Psychocalypse - Carsten Klook - E-Book

Psychocalypse E-Book

Carsten Klook

3,7

Beschreibung

In einer skurrilen Klinik, die sich irgendwo zwischen einer utopischen und nur allzu realen Welt befindet, erlebt Marco den alltäglichen Wahnsinn aus Slapstick, unfreiwilliger Tragikomik, Schicksal, Trash und Therapie. Da er als MS-Kranker zwischen lauter Depressiven und Burnout-Patienten keine für ihn adäquate Hilfe bekommt, verfällt er in eine Schockstarre. Erst eine Wunderpille in einem anderen Krankenhaus versetzt ihm den nötigen Tritt. In Notwehr greift er endlich zum Kuli und schreibt sich den gesammelten Frust von der Seele.

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ÜBER DEN AUTOR

Carsten Klook, geboren 1959, lebt und arbeitet in Hamburg als Schriftsteller und Kulturjournalist. Er veröffentlichte u.a. die Romane „Korrektor“ und „Stadt unter“, die Erzählbände „TV-Lounge“, „White Trash“ und „Seinsgründe – 43 Neurosen“, die Gedichtbände „Unterirdische Absprachen“ und „Antikörper – 21 LiebesMarodeure“ sowie diverse Hörspiele.

„Bin ich als Ganzes ein explodiertes Feld oder liege ich darauf verstreut?“

Angelika Reitzer

in Taghelle Gegend

„Angst ist mein König“

Kosmonautentraum

INHALT

ÜBER DAS BUCH

TROLLEY-ALTAR

SEESTÜCKE

ODER

RHAPSODIE IN RAPS

IN DER HITZE DES SOMMERS

IN EINER KLINIK AM STADTRAND

DREHUNG

CHLORHUHN?

VORSPRUNG

RÜCKPASS

SCHLICHTE ELEGANZ

BOX

D:U:R:C:H!

BOOST-BOOTS!

FARBENFROH

END-LEG ...

oder:

SCHULD UND BÜHNE

REISSLEINE

AUF DEM WEG ZURÜCK

NOLENS VOLENS

EPI-LOG-ZEN-TRÜMMER

LEGENDE MEDIZINISCHER BEGRIFFE

ÜBER DIE VORFÄLLE IM KINDERKRANKENHAUS ROTHENBURGSORT

Nach einer wahren Begebenheit und den

Aufzeichnungen des Patienten Marco Ferrtereit

Über das Buch

März 2012: Das Dimethylfumarat steht kurz vor der Zulassung als Basismedikation für Multiple-Sklerose-Patienten, jedenfalls behauptet das der US-amerikanische Biotechnologiekonzern Biogen Idec, der den aus der Dermatologie seit Langem bekannten Wirkstoff BG 12 in neuer Verkapselung unter neuem Namen auf den Markt bringen will.

Über 130.000 MS-Patienten allein in Deutschland und zwei Millionen weltweit erhoffen sich dadurch einen besseren Schutz vor dem Fortschreiten ihrer gefährlichen Krankheit, da es bis zu 50% der Schübe verhindern kann, ohne nennenswerte Nebenwirkungen zu produzieren. Aus Geldgier entfacht ein Kampf um die Patente, der die Zulassung verzögert.

Für die Betroffenen heißt es Abwarten – und das, obwohl sie keinerlei Zeit zu verlieren haben, denn jeder Tag ohne Schutz vor Schüben ist ein gefährlicher Tag, der eventuell mit weiteren körperlichen Einschränkungen bezahlt werden muss. Nicht mehr richtig sehen können, nicht mehr gehen können, nicht mehr richtig fühlen können …

Die auf dem Markt befindlichen Medikamente haben nicht unerhebliche Nebenwirkungen. Die Einführung des neuen Medikaments wäre ein Neubeginn in der Behandlung dieser in ihrer Ursache noch immer nicht wirklich verstandenen, unheilbaren Krankheit. Die Zeitspanne zwischen Ankündigung des Medikaments und der tatsächlichen Zulassung auf dem Markt wird zu einer historisch wichtigen und heißen Phase. Ein Zeitraum, der für allerlei Erwartungen und Spannung sorgt und für einige Patienten zu einer Zerreißprobe wird.

Marco, der 2007 an einer Sehnerventzündung erkrankte und noch keine sichere MS-Diagnose erhielt, da er aufgrund seiner Klaustrophobie kein MRT machen konnte, bekommt im Mai 2012 zuerst eine Beinparese rechts und dann eine Beinparese auf der linken Seite. Damit ist sicher: Marco hat eine schubförmig remittierende Multiple Sklerose. Seine Gehstrecke beträgt jetzt nur noch 3.500 bis 4.000 Meter, mehr schafft er nun nicht mehr, ohne sich zwischendurch hinzusetzen. Im Universitätskrankenhaus rät man ihm, auf die Zulassung der Fumarsäure zu warten. Als das Medikament im Juli 2013 noch immer nicht erhältlich ist, entschließt Marco sich unter Ratschlägen von Ärzten, täglich Copaxone zu spritzen, weil er die Vorstellung nicht mehr erträgt, vor weiteren Schüben ungeschützt zu sein.

Ende Juli 2013 wird er im Urlaub, den er zusammen mit seiner langjährigen Freundin Ariane an der deutschen Ostseeküste verbringt, von plötzlich einsetzenden Panikattacken heimgesucht und muss sich in eine psychosomatische Klinik begeben. Verträgt er die Copaxone-Spritzen nicht, die er sich seit einem Monat täglich gibt? Bekommt er durch dieses Medikament heftige Depressionen und seltsame Anwandlungen, oder liegt das am neuen, süchtig machenden Schlafmittel?

In der Klinik am Stadtrand von Hamburg glaubt man ihm nicht, scheint die Zusammenhänge nicht zu (er)kennen und fährt stattdessen das Standardprogramm, mit dem alle seelisch Erkrankten dort behandelt werden. Man lässt ihn an aberwitzigen Gruppentherapien und einer mangelhaften ärztlichen Versorgung teilhaben.

Wir schreiben nicht das Jahr 1905, sondern 2013. Die T-Gruppe hat vor einigen Jahren ehemals staatliche Krankenhäuser aufgekauft und privatisiert. In ihrer Monopolstellung sind die Kliniken eine Katastrophe fürs Gesundheitssystem. Mit schlecht ausgebildeten, unterbezahlten und überlasteten Fachkräften erwirtschaftet der Konzern jährlich einen Milliarden-Umsatz.

Marco gerät in die Fänge der sogenannten Sektorisierung und landet immer wieder bei denselben überforderten oder unfähigen Ärzten und Therapeuten der T-Gruppe, da für ihn im Stadtteil, in dem er lebt, kein anderes Klinikum zuständig ist. Irgendwann ist er so verunsichert, dass er sich sogar freiwillig dorthin zurückbegibt. Catch 22? Seine Gehstrecke hat sich inzwischen auf 800 bis 1.000 Meter verringert.

Während seines Aufenthalts verliebt sich Marco in eine Mitpatientin, was seinen inneren Druck und seine Zwangslage kurzfristig entlastet, dann aber noch verschlimmert. Wird Marco es schaffen, in seinem Kampf nicht nur gegen die Krankheit, sondern auch gegen uneinsichtiges und schlecht informiertes Fachpersonal seine Haut zu retten? Es geht Marco darum, der Fehlwahrnehmung der Therapeuten und Ärzte, die seine Lage nicht nur verkennen, sondern ihn daran zu hindern scheinen, dass er seinen Zustand mit anderen, ihnen unbekannten Mitteln verbessert, die zerbeulte Stirn zu bieten. Es geht nicht nur um Genauigkeit, sondern um Wahrheit und Manipulation. Die Klinik zeigt das hässliche Gesicht des Kapitalismus.

Ein spannender und erbitterter Kampf gegen normative Konventionen und die Vereinnahmung durch Ärzte, ein Ringen um menschliche Behandlung und Versorgung am Rande von suizidalen Tendenzen beginnt … eine post-postmoderne Abenteuergeschichte. Auf seiner Rundreise durch Kliniken und Krankenhäuser lernt Marco die seltsamsten Figuren und deren Schicksale kennen, die sich auf ähnliche Weise ihren Weg durch die Unbotmäßigkeiten des Lebens bahnen.

Gleichzeitig erzählt der Roman von Liebe jenseits des rein sexuellen Begehrens, vom langsamen Akzeptieren und sich Zurechtfinden in und mit einer schweren Krankheit, die ein neues Selbstverständnis und eine andere Sicht auf das Leben und die Welt erfordert. Ein slowcore-Trip jenseits allen Trends …

Der Roman zeichnet die Bewegungen der Abwehr auf Seiten der Therapeuten und der Patienten sowie Klischees der sogenannten Tiefenpsychologie detailliert nach. Der Roman ist nicht nur ein Exkurs über die Kräfte des Unterbewusstseins. Er ist auch die Geschichte einer Krankheitsverarbeitung und deren Hindernisse, die zu einer Reise durch den psychischen und körperlichen Gesundheitszustand einer Republik wird.

Der Roman verbindet Kapitalismuskritik mit psychologischen und medizinischen Phänomenen, Einzel- mit Kollektivschicksalen, Kultur und Politik, Widerstand und schicksalshafte Krankheitsverläufe, schildert den Kampf um persönliche Freiheit. Ein flammendes Plädoyer für das Vertrauen auf die eigene Wahrnehmung.

: : :

A

1

TROLLEY-ALTAR

Marco wollte nicht länger warten, sondern in den stockenden Verkehr geraten, der sich auf der Autobahn in aller Frühe Richtung Küste schlängelte. Ariane aber schlug vor, noch etwas Zeit verstreichen zu lassen. Als ob mit fortschreitender Dauer des Tages die Blechkarawane kleiner würde. Tat sie nicht. Immerhin war es Freitag. Der 26. Juli 2013.

Auch die Mittagshitze trug nicht zur Gelassenheit auf den Straßen bei. Und dann die Heimkehrer Richtung Kiel, die den Feierabendverkehr bevölkerten … da half es auch nicht, dass Ariane und er keine Langschläfer waren, nein, genau das Gegenteil, sie wachten meist um 6 Uhr auf und wollten heute trotzdem den halben Tag im Bett verbringen. Das trägt nicht zum entspannten Vorglühen auf einen Urlaub bei, dachte Marco. Warum nicht schon vor der Abfahrt Urlaubsstimmung tanken, hatte Ariane noch am gestrigen Abend gemeint und den Wagen in der Tiefgarage bereits bepackt.

In der ersten Stunde des Tages, nach dem Erwachen, hatte Ariane ein Ritual für sich etabliert: Sie wollte erst einmal in Ruhe Gelassenheit ausströmen, sich meditativ auf den Tag vorbereiten, den Stress hinauszögern und sich selbst genießen, die Ruhe vor dem, was zu erwarten war, als Sockel vorbereiten, auf den sie dann, wenn es hektisch würde, zurückkehren und auf diesem thronen könnte wie ein buddhistischer Mönch. Diese Stunde brauchte sie, bevor sie in ihr luxuriöses, mit Marmor ausgekacheltes Bad ging, wo sie auch noch einmal eine Stunde duschte, sich pflegte, eincremte, föhnte und sich sowohl mental als auch körperlich tagesbereit machte. Frühstücken konnte sie dann erst eine halbe Stunde nachdem sie die Tablette zur Regulierung der Schilddrüsenfunktion eingeworfen hatte. Bevor all diese Prozeduren in Angriff genommen wurden, saß die brünette Ariane meist auf dem Bett oder auf der Couch, auf der Marco nächtigte (sie schliefen getrennt, damit jeder schnarchen konnte, wie er wollte oder musste), und erzählte von ihren Erlebnissen mit den Hunden aus dem Tierheim und den neuesten Entwicklungen ihrer Arbeit. Das Warten auf Arianes richtige Betriebstemperatur machte Marco ganz flirrig. Er fühlte sich als Fremdkörper in der eigenen Haut. Andere hätten in diesen Morgenstunden vielleicht geraucht oder Sex gehabt. Oder beides. Aber Ariane und Marco waren aus diesem Alter heraus. Oder sich dafür auch zu fein? So jedenfalls sah es Marco. Ariane war da anderer Meinung.

Das Verhindernwollen von schwierigen Situationen und Unannehmlichkeiten zog diese allzu oft magnetisch-magisch an. Nun saßen die zwei dennoch oder gerade deshalb verkrampft-entspannt in geflochtenen Bastsesseln am Eukalyptus-Hartholztisch zwischen geneigten Bambuspflanzen und ausladend struppigen Hirschzungenfarnen auf Arianes weiß getünchtem Balkon im vierten von fünf Stockwerken, warteten auf eine imaginäre Wendung noch nicht vorhandener, aber in Marcos festem Glauben programmierter Schwierigkeiten und genossen sowohl die einfallenden Sonnenstrahlen als auch den Blick auf die Magnolienbäume, Kiefern und haushohen Lärchen.

Ariane war erst vor einem Monat in diese Wohnung gezogen, die in einem modernen Gebäudekomplex mit weißer Rauputzfassade untergebracht war. Ein Betonbau, dessen Wände so dick waren, dass kein Nachbar den anderen störte. Sie hatte sie in Lachsfarben und Pastellorange gestrichen, hier und da standen noch unausgepackte Kartons im Weg. Hinter Ariane lag eine harte Zeit: Ihre große Fünfzimmerwohnung in Uninähe hatte sie aufgeben und zu ihren Eltern ziehen müssen, weil die Aufträge ausgeblieben waren. Mit einem Mal. China und die kostengünstige Herstellung von Schuhen dort hatten ihre Kontakte zu italienischen Fabrikanten für manche Firmen unrentabel erscheinen lassen und Ariane bei den Markenherstellern, für die sie arbeitete, aus dem Rennen geworfen. Für ganze drei Jahre. Aber das war nun überstanden. Doch es hatte Spuren hinterlassen. Die Schuh- und Taschendesignerin, die für ihre genialen Lederideen in der Szene großer Hersteller von Top Brands berühmt war, hatte ihre Leichtigkeit verloren und ihre Nerven waren nicht mehr so strapazierfähig wie früher. Sie hatte sich in der Krise gefühlt, als sei sie aus Ballerinas in 9 Zentimeter hohe Rollschuhe aus Blei geschlüpft, die sie nach unten zogen.

Marco gehörte der Generation Fiftysomething (plus gimme five) an, Ariane noch nicht. Während Marco mit dem Freizeitdress im Stil von Berufsjugendlichen in Jeans, Sweater und Turnschuhen kokettierte, kollidierte und eine grungige Schluffigkeit zu demonstrieren gedachte, die ihm aber inzwischen zur matschigen Nachlässigkeit entglitten war, trug Ariane Mode für Erwachsene in gedeckten, hellen Brauntönen. Auch im Winter. Als ginge sie auf Safari. Marco war ein leptosomischer Typ mit Gliedmaßen von erstaunlicher Dürrheit, dünn wie Gitarrenhälse. Als gelte es, Joey Ramone nachzueifern. Nur sein nicht unerheblicher Wams störte bei dieser Vorstellung, in der er sich selbst gerne sah. Auch Ariane kämpfte gegen ein paar überflüssige Pfunde an, die Küche ihrer Mutter hatte sie schlemmen lassen, nun mussten sie beide gegensteuern.

Marco trug einen kurzen Bürstenschnitt in Straßenkötergrau, einen halbierten Iro, der seiner einst kantigen Visage, die in letzter Zeit rundere Formen angenommen hatte, nicht wirklich den nötigen Pinselstrich verlieh, eher auf halber Strecke versackte, als wäre er gegen eine Wand gefahren. Die Karikatur der DIESEL-Ikone. Wollte er damit seine Herkunft kaschieren? Er kam nämlich aus Schmotzhude. Genauer: aus Sul, einem Vorort von Schmotzhude. Unter Eingeweihten auch Schmotzhude-Sul. Dort war der Vokuhila noch immer en vogue, Mofafahren auch. Das ganze Dorf schien stark in den 70er Jahren versunken zu sein. Niemals sah man die Leute auf offener Straße mit Handy telefonieren. Dafür baumelten Fuchsschwänze an Fahrrädern und Autoantennen, Kinder lehnten mit klobigen Kassettenrekordern an Jägerzäunen und Teppichstangen, hörten Slade und The Rubettes, kauten Kaugummi. Wie damals. In den frühen 70ern.

Die hiesigen Eltern schienen einen schlechten Einfluss auf ihre Nachkommen auszuüben. Das Vertuschen aber gelang Marco nicht, eigentlich tat er das genaue Gegenteil. Nicht nur Ariane war der Ansicht, dass ihm der feingraue Chic in schieferfarbenen Cerruti-Anzügen, monochromen Hemden und Feingliedrigkeit demonstrierenden, ultraschmalen Cap-Toe-Oxfords von Santoni in Schuhgröße 47 besser gestanden hatte. Die Messenger-Bag aus feinstem Aalleder durfte da natürlich nicht fehlen, Ariane hatte sie selbst entworfen und ihm geschenkt. Marco aber wollte das alles nicht mehr. Er fand es nur noch affig. Es war, als hätte sich die Schraube der Geltungssucht, die sich über Mode ausdrücken ließ, überdreht und offenbare nun einen schalen Verdruss, hinter dem die nackte Angst sichtbar wurde. Angst. Angst. Angst. Vor Normalität, Sterblichkeit. Davor, ein Exkrementenquetscher zu sein, ein Tier. Da war er ganz Punk und Skunk in einem. Duschte nur einmal in der Woche. Nun, er wollte sein Angewidertsein in derber Weise ausdrücken, es ausleben, ohne dabei in einen Leistungsdruck verfallen zu müssen. Zerrissene Jeans für vierhundert Euro zum Beispiel, das musste er nicht mitmachen, no way! Schon gar nicht, seitdem die beiden heftigen Schübe im letzten Jahr ein Wrack aus ihm gemacht hatten.

Ariane dagegen kam aus einem reichen Vorort Hamburgs, hatte ein Faible für Hunde, die größer als Meerschweinchen waren, und hatte schon als Dreijährige gewusst, was sie später einmal werden wollte. Sie nippte an ihrem Orangensaft, Marco trank Cola und zog sich das schwarze Cap mit der aufgenähten „73“ tiefer ins Gesicht, um nicht geblendet zu werden.

„Findest du nicht auch, dass die Anlage hier etwas Amerikanisches hat?“, fragte sie, strich sich durch ihre brünetten Haare, die sie meist offen trug, blinzelte mit ihren azurblauen Augen und bezupfte den bordeauxfarbenen Bikini.

„Doch“, antwortete er.

„Das liegt vielleicht an der gusseisernen, weißen Balkonverkleidung und dem weißen Rauputz?“

Er rätselte.

„Ja, Myra meinte das auch, als sie mich besucht hat. Willst du noch was? Ich kann dir auch einen Aperol Spritz machen. Du musst ja nicht fahren“, sagte sie und rückte ihre Sonnenbrille, ein übergroßes, minzgrün getöntes Tom-Ford-Modell, auf der Nase zurecht.

Es war ihr 150 PS starkes Mazda-Cabrio, eines in British Racing Green, mit dem sie zum Ferienhaus ihrer Eltern fahren wollten, das direkt an der Ostsee lag, 20 Kilometer von Kiel entfernt. Er hatte nur seine kleine Stadtwohnung, in der er zur Miete hauste. Und ein Fahrrad mit 21 Gängen, Shimano immerhin, aus einem Billigkaufhaus für 119,– Euro. Mehr ließen seine verknappten Honorare nicht zu. Zu zweit hätten sie in seiner Bude in den letzten drei Jahren nicht leben können, dafür waren die beiden Räume zu klein. Aber am Wochenende war sie zu ihm gekommen. Das war auch schön gewesen, wenn sie zusammen gesessen, Ofenkartoffeln mit Rosmarin und Salat mit Schafskäse und roten Zwiebeln gegessen hatten. Nun aber bewohnte sie endlich wieder ihr eigenes, ungleich komfortableres Reich. Es störte ihn nicht, dass sie als Modedesignerin viel mehr Geld verdiente als er mit seinen Jobs, Korrekturarbeiten, gelegentlichen Artikeln für Onlinemagazine, Vorträgen und Lesungen. Früher hatte er Unmengen verprasst, als er noch für ein großes Verlagshaus gearbeitet hatte und sechzehntausend D-Mark im Monat verheizen konnte. Das war lange her. Nie wieder würde er Redakteur sein wollen. Die identitätszersetzende Wirkung der neuen Boulevard-Glitschigkeit war nicht zu kompensieren.

Um 17 Uhr war es Zeit, sich eine Spritze zu geben. Marco holte die Packung aus dem Kühlschrank, entnahm eine aus der Pappbox, befreite sie aus der Plastikverschalung, legte sie in den Injektor, zog ihn auf und führte das Geschoss an den linken Oberschenkel, der von den vielen Einstichen schon rotscheckig war und kleine Erhöhungen, ja Knubbel aufwies. Schön war das nicht! Er sah aus wie ein Monster-Quaddel-Burger, löste den roten Knopf und spürte den Einstich, zog den Injektor ab, wischte sich den Blutspritzer mit einem Taschentuch vom Schenkel und warf die Spritze in die kleine blaue Tonne, die fünf Liter fasste. Wie viel Spritzen da wohl reinpassten? Er mochte nicht daran denken. Die Pharmafirma hatte ihren Kunden ein Komplettpaket mit lichtblauen Filztaschen, marinefarbenen Plastiktonnen, karierten Informationsbroschüren, weißen Tüchern und einer Fünfliter-Kühltasche in Dunkelblau geschenkt. Morgen würde er wieder ins rechte stechen. In den Bauch traute er sich nicht, das gab hässliche Flecken und im Sommer, nein, lieber nicht …

Marco topfte die Packung mit den restlichen 27 Einwegspritzen in den kleinen Kühlbehälter um, in dem die Coolpacks genug Kälte erzeugten, um zwölf Stunden zum nächsten Kühlschrank zu überbrücken. Aber ihre Überfahrt würde höchstens anderthalb Stunden dauern. Das Copaxone* durfte nicht über zwei bis acht Grad gelagert werden, sonst verlor es seine Wirkung und machte die Injektion überflüssig.

Er wusste nicht, woran es lag, aber seine Gelassenheit war seit zwei, drei Wochen einer Unruhe gewichen, die am frühen Abend begann und sich erst mit dem Einschlafen verflüchtigte. Neu dazugekommen waren auch Befürchtungen, für die es weder Grund noch Ursache zu geben schien. So hatte er vor Tagen, als er mit Anne und Marita – zwei Freundinnen aus der Schulzeit – im Jenisch-Park gewesen war, auf einem Caféstuhl gesessen und sich am Tisch festhalten müssen, als ein Flugzeug über sie hinweg geflogen war. Es ziehe ihn hinauf, hatte er gedacht, als er es am Himmel betrachtete. Marco hatte aus dem Park flüchten und sich nach Hause bringen lassen müssen, weil er der Unruhe nicht Herr geworden war. Er hatte den Rest des Tages unter der Bettdecke verbracht. Die Grenzen zwischen sich und der Welt schienen aufgelöst. Das war ihm nicht geheuer.

Jetzt aber war es gut, er würde mit seiner langjährigen Partnerin Ariane in den Urlaub fahren und sich an der See erholen. Er freute sich auf die neue Terrasse des Ferienhauses, das nur 100 Meter von der See entfernt lag, auf den chagallblauen Himmel, den über Eschenholz geräucherten Lachs an den Fischerhütten und ihre Ausflüge am Meer.

Kurz nach 19 Uhr stiegen die beiden in die Alukabine, die sie direkt in die große Tiefgarage beförderte. Dort war es angenehm kühl.

Mochten die Maße des Cabrios für Ariane wie angegossen erscheinen, sie hatte mit ihren 1,78 Metern die Idealfigur für das Auto, er bekam seine Beine kaum in den Fond des Zweisitzers und hatte zudem noch eine Tasche zwischen den Füßen liegen. 1,94 Meter war er groß. Zu lang für diesen Wagen.

Auf der Autobahn ging es nicht sonderlich ruhig zu, die Hitze schien die Gemüter noch mehr in Wallung gebracht zu haben. An Überholen war kaum zu denken, weil die Verkehrslage es nicht zuließ. Marco musste sich sehr zusammenreißen, Ariane nicht ins Lenkrad zu greifen und den Wagen an die Leitplanke zu steuern. Er versuchte, diesen Gedanken angestrengt zu unterdrücken. Es dauerte zwei Stunden, bis sie auf der Landstraße waren, über die sie vorbei an seltsam abwegigen Ortsnamen wie Kentucky und Ohio in die Ferienhaussiedlung am Strand einfuhren.

2

SEESTÜCKE ODER RHAPSODIE IN RAPS

Es war, als würde das Bild wackeln, flimmern und nicht in einwandfreier HD-Qualität gesendet werden. Es riss ab, zog nach rechts und stürzte dann in der Mitte zusammen. Das Bild von dem, was an jenem Tag passiert war, jenem Tag, an dem Marcos ohnehin angeknackstes Leben sich neu zusammensetzen sollte … ein Cut, ein Bildzeilensturz …

Marco war beschäftigt, seine Tasche auszupacken, sie waren ja erst gestern angekommen im kleinen, schmalen Hemd von Ferienhaus, einem 45 Quadratmeter kleinen Ziegelsteinquader plus verglastem Wintergartenvorbau, als draußen die schrille Stimme von Ilma, der Tante Arianes, ertönte. Ob sie nicht mitkommen wolle, sie könnten doch schnell zum Friedhof fahren und zusammen das Grab von Oma umdekorieren. Kaum geantwortet, saß Ariane schon auf ihrem Hollandrad und begann zu treten.

Da schoss es Marco in den Kopf: Du kannst doch nicht hier allein zurückbleiben! Du kannst mich doch hier nicht zurücklassen! Ich kann doch nicht hier in diesem Kaff ohne Bewachung herumsitzen und warten, bis die Tour vorbei ist. Ich kann doch nicht … riskieren, in meiner Panik zu ertrinken?! Ohne Telefon, ohne persönliche Anbindung an diesen gottverlassenen Ort. Die Handyverbindung bestand hier aus Funklöchern. Angst ist mein König, dachte er. Und er diente ihm ohne Unterlass. Du hast in den letzten fünf Monaten sieben neue Herde im Hirn bekommen, einer davon ist 2,4 x 2,8 Zentimeter groß … wie soll das weitergehen mit mir und meiner MS? Marco glaubte, dass sich sein Gehirn mit jedem Gedanken selbst zersiebte, es von Angst durchlöchert wurde … nein!

Kaum gedacht, schwang er sich auf das nächste griffbereite Rad, ein Herrentourer mit 28-Zoll-Felgen, das im Garten herumstand, und eilte den beiden hinterher. Fuhr so schnell, dass es ihn wunderte, zu was er plötzlich imstande war. Wochenlang hatte er im Bett gelegen und sich kaum bewegt. Hatte nach dem letzten Schub versucht, sich abzufinden mit dem, was ist, war und nicht mehr sein sollte. Allein, es ging nicht. Die immer weiter sich verringernde Gehstrecke, zu der er noch fähig war. Waren es vor einem Jahr noch 3 oder 4 Kilometer, die er mühelos gehen konnte, waren es nun nur noch 800 Meter. Wie wunderbar einfach und leicht flog nun alles an ihm vorbei! Er trat kräftig in die Pedale. Wäre er bei Trost gewesen, hätte er die duftenden Wiesen, die weit geschwungenen Felder des Ostholsteiner Hügellandes, die aus Schwemmland entstandene Marsch und die anmoorigen Sande aus vollem Herzen genießen können. Da! Eine auf den Weg springende Rotbauchunke! Mit einem Schlenker wich er ihr aus. Im selben Moment wurde Marco klar, dass er dabei war, eine Grenze zu überschreiten. Die eines von ihm selbst gesteckten Gefängnisradius, den er um sich gezogen hatte, weil er sich nicht überfordern durfte. Glaubte er. Egal! Größer als die Angst, diesen Rahmen zu verlassen, war es, allein in Panik zurückgelassen zu werden. Also: Nur nicht den Anschluss verlieren, schoss es ihm wieder durch den Kopf. Nur nicht zurückbleiben, hier, in der Fremde! Aber so, in seinem Zustand, er schnappte nach Atem, spürte er nichts von den Schönheiten der Natur.

Das Treiben, ins, rad, guckn, wo, mein, ziehn, hand, kuppen, lenk, ein, fuss, blicken auf, kiesel, sand, weg, unt-, ein neb-, ne, frau, ich, will, nach, nich mehr, zu-ruck, wie, soll, ich das und da hint-, -n, knn, tret, un-, d-as, Bei-n, in, an, ped-aal, all, untn, blic, auf kreis-en,-de, mach zu! Zu! Da! I-ge-dwa-nn we-rd‘ ich si sch-on ein-holn. pfff! Dachte er? In ihm rockte ein Schaum. Seine schwarzen VANS-Ledersneaker der Baureihe SK8-Hi, deren wulstige Schäfte und die griffigen Sohlen hielten ihn an den Pedalen.

Vor einem Monat noch war das alles kein Problem gewesen, das Alleinsein, das In-sich-Sein. Aber dann kamen die Spritzen, die täglichen Injektionen dieses gottverdammten Zeugs, das ihm in kürzester Zeit den Verstand raubte, ihn zu einem Kleinkind mutieren ließ, das sich nicht mehr allein aus dem Haus traute, geschweige denn an einem anderen Ort allein verweilen oder so etwas wie Urlaub machen konnte. Vom Kortison kam die Zunahme seiner Ängste nicht, mutmaßte er. Jedenfalls hatte er bei den Stoßtherapien zuvor diese niemals derart extrem verspürt.

Marco hörte seinen Atem schneller werden, ihn mit den kreisenden Pedalen um die Wette ventilieren. Er hörte seine innere Stimme nicht mehr, nur noch das Weinen und Schreien eines Kleinkindes, das sich in Selbstmörderlaune befand, weil es sich heraus traute aus dem Bannkreis seiner Angst. Bist du denn wahnsinnig? So schrie es ihn an. Irre? Sein Herz pumpte schnell und schneller, sein Atem keuchte … zu seinem inneren Tribunal und Schuldgefühlorgasmus. Da hinten sah er sie, dort, in den Sandweg nach rechts abbiegen, in die Waldzunge hinein … sein Blick traf zwischen Farnkraut, Walderdbeeren, Tropfpfauenaugen, Schwarzdorn, Pfaffenhütchen, Büschen und Zitterpappelblättern Damen-Hinterräder. In normalem Betriebszustand wäre er vielleicht auf die Idee gekommen, von der breitwandgroßen, grellgelben Rapslandschaft, die sich zu seiner Linken auftat, ein Foto als Hintergrund für seine Faller-Modelleisenbahn anzufertigen, die er als Pappwand dieser anheimkleben könnte, hinter Premium-Rankgewächsen, Zaunsortimenten und Geländern aus Plastik. Die ideale Landschaftsaufnahme zur Anlage! Auf die Beine gestellt, stratzte er sich mit dem Metallesel langsam an die Frauen heran. Er hatte sie tatsächlich bald eingeholt. In ihm hämmerte der Gedanke, dass er schnell wieder zurückmusste, er hier nicht hätte mitfahren dürfen, dass er sich ein riesiges Loch ins Hirn brannte, würde er nicht sofort umdrehen. Aber er kehrte nicht um, konnte weder allein die Strecke zurückfahren noch allein im Haus bleiben. Er war ein Gefangener seiner Zwangsvorstellungen. Er liebte es, festgenagelt zu werden. Von sich selbst am allerliebsten, anscheinend. Das war seelisches Bondage, eine durch MS verstärkte SM-Praxis. Er wollte nicht zurück, musste hinter den beiden herfahren, dranbleiben, besser noch: sie einholen. Nur nicht abreißen lassen, zog es ihm hektisch durch den Kopf: Tour de Force. Er hechelte bereits, kämpfte mit den schwächer werdenden Beinen, mit der Distanz, die ihn von den beiden Punkten da vorn trennte, von dem, was ihm als sicher erschien: die Nähe zu seiner Freundin, die ihn beschützen konnte. Vor was? Vor ihm, der er als Attentäter sich durch Multiple Sklerose selbst piesackte, quälte, zerstörte? Er wusste, dass es sich albern anhörte: Aber er konnte sich Schaden zufügen, in dem er sich extremen Stress ins Hirn brannte. Dagegen brauchte er Hilfe, Schutz, eine Firewall. So kämpfte er mit den eigenen Gedanken, mit dem Horror, sich einen neuen Schub abzuholen, indem er seine Grenze überschritt und sich etwas zumutete, was er besser nicht hätte tun sollen. Ja, Multiple Sklerose und Panikattacken … beides befeuerte sich gegenseitig und gab ihn, sein Hirn zum Abschuss bereit. Er glaubte, fühlen zu können, wie sich unter seiner Schädeldecke Monster ausbreiteten, die die Blut-Hirn-Schranke passierten und einen Lochfraß an seinen Myelinscheiden (und seiner Hirnsubstanz?) betrieben. Ein Automatismus, dem er sich ausgeliefert fühlte, einer, der mit irrsinnigem Tempo in die falsche Richtung raste. Er musste das Eindringen schädlicher T-Zellen ins Gehirn über die Blut-Hirn-Schranke verhindern! Dazu der Selbsthass, dass Marco dies zwar wusste, aber nicht anders agieren konnte, oder durch bloßes Denken glaubte, seine Emotionen steuern zu können. Und die dadurch ausgelöste Pein drangsalierte ihn derart, dass er an diesem Drangsalino fast erstickte, der Selbsthass war der Turbo dieser Zerstörungswut. Falsch verstandene Infos und gefährliches Halbwissen verbanden sich in ihm zu einem Fegefeuer zentraler Perspektivlosigkeit. Dass er sich das nicht verzeihen konnte, die Probleme zu haben, die er nun mal hatte, machte ihn noch manischer, trieb ihn in die Enge, in einen inneren Schwitzkasten, einen Würgegriff, den er an sich selbst anlegte. Er hatte Todesangst.

Von außen sah es aus, als würden zwei Frauen und ein Mann mit Konditionsproblemen eine kleine Fahrradtour machen … an einem ganz normalen Samstagnachmittag im Juli.

Das Treiben, ins, rad, guckn, wo, mein, ziehn, hand, kuppen, lenk, ein, fuss, blicken auf, kiesel, sand, weg, unt-, ein neb-, ne, frau, ich, will, nach, nich mehr, -rück, wie, soll, ich das, und da hint-, -n, knn, tret, un-, d-as, Bei-n, in, an, ped-aal, all, untn, blic, auf kreisen,-de, mach zu! Zu! Da! I-ge-dwa-nn we-rd‘ ich sie sch-on ein-holn. Uff, pfff!, dachte er wieder.

Plötzlich war das Trio angekommen. Marco hatte weder zu sich noch zu irgendjemand anders eine Beziehung und irrte, Flüche wütend, zwischen den Gräbern umher. Über ihnen drohte sich der Himmel zu entleeren, sie zu tränken … nass bis auf die Haut, das war seine Vorstellung. Es wurde immer dunkler, die Wolkendecke hing schwer über ihnen. Die beiden Frauen hakten bereits, bewässerten die Pflanzen ungeachtet des bald sie ereilenden Regengusses und stellten einen Strauß Rosen in einer mitgebrachten Vase dazu. Er schrie „LASST DAS! ES REGNET EH GLEICH! E-GLEICH!“ und raste innerlich mit 270 km/h auf dem Gedankenhighway in eine Hölle, die sich direkt unter dem Friedhof befand. Eigentlich war er jetzt dort angekommen, wo er nicht hinwollte.

Es muss gar nicht viel passieren. Um irre zu werden, musst du einfach nur du selbst werden. Bleiben. Sei ruhig! Aber er konnte sich nicht beruhigen, sich an der lokalen Flora und Fauna, den Holunderbüschen und Wiesen, den Teppichmuscheln, dem Meersalat, Blasentang, der Ohrenqualle in Wassernähe, den Schlaglöchern, Sandwegen und Waldgürteln erfreuen, die da auf dem Rückweg auf ihn warteten … nein, er fühlte sich an frühere Erlebnisse erinnert, üble Horrorszenarien in Drogenwahnsinnigkeit, er bekam Herzrasen und eine Panikattacke.

Der Himmel war dunkelgrau, steinern, schon sehr bald würde es heftig reg-, nein gießen. Er hatte Panik, klatschnass und verschwitzt sich auch noch eine Grippe zu holen, die dann eventuell, ja wieder einen Schub nach sich ziehen würde … es wurde kalt und der Wind trieb die Wolken an, er schwang sich aufs Rad, die Frauen fuhren nun hinter ihm her und er trat schneller und schneller, geriet in an-an s-s- ho-äh, äh … äh …?

Er wusste nicht, was mit ihm los war und warum diese Ängste, die er seit Jahrzehnten, seit den frühen Exzessen überwunden hatte, in ihm wieder aufflammten wie ein Backlash.

Marco befiel Panik, dass die Myelinschichten an seinen Nerven zerstört würden … wie die Ozonschicht? Was war da, was passierte in ihm? Das spielte sich in einem Teil seines Hirns ab, zu dem er keinen Zugang hatte. Als läge er in einem Ameisenhaufen, so kribbelte es ihn. Überall. An den Fingern, Handrücken, den Zehen und Fußsohlen, an den Wangen und der Stirn. Während er sich krampfhaft an den Muffen des Fahrradlenkers festhielt und irre in die Pedale trat.

Die Wolken, sie drohten zu platzen direkt über ihm, ihnen, Marco und den beiden Frauen, die nun auch wilder wurden und eintraten auf ihren Eisen und er trat … trat … trat …

MS wird dadurch hervorg-rufen, dass ds -munsystem davon ausgeht, dass Myelin ein Fremdkörper wie zum Beispiel ein Grippevirus st … Es fiel ihm ein, dass er das gelesen hatte. So tobte er: Hä? Wie konnt-e … ds pssirn … ws sll i machn … wohin? Wer sprach da in ihm? Bis sie in den Sandweg einbogen, er einmal und noch mal vom Rad fiel, die MS brachte seinen Gleichgewichtssinn durcheinander. Ein vielleicht zehnjähriges Mädchen half ihm wieder auf den Sattel … Sattel half … es hängt ein Pferde half t er ant er wand … dachte er? War das noch Denken?

Sie waren im Ferienhaus angekommen, er pfefferte das Rad ins Gras und warf sich aufs Bett. Während er im Schlafzimmer herumschrie, sich selbst anrüffelte, lautstark weinend wütete, machte sich Ariane Vorwürfe, dass sie sich von ihrer Tante hatte entführen lassen.

„Das tut mir so leid, dass ich mich von meiner Tante habe überreden lassen“, flehte Ariane Marco an.

Fünf Stunden vergingen – auch zwei Bier halfen Marco nicht, sich zu beruhigen. Währenddessen knisterte es bedrohlich in seinem Kopf. Was passierte die Blut-Hirn-Schranke? Mehr als Gedanken?

Kamen seine neuerlichen Panikattacken durch die Zolpidem-Schlaftabletten, die er seit seiner letzten Kortison-Stoßtherapie jede Nacht einnahm? Von denen er innerhalb weniger Nächte süchtig geworden war, weil er schon einmal von Benzodiazepin abhängig gewesen war … auch, wenn dies bereits dreißig Jahre zurücklag? Oder kam es daher, dass er nun seit drei Wochen täglich Copaxone spritzte? Irgendetwas musste sich in seinem Körper verändert haben, so viel war klar.

Irgendwann schlief er erschöpft ein.

Der astrologische Planetenstand an diesem Tag, so klärte die in diesen Dingen bewanderte Ariane Marco später auf, war Mars in Opposition zu Pluto gewesen. Was sein Beben nur allzu gut erklärte, wie sie meinte. Er war Sternzeichen Skorpion mit Aszendenten Skorpion und hatte Neptun im zwölften Haus. Damit war er schwer belastet.

In den nächsten Tagen versuchte Marco, ein normales Urlaubsleben zu führen, aber das ging nicht mehr, er musste sich alle 400 Meter auf die Bänke am asphaltierten Weg entlang des Ostseestrandes setzen, wenn Ariane mit ihm und dem ausgeliehenen Hund ihrer Tante spazieren ging … die Gehstrecke schien sich weiter verringert zu haben. Waren es nun nur noch 600 Meter, die er, ohne sich zwischendurch zu setzen, gehen konnte? Der Hund kam Marco wie eine Bedrohung seiner nicht vorhandenen Alleinherrschaft über seine Freundin Ariane vor …

Sie saßen im Strandkorb bei wolkenlos-blauem Himmel, er übte das Stillhalten, das Schenkeln, das Warten auf Geduld, die nicht kam, es zog ihn hin und her. Dennoch: Er stand abfotografierbar im Ringelshirt auf spinatgrünem Gras, ein Beweis seiner Urlaubsbereitschaft. Den Kopf etwas schief gehalten, die Sonnenbrille als drittes und viertes Ohr, die Bermudashorts machten ihn zu einem Pimpf, wie albern! Aber man machte ja Ferien, da gehörte ein infantiles Outfit schon fast zum guten und gleichzeitig schlechten Ton dazu.

Aber das Urlaubsgefühl war dahin. Marco nahm nicht teil am Beach-Life, konnte ja kaum sicher stehen. Er gehörte nicht mehr zu den Schönheits- und Jugendlichkeitsfetischisten, zur Gute-Laune-Fraktion, die neue Shirts und Shorts, Sakkos oder Badehosen spazieren trugen. Sein Selbstverständnis war erschüttert und da war nichts in Sicht, was ihm zu einer neuen Identität verhelfen hätte können. Dass er jeden Morgen zwei Mal seinen Asthma-Inhalator benutzte, war dabei schon zur selbstverständlichen Nebensache geworden. Das waren schöne Zeiten gewesen, als er nur Asthma, Depressionen und Panikattacken hatte.

Schraubzwingen glaubte er heute auf Höhe der Kniescheiben an den Beinen zu haben. Je länger er stand beim Abwaschen am Morgen, desto mehr bohrten sie sich in ihn. Jeden Tag fühlte sich das, was er hatte, anders an. Was hatte er? Löcher im Hirn, Läsionen, Herde. Es waren nicht die Beine, sondern sein Gehirn, das Fehlerhaftigkeiten meldete. Die Beine waren in Ordnung, würden mit etwas Kortison im Tank beinahe schon wieder zur reduzierten Normalform auflaufen … vorerst. Bis zum nächsten Schub, der dann eventuell nicht reparierbare Defekte entstehen lassen könnte.

Seltsam war, dass sich seine Körperempfindungen täglich, nein stündlich veränderten. Und das auf eine Weise, die ihn und seine Umwelt sich nie an seine Krankheit gewöhnen lassen würden.

Welch Horror und Panik, dass sich das Gehen und auch das Gedächtnis verschlechtere, er nur noch glaubte, dafür Anzeichen zu sehen, zu finden. Der Glaube, dass er nur noch fiel und verloren war … in einer endlos sich verschlechternden, verschlimmernden, schubförmigen MS. Das Gefühl, dass die linke Hand stetig schwächer wurde … dieses Sich-Beobachten, was bei den Beinen nicht mehr so war wie früher … eine nicht endende Abwärtsspirale … und dieses Versuchen, sich ständig zu erinnern, an was er sich nicht mehr erinnern konnte. Er stellte sich sein Hirn vor. Nicht nur, bevor er einschlafen wollte, sondern auch tagsüber, diese hellen Punkte, die während der Magnetresonanztomografie im Februar Kontrastmittel aufgenommen hatten, diese Nacht von einem Bild, diese vermeintlichen Löcher, Läsionen in abgrundtiefer schwarzer Umgebung. Er stellte sich vor, wie sie sich unaufhörlich vermehrten, vergrößerten, ihn siebten …

Dass er sich gern erinnerte, mit welcher Leichtigkeit er früher morgens aus den Kneipen Sankt Paulis zu Fuß durch die Straßen nach Hause gegangen und er damals froh und sich immer bewusst darüber gewesen war, wie gut es ist, überhaupt gesunde Beine zu haben, wie gut es ist, so weit gehen zu können. Er konnte damals ja nicht ahnen, was ihm noch passieren würde …

Vernunft

… ff-t … ff-t …

… ff-t ff-t …

Irgendetwas entwich da …

Die Arme sind müde und nadeln, dachte er. Die Beine: Als würde man auf Stelzen gehen. Stelzen, die schmerzten. So hart war die Muskulatur, dass er kaum Treppen hoch- und oder runterkam.

Franz Fieberkopf, so nannte er sich im Wutrausch.

Diese dunklen Schleier, die sich über alles legten. Dieses Dasitzen in der Sonne und in allem nur Unheil sehen, drohendes, das sich über alles gelegt hatte. Diese Angst, ein merkwürdiges Gefühl der Beklemmung, das aufstieg. Die Angst vor dem Ausmaß, dass die Krankheit annehmen könnte, und manchmal auch das Gefühl, dass man wahnsinnig würde bei alldem. Er war nur körperlich anwesend und nicht einmal das. Er schlich durch die dahinziehenden Tage, an denen ein Magnum-Eis und eine Tüte Chips die Highlights waren.

„I’ve got that summertime … summertime sadness“, drang es aus dem Radio. Auch wenn das Wetter umwerfend gut war und die Sonne brannte, Ariane und Marco auf der Terrasse Entspannen übten. Das Fernsehprogramm interessierte ihn nicht, auch der Igel, der sich mal hier, mal da um das Haus herum blicken ließ, konnte ihn nicht entzücken. Während Ariane alle Vertreter der Vogelwelt schon aus der Ferne mit ihren Namen benennen konnte, waren sie für Marco unsichtbar. Hören tat er sie schon noch. Aber anfangen wollte und konnte er mit den Tieren, von denen sich Ariane umgeben sah und fühlte, nichts. In jedem Busch lauerte ein Zwei- oder Vierbeiner, an jeder Straße stand ein Reh oder eine Kuh. Ariane war umzingelt von Tieren. Seit ihrer frühesten Kindheit. Da! Eine Feldmaus entfleuchte einem Schlitz. Marco sah nur etwas Rotbraunkariertes weghuschen. Sah nur noch Tristesse und tiefste Zerstörung. In allem und jedem. Fast eine Woche ging das so. Nein, eigentlich war es schon seit Monaten so gewesen. Es war nur immer schlimmer geworden. In die Kerbe seiner Stirnfalte hatte sich ein Specht eingenistet, Kopfweh. Also doch: Tiere?

Ariane trug ihre Haare heute gebunden zu einem Zopf. Auf der Terrasse hinter dem Ferienhaus legte sie die Hartschalen für ihre enormen Brüste ab und sonnte sich in einem der beiden Deckchairs.

Da klingelte ihr Handy und einer der Schuhfabrikanten aus Italien war am Apparat.

„Buon giorno, Stefano!“, begrüßte ihn Ariane. Der Teilnehmer am anderen Ende schien sich aufzuregen, war erbost.

„L’avevo previsto“, tönte Ariane laut, als läge Italien direkt hinter dem Jägerzaun. „Come, per favore?“ Es folgte eine wüste Salve des Entsetzens, das Ariane zu hektischer Betriebsamkeit veranlasste und hektisch hin- und herlaufen ließ.

Marco war genervt von ihren italienischen Telefonaten mit Fabrikanten, die aus seiner Freundin urplötzlich eine Furie machen konnten. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er Urlaub in ihrem Büro machte. Warum konnte sie nicht wie der Agent Maxwell Smart gleich mit einem Schuh telefonieren?

„Questa mi è nuova! Ne anche per idea! Ciao!“ Ariane war wie ausgetauscht und wütete durch den Garten.

Und er? Seine Gedanken hatten innerhalb seines Hirns verquere Fäden gesponnen.

Ich bin total u:;n:r.u,:h/i-:g : und kann nicht still- bzw. -halten, nicht -sitzen, einfach so da-, die Hände, Arme und Beine kribbeln, meine linke (nicht die bessere) Hälfte hat einen Tic ersonnen: Mit den Fingern schlage ich rhythmisch auf den Daumen wie ein Klaviervirtuose, so schnell, Triolen mit vier Fingern auf Daumen, nein, ja, es sind Quadrolen, erst der kleine, dann die folgenden bis zum Zeigefinger schlagen auf, als wäre der Daumen die Resonanzfläche, man hört fast nichts, nur ein dumpfes Geräusch von Knochenfleisch auf Fleischknochen, aber man kann es sehen, so ein Fingergespinst, dass auf den Daumen huscht, auf und ab, hin und wieder zurück, eins-zwei-drei-vier /// vierdrei-zwei-eins, eins-zwei drei vier vier drei zwei eins. Das ergibt das Gefühl, irgendwo hin zu gehören mit der Energie -gi -gie –gier.

Am Donnerstagmorgen rief Marco in der Klinik an, ob er den Aufenthalt vorziehen könnte. Er hatte sich Anfang Juli beim Oberarzt in einem ersten Gespräch vorgestellt. Weil er gespürt hatte, dass er beim Adaptieren an die für ihn neue Krankheit Hilfe gebrauchen könnte. Dabei war es Marco seltsam vorgekommen, dass der Oberarzt Fumarat nicht kannte, obwohl das Mittel in allen MS-Foren diskutiert und sehnlichst erwartet wurde. Ist das die richtige Klinik, hatte Marco sich gefragt, Freunde, Bekannte um Rat gebeten. Alle hatten ihm gut zugeredet: „Ja. Doch, mach das. Geh in diese Klinik am Stadtrand … die sind gut, Martha war da auch mal.“ Er wusste nicht, ob das die richtige Entscheidung war, hatte seine Zweifel gehabt.

Eigentlich hatte man ihn erst ab September eingeplant. Er wollte ja an die See fahren, Urlaub machen. Das hatte gut gepasst, so hatte er es sich vorgestellt. Aber die Stimmung zwischen Ariane und Marco war schon länger angespannt. Er hatte sie in den letzten Monaten mit seinen schrecklichen Gefühlsbekundungen vergrault. Als es am Donnerstagabend zu einem heftigen Streit kam und Ariane Marco vorwarf, dass er nur manipulativ sei, sie ausnütze und sich nicht wirklich für sie interessiere, warf sie ihn aus dem Haus mit dem Hinweis, ihn nie wieder sehen zu wollen. Es hatte sich in den letzten Wochen und Monaten einiges aufgestaut, Marco hatte sie mit seinen Depressionen arg strapaziert.

„Du interessierst dich nur für mich, inwieweit ich für dich von Nutzen sein und dir helfen kann. Für mich interessierst du dich überhaupt nie! Ich schmeiß dich raus, du bist widerlich und gehst mir mit deinem Scheiß auf die Nerven! Immer dieses ‚Ich hab Fatigue‘, hau bloß ab!“, hatte sie geschrien. Sie war wirklich jahrelang sehr geduldig mit ihm gewesen und er gewiss nicht einfach. Aber Marco kreisten diese Sätze nun immer wieder im Kopf, er wurde die Worte nicht los, er musste hier weg! Er fühlte sich mies, hundeelend, sie hatte ja recht, mit allem, was sie sagte. Er war ein Arschloch, ein Astloch, das andere nur ausnutzte … das war eindeutig gewesen, Marco wurde klar, dass er hier nicht mehr sicher war. Das wilde Durcheinander aus gelbgraukarierten Vorhängen, runden und eckigen Kissen mit floralen Mustern oder Karoformaten, dazu arabische Wohnzimmerteppiche und Horst-Janssen-Poster mit Amaryllisporträts in den verschiedenen Zuständen ihres Verwelkens schrie ihn an und verstärkte seine Panik, glaubte er. Er blickte nicht mehr durch.

Am nächsten Morgen setzte er sich auf die blau lackierte Holzbank vor das Ferienhaus und blätterte in der Broschüre, die der Oberarzt ihm beim Erstgespräch in die Hand gedrückt hatte.

„Aufgrund unserer tiefenpsychologischen mhmhmh bieten wir eine individuelle Behandlung, die auf Ihre psychosomatischen Probleme individuell zugeschnitten wird“, brummelte Marco.

Er rief in der Klinik an und vereinbarte, bereits Montag mit dem Aufenthalt in der psychosomatischen Station zu beginnen. Danach wurde er ruhiger und setzte sich im Schneidersitz auf die Holzbohlen der Terrasse. Ariane und Marco vertrugen sich wieder, aber Marco traute dem Frieden nicht mehr. Ariane machte mit ihm aus, dass sie ihn in die Klinik brächte. Darüber war er froh. Und erleichtert, dass es nun endlich in die richtige Richtung gehen konnte. Aber ein Rest war geblieben, ein Zweifel, eine Verstörtheit und eine kleine Wut.

Am Samstag mietete Ariane noch einen Strandkorb. Es war brütend heiß. Bei 32 Grad im Schatten saßen sie und Marco im Bastkorb und guckten auf das Meer. Während Ariane die Windstille und die Hitze genoss, war Marco nicht zu helfen. Es war ihm nicht möglich, abzuschalten. Er war in Gedanken schon abgereist. Oder saß bereits in einem Rollstuhl, vor dem er Angst hatte, dass er früher oder später auf ihn warte.

Sie fuhren am Sonntag auf die Autobahn und waren anderthalb Stunden später in Hamburg, wo er in seiner Wohnung ein paar Kleidungsstücke aussortierte, frische Shirts und Unterwäsche in die Reisetaschen stopfte: Im Gepäck hatte er nun eine schwarze Lee- und eine graue Neighborhood-Cheapo-Jeans im Destroyed-Look mit diversen eingearbeiteten Löchern. Diese Sympathie für Dinge, die in ihm waren, im außen zu suchen und sich mit ihnen zu schmücken – mochten sie auch noch so offensichtlich heruntergekommen sein –, machte zeitgleich Mode. Neben zwei Poloshirts steckte er diverse T-Shirts sowie zwei karierte Flanellhemden und ein leichtes, eierschalenfarbenes Sommerhemd mit kleinen tropfenförmigen Farbtupfern ein.

Sie übernachteten in Arianes Wohnung, wo er auf dem Sofa schlief.. Bis in die späte Nacht guckte er auf ihrem Fernsehgerät mit der 127-Zentimeter-Bilddiagonale drei Krimis, bevor er die Stehlampe ausknipste und auf der riesigen Couch einschlief, während Ariane allein in ihrem, seiner Meinung nach, viel zu schmalen Schlafzimmerbett lag.

Im sirrenden Kühlschrank ihrer Wohnküche lag die Packung mit Copaxone-Spritzen, im Eisfach die Coolpacks. Ein ihn beschützendes als auch gefährliches Package. Der Schrank dröhnte bedrohlich laut und metallisch. Wenn Marco schlief, mischte er sich in seine Träume ein und umwölbte die Hirnströme ins bauchig Ovale. Seine Aura schien im Schlaf die Form einer Glühbirne anzunehmen. Der Sound: ein Schwangerschafts-Subsex-Oratorium des Angedeuteten, eine Lustorgel des Be-Brummens.

Als er erwachte, saß Ariane am Ende der Couch, sie hatte ihn durch zartes Zupfen an der Bettdecke geweckt. Ihr Lilaknall von Bademantel aber fuhr ihn in seinem sandigen Erwachen aus dem Schlummer an wie ein Wischblendetrick ins subtrahiert Nebulöse. Ihr Outfit war eine sexuelle Kampfansage, die ihn einschüchterte und zu verschlucken drohte. Baff Knall Boom!

Es ist eine, meine Form von Reinheit, wenn ich sie mit meinem Begehren verschone, war Marcos Devise. Nicht, weil seine Praktiken abnorm waren, sondern, weil er sich bei der Ausübung beobachtete, als sei er einerseits im Akt verbissen und schwirre andererseits gleichzeitig als Drohne hundert Meter über dem Setting. Das zog sein Bewusstsein derart auseinander, dass es spannte. Ihre Beziehung basierte auf einem Nichtangriffspakt, so glaubte er, der geschlechtliche Transaktionen ausfadete, bis diese langsam ver- und zerrieselten, fast ins Krisselige hinein, und ins Uferlose der Zeit hinausschwappten. Ein hauchendes Branden, ein weißes Rauschen transzendierter Lust, aufgehalten von einem Staubecken der Knochigkeit. Ein ultraverschleierter Resonanzboden, ausgelegt mit Mineralwollteppichen. Bizarr, hyperverzerrt und für die beiden selbst mehr noch als unverständlich: verwirrend.

Marco hatte beschlossen, den Wahnsinn bei der Erklärungsnot verhaspelter Absichten zu Hilfe zu nehmen und um das ganze Thema einen Bogen zu machen. Damit war er, ja, waren sie beide bisher gut gefahren. So schien es ihm. Sie lebten nebeneinander in der Achtung größtmöglicher Toleranz. Bewusst darüber, was ausblieb, was aber gehütet wurde wie ein Paar Augäpfel, verteilt auf zwei Körpern.

Der gigantische Lampenschirm aus Bast, der auf Arianes Esstisch stand, thronte auf einem meterhohen Sockel, der belegt war mit einem mittelschweren Korallenriff. In Grün. Daneben kam Marco sich meist unterbelichtet und zu leicht vor. Ihm fehlte einfach die Masse, mit der Ariane sich gern umgab, die sie manchmal auch selbst ausstrahlte. Zur Korpulenzfanfare fehlten ihm einfach noch 120 Zentimeter Brustumfang extra. Ariane mochte ihn trotzdem.

In seiner Nase bildeten sich durch die Marcumar-Tabletten, die er seit einer Lungenembolie nehmen musste, Krusten, die er jeden Morgen nach dem Erwachen wegbohrte. Marco hatte im Herbst 2012 11,5 Gramm Kortison bekommen, was zu einer Thrombose in seiner Lunge geführt hatte. Seitdem musste er täglich die pulverigen, weißen Knöpfe schlucken.

Die Morgensonne schien durchs Fenster, das Licht brach sich im kristallinen Muster eines Glases. Ariane bereitete das Frühstück und verschwand ins Bad.

Marco raffte sich auf, schob ein Vollkornbrot mit Käse ein und packte seine Sachen zusammen. Kurze Zeit später waren sie auf dem Weg in die Klinik.

3

IN DER HITZE DES SOMMERS

Am 3. Juni, das war acht Wochen zuvor, hatte sich Marco noch im Universitätskrankenhaus beraten lassen. Nein, seine Beine waren nicht angeschwollen gewesen. Keine Wespe hatte ihn gestochen, keine Biene, keine Hornisse, keine Himmelswechseltierchen, keine Amöbe … kein zerebraler Anhang seines Ichs, der da verzerrt summte. Seine Füße hatten auch nicht die Form von überdimensionalen Bratpfannen oder anderen Schenkelklopfern gehabt. Sie waren auch nicht rissig gewesen oder bluteten etwa, schon gar nicht wie Steaks. Von außen hatten sie ausgesehen wie immer. Nur, dass sie sich anfühlten, als wären sie aufgepumpt und mit Schnüren eingebunden. Wie Rouladen. Ja, er hatte sich wie eine solche gefühlt. Das Gehen hatte geschmerzt, es spannte. Mit jedem Schritt kämpfte er sich durch eine Tonne Altöl. Diesen Widerstand spürte er mit jedem Meter. Er watete durch dicke Tunke. Würde das nie aufhören? Würde das vielleicht sogar immer schlimmer werden? Bis er gar nicht mehr gehen konnte?

So weit durfte es nicht kommen! Es war klar, dass er etwas tun musste, ja. Nur nicht wieder Kortison, das extreme Nebenwirkungen hatte und höchstens ein paar Wochen half … Das Gehen fiel Marco mit jedem Tag schwerer. Es war sein Normalzustand geworden, dass sich seine Schritte anfühlten, als steckten die Füße in mehrere Kilo schweren Betonklötzen, die er mit jedem Meter anzuheben hatte.

Den Termin im Universitätskrankenhaus um 10 Uhr erwartete er mit fieberhafter Ungeduld. Lange hatte er das Datum herbeigesehnt, sehr lange. Eigentlich schon seit Mai 2012 im letzten Jahr, an dem Tag, an dem man ihm vom Fumarat erzählt hatte, vom Fumarsäuredimethylesther oder auch Dimethylfumarat. Nun war wieder Sommer, der 3. Juni, wie gesagt. Heute sollte es endlich so weit sein! Heute sollte er erfahren, wann das Wundermittel nun genau kommen würde, er konnte es kaum glauben, musste es erst in der Hand halten. Eigentlich sollte es schon ab heute bereitstehen, hatte man ihm noch vor sechs Monaten erzählt. Vor zwei Wochen hatte er noch einmal im UKE angerufen und der Chefarzt hatte ihm gesagt: „Ab dem 17. Juni kommt’s!“ Also zwei Wochen noch?

Die Ärztin hatte ihn teilnahmslos angesehen. Sie war jung. Nicht hübsch, nicht hässlich. Sie hatte dunkelbraun-melierte Haare, eine Spange fasste diese zusammen. Eine neue Kraft? Marco hatte sie hier noch nie gesehen. Ihre Augen sahen müde aus. Ob der Job ihr Spaß machte, vermochte er nicht zu beurteilen.

„Was führt Sie heute zu uns?“, fragte sie Marco.

„Ich habe eine Gehstreckenverkürzung bemerkt. Waren es im Oktober noch 3 bis 4 Kilometer, die ich mühelos gehen konnte, so ist die Strecke nun auf 800 bis 1000 Meter geschrumpft. Außerdem kann ich schlechter sehen.“

Sie hielt ihm eine schmale Karte mit Ziffern und Buchstaben vor die Augen. Er las vor. Die Ärztin guckte leicht mürrisch.

„Also, bis hier können Sie alles lesen?“

Kleine Fleckwolken überlagerten die Buchstaben auf dem blütenweißen Pappstreifen.

„Visus Abfall 15%, würde ich sagen. Was wollen Sie? Wollen Sie Kortison? Das können Sie haben!“

Motzte sie ihn an? War sie pampig? Schon nach dem ersten Satz, den er gesagt hatte? War er unfreundlich gewesen? Er verstand nicht so recht.

„Ich kann Ihnen aber nicht versprechen, dass es durchs Kortison besser wird. Das bildet sich auch allein zurück, dauert aber länger. Es ist ja auch gar nicht gesagt, dass es ein Schub ist. Es kann auch einfach die Folge einer Depression sein, dass es Ihnen so vorkommt, als hätten Sie eine Gehstreckenverkürzung.“

„Ich bin eigentlich auch gekommen, um zu erfahren, ob das Fumarat nun tatsächlich am 17. Juni erhältlich sein wird.“

„Ja, auch da muss ich Sie leider enttäuschen. Fumarat kommt nicht, die Zulassung ist auf unabsehbare Zeit verschoben worden.“

Marcos Gesicht schien zu gefrieren, er hatte das Gefühl, als würden die Sekunden mit einer Axt zerteilt als Holzblöcke durch den Raum kullern, scheibchenweise, nein, als wäre die Zeit stehen geblieben, von jetzt an, von nun an. Der Einschnitt war nicht zu übersehen..

„Das schockt mich aber, das macht mich richtig … ganz schön … depressiv, dass … das jetzt doch nicht kommt!“ Oder war er wütend?

„Ja, was glauben Sie, wie wir uns gefühlt haben, als wir das hier erfahren haben?!“

„Ich hab über ein Jahr auf das Zeug gewartet! Ich hab dem UKE vertraut, der Chefarzt persönlich hat mir gesagt: ‚Wir coachen Sie!‘ Und nun so was! Das kann man ja alles vergessen! Schweinerei!“

„Tja, da kann man nichts machen. Nehmen Sie Copaxone! Probieren Sie’s aus, bevor Sie gar keine Basistherapie machen!“, empfahl sie Marco.

„Muss man sich das nicht spritzen?“, fragte er.

„Na, das ist halb so schlimm, das lernt man schnell. Was ist, wollen Sie nun Kortison, dann sag ich vorn Bescheid.“

„Ich muss das erst mal verdauen. Ich warte noch mal ab, ob es ohne Korti besser wird. Ich meld mich wieder. Vielleicht gehen sie ja auch ohne wieder weg, diese Missempfindungen … und das Schlecht-gehen-Können.“

„Gut, dann rufen Sie einfach an.“

Das Stichwort Uhthoff-Phänomen fiel nicht.

Am 1., 2. und 3. Juli 2013 hatte er sich dann jeweils ein Gramm Kortison per Infusion verabreichen lassen. Das dauerte je nach Tropfintensität dreißig bis hundertzwanzig Minuten. Allzu schnell durfte es nicht durchlaufen, da dies zu Übelkeit, Kopfschmerz und Schwindel führen konnte. Während der Infusion kaute Marco Pfefferminzkaugummi-Dragees, die den bleiernen Geschmack, den das Kortison im Mundraum produzierte, erträglich machten. Wrigleys Spearmint hatte sich als angenehm erwiesen. Das Tanken von Korti hatte immer etwas von Verlorenhaben und gleichzeitig doch noch einmal Hoffnungschöpfen an sich. Halb saß man, halb lag man in den großen Infusionssesseln der MS-Station des Universitätskrankenhauses, das die Daten vieler Patienten über Fragebögen sammelte und so Krankheitsverläufe dokumentieren konnte. Manchmal kam Marco hier mit anderen ins Gespräch, heute war er allein in dem 15 Quadratmeter großen Raum, dessen blauer Linoleum-Fußboden mit zunehmender Infusionsdauer intensiver schimmerte. Das hatten ihm auch schon andere Patienten berichtet. Farben nahmen unter der Gabe des Medikaments an Leuchtkraft zu, Blau war am stärksten. Damit ähnelte der Stoff psychoaktiven Drogen, die Marco von früher kannte. Nur, dass ihm dabei besonders Grün, Gelb und Rot greller erschienen waren. Die Ampelkoalition halluzinogener Drogen.

Die diensthabende Ärztin reichte Marco drei Zolpidem-Schlaftabletten, die er sich darauf auch von seiner Neurologin verschreiben ließ, zusammen mit den Copaxone-Spritzen. Mit den Zolpis bekam er wenigstens etwas Schlaf, das war gut. Die medikamentös bedingte Rage durch das Kortison ließ sich gerade eben so aushalten, als Marco vor dem Fernseher die Lesungen des Bachmann-Preises verfolgte und am Wochenende dem Jury-Verriss des Beitrags von Nikola Anne Mehlhorn und den Gewinn des 3sat-Preises von Benjamin Maack beiwohnte. Er kannte die beiden, hatte mit Benjamin sogar schon eine gemeinsame Veranstaltung gehabt. Wie gut, dass er nicht im ORF-Studio sitzen und vorlesen musste! Es wäre ohnehin niemand auf die Idee gekommen, ihn einzuladen. Ihn mit seinen kleinen, comichaften Geschichtchen, die zwischen Gedicht und Essay changierten und für die einen zu elaboriert, für die anderen zu derangiert waren. Oder zu verbohrt? „Zu comichaft für uns!“, hatte man ihm auch schon gesagt.

Die Urteile der Jury konnte er weder bei Mehlhorn noch bei Maack teilen.

Ariane verbrachte das Wochenende an der Ostsee mit ihrer Mutter, um im Garten des Ferienhauses zwischen Ritterspornanpflanzungen, japanischen Zierkirschen, Nordmanntannen und herumhüpfenden Heckenbraunellen Unkraut zu jäten. Ariane und ihre Mutter hatten alle Hände voll zu tun.

Marco kämpfte sich derweil mit hämmerndem Herzen durch die Stunden und versuchte, nicht abzudrehen und einfach nur dem Druck, der durch die Kortikoide in ihm produziert wurde, standzuhalten. Nicht immer einfach … aber Ablenkung half ihm durch das Wochenende. Im nächsten Leben, dachte Marco hektisch, komme ich als Vogelhäuschen auf die Welt: im Kopf eine Menge Piepmätze und es zwitschert von einer Ecke in die andere. Und es zieht durchs Loch …

Als wären all die Jahre mit Panikattacken nur eine blasse Ahnung von dem gewesen, was mich noch erwartet, dachte er.

Das Antidepressivum, das er seit einem Jahr nahm, half ihm, nicht noch mehr Panikattacken zu bekommen.

Ein paar Tage später war eine Mitarbeiterin von Copaxone zu Marco gekommen und hatte ihm gezeigt, wie man selbst injiziert. Zudem hatte er lauter Dinge erhalten, die klar machten, wie viel Geld die Firma mit den Medikamenten verdienen musste: einen Injektor, diverse Taschen, Bottiche, Therabänder und Broschüren. Ein Karton mit 28 Spritzen kostete die Krankenkasse über 1.000,– Euro.

„Wenn Sie mit Ihrer Neurologin nicht zufrieden sind, dann empfehle ich Ihnen Herrn Dr. Noll. Der ist echt Spitze, ein Supertyp. Mit dem werden Sie sich gut verstehen“, sagte die freundliche Spritzenlehrerin zu Marco, der sich die Telefonnummer des Arztes notierte.

In den Tagen darauf versuchte er, sich die Spritzen selbst zu geben. Aber oft funktionierte der Injektor nicht einwandfrei. Dann lief das kostbare Glatirameracetat das Bein herunter. Manchmal war er sich auch unsicher, ob er den Injektor zu früh abgezogen hatte. Bevor er einen Neuen erhielt, hatte er schon die Hälfte der Spritzen aus dem ersten Karton mit Fehlversuchen verdaddelt.

4

IN EINER KLINIK AM STADTRAND

Mitten in einem Grüngürtel mit angrenzendem kleinen Wald, idyllisch und harmonisch anmutend, lag die psychosomatische Station 4 der T-Gruppe. Sie war eine kleine Abteilung innerhalb eines großen Krankenhauskomplexes. Marco erinnerten die beiden winkelförmig zueinanderstehenden Häuser an die Märchensiedlung, in der er in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgewachsen war. In deren Gärten er mit Hunden und Katzen getollt, Indianerzelte aufgebaut und als Fünfjähriger rumgeknutscht hatte – mit der Squaw Ilona aus dem querstehenden Block mit den drei Stockwerken. Die Blätter erzitterten in den Lichtstrahlen, die die Kiefern, Birken und Ahornbäume nun in gleißendes Gold hüllten.

Ariane verabschiedete sich von Marco mit einem Kuss und fuhr in ihrem Cabrio zurück an die Ostsee, um ihren Urlaub allein fortzusetzen. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, den Rest ihrer Ferien solo zu verbringen. Was aber hätte sie tun sollen? Ihr graute etwas vor der Einsamkeit nachts im freistehenden Ferienhaus, obwohl sie früher schon öfter ein bis zwei Wochen in diesem Haus ihrer Eltern verbracht hatte. Vor allem nachts, wenn die Fensterläden knarrten und auf dem Boden seltsame Geräusche ertönten, die nur von Kriechtieren stammen konnten, wurde ihr leicht schwummrig …

Im Dienstzimmer erhielt Marco einen Schlüssel für den abschließbaren Kleiderschrank, den er sorgsam behüten wollte, einen Fragebogen und einen Speiseplan, auf dem er täglich zwischen drei Gerichten wählen konnte.

„Heute und die nächsten beiden Tage gibt es aber nur Vegetarisch, da brauchst du nichts ankreuzen“, sagte die Pflegerin Frau Nahn, deren geschlechtslose Freundlichkeit ihn warm umwölkte. Marco verstaute seine Taschen und Tüten im Kleiderschrank, verteilte seine Toilettenartikel im Bad und legte sich probehalber ins Bett: Es war viel zu kurz … und zu schmal obendrein. Die Matratze erschien ihm zu dünn und war mit einer PVC-Haut überzogen, unangenehm. Immerhin: Er hatte ein Einzelzimmer, zum Glück. Denn da Marco ohnehin schlecht schlief, hätte ihn das Schnarchen anderer zum Wahnsinn getrieben, das wusste er. Abschließen konnte er das Zimmer nicht, nur den Schrank. Das war zumindest gewöhnungsbedürftig.

Er ging den mit mausgrauem Nadelfilz ausgelegten Flur, in dem zweimal zwei Stühle und zwei Tische im Abstand von 50 Metern standen, hinunter in Richtung Eingangshalle. Franziska war die erste Mitpatientin, die ihn auf der Station 4 ansprach. Sie hatte sich lässig auf dem Sofa im Foyer drapiert und blätterte in ihrem iPad ein paar Pages Sportnews durch. Sie begrüßte ihn mit einem schlichten „Hallo, ich bin die Franzi!“.

Hier saßen manche mit ihren Handys und Laptops, weil der WLAN-Empfang gut war, das Foyer galt als Hotshot, Hotstop, Hop Spot, Hopp Stopp und äh, Hotsch Pot, Marco driftete wieder etwas ab. War in Gedanken. Laptopper à gogo? Nach einem Wortwechsel mit zwei, drei netten, aber belanglosen Sätzen schlenderte Marco weiter, ging durch den langen Flur und guckte auf die Wiese, auf der aber niemand saß. Im Holzstuhl starrte er in die Luft. Seine neue Droge, das Mirtazapin, das er seit einem Jahr nahm, machte den Himmel sanfter, heller, geschmeidiger, weicher, geschichteter, hellblauer und in seiner Zartheit konzentrierter. Er beobachtete nougatbraune Eichhörnchen beim geschickten Klettern auf den Bäumen. In einer halben Stunde hatte er seinen ersten Termin bei der Ärztin.

Frau Rotschnepper war blond, hatte einen Stufenhaarschnitt wie Suzi Quatro 1973, die Haare fielen knapp auf die Schultern, eine sportliche Figur, war kleinwüchsig, sie ging Marco nicht einmal bis zum Brustbein und sagte sogleich: „Man sieht Ihnen nicht an, dass Sie MS haben.“ Sie trug ein sehr farbiges, langarmiges DESIGUAL-Shirt mit Alloverprint und fragte ihn nach den Medikamenten, die er nahm, er sollte diese im Dienstzimmer abgeben.

„Wann hatten Sie die Lungenembolie? Lassen Sie mich mal Ihren Marcumar-Pass sehen.“

Marco bewahrte diesen im Portemonnaie auf, das er sogleich zückte.

„Im Oktober 2012 hatte ich eine Embolie wegen der 11,5 Gramm Kortison, die ich wegen der MS-Schübe bekommen hab, und danach, eine Woche später, eine Lungenentzündung“, sagte er.

Frau Rotschnepper nahm den Pass und notierte die Medikation der letzten Reihe auf einem Zettel.

„Das war’s dann schon für heute bei mir, nachher haben Sie Ihre erste Therapiestunde bei Herrn Schwasser, der holt Sie im Foyer ab, wo Sie bitte um 15 Uhr auf ihn warten.“

Im Dienstzimmer gab er eine Tüte Medikamente ab.

„Na, dann kommen Sie mal, ich mache eine kleine Führung.“

Frau Nahn, die überaus zuvorkommend und nett war, eine Jeans und ein Sweatshirt trug, 1,70 Meter groß war und strähnige, blonde Haare besaß, zeigte ihm das Fernsehzimmer, die Küche, in der man rund um die Uhr Wasser und Kaffee holen konnte, und den Raum mit den Warmhaltewannen – das Essen wurde in Kübeln angeliefert und musste von den Patienten dann in die Behälter gelegt werden, dafür gab es einen ausgetüftelten Plan, der in der Patientenkonferenz am Mittwoch jede Woche neu besprochen werden musste.

Sie zeigte ihm den ersten Stock, in dem die Gruppenräume lagen, den Ruheraum direkt unterm Dach sowie den Keller mit der Waschmaschine und einer Tischtennisplatte. Das alles erinnerte ihn an eine gut ausgestattete Jugendherberge, nur etwas antiseptischer.

Die anderen Patienten kamen nun anscheinend aus ihren Therapiestunden zurück und nahmen im Essensraum Platz, wo sie sofort in angeregte Gespräche versanken. Marco saß etwas irritiert daneben und wusste nicht, ob er hin- oder weghören sollte.