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Sehnsucht nach Liebe.
Ist es nicht das, was uns alle bewegt?
Immerhin treibt diese Sehnsucht Lena dazu, eine Kontaktanzeige ins Internet zu setzen.
Schon nach dem ersten Date mit Julio glaubt sie, den perfekten Mann fürs Leben gefunden zu haben.
Doch hinter seiner glänzenden Fassade verbergen sich Abgründe, die sie in ihrer Verliebtheit nicht einmal erahnt.
Ohne dass sich Lena dessen bewusst ist, entwickelt sich die Beziehung immer mehr zur Seelenfolter.
Wird sie je wieder heil aus dem Geflecht subtiler Manipulationen herauskommen?
»… was ich in diesem Roman erzähle, ist nicht meine Geschichte und doch gründet sie auf eigenen Erfahrungen.
Es sind Gefühle, die ich selbst erlebt habe, Gefühle der Selbstzweifel, Beklemmung, Hilflosigkeit und Angst.
Denn das Fatale an der subtilen Gewalt ist die Hinterhältigkeit, mit der sie sich schleichend langsam immer
weiter entfaltet, bis sie einem gänzlich die Luft zum Atmen raubt.
Lange habe ich dieses Projekt hinausgezögert, doch nun ist es an der Zeit, Licht auf die Schatten zu werfen.
Als Romantasy-Autorin möchte ich vorneweg schicken, dass das reale Leben manchmal fantastischere, groteskere
und unwirklichere Geschichten hervorbringt als jede Fantasie.
Dieser Roman taucht ein in Abgründe der menschlichen Psyche, die Sie kaum für möglich halten und doch
steckt mehr Realität darin, als Sie glauben werden.
Ihre Bella Muray«
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Veröffentlichungsjahr: 2020
PSYCHOTERRORIST
Bella Muray
Deine Umarmung ist mein Gefängnis,
das mir die Luft zum Atmen raubt.
Deine Nähe ist meine Beklemmung,
die mir die Freiheit zu Leben nimmt.
Deine sentimentalen Erinnerungen
knüpfen dicke Knoten in meinem Bauch.
Das, was Du Liebe nennst,
zerquetscht mich in einer Presse
aus falscher Verpflichtung
und manipuliertem Gewissen.
Mit Deiner Weise zu lieben
haben Deine Grenzen die meinen
meilenweit überschritten.
Verführung ist die gewaltlose Kunst der Manipulation.
Noch eine Stunde, dann würde Lena Julio gegenüberstehen. Bisher hatte sie es geschafft, die Aufregung einigermaßen im Zaum zu halten. Ein wenig schüchtern und zurückhaltend wie sie war, bevorzugte sie einen schlichten Kleidungsstil – Jeans, Sneakers, Shirt –, doch für das Date kam die Standardkluft nicht infrage, denn natürlich wollte sie einen guten ersten Eindruck hinterlassen. Nachdem der Frühling gerade noch den letzten Schnee geschickt hatte, waren die Temperaturen auf einmal so stark angestiegen, dass sich das Eis nicht halten konnte. Bei 25 Grad Außentemperatur war ein sommerliches Outfit daher durchaus angebracht. Neben Hosen und Röcken baumelten drei Kleider am Bügel – ein cremefarbenes mit violetten Blumen, ein beiges und ein blaues. Dank ihrer schlanken Figur standen Lena aber auch die langen Wickelröcke, die sie während eines botanischen Praktikums in den mittelamerikanischen Tropen erworben hatte, ausgezeichnet. So wählte sie schließlich einen dunkelblauen Wickelrock und ein farblich passendes, bauchfreies Top. Mit Schminke hatte sie sich noch nie richtig wohlgefühlt, aber ein wenig Rouge und transparenter Lipgloss mussten dann doch herhalten, um ihre Fassade ein wenig aufzuwerten.
Die Zeit schritt unaufhörlich voran, trieb ihre Nervosität immer weiter. Irgendwann hielt Lena es nicht mehr aus. Sie schlüpfte in ein paar Sneakers und überließ das Zimmer sich selbst. Da sich sowohl Uni als auch Studentenwohnheim in der Nähe des Palmengartens befanden, legte sie den Weg zu Fuß zurück. Es blieb zwar noch genügend Zeit, aber lieber wollte sie ein wenig auf Topolino warten, als zu spät zu kommen.
Lena stand etwas abseits des Eingangs und beobachtete angespannt die Leute auf der Straße. Das flaue Gefühl im Magen wollte nicht nachlassen. Unruhig verlagerte sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, ohne Aussicht darauf, jemals eine entspannte Körperhaltung zu finden.
Verflixt, ich drehe noch durch! Wie werde ich diese schreckliche Nervosität los?
Zahlreiche Männer im Anzug wanderten an ihr vorbei – was wollten die nur hier? Offenbar führte seit Kurzem die Umleitung für in Stau geratene Geschäftsleute ausgerechnet am Palmengarten vorbei. Jedes Mal, wenn sich ein Anzugträger näherte, beschleunigte sich Lenas Herzschlag, in ihren Achselhöhlen sammelte sich unangenehme Feuchtigkeit und die Nervosität schien sich förmlich an einem Reibeisen aufzuwetzen. Lena versuchte, jedes Gesicht unauffällig zu mustern.
Ein dunkelhaariger Mann in schwarzem Anzug näherte sich dem Eingang des Palmengartens und sah sich dabei aufmerksam um.
Das könnte er sein! Aber seine Augen … O Gott, der hat so einen kalten Blick! Bitte nicht! Hoffentlich ist das nicht Topolino!, betete sie innerlich.
Der Fremde musterte Lena flüchtig und ging dann wortlos an ihr vorüber. Noch während sie erleichtert aufatmete, kam bereits ein weiterer Geschäftsmann auf sie zu. Seine dunkelblonden Haare waren zu einem Seitenscheitel gekämmt, das schmale Gesicht wirkte blass.
Der sieht nicht gerade nach südländischer Herkunft aus, das wird er wohl eher nicht sein, dachte sie und sah sich weiter um. Doch der Mann steuerte geradewegs auf sie zu. Lena sah forschend zu ihm auf, als er sie ansprach.
»Entschuldigung, haben Sie vielleicht Feuer?«, fragte er und blitzte die Studentin mit seinen tiefblauen Augen einen Tick zu charmant an.
Obendrein wurde ihr die Zweideutigkeit seiner Frage bewusst. Aber für derartige Flirts hatte sie jetzt absolut keinen Kopf und außerdem wirkte dieser Typ nicht besonders anziehend.
»Äh, nein, ich rauche nicht«, antwortete sie daher knapp und senkte den Blick Richtung Bordsteinkante, wo ein verklebter Kaugummi ihre Aufmerksamkeit gefangen hielt.
Der Fremde zog wortlos ab. Lenas Aufregung stieg von Minute zu Minute weiter an. Sie blickte in verschiedene Gesichter, aber bisher war nicht mal ein Ansatz ihres Traumtypen dabei gewesen. Ihre Nerven lagen so blank, dass sie kurz davor war, einfach wieder zu verschwinden.
Wieso haben wir bloß keine Handynummern ausgetauscht?
Dann hätte sie jetzt wenigstens eine SMS schicken können, fragen, wo er blieb; oder er hätte Bescheid geben können, wenn ihm etwas dazwischengekommen wäre.
Wie spät ist es eigentlich?
Lena zückte ihr Handy, um nach der Zeit zu sehen: 15:15 Uhr. Da verdeckte plötzlich eine rote Rose das Display. Reflexartig schob sie das störende Gewächs beiseite, doch im nächsten Moment zuckte sie zusammen und sah auf. Sie blickte in ein freundliches Gesicht, das aus einer Modezeitschrift entsprungen sein musste. Die tiefschwarzen Haare bildeten einen mystischen Kontrast zur grünen Iris seiner Augen und der leicht gebräunte Teint deutete auf einen ausgiebigen Urlaub in der Sonne hin.
»Lena Sommer?«, fragte mit einer tiefen, warmen Stimme.
»Topolino?«, flüsterte sie kaum hörbar.
Sie musste sich zurückhalten, um ihm nicht überschwänglich in die Arme zu fallen, denn nach der angespannten Warterei fühlte sie sich bei seinem Anblick urplötzlich wie auf eine Wolke der Glückseligkeit katapultiert. Mit einer derart positiven Überraschung hatte sie nicht gerechnet und sie konnte gar nicht aufhören, ihn selig anzugrinsen. Julio lächelte sie ebenfalls freudig überrascht an, doch irgendwann wurde Lena bewusst, wie peinlich lange sie sich schon in die Augen sahen. Hitze schoss in ihre Wangen. Schüchtern senkte Lena den Blick – mal wieder zur Bordsteinkante. Dort hatte sich zum Kaugummi die rote Rose gesellt, die Lena Topolino versehentlich aus der Hand gewischt hatte.
»Du hast etwas verloren«, bemerkte er, bückte sich und reichte Lena die Blume.
»Danke«, antwortete sie und kicherte verlegen.
»Ich konnte die Verkäuferin im Blumenladen nur mit Mühe davon abhalten, mir ihre gesamte Lebensgeschichte zu erzählen, deshalb komme ich leider etwas zu spät. Tut mir leid«, entschuldigte er sich mit einem so charmanten Lächeln, dass Lena förmlich dahinschmolz.
»Kein Problem! Ich warte noch nicht lange«, log sie.
Dieses Date entschädigte sie voll und ganz für die qualvolle Warterei, die ihr wie eine nicht enden wollende Ewigkeit vorgekommen war. Aber das spielte keine Rolle mehr.
»Wollen wir reingehen?«, fragte Julio, wobei er zum Palmengarten deutete.
Um diese Uhrzeit herrschte wenig Betrieb, so dauerte es nicht lange, bis sie drin waren.
»Als Biologin kennst du dich doch bestimmt gut mit den Pflanzen hier aus, oder?«, wollte Julio wissen.
»Na ja, es geht. Die Tier- und Pflanzenwelt ist so vielfältig, da kann man auch als Biologin nicht alles kennen. Außerdem verwechseln viele Leute Biologie mit Gartenbau und glauben, ich müsste Obstbäume beschneiden können oder mich mit der Pflege ihrer Zimmerpflanzen auskennen«, antwortete Lena. »Aber hier wachsen schon ein paar Pflanzen, über die ich dir etwas erzählen könnte, wenn es dich interessiert.«
»Natürlich lasse ich mich gerne von Ihnen führen, Frau Sommer«, scherzte Julio mit einem Augenzwinkern.
Die beiden wanderten an den Wasserspielen vorbei, durch den Rosengarten, wo die ersten Blüten ihre Knospen entfalteten. Offenbar hatte der späte Schnee keinen Schaden angerichtet. Sie umrundeten den kleinen See und setzten sich schließlich im Palmenhaus auf eine Bank. Die feuchtwarme Luft war erfüllt vom Plätschern eines künstlich angelegten Wasserfalls, der sich in einen Seerosenteich ergoss. Wäre nicht die Glaskuppel gewesen, hätte man tatsächlich glauben können, man befände sich im tropischen Regenwald. In einem Käfig hockten zwei schneeweiße Kakadus. Einer von ihnen rief hin und wieder »Hallo Einstein!«.
»Der Vogel kann tatsächlich sprechen«, staunte Julio. »Ich muss gestehen, in Biologie war ich nie besonders gut. Ich kann mich daran erinnern, dass die Lehrerin einmal fragte, woraus der Glaskörper des Auges besteht, und rate mal, was ich geantwortet habe …«
»Hm, aus Glas?«, mutmaßte Lena lachend.
»Genau«, bestätigte er.
Dabei blickte Julio sie an, als müsste er sich sehr zurückhalten, sie nicht zu küssen. Dabei hätte sich Lena am liebsten im Strahlen seiner grünen Augen verloren. Er atmete hörbar tief durch.
»Um ehrlich zu sein, hatte ich mir große Sorgen gemacht, wie dieses Treffen verlaufen würde, denn Marika, meine Sekretärin, meinte, ein Mann, der im Anzug beim Date erscheint, ginge bei ihr gar nicht. Außerdem war ich ziemlich nervös. Ich meine, du warst mir im Chat zwar sehr sympathisch, aber man weiß ja trotzdem nicht, was für ein Mensch sich dahinter verbirgt«, gestand er.
»Ja, mir ging es genauso. Aber das mit dem Anzug ist kein Problem.«
»Nun, ich bin auch alles andere als enttäuscht«, sagte er und sah Lena dabei so tief in die Augen, dass ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. »Es ist schön hier«, bemerkte er lächelnd. »Außerdem ist die Atmosphäre wirklich sehr erholsam. Bei meinem beruflichen Stress sollte ich öfter herkommen.«
Julio lehnte sich lässig zurück und schloss genießerisch die Augen, was Lena die Gelegenheit gab, ihn ungestört zu betrachten. Sie saß knapp einen halben Meter weit weg neben ihm auf der Bank und konnte aus dieser Entfernung sogar die winzigen Bartstoppeln in seinem Gesicht erkennen. Die Brauen waren ungewöhnlich dicht, seine Lippen ebenmäßig, voll und verführerisch. Als er die Lider öffnete, ertappte er Lena beim Starren. Sie lachte beschämt und sprang auf.
»Wollen wir weitergehen?«, fragte sie, um abzulenken.
»Okay. Du bist mein Guide«, antwortete er und erhob sich ebenfalls.
Sie verließen das Palmenhaus, streiften ein wenig durch die Gärten und betraten dann die Treibhäuser mit den verschiedenen Klimazonen wie Trockenwüste, tropischer Tieflandregenwald und Nebelwald.
»Das dort sind Tillandsien. Wie viele andere Bromelienarten wachsen sie nicht in der Erde, sondern epiphyt, also auf anderen Pflanzen, vorzugsweise Bäumen. Das Besondere an den Tillandsien ist, dass sie das Wasser nicht über Wurzeln, sondern über besondere Haare aufnehmen, die die gesamte Oberfläche bedecken«, erklärte Lena.
Julio nickte interessiert und musterte dann einen der Schaukästen.
»Sind das nicht fleischfressende Pflanzen? Sonnentau und Venusfliegenfalle?«, fragte er.
»Ja, stimmt. Du kennst dich ja doch ganz gut aus«, staunte Lena.
»Eigentlich nicht, steht ja dort«, gab Julio grinsend zu.
»Oh, ach so«, kicherte Lena mit einem Blick auf die Beschilderung.
Sie fühlte sich sehr wohl in Topolinos Gegenwart und immer mehr Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch umher.
Julios Smartphone vibrierte in seiner Brusttasche.
»Entschuldige, Lena, das ist wichtig. Da muss ich mal kurz rangehen«, erklärte er und sie nickte verständnisvoll.
Während Julio einem seiner Vertriebsleute erklärte, wie er mit dem Kunden zu verfahren hatte, betrachtete Lena weiter die Pflanzen in den Schaukästen. Sie verstand nur die Hälfte des Telefonats, aber es klang äußerst professionell und Julio sprach beeindruckend wortgewandt, was die Zahl der Schmetterlinge in Lenas Bauch weiter anwachsen ließ.
»Hast du Hunger?«, fragte er plötzlich direkt hinter ihr.
Mit dem Blick in den Schaukästen versunken hatte sich Lena dermaßen in ihren Träumereien verloren, dass sie das Ende des Gesprächs gar nicht bemerkt hatte. Ein wenig erschrocken fuhr sie herum und blickte in seine grünen Augen, die ihr ein warmes Strahlen schickten.
»Ja«, antwortete sie heiser und kämpfte gegen die Hitze auf ihren Wangen.
»Hier um die Ecke gibt es einen exzellenten Italiener. Darf ich dich als Gegenleistung für diese kompetente botanische Führung zum Essen einladen?«, fragte Julio.
Für Lena war es ein Ding der Unmöglichkeit, ihm dies abzuschlagen.
»Ja, gerne«, antwortete sie und schwebte losgelöst von jeglicher Bodenhaftung neben ihm her.
Dabei berührten sich wie zufällig ihre Hände, und als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, streichelte Julio mit einem Finger über Lenas Handrücken. Ein warmer Schauer durchflutete sie. In ihrer Aufregung wagte sie es nicht, ihn anzusehen, stattdessen tat sie so, als hätte sie es nicht bemerkt.
Julio führte Lena in ein piekfeines Restaurant aus, in dem er Stammkunde sein musste, da ihn das Personal äußerst zuvorkommend mit »Herr Rodriguez« begrüßte. Mit ihrem monatlichen Auskommen war es der Studentin nicht einmal möglich, in einem einfachen Schuppen essenzugehen. Ein Etablissement wie dieses, das mit zwei Sternen warb, hatte sie in ihrem Leben noch nicht betreten. Etwas verunsichert blickte sie an sich hinab. Im Wickelrock kam sie sich reichlich fehl am Platz vor, zwischen den festlich gedeckten Tischen und den fein gekleideten Gästen. Auch konnte Lena den Eindruck nicht abschütteln, dass der Kellner sie hinter seiner freundlichen Fassade abfällig musterte, während er ihr den Stuhl zurechtrückte.
»Ich bin nicht gerade passend gekleidet«, bemerkte sie unglücklich, als sie endlich alleine waren.
»Natürlich bist du das. Ich verrate dir mal was: Ich war hier auch schon in zerrissenen Jeans, einfach, um ein bisschen zu provozieren. Und wie du mitbekommen hast, bin ich noch immer Stammkunde.«
»Wirklich?«, staunte Lena ungläubig.
»Anzüge sind nichts anderes als Uniformen. Jede Gruppe hat ihre eigene. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass Hippies, Teenies, Ökos und Studenten ebenfalls Uniformen tragen – eben einen für sie typischen Modestil, der andere ausgrenzt. Aber du musst wissen, zu Hause schlüpfe ich am liebsten in was Bequemes.«
Wieder eine Offenbarung, womit er bei Lena reichlich Sympathiepunkte sammelte.
»So habe ich es noch gar nicht gesehen«, gab sie zu.
Julio öffnete seine Karte.
»Ich empfehle dir das Menü Fantastica.«
»Gut, dann probiere ich das. Nur leider kenne ich mich mit Wein überhaupt nicht aus. Welcher würde denn dazu passen?«
»Da mach dir keine Gedanken. Wasser und Wein sind im Menü mit inbegriffen. Das erspart die Qual der Wahl.«
»Praktisch! Und so kann ich mich wenigstens nicht blamieren.«
»Immerhin gibt mir das die Gelegenheit, ein bisschen mit meinem Wissen vor dir prahlen zu können«, entgegnete er lachend. »Meine Großeltern unterhalten nämlich in Spanien ein Weingut, daher wurden mir die verschiedenen Rebsorten quasi in die Wiege gelegt.«
Der erste Gang – Garnele aus Mazara del Vallo I Kürbis – war ein kleines Kunstwerk und Lena tat es fast leid, dieses beim Essen zerstören zu müssen.
»In meiner Kindheit haben wir oft in Andalusien bei meinen Verwandten Urlaub gemacht«, erzählte er.
Lena hing förmlich an seinen Lippen und fühlte sich wie in einer anderen Welt. Julio nahm einen genießerischen Schluck vom Castello di Brolio Chianti aus der Toskana.
»Was hast du so getrieben in deinem Leben?«, wollte er von ihr wissen.
»Ich liebe das Reisen. Nach dem Abitur bin ich mit dem Zug durch Europa getourt. Eigentlich wollte ich es gemeinsam mit einer Freundin machen, aber die bekam plötzlich ein Jobangebot. Da bin ich einfach alleine los.«
»Du warst mit dem Zug ganz allein in fremden Ländern unterwegs? Verdammt mutig! Hattest du denn keine Angst?«
»Doch, manchmal schon ein bisschen. Einmal in Paris ist ein Mann gemeinsam mit mir aus der Metro gestiegen. Er hat auf mich eingeredet, ging neben mir her und ließ sich nicht abschütteln.«
»Und wie bist du ihn dann losgeworden?«
»Ich hatte Glück. Er musste ganz dringend mal, hat sich an den Wegrand gestellt und ich bin schnell davongegangen. Eine nette Französin hatte das anscheinend mitgekriegt, sie hat neben mir angehalten und mich mit ihrem Auto bis zur Jugendherberge gebracht. Manchmal denke ich, die hat mir mein Schutzengel geschickt.«
»Vielleicht war es ja tatsächlich so. Mutig bist du auf jeden Fall.«
»Na ja, es geht. Ich hatte seit der Pubertät ein großes Problem: Ich war ziemlich schüchtern. Aber wenn man alleine unterwegs ist, bleibt einem oft gar nichts anderes übrig, als fremde Leute anzusprechen. Auf diese Weise habe ich mich quasi selbst ins kalte Wasser geworfen, um meine Ängste zu überwinden.«
»Also bist du zwar in sozialen Kontakten unsicher, ansonsten aber eine ziemlich furchtlose junge Frau. Eher eine Einzelkämpferin als ein Gruppentier, stimmts?«
»Ja, kann man so sagen.«
»Und weshalb bist du schüchtern geworden?«
»Ich weiß nicht … Vielleicht wegen der Scheidung meiner Eltern. Als Kind war ich ganz normal, würde ich sagen, aber später wollte ich dieses Pubertätszeug nicht mitmachen, habe mich immer mehr in mir selbst verkrochen. Weshalb das so war, weiß ich nicht genau. Außerdem sind wir früher oft umgezogen, weil mein Vater beruflich versetzt wurde. Nach der Scheidung habe ich ihn dann nicht mehr so oft gesehen und jetzt wohnen wir alle weit voneinander entfernt. In den Semesterferien besuche ich meine Eltern hin und wieder, aber all meine Verwandten wohnen weit weg.«
»Das haben wir gemeinsam. Meine Eltern sind vor ein paar Jahren wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, sodass ich sie nur noch selten sehe. Wie ging es dir mit der Scheidung deiner Eltern?«
»Nicht so gut. Mein Papa hat wieder geheiratet. Da saßen mein Bruder und ich oft zwischen den Stühlen.«
»Das kann ich gut verstehen. Häufig werden nach der Trennung Kämpfe ausgetragen. Manche betäuben sich, lenken sich ab, verdrängen den Kummer durch eine neue Partnerschaft oder schwelgen in schmerzhaften Erinnerungen. Und fast immer sind es die Kinder, die dabei auf der Strecke bleiben. Verlustängste, verminderter Selbstwert und Zerissensein zwischen Vater und Mutter sind die Folge. Musstest du so etwas auch durchmachen?«
»Ja«, antwortete Lena erstickt.
Ihre Augen wurden feucht. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so mit einem Menschen über ihre Kindheitsprobleme gesprochen zu haben. Julio hatte ein tief vergrabenes Leid berührt und damit ihr Herz geöffnet. Zum ersten Mal fühlte sie sich voll und ganz verstanden. Er stellte Fragen und brachte ihr so viel Mitgefühl entgegen, dass sie ihren ganzen Kummer vergangener Tage ausschüttete, bis ihr bewusst wurde, dass das für ein erstes Date wohl nicht gerade angebracht war. Doch mit Julio hatte sich alles so natürlich und vertraut angefühlt.
»Jetzt habe ich so viel von mir erzählt. Wie war denn deine Kindheit?«, wechselte Lena schließlich das Thema.
Er schenkte ihr ein wohlwollendes Lächeln und begann dann vom sonnigen Andalusien und seiner Familie zu erzählen. Es wurden weitere Gänge serviert, einer köstlicher als der andere, und Lena erfuhr, dass Julio vor seiner Vertriebskarriere zum Doktor der Psychologie promoviert hatte.
Das Dinner hätte traumhaft enden können, wenn da nicht plötzlich eine Fliege begonnen hätte, über Lenas Teller immer enger werdende Kreise zu ziehen.
»Lucilia sericata«, bemerkte sie – die Biologie ließ sich eben auch beim Essen nicht so leicht ablegen.
»Wo kommt die denn her?« Julio runzelte die Stirn.
»Das leckere Essen teile ich jedenfalls nicht mit ihr«, erklärte Lena und versuchte das Insekt mit einer hektischen Handbewegung zu verscheuchen – zu hektisch, denn sie erwischte das Weinglas, das umkippte. Ein ordentlicher Schwung Rotwein schwappte über den Tisch hinweg. Lena quiekte erschrocken auf und Julio fuhr so ruckartig vom Stuhl hoch, dass dieser geräuschvoll umfiel. Damit war er immerhin gerade noch der roten Flut entkommen, die sich nun über die Tischkante hinweg auf den Boden ergoss.
O Gott! Nein!
Lena schlug die Hände vor ihr glühend heißes Gesicht. Es war gespenstisch still geworden um sie herum. Gleich drei Kellner eilten herbei.
Wie ungeschickt! Und das in diesem Restaurant! Oje, alle Leute starren uns an.
Sie wagte kaum, Julio anzusehen. Immerhin, er ging auf sie zu und griff nach ihrer Hand.
»Ich regle das. Aber da wir ja ohnehin fast fertig sind, gehen wir jetzt besser.«
»Paolo, bring mir die Rechnung!«, sagte er zu einem der Kellner.
Lena sah verlegen zu, wie sich das Personal um Schadensbegrenzung bemühte. Paolo kehrte mit einem schwarzen Etui zurück, in das Julio mehrere große Scheine steckte.
Vor der Tür atmete Lena ein wenig auf. Sie war froh, den verstohlenen Blicken der Gäste entkommen zu sein. Das Malheur war ihr unsagbar peinlich und nun fürchtete sie, dass Julio einen höflichen Weg suchen würde, um sie wieder loszuwerden. Er lächelte jedoch aufmunternd.
Das kann doch nicht gespielt sein, oder?
»Darf ich dich auf den Schreck hin nach Hause begleiten, Lena?«, fragte er zuvorkommend.
»Ja, gerne«, antwortete sie erleichtert.
Sicher würde er ihr das nicht anbieten, wenn er sie loswerden wollte. Sie gingen nebeneinander her, überquerten einen Spielplatz.
»Eine Runde Wettschaukeln?«, schlug er spontan vor und lief auch schon zu den Spielgeräten, um sich auf einer der beiden Schaukeln niederzulassen.
Lena traute ihren Augen kaum. Es war ein ziemlich skurriles Bild, wie der Geschäftsführer einer Softwarefirma im Anzug lässig auf dem Spielgerät herumschlenkerte – herrlich verrückt, wie Lena fand.
Sie setzte sich lachend daneben und schaukelte drauf los, während Julio nur leicht hin- und herschwang und sie betrachtete.
»Du schaukelst ja gar nicht!«, protestierte sie.
»Es war nur ein Scherz, auf den du reingefallen bist«, lachte er. »Aber jetzt sollten wir besser den Platz für die Kinder räumen, die dort schon ungeduldig warten.«
Er deutete auf ein älteres Ehepaar, welches auf der Spielplatz-Parkbank saß und kopfschüttelnd zu ihnen herüberblickte. Lena kicherte belustigt.
Bis auf ihr blödes Missgeschick hätte das Date nicht besser laufen können. Julio war so herrlich locker, konnte sogar ein wenig kindisch sein, sah umwerfend gut aus und dennoch steckte in ihm ein erfolgreicher Geschäftsmann. Kaum zu glauben, dass es möglich war, all diese Eigenschaften in einer einzigen Person zu vereinen.