemerkte nicht, dass Lars es durchaus ernst meinte. Er wand sich aus seinem Griff und flüchtete in die Küche, um ein Bier zu holen.

Sandra stand am Herd. Ihr dunkles Haar war zu einem Dutt im Nacken zusammengefasst. Als sie ihn sah, verdunkelte sich ihre Miene.

»Wie geht es Julian?«, fragte Lars und öffnete den Kühlschrank.

»Ist wieder fit.«

Er öffnete die Flasche, nahm einen großen Schluck und wollte gerade gehen, als Sandras Mutter die Küche betrat und sich ihm in den Weg stellte.

»Alles Gute, Lars.« Er hasste diese dunkle, verrauchte Stimme seiner Schwiegermutter. Sie hatte die Angewohnheit, sich in regelmäßigen Abständen zu räuspern, was unglaublich nervtötend war.

»Danke.«

»Ich hoffe, man hat dich auch auf der Arbeit gefeiert«, sagte sie und lächelte. Roter Lippenstift klebte an ihren Schneidezähnen.

»Ja, haben sie.« Kurz dachte er an Maries kurzen Rock und ihre nackten Schenkel.

»Lars, was ich dir eigentlich schon länger sagen wollte«, begann sie und er wusste, dass nun ein langer Monolog über den Garten oder das Essen folgen würde. »Euer Vorgarten draußen ist so verwildert. Das sieht nicht schön aus, wenn man vorbeigeht. Sandra hat mir erzählt, dass ihr dieses Jahr beim Wettbewerb mitmachen wollt, aber mit dem ganzen Unkraut werdet ihr keine Chance haben. Ich habe da etwas bestellt, damit geht das ruckzuck weg.«

Lars starrte auf ihre roten Zähne und konnte den Blick nicht abwenden. Seine Gedanken schweiften ab, während sie ihm die Vor- und Nachteile von Unkrautvernichter erklärte. Er stellte sich vor, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er sich nicht mit Sandra eingelassen hätte, sondern stattdessen mit Sonja zusammen gekommen wäre. Eigentlich eine banale Vorstellung. Als Sechzehnjährige waren sie Freunde gewesen und nichts zwischen ihnen hatte darauf hingedeutet, dass sich da mehr hätte entwickeln können. Trotzdem war die Vorstellung, mit einer Frau liiert zu sein, die dieses oberflächliche Leben genauso verabscheute wie er, verlockend. Er wunderte sich, dass er nach fünfundzwanzig Jahren wieder an Sonja denken musste. Vermutlich wegen Philipps Anruf und weil Sonja Gutenheim genauso hasste wie er. Lars musste zugeben, dass er neidisch war. Sie hatte es geschafft, rauszukommen. Wo sie schließlich gelandet war, fragte er sich. Im Dorf wurde zwar erzählt, dass sie im Osten als Prostituierte arbeitete, aber aus Erfahrung wusste er, dass die Leute hier gern aus Langeweile Gerüchte erfanden und weitererzählten. Aber egal, wo sie nun leben und was sie tun mochte, für ihn schien alles attraktiver zu sein als dieses Provinzleben.

»Lars?« Seine Schwiegermutter blickte ihn fragend an und er begriff, dass sie ihm eine Frage gestellt hatte.

»Hast du was gesagt?«

»Du hast ja gar nicht zugehört.«

»So ist es.« Er beobachtete zufrieden, wie ihre Augen so groß wie Tischtennisbälle wurden und ihr fleischiges Kinn herunterklappte. Er ließ sie sprachlos stehen, schob sich an den Nachbarn vorbei, die sich im Wohnzimmer unterhielten, und verschwand durch den Nebeneingang in die Garage. Schnell verriegelte er die Tür von innen.

Er atmete die kühle, nach Gummi und Metall duftende Luft ein – ein Geruch, der ihn beruhigte. Die Stille war wohltuend und bislang der schönste Moment an diesem furchtbaren vierzigsten Geburtstag. Er stellte die leere Bierflasche ab, öffnete den Vorratsschrank und schob die Konservendosen zur Seite, bis er hinten zu den Flaschen gelangte. Er fischte eine braune Whiskeyflasche heraus, die er vor etlichen Jahren geschenkt bekommen und für einen besonderen Augenblick verwahrt hatte.

Mit einem dumpfen Plopp entfernte er den Korken von der Flasche und schnupperte daran. Der intensive Duft nach Vanille und Mandeln kitzelte in seiner Nase. Er nippte und spürte, wie die scharfe Flüssigkeit seine Speiseröhre hinab rann. Noch ein Schluck und er genoss die wohltuende Wärme, die sich in seinem Bauch ausbreitete. Sein Handy vibrierte zum wiederholten Mal und er griff genervt in die Tasche. Marie hatte ihm geschrieben und in jeder Nachricht schien sich ihre Wut auf ihn zu steigern. Seufzend steckte er es wieder ein und nahm einen weiteren Schluck. Der Whiskey brannte auf seiner Zunge und plötzlich vermisste er seinen Vater. Er hätte hiermit liebend gern mit ihm angestoßen. Normalerweise vermied er es, über seine Eltern nachzudenken, doch in bestimmten Situationen blitzte dann doch ein kurzer Moment der Sehnsucht auf. Wären sie noch am Leben gewesen, hätte er zusammen mit seinem Vater auf seinen Vierzigsten anstoßen können und seine Mutter hätte vermutlich Sandra in der Küche geholfen. Vielleicht würde er dann noch Gitarre spielen – 㼀seine Mutter war immer sein größter Fan gewesen.

Lars‘ Blick fiel auf den Gitarrenkoffer. Verstaubt und vergessen lehnte er zwischen den Sommerreifen und dem Werkzeugkasten in einer Ecke. Konnte man verlernen, was man in seiner Jugend beinahe ununterbrochen praktiziert hatte? Seine Hand zuckte, als würde sie sich an die Griffe erinnern, an die er seit Jahrzehnten nicht mehr gedacht hatte.

Er wollte gerade nach dem Gitarrenkoffer greifen, als er ein schwaches Klopfen vernahm. Es kam von der Tür. Wieder klopfte es und er hörte, wie eine leise Stimme »Papa« rief. Noch nicht einmal an seinem Geburtstag schien ihm Ruhe vergönnt zu sein. Seufzend stellte er die Whiskeyflasche beiseite und schloss die Tür auf. Sein Ältester stand mit einem prüfenden Blick vor ihm. Lars fiel auf, wie sehr er in den letzten Wochen gewachsen war. Allmählich wurde ein Teenager aus ihm.

»Was machst du hier, Papa? Warum bist du nicht drinnen bei den anderen?«

Lars kratzte an seinem Bart. Unglücklicherweise hatte der Alkohol nicht nur seinen Bauch gewärmt, sondern auch seine Zunge gelockert. »Weißt du, Männer wollen allein sein, besonders an ihren Geburtstagen.«

»Willst du mich auch nicht sehen?«, fragte Mark und schob seine Unterlippe vor.

Lars suchte verzweifelt nach Worten, die seinen Sohn nicht verletzten, ihn aber gleichzeitig dazu brachten, ihn in Ruhe zu lassen. »Nein, natürlich will ich dich sehen, aber ...«

»Gut, dann können wir Männer ja zusammen allein sein«, unterbrach ihn Mark und betrat die Garage. Er setzte sich auf den Werkzeugkasten am Garagentor und rieb seine Hände.

Lars stieß einen Seufzer aus und ergab sich schließlich seinem Schicksal.

»Ist kalt«, bemerkte der Junge. »Was machst du hier, wenn du allein sein willst?«

Rauchen, trinken, die Ruhe genießen – all das, was ich nun nicht mehr machen kann, dachte Lars, doch so angetrunken war er nicht, es laut auszusprechen. »Ich denke nach«, antwortete er stattdessen und setzte sich gegenüber auf eine Bierkiste.

»Worüber?«

Warum mussten Kinder immer weiterfragen? Schweigen war für diese Generation anscheinend ein Fremdwort.

»Ich denke über das Leben nach.«

»Ich auch.« Der Junge senkte traurig den Blick.

»Was ist los?«

Doch Mark schüttelte nur stumm den Kopf. Lars sah, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.

»Hey, Großer. Was ist denn los?«, fragte er noch einmal. Er setzte sich neben Mark und legte einen Arm um ihn.

»Da ist so ein Junge aus der Siebten. Der verarscht mich die ganze Zeit. Und seine Freunde auch.«

Lars war sprachlos. Er hatte als Kind glücklicherweise keine Erfahrung damit machen müssen. Aber er konnte sich gut daran erinnern, wie übel man seinen alten Kumpel Philipp behandelt hatte. Als Streber war er leichte Beute für schikanierende Mitschüler gewesen und da er weder Muskeln noch Selbstbewusstsein besessen hatte, war es Lars gewesen, der ihm ständig hatte helfen müssen.

Mit Mark schien es ähnlich zu sein. Er war Klassenbester, Brillenträger und von schmächtiger Statur – das perfekte Opfer.

»Schlagen sie dich?«, hakte Lars nach.

»Nein. Aber es macht mich traurig, dass sie über mich lachen.«

»Du musst so tun, als ob es dir egal wäre, was sie sagen.«

»Und wie soll ich das machen?«

Lars überlegte und dachte an seine Jugend zurück. Wie hatte er Philipp damals geholfen, außer dass er den anderen Prügel angedroht hatte? Er erinnerte sich daran, dass sie oft nachts aus dem Haus geschlichen waren und sich am Gutenheimer See getroffen hatten. Am Steg hatten sie über das schwarze Wasser gesehen und sich stark gefühlt. Philipp schien dann seine Rachezüge zu planen, die er tagsüber natürlich nie ausgeführt hatte, doch in den stillen und nächtlichen Momenten war es eine heilsame Vorstellung gewesen.

»Ich hab‘ eine Idee.« Lars erhob sich, nahm aus dem Schrank zwei Jacken und öffnete langsam das Garagentor.

»Was machst du?«

»Hier. Zieh die an. Ist zwar etwas groß, die wirst du aber brauchen.«

Mark zog die Jacke an, deren Ärmel tatsächlich viel zu lang waren. Fasziniert beobachtete er seinen Vater, der geduckt die Garage verließ und an der Wand entlang in den Schatten auf die Einfahrt schlich. Er winkte Mark zu, der ihm grinsend folgte – immer mit Blick zum Vorgarten, in dem ein paar Gäste in Gruppen zusammenstanden und rauchten.

Die beiden erreichten ungesehen die dunkle Straße und Mark lachte leise. Lars grinste.

»Und jetzt?«, flüsterte der Junge atemlos.

»Jetzt hauen wir ab. Mir nach.«

Als sie außer Sichtweite waren, gingen sie nebeneinanderher und Mark hakte sich bei seinem Vater unter. Nach zehn Minuten Fußweg erreichten sie den See, der schwarz schimmernd vor ihnen lag. Die Sterne spiegelten sich auf der Wasseroberfläche und es schien, als wäre der Himmel endlos.

Schweigend nahmen sie auf dem Steg Platz und lauschten der Nacht. Das leise Plätschern des Wassers wirkte hypnotisierend. Lars fühlte sich wieder zurückversetzt in die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren, als Gutenheim noch seine Heimat gewesen war und nicht das Gefängnis, in dem er nun lebte. Der See würde sich nie ändern, stellte er erleichtert fest.

»Danke, Papa.«

Lars hielt Mark fest und lächelte.

Die Hosentasche vibrierte und der harmonische Vater-Sohn-Moment zerplatzte wie eine Seifenblase. Lars fingerte nach seinem Handy und nahm den Anruf entgegen. »Ja?«

»Du verfluchter Scheißkerl!«, schrie Sandra ins Telefon. »Wo bist du?«

Lars stand auf und verließ den Steg. »Was ist los? Ich bin mit Mark am See.«

»Wenn du wieder da bist, kannst du direkt deine Sachen packen!«

Sie beendete das Gespräch und Lars starrte das dunkle Display an.

»War das Mama? Müssen wir zurück?«, fragte Mark.

Lars nickte geistesabwesend. Sein Herz begann, zu rasen, und ihm wurde heiß. »Komm, wir müssen nach Hause.« Er ging los.

Sein Sohn lief hinter ihm her. »Ist was passiert?«

»Nein, alles gut.«

Nichts war gut. Sein Schritt beschleunigte sich.

Als sie in die Straße einbogen, konnte er den Vorgarten sehen. Man hatte die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Wie in einer Zirkusmanege waren die Lichtkegel auf Garten und Einfahrt gerichtet. Er kam näher und erkannte seine Frau. Sie wurde von einer anderen Person verdeckt, die sich umdrehte, als er das Anwesen betrat. Es war Marie, die genauso wütend aussah wie seine Frau.

 

 

 

 

 

 

 

Unbunt

 

Lars‘ Nummer war die vorletzte auf seiner Telefonliste. Nun fehlte nur noch eine Person. Philipp hatte diesen Anruf bis zum Schluss vor sich hergeschoben, aus Unsicherheit, wie er mit Annika umgehen sollte.

Damals waren sie Freunde gewesen. Sehr gute Freunde. Doch nachdem das mit ihrer besten Freundin Sonja passiert war, hatte sich alles verändert. Deshalb war sich Philipp nicht sicher, wie Annika reagieren würde, wenn er sie anrief und zum Klassentreffen einlud. Er zögerte den Moment hinaus – alles war willkommener, als ihre Nummer zu wählen und darauf zu warten, dass sie abnahm.

Er machte sich eine Tasse Tee und telefonierte mit Kollegen. Heute arbeitete er von zu Hause aus, was ihm die Gelegenheit gab, zwischendurch privaten Beschäftigungen nachzugehen. Der Nachteil war allerdings, dass ihn die Putzfrau ständig unterbrach, indem sie staubsaugte oder vor sich hinfluchte.

»Künn Se ens opston?« Frau Fleischer quetschte sich mit Reinigungsspray und Tuch an ihm vorbei, wobei ihr mächtiger Vorbau sein Gesicht haarscharf verfehlte.

Philipp sprang auf und überließ ihr den Schreibtisch. Er fragte sich, ob sie absichtlich genau dann sein Notebook oder den Tisch putzen musste, wenn er telefonierte oder konzentriert arbeiten musste.

»Wat för e Saustall! Han Se ens wat vun Untersetzern gehoot? Üverall Kränze! Wenn dat der Chefin sieht ...«

Während Frau Fleischer die Tischplatte polierte, zog sich Philipp in die Küche zurück. Er setzte sich an die Theke und blickte hinaus durch das große Panoramafenster. Dieser Ausblick war damals der Grund gewesen, warum sie die Wohnung genommen hatten, und nun nahm Philipp ihn kaum noch wahr.

Aus dem Nebenzimmer drangen lautstarke Selbstgespräche und Verwünschungen der Reinigungskraft. Er ging ins Wohnzimmer, das durch zwei Stufen mit der offenen Küche verbunden war, schaltete den Fernseher ein und ließ sich auf die weiße Ledercouch fallen.

Die überwiegend weiße Einrichtung der Wohnung war die Idee seiner Frau Jana gewesen. Obwohl Philipp diese Farbe hasste, hatte sich Jana als Innenarchitektin durchgesetzt. Sie schien es nicht zu stören, dass jede Berührung einen Fingerabdruck auf den weiß lackierten Küchenmöbeln hinterließ und der Lack Staub anzog wie ein Magnet.

---ENDE DER LESEPROBE---