Psychotische Reaktionen und heiße Luft - Lester Bangs - E-Book

Psychotische Reaktionen und heiße Luft E-Book

Lester Bangs

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Beschreibung

Lester Bangs ist 'die' große Rock-Kritiker-Legende in Amerika. Geboren 1948, arbeitete er ab 1971 fünf Jahre lang beim Rockmagazin Creem und beeinflusste mit seinem neuen subjektiven Stil eine ganze Generation junger Autoren. Bangs ging 1976 als freier Journalist nach New York, schrieb u.a. für den Rolling Stone und gründete die Rockgruppe "Lester Bangs and the Delinquents". In seinen Reportagen, Kritiken, Glossen und Fragmenten entdeckt er in "Wild Thing" von den Troggs eine Art unkontrolliertes Lebensmanifest für die Zukunft. Er bewundert Richard Hell, analysiert den Mythos von Elvis, reektiert sein schwieriges Verhältnis zu Lou Reed, begleitet die Clash auf Tour, schreibt über Iggy Pop and the Stooges, David Bowie, Kraftwerk, PIL u.a. Mit seinen gnadenlos subjektiven Urteilen und vehementen Verurteilungen, Beleidigungen und großen Lobeshymnen war er der Gonzo-Autor des Rock-Journalismus, der wie kein anderer um die Faszination und Anziehungskraft der neuen Musik wusste. Lester Bangs starb am 30. April 1982 an einer Tablettenunverträglichkeit.

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Lester Bangs

Psychotische

Reaktionen

und heiße Luft

Rock‘n‘Roll als Literatur und Literatur als Rock‘n‘Roll

Ausgewählte Essays

Herausgegeben von Greil Marcus

Aus dem Englischen von Astrid Tillmann, Peer Schmitt, Teja Schwaner u.a.

- FUEGO -

Brief an Dave Marsh, Januar 1986

Absender:

Die Wolke von

Lester Bangs

Marsh,

Du kennst doch das ganze Gequatsche von wegen, »wenn es einen Rock’n’Roll Himmel gibt, dann spielt dort eine höllenmäßige Band?« Glaub den Scheiß bloß nicht, Kumpel.

Die ganz Großen sind ohne Umwege in die Hölle gekommen. Ausnahmslos. Die Stars hier oben sind Jim Croce, Karen Carpenter, Cass Elliot und ganz besonders ... Bobby Bloom! Es ist ein Alptraum! Wenn ich mir nur noch ein einziges Mal dieses verfluchte „Montego Bay“ anhören muss, bringe ich mich um ... (scheiße, ich vergesse es immer wieder).

Wie dem auch sei, alle sechs Monate stelle ich einen Antrag, um in die Hölle aufgenommen zu werden, aber sie lehnen mich immer mit der Begründung ab, ich sei zu gutherzig. Zieh dir das mal rein. Schreib ihnen und klär sie mal auf. Bitte! Sag ihnen, was für ein Arschloch ich sein kann, wenn mir danach ist. Und sag Uhelszki, dass sie dasselbe tun soll. Und Marcus. (Setze ihn doch bitte auch darüber in Kenntnis, dass ich es großartig finde, dass er sich durch mein ganzes altes Geschreibsel kämpft.)

Als ich hier ankam, habe ich Gott getroffen. Hab’ ihn nach dem Warum gefragt, ich meine, 33 und überhaupt. Er hat nur ein Wort gesagt: »M.T.V.« Er wollte mir das ersparen, was zum Teufel auch immer es sein mag.

Ich muss los. Buchstäblich. Noch eine Horde grauhaariger Harfenzupfer ist im Anmarsch. Die spielen natürlich Zeps »Stairway«, die scheiß Nationalhymne in diesem Kaff. Ich kann einfach nicht glauben, dass hier niemand auf The Elgins steht.

Lass es dir gesagt sein, Dave. Der Himmel war Detroit, Michigan. Wer hätte das gedacht?

Ewig dein,

Bangs

Einführung und

Danksagung

Greil Marcus

»Biographie: Lester Bangs wurde 1948 in Escondido, Kalifornien geboren. Er wuchs im kalifornischen El Cajon, was im Spanischen ›Kiste‹ bedeutet, auf, wo er als Tellerwäscher, Verkäufer von Frauenfreizeitbekleidung und Aushilfe in einem familienbetriebenen Kunstblumendekorationsgeschäft arbeitete, während er freiberuflich Plattenkritiken schrieb und vorgab, aufs College zu gehen, bis er 1971 nach Detroit zog und beim Creem Magazine anfing. In den fünf Jahren, in denen er dort in unterschiedlichen redaktionellen Funktionen und als journalistischer Leiter arbeitete, prägte er einen Stil des kritischen Journalismus, der sich auf Klang und Sprache des Rock’n’Roll gründete und eine ganze Generation von jüngeren Schriftstellern und vielleicht auch Musikern beeinflussen sollte. Er verließ Creem 1976 und zog nach New York, wo er freiberuflich arbeitete. Dort wurde er auch Bandleader von zwei Rock’n’Roll-Bands der Manhattaner Klubszene und begann, Aufnahmen seiner ursprünglichen Rock’n’Roll-Kompositionen mitzuschneiden (er schreibt Texte, singt und spielt Harmonika, und weiß, dass ›All my melodies are the same melody, and that’s a blues‹), deren erste Let It Blurt / Live Anfang 1979 bei Spy erschien. Im Moment arbeitet er an einem Album...«

Das schrieb Lester Bangs ein oder zwei Jahre bevor er 1982 starb. Dieser Tatsache ist es geschuldet, dass nun jede andere Biographie detaillierter ausfallen muss: Er wurde am 14. Dezember 1948 geboren; er starb am 30. April 1982 eher versehentlich an den Komplikationen einer durch Grippe verursachten Atem- und Lungenwegserkrankung und der Einnahme von valiumhaltigen Schmerzmitteln. Der Name des Geschäfts, wo er Freizeitbekleidung für Frauen verkaufte, war Streicher’s Shoes, Mission Valley Shopping Center; sein Album wurde 1981 unter dem Titel Juke Savages on the Brazos von Lester Bangs and the Delinquents bei Live Wire veröffentlicht, obwohl er auch überlegte, es Jehovah’s Witness zu nennen, nach dem Glauben, zu dem seine Mutter nach dem Tod seines Vaters 1955 konvertiert war. »Lester sagte mal, dass darin auch seine Herangehensweise als Rockkritiker bestand«, schrieb mir Frances Pelzman, als die Arbeit an diesem Buch begann, »er versuche immer, die Leute zu bekehren.« Sein Tod provoziert natürlich auch müßige Spekulationen: Warum hat er unter all den Details, die er in einer aus nur einem Absatz bestehenden Biographie unterbringen konnte, ausgerechnet erwähnt, dass El Cajon »Kiste« bedeutet. Lag es daran, dass Kiste ein alter Slangbegriff für Plattenspieler ist oder weil der Name so etwas wie Gefangenschaft bedeutete, der er nie entkommen zu können glaubte?

Es ist nicht leicht, über einen toten Freund zu schreiben, ohne in Sentimentalitäten oder ins Melodramatische abzurutschen; Melancholie wäre wahrscheinlich die ehrlichste Tonart, aber sie ist am schwierigsten zu treffen. Meine Aufgabe ist, die Bedeutung von Lester Bangs’ Arbeit hervorzuheben, zu erklären, warum diejenigen, die ihn seinerzeit nicht gelesen haben, das nachholen sollten, warum seine Arbeit das Leben eines jeden bereichert, der es auch nur halbwegs individuell gestalten will, und obwohl ich glaube, dass Lesters Texte genau das bewirken würden, bringe ich gerade das nicht fertig. Es wirkt herablassend, und zwar sowohl dem Leser als auch seinen Texten gegenüber; es schmerzt mich, dass Lester es für nötig befunden hatte, für seine Arbeit aufgrund ihres Einflusses zu werben, so echt und überwältigend dieser auch gewesen sein mag, und nicht aufgrund ihres Wertes. In einer weiteren Selbstdarstellung, die ungefähr zur gleichen Zeit erschien wie die erste, schrieb er: »Ich war offensichtlich brillant, ein begnadeter Künstler, ein sensibles männliches Wesen, das keine Angst davor hatte, seine Verletzlichkeit zu zeigen, einer der wenigen Leute, die wirklich begriffen hatten, was mit unserer Kultur nicht stimmte und warum sie deshalb auch keine Zukunft haben konnte (ein Thema über das ich bereits sprach/zu dem ich unaufhörlich improvisierte Reden hielt, vor allem betrunken, was oft, wenn nicht jede Nacht, der Fall war), ein attraktives kleines Arschloch, dazu noch gut im Bett, obwohl ich selbstverständlich mit einer von meinem Geschlecht und meinem Alter völlig unabhängigen Weisheit gesegnet war. Und ich wusste, dass das natürlich überhaupt keine Rolle spielte, ich war witzig, hatte einen abgefahrenen Sinn für Humor, ein wirklich einzigartiges, unberechenbares Individuum, ein praktizierender Rock’n’ Roller mit eigener Band, wenn nicht heute, dann vielleicht morgen, ein Anwärter auf den Titel Bester Schriftsteller Amerikas (wer war besser? Bukowski? Burroughs? Hunter Thompson? Ach, Blödsinn! Ich war der Beste. Ich schrieb fast nichts außer Plattenkritiken, und davon auch nicht viele...« Er meinte das natürlich nicht wirklich ernst, jedenfalls nicht bis dahin, wo die Klammer aufging (er hat sie nie geschlossen); da hat er einfach die Wahrheit gesagt. Vielleicht verlangt dieses Buch dem Leser die Bereitschaft ab zu akzeptieren, dass der beste Schriftsteller Amerikas praktisch nichts außer Plattenkritiken schreiben konnte.

Ich weiß auch nicht, was ich von den Behauptungen vor der Klammer halten soll. Wie Tausende andere auch, kannte ich Lester hauptsächlich über seine Texte. Wir waren vielleicht innige Freunde, aber keine engen. 1969 war ich sein erster Redakteur beim Rolling Stone; nachdem er Kalifornien gegen Detroit und New York eingetauscht hatte, haben wir uns vielleicht ein halbes Dutzend Mal getroffen, doppelt so häufig miteinander telefoniert und noch mal doppelt so oft miteinander korrespondiert. Wir sprachen lange darüber, ob ich ein Buch über seine Arbeit herausgeben sollte.

Die erste der zitierten biographischen Skizzen stammt aus dem Manuskript einer Sammlung von Lesters veröffentlichten Texten über Rock’n’Roll, die er 1980 oder 1981 zusammenstellte. Die einzig zugesicherte Veröffentlichung war die eines deutschen Verlags; der Arbeitstitel lautete »Psychotic Reactions and Carburetor Dung«. Obwohl der Titel identisch ist, handelt es sich hier nicht um das nie erschienene Buch, er ist vielmehr eine Widmung an Lester, und weite Teile seiner Auswahl sowie einige Kapitelüberschriften wurden beibehalten; ein große Menge bisher unveröffentlichten Materials kam dazu. Lesters Buch sollte dem Zweck dienen, eine Periode aus einer noch langen und unvorhersehbaren Karriere zusammenzufassen. (Kurz bevor Lester starb, wollte er nach Mexiko, um dort einen Roman »All My Friends Are Hermits« zu schreiben, obwohl ich nicht – wie einige, die ihm viel näher standen als ich, behauptet hatten – auch nur eine Sekunde daran glaubte, dass er aufhören würde, über Musik zu schreiben.) Sein Buch sollte kein Vermächtnis darstellen; das aber ist gerade die Aufgabe dieses Buches.

1958 kaufte Lester seine erste Platte (TV Action Jazz von Mundell Lowe and His All-Stars, erschienen bei RCA Camden); von da an verschlang er jedes Stück tontragendes Plastik, das er kriegen konnte. »Die Kindheitsphantasie, an die ich mich am besten erinnere«, schrieb er einmal, »war eine Villa, darunter Katakomben, die in endlosen, gewundenen, schlecht erleuchteten, muffigen Reihen jedes Album in alphabetischer Reihenfolge enthielten, das jemals veröffentlicht worden war.« Ungefähr zur gleichen Zeit begann er, regelmäßig zu lesen; er wurde zum jugendlichen Beatnik. Jack Kerouac und William S. Burroughs waren seine Helden und Lehrer. Er kaufte ihre Mythen von Verschwendung und Wiedergutmachung, Rausch und Erleuchtung. Ihre Bücher und die Platten aller anderen machten ihn zum Schriftsteller.

Lester Bangs’ erster veröffentlichter Text, abgesehen von Gedichten in den Literaturmagazinen seiner High School, war eine Plattenkritik über Kick Out the Jams von den MC5, im Rolling Stone am 5. April 1969. Er hatte den Text unverlangt eingeschickt, ein brutaler, unwiderlegbarer Angriff, Lester war als Rock’n’Roll-Fan dem Hype gefolgt, hatte das Album gekauft, sich betrogen und ausgenutzt gefühlt, und zurückgeschlagen. Ein guter Anfang für jeden Kritiker. (Später lernte er Album und Band lieben. Das war typisch. »Ich mache immer wieder kehrt«, sagte er in einem Interview zu Jim DeRogatis auf die Frage, ob seine Herangehensweise an Rock’n’Roll auf der Überzeugung beruhe, dass diese Musik nicht Kunst sei: »Wir können über Trash, Ästhetik und so weiter reden ... Natürlich ist das Kunst.«) Im Juni 1969 begann Lesters und meine Zusammenarbeit; in einem seiner ersten Briefe an mich (bezugnehmend auf die fünf, zehn, fünfzehn Plattenkritiken, die dann wöchentlich eintrafen) schrieb er: »Um es kurz zu machen, am liebsten würde ich das ganze Ding in die Luft jagen und nochmal von vorn anfangen.« Und das tat er dann auch.

Lester veröffentlichte über hundertfünfzig Kritiken im Rolling Stone (zwischen 1969 und 1973, bis der Herausgeber Jann Wenner ihn wegen Respektlosigkeit den Musikern gegenüber sperrte; und dann wieder ab 1979, als der Ressortleiter für Plattenkritiken, Paul Nelson, seine Rehabilitierung durchsetzte), aber beim Rolling Stone genoss er nie wirkliche Freiheiten. Bei Creem, dem Rock’n’Roll-Magazin, das im Umfeld von John Sinclairs White Panther Party entstanden war, fand er diese Freiheit, zumindest für eine gewisse Zeit: es bot Lester Raum für weitschweifige Tiraden, Beschimpfungen, Verhöhnungen, Hirngespinsten, Zornesausbrüchen und Freudengeheul. Anfangs als freier Autor und dann als redaktioneller Leiter führte er das Magazin in einen subversiven Sog im unerbittlichen kommerziellen Strom des Rockgeschäfts; zusammen mit dem Herausgeber Dave Marsh entdeckte, erfand, pflegte und förderte er eine Ästhetik freudvoller Geringschätzung, eine Liebe zum offensichtlichen Trash und eine Verachtung aller Heucheleien, die 1976 und 1977 mit den Ramones und dem CBGB’s in New York und den Sex Pistols in London den Namen annahm, den er ihr gegeben hatte: Punk. Er war ein Mann mit einer Mission, er grub zwischen 1970 und 1976 alles aus; Creem bedeutete mehr als hundertsiebzig Sonderbeiträge, unzählige Bildunterschriften (einige seiner besten Kreationen, Entmystifizierungen von Superstars, die direkt zu den Ramones und Sex Pistols führten, wie seine Kritiken und Beiträge), zahllose Antworten auf Leserbriefe, den Schrott ausgenommen.

Lester wurde zu einer Persönlichkeit in der Welt des Rock’n’Roll, in ihrem abgegrenzten Raum wurde er eine Berühmtheit. Kiffend und trinkend, spaßend und beleidigend, grausam und vorführend, immer für einen Lacher gut, wurde er zum unentbehrlichen wilden Mann des Rock, eine Ein-Mann-Orgie der Hemmungslosigkeiten, Exzesse, Weisheiten, Satire, Parodie – das ausgelebte oder geschriebene schlechte Gewissen jeder Band, über die er eine Kritik schrieb oder die er interviewte. Er ging zu einem Interview, bereit, jede Band, die gerade in der Stadt war, zu provozieren; und jede Band, die gerade in der Stadt war, versuchte ihn zu provozieren. Zu dem Zeitpunkt, als er nach New York zog – wo er eine aufkeimende Punkszene vorfand, die im Begriff stand, all seine Hoffnungen und Jeremiaden zu erfüllen –, war er ein allseits umschwärmter Mann. Ein Mann, von dem man stolz war, sagen zu können, man habe ihm einen Drink spendiert oder Drogen gegeben.

In seinem letzten Jahr an der High School hatte Lester sich einer merkwürdigen Kur, bestehend aus dem Hustensaft Romilar und Belladonna, unterzogen. Als ein Arzt ihm sagte, er mache Gevatter Tod den Hof, ging er dazu über, Speed zu schießen. Er wurde Alkoholiker, und zwar ein richtiger. Nach einigen Jahren konnte er einen ganzen Raum verpesten. Er ließ die Finger von den gängigen Drogen (LSD, Kokain, oder was auch immer zum jeweiligen Zeitpunkt gerade angesagt war); Heroin hat er nie genommen. Trotzdem war er lange Zeit so etwas wie sein eigener Junkie. In seinem letzten Lebensjahr hatte er aufgeräumt; fast keine Drogen mehr, wenig mehr als ein Bier, was aber häufig genug einen Anfall von Selbsthass mit sich brachte. Er trat den Anonymen Alkoholikern bei; er hatte viel vor. Ich glaube immer noch, dass die Radikalität, mit der er seinen Lebensstil zu ändern versuchte, seinen Körper zerrüttet hat, sie machte ihn anfällig für die leichteste Unregelmäßigkeit, ob gewöhnliche Bazillen oder eine normale Dosis eines für jeden anderen alltäglichen Schmerzmittels; dass er sein System mit plötzlicher Gesundheit schockte, war das, was ihn umbrachte.

In Detroit und noch mehr in New York hatte Lester ein Image, dem er gerecht werden musste. Manchmal versuchte er, ihm nachzukommen und dann kämpfte er wieder dagegen an. Er erfand sich immer neu. Aber die Veränderung in seiner Schreibweise zwischen Detroit und New York ist offensichtlich. In Detroit veröffentlichte er vorwiegend seine ersten Entwürfe, hämmerte den Beat seiner automatischen Inspiration; in New York begann er langsamer zu arbeiten, schrieb einen Artikel wieder und wieder, verfolgte ein Thema über das fünf- bis zehnfache seiner publizierbaren Länge hinaus, strich dann wieder oder fing von vorn an. Moralismus im besten Sinne – der Versuch zu verstehen, was wichtig ist, und dieses Verständnis anderen in einer Form mitzuteilen, die den Leser genauso fesselt wie unterhält –, der gegen Ende seiner Beschäftigung bei Creem auftauchte und in New York bei Village Voice seinen Platz fand. Zeitgleich publizierte er in obskuren Fanzines, Hochglanzmagazinen und Tageszeitungen, aber seine öffentliche Stimme blieb matt, kategorisiert; er war ein Rockkritiker, was sollte also all dieses andere Zeug, all diese Seiten über Sex, Liebe, den einfachen Mann auf der Straße, Weltanschauung, Tod, Abenteuer?

Mit einer Plattenkritik von 750 Wörtern beauftragt, setzte er sich an die Schreibmaschine und arbeitete die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag durch, bis er Abertausende von Wörtern zusammen hatte, die er niemals wagte, seinen Redakteuren zu zeigen – von denen einige sicher dafür gekämpft hätten, eine Möglichkeit zu finden, sie zu veröffentlichen. Bei manchen Texten flatterten nur Ablehnungsschreiben von Hochglanzmagazin bis zu den Fanzines herein. Manche blieben vielleicht auch besser unveröffentlicht.

Lester versuchte in seinen letzten Lebensjahren über praktisch alles zu schreiben. Anfang 1976 gelobte Lester in einem kämpferischen, sarkastischen, seelenentblößenden Brief an seinen damaligen Chef und Untergang, den verstorbenen Barry Kramer, Verleger von Creem, ewige Gefolgschaft und Unterwerfung dem Magazin gegenüber, das zu diesem Zeitpunkt genauso gut sein Werk, wie das eines jeden anderen war, und forderte, erbettelte geradezu über eine Länge von siebentausend Wörtern die 179,07 $, die die Zeitschrift ihm schuldete. Er redete über seine Pläne, versprach, dass seine Projekte und Ambitionen nicht eine Sekunde lang seine bezahlten Verpflichtungen – zu redigieren, Kritiken, Sonderbeiträge, Bildunterschriften zu schreiben, Leserbriefe, den Schrott ausgenommen, zu beantworten – beeinträchtigen würden, er plante die Zusammenstellung seiner Arbeiten für Creem, und dann einen »umwerfend anspruchsvollen kulturellen Erläuterungstext, der disparate Phänomene miteinander verbinden und erklären würde, darunter Disco, Snuff Movies, Roxy Music, Ben Edmonds, Elton John, S&M, Barry Lyndon, die Beliebtheit von Synthesizern und anderen elektronischen Instrumenten, die swingende Singleszene und verschiedene andere gerade angesagte Arten von depersonalisiertem Sex, das Bestreben menschlicher Wesen, sich selbst zu Maschinen zu machen, Metal Machine Music, Shampoo, The Passenger, Donald Barthelme, Pet Rocks, die unvermeidliche Übernahme der Weltherrschaft durch MOR, die Degeneration der Sprache, das Fehlen jeglichen Verständnisses für Geschichte oder Kultur, das den New York Dolls seitens der Joann-Uhelszki-Generation vorausging, die ganze Spannbreite von Selbsthilfeliteratur, -kursen und Sensibilitätstrainings, Siegen durch Einschüchterung, Brutalisierung als Unterhaltung, das veraltende Avantgardekonzept, die allmähliche Desexualisierung einer ganzen Generation zusammen mit dem Phänomen, dass Individuen permanent den Konsum von Drogen Sex vorziehen, den hirnlosen, zwanghaften Drang, die ganze Nacht durchzutanzen, der momentan durch New York fegt, eine (gerade beginnende) spontane und ungeplante Massenbewegung von menschlichen Wesen im Westen, so viele Gefühle wie nur möglich über Bord zu werfen, die Verherrlichung von Gefühllosigkeit und lähmender Stumpfheit, das mögliche Ende der Zivilisation, wie wir sie in den letzten paar Jahrtausenden kennen und gelegentlich schätzen gelernt haben, den in diesem Moment beginnenden unsichtbaren Krieg, der die Einheit unserer Kultur spalten könnte, einschließlich der Anweisungen, auf welcher Seite man sich selbst wieder finden wird (was wahrscheinlich nichts mit freier Wahl zu tun hat, da den meisten nicht klar ist, auf was sie sich eigentlich einlassen, bevor es zu spät ist), und wie man die nächste Geschäftsstelle der Fünften Kolonne ausfindig macht, deren Anführer ich zu sein hoffe.«

Nicht dass das irgendwie auch nur die Bildunterschriften beeinträchtigen könnte. »Ich habe im Moment viel zu viel zu tun, um mit einem derartigen Projekt wirklich ernsthaft beginnen zu können – wenn ich es letzten Endes überhaupt lostreten kann. Ich bin mir auch nicht sicher, ob das Schreiben von Kritiken über die Allman Brothers die richtige Ausbildung für einen Oswald Spengler ist.«

Im folgenden noch einige andere Bücher, die Lester zu veröffentlichen plante:

»Psychotic Reactions and Carburetor Dung. Lester Bangs’ Greatest Hits«

»All the Things You Could Be by Now If Iggy Pop’s Wife Was Your Mother – A Book of Jive ’n’ Verities by Lester Bangs«

»Rock Through the Looking Glass – A Book of Fantasies«

Eine fiktive Biographie über die Rolling Stones nach dem Vorbild von Mark Shippers Paperback Writer (auf Anfrage eines Verlegers, der aber, nachdem zweihundert Seiten fertig waren, das Interesse verlor)

»Lost Generation – American Kids Now in Their Own Words«

»A Reasonable Guide to Horrible Noise«

»All My Friends Are Hermits« (erst als Sachbuch, dann als Roman)

Ein Buch mit Phantasiegeschichten über Elvis Presley von verschiedenen Autoren

Eine Rockversion von A. B. Spellmans Four Lives in the Bebop Business mit den Schwerpunkten Brian Eno (zweihundert Seiten fertig gestellt), Marianne Faithfull, Lydia Lunch, Screamin’ Jay Hawkins oder Robbie Robertson oder Danny Fields.

»They Invented It (You Took It Over, or Under)«, ein Buch über die Beatles (auch genannt »The Firstest with the Mostest«)

»Rock Gomorrah – The Scandalous Lies About the Woodstock Nation!« (in Zusammenarbeit mit Michael Ochs, fertig gestellt, nie veröffentlicht)

Ein Buch über den Alltag von Prostituierten, ein Großteil davon fertig

»Women on Top: Ten Post-Lib Role Models for the Eighties«

Ein Buch über Lou Reed und The Velvet Underground

»You can Live Like a Billionaire on No Income – I Do All the Time, and This Book Tells How«

Schon klar, kein Mensch würde den Großteil dieser Bücher lesen wollen, und mit Sicherheit würde niemand alle lesen wollen, und wenn Lester länger gelebt hätte, hätte er auch nur ein oder zwei davon (und viele andere) geschrieben, aber eines davon wäre »All My Friends Are Hermits« gewesen, die endgültige Version des Spenglerschen Opus, das er sich in seinem letzten Jahr bei Creem ausgedacht hatte, und das wäre dann ein richtiges Buch gewesen. Dazu existieren Hunderte von Seiten, in Dutzenden verschiedenen Formen, unter vielen Titeln. Nur ein Bruchteil dessen, was er geschrieben hat, findet sich in diesem Buch wieder, nicht alles unter der jeweiligen Überschrift.

Bei diesem Buch handelt es sich um meine Version dessen, was Lester Bangs hinterlassen hat. Es ist weder eine Zusammenfassung noch eine repräsentative Auswahl, sondern der Versuch, dem Leser eine Vorstellung von einem Mann zu vermitteln, der ein neues Weltbild schuf, dieses praktisch umsetzte, die Konsequenzen trug und versuchte, weiterzumachen. Es beinhaltet weder Lesters erstes veröffentlichtes Werk (die erwähnte MC5-Kritik) noch sein letztes (»If Oi Were a Carpenter«, Village Voice, 27. April 1982). Ebenso wenig wie seine Arbeiten für den Rolling Stone, und keine seiner Arbeiten über einige der Künstler, die für ihn Obsession, Offenbarung, Talisman waren (The Rolling Stones, Captain Beefheart, Miles Davis, Charles Mingus, die Ramones); es lässt Musiker aus, die er während der langen Trockenperiode bei Creem (Trockenperiode in der Rockmusik, nicht für Lester als Schriftsteller) als Lebenszeichen wahrnahm: Black Sabbath, Wet Willie, Roxy Music, Mott the Hoople, the New York Dolls, Patti Smith. Über Musiker, deren Arbeit er liebte und respektierte, schrieb Lester oft leidenschaftslos, passiv: er zog sich oft darauf zurück, den Text zu zitieren statt zu sagen, was er dachte, ersetzte Ideen durch Adjektive. Dieses Buch ignoriert Lesters Buch Blondie vollständig, eine geschmacklose, aufgerüschte Fanbiographie, die er 1980 in ein paar Tagen schrieb, es vernachlässigt ebenso das meiste des über sechshundertseitigen Entwurfs, den er für Rod Stewart schrieb, eine Fanbiographie, die er 1981 gemeinsam mit Paul Nelson veröffentlichte. Es beinhaltet keines seiner Hunderte von Gedichten oder Noten. Es lässt die meisten seiner drei, vier, fünf Millionen Wörter aus, die bei den Vorbereitungen für dieses Buch zusammengetragen wurden. Dieses Buch ist keine Wiedergabe dessen, was Lester Bangs schrieb; es ist letztlich mein Versuch wiederzugeben, worum es bei dem, was er schrieb, ging und welchen Wert es hatte.

Dieses Buch war ein Gemeinschaftsprojekt. Ben Catching, Lesters Neffe (in den folgenden Seiten manchmal als solcher erwähnt), ist Lesters Erbschaftsverwalter (Lesters geliebte Mutter starb ein paar Monate vor ihm) und er machte dieses Buch erst möglich. John Morthland und Billy Altman sind die Verwalter von Lesters literarischem Nachlass; gemeinsam mit RJ Smith und Georgia Christgau arbeiteten sie Lesters Akten und Fakten durch und katalogisierten sie. John Morthland erledigte die meiste Arbeit, er legte einen Index an, ordnete Seiten aus allen Ecken von Lesters Wohnung und seinem schriftstellerischen Leben zu, er ist das Gewissen dieses Buches.

Ed Ward und ich haben eine Woche damit verbracht, eine Truhe voller Manuskripte und Zeitungsausschnitte zu sichten, eine erste Auswahl zu treffen und mit einer vorläufigen Bearbeitung zu beginnen. Ohne seine Hilfe hätte ich den Anfang nicht geschafft. Später unterstützten mich Michael Goodwin und Joan Goodwin bei der endgültigen Auswahl. Jim Miller gab in einer schwierigen Zeit den entscheidenden Rat.

Bill Holdship erfasste, kopierte und katalogisierte bis zur letzten Antwort an den letzten Leser alles, was Lester je für Creem geschrieben hat. Tom Carson und RJ Smith erfassten und katalogisierten Lesters über einhundert Beiträge in der Village Voice. Cynthia Rose übernahm diese Arbeit für die vielen verstreuten Beiträge im Londoner New Musical Express. Robert Hull trug zahlreiche obskure Essays und Aufzeichnungen zusammen.

Außerdem halfen: Roger Anderson, Cathy McConnell Ardans, Adam Block, Paul Bresnick, Bart Bull, Bob Chatham, Robert Christgau, der die meisten von Lesters Arbeiten für die Village Voice redigierte, Diana Clapton, Jean-Charles Costa, Brian S. Curley, Jim DeRogatis, Michael Goldberg, James Grauerholz, Niko Hansen, Klaus Humann, Jimmy Isaacs, Lenny Kaye, Dave Laing, Gary Lucas, Cecily Marcus, Dave Marsh, der die meisten von Lesters Arbeiten für Creem redigierte und für entscheidende Unterstützung und Aufklärung sorgte, Richard Meltzer, Joyce Milman, Phil Milstein, Karen Moline, Glenn Morrow, Herve Muller, Paul Nelson, Michael Ochs, Christine Patoski, Fred »Phast Phreddie« Patterson, Abe Peck, John Peck, Frances Pelzman, Kit Rachlis, Andy Schwartz, Gene Sculatti, Bob Seger, Greg Shaw, der Lesters »James Taylor. Vom Tod gezeichnet« zu einem Zeitpunkt bearbeitete und veröffentlichte, zu dem so ein Werk für jede kommerzielle Publikation undenkbar gewesen wäre, was sich bis heute nicht geändert hat, Mark Shipper, Doug Simmons, Bill Stephen, Ariel Swartley, Ken Tucker, Steve Wasserman, Steve Weitzman und Michael Weldon.

Ganz besonderer Dank gilt Nancy Laleau, die als Schreibkraft bei den manchmal nahezu unverständlichen Manuskripten heldenhafte Arbeit leistete, Patrick Dillon, der dasselbe mit den Maschinen geschriebenen Manuskripten tat und Robert Gottlieb, der, als man dieses Vorhaben an ihn herantrug, gerade ziemlich beschäftigt war und daher nur kurz antwortete: »Natürlich.«

Als Schriftsteller, der oft in Hirngespinsten über seinen eigenen Tod schwelgte, stelle ich mir vor, dass alle Schriftsteller von ihrem Tod phantasieren. Ich male mir dann aus, dass sie weniger an die Lobpreisungen und das Bedauern denken, das ihrem vorzeitigen Ableben folgen würde, als ihre Waisen beklagen: all die flüchtigen Sätze, Seiten, Stücke, all die aufbewahrten Dinge, sogar nach einem obskuren System abgelegt, das kein anderer je verstehen würde. Wenn ich meine eigene Ablage betrachte, die zweifelsohne weitaus besser organisiert ist, als Lesters jemals war, erschaudere ich bei dem Gedanken an all die unkorrigierten Rezensionen, vergrabenen Malapropismen und Fehler, die dort auf jemanden warten, der versuchen könnte, etwas aus ihnen zu machen. Lester muss dieselben Gedanken gehabt haben, und all das, was ich getan habe, ist etwas anderes als das, was er getan hätte, hätte er gewusst, dass er am 30. April 1982 sterben würde.

Was ich getan habe, ist der Versuch, die Arbeit zu finden, die sofort für sich allein steht und eine Geschichte erzählt. Man kann dieses Buch als Anthologie lesen, hin- und her- und dann wieder zurückspringen, aber für mich ist es eine Geschichte. Die Geschichte von dem Versuch eines Mannes, seinem Hass auf die Welt und seiner Liebe zu ihr gegenüber zu treten und einen Sinn in dem zu finden, was er in der Welt und in sich selbst entdeckte. Dass diese Geschichte abgeschnitten wurde, schmälert sie nicht; macht sie nicht zu einer verarmten Fabel. Dass die Geschichte abgeschnitten wurde, bedeutet, dass sie schmerzhaft ist. Während ich mich durch die geschriebenen Worte meines Freundes arbeitete, war ich so von dem Leben in dieser Arbeit gefangen, dass sein Tod für mich gar nicht real war. Während ich mich dem Ende des Buchs näherte, Formulierungen drehte und wendete und bei der Wahl zwischen dem einen oder anderen Stück schwankte, war das Bedürfnis ihn anzurufen und um Rat zu bitten, physisch. In diesen Momenten war er weniger tot als jemals zuvor und zugleich doch viel mehr, als er je sein wird.

Berkeley, 7. Juni 1986

TeilEins

ZweiTestamente

Psychotische Reaktionen und heiße Luft

Eine Geschichte unserer Zeit (1971)

Astral Weeks (1979)

Psychotische

Reaktionen

und heiße Luft

Eine Geschichte unserer Zeit

»Kommt her, meine flachsköpfigen Enkelkinder, und lasst euch von mir altem Knaben auf den Knien wiegen. Solange ihr mich noch erkennt, ihr kleinen Verrückten. Ihr wisst, die Glocke hat geschlagen, es ist an der Zeit. So verfällt mein altes Hirn ins Grübeln, ah, welche erbauliche Geschichte aus vergangenen Zeiten soll ich heute erzählen?«

»Was sollte eigentlich die ganze Aufregung um die Yardbirds?«

»Ah, die Yardbirds. Genau. In der Tat, das waren Zeiten. 1965, ich war ein ungestümer junger Draufgänger, gerade zum ersten Mal verliebt, und sie schob fortwährend meine Hand weg und rümpfte die Nase: ›Ich würde gerne, aber ich bin doch kein Flittchen.‹ Die Mädchen waren tatsächlich so zu meiner Zeit ...«

»Ach, hör mit dem senilen Gewäsch auf und mach mit deiner Scheiß Altertumsforschung weiter oder wir hüpfen dir vom Knie und machen Action! Alter!«

»Schon gut, Kinder, schon gut, bleibt nur bei mir, kein Grund zur Aufregung ... also, wie ich schon sagte, wir schrieben das glorreiche Jahr 1965 und ich verzehrte mich nach Klängen, die mein Gehirn ein wenig verzerren würden. Versteht ihr, es passierte nicht viel außer vielleicht ›I’m Henry VIII, I am‹ – nein, ich will das nicht ausführen, ich weiß, es klingt gut, aber glaubt mir ... wir steckten mitten in einer musikalischen Rezession, die damals, als es noch keine Pauschalreisen zwischen den Sonnensystemen gab, von Zeit zu Zeit einfach auftrat ... ich kann mich noch an einen weiteren äußerst traurigen Durchhänger erinnern, der bis weit in die Anfänge der Siebziger anhielt ... außer, dass dieser so lange dauerte, dass wir verdammt kurz davor waren, völlig auszutrocknen und Platten komplett zu boykottieren, bis Barky Dildo and the Bozo Huns auftauchten, um unsere Seelen zu retten ...«

»Oh Mann, wie konntest du nur auf die Typen abfahren? Das war der reaktionärste, verkackteste Trend der ganzen Geschichte. Was ist denn so toll daran, Geige wie eine Kreissäge zu spielen und den Katzendarm hektisch kläffen zu lassen? Jammen ist klasse, aber diese Typen haben sogar im Viervierteltakt gespielt und Tonarten gewechselt! Deswegen fragen wir dich, Opa, was für eine Scheiße ist das denn?«

»Schon gut, schon gut, ich weiß, ich schweife schon wieder ab. Ab jetzt halte ich mich ausschließlich an die nackten Tatsachen, und wenn einer von euch neunmalklugen Zwergen mich noch einmal unterbricht, klebe ich einem von euch den Mund zu.«

»Wem denn?«

»Zufallsprinzip, ihr Sprösse meiner Lenden, zufällig wie alles andere auch in dieser Scheiß Irrenanstalt von Welt, die ihr Typen da habt, und von der ich mich bald in Dankbarkeit verabschieden werde.«

»Na gut, dann schramm dir doch die Fingerknöchel auf, damit du sie wieder in warmes Bier tauchen kannst, aber sag nicht, wir hätten dich nicht gewarnt. Du solltest wissen, dass du der einzige alte Sack hier bist, dessen Schrott sich Skewey, Ruey und Blooie überhaupt anhören ... und was soll diese Verabschiedungsscheiße überhaupt? Wer ist denn schon dankbar dafür, tot zu sein?«

»Nun, tatsächlich gab es mal eine Zeit, wo eine Menge Betrogener das waren, aber das ist eine andere Geschichte. Ich beschränke mich jetzt auf die Yardbirds-Saga, anderenfalls schweifen wir noch in die Ozonschicht ab. Also hört jetzt zu und hört gut zu und wartet mit euren Fragen bis ich fertig bin.

Wie ich bereits sagte, waren die Yardbirds einfach unglaublich. Sie kamen angestürmt und schmissen alle und jeden ganz entspannt aus der Spur. Sie waren einfach so verdammt gut, dass die Leute sie noch ein Jahrzehnt später imitierten und, wie ich hinzufügen möchte, reich dabei wurden, weil die Originalbesetzung der Genies nicht so lange zusammen geblieben war. Natürlich war keines ihrer Stiefkinder auch nur halb so genial, und im Laufe der Zeit wurden sie immer gekünstelter und gestelzter, bis 1973 eine Horde von abgemagerten Fatzkes namens Led Zeppelin ihr Abschlusskonzert gab und der Leadgitarrist von einem wütenden Strychninfreak aus dem Publikum mit einer selbst gebastelten Waffe ermordet wurde, und das in der achtundfünfzigsten Minute seines virtuosen, weltberühmten zweieinhalbstündigen Solos auf einem Basston. Dann haben sie sich den Leadsänger gegriffen, der so dermaßen auf Stechapfel war, dass er praktisch nichts mehr tun konnte, außer »Gleep gleep gug jargaroona fizzlefuck«-artige Texte zu keuchen, und ihm die Haare abgeschnitten, seine Mundharmonika zertreten, ihm bürgerliche Kleidung verpasst (ich glaube, es handelte sich um ein Paar übergroße lebenslängliche Ganzkörperkettenjeans) und ihn als Frachtgut aus der Stadt geschafft. Das letzte, was man von ihm gehört hat, war, dass er versuchte vor ein paar sentimentalen alten Kiffern »Whole Lotta Love« in irgendeinem Klub in Posemuckel zu singen. Zum Umfallen rührselig.

Aber wisst ihr, obwohl die Yardbirds alles auf den Kopf stellten, haben sie nur ein paar Jahre existiert. Und einige der Trittbrettfahrer, die sie hatten! Mann, es hat mich schon geekelt, die Platten nur anzusehen! Als sie beispielsweise ›I’m a Man‹ rausgebracht und die Top Ten gestürmt haben, mit einer Mischung aus Bo Diddley (ah, das war der alte fette Kater, der mit diesem berühmten Shuffle Beat groß rauskam ... Ich glaube, der war schon wieder passé, bevor ihr geboren wurdet. Tja, als also das Konzept eines regelmäßigen Bassrhythmus komplett verschrottet wurde, wart ihr immer noch zu jung, um euch an den kulturellen Bürgerkrieg zu erinnern, der dann losbrach, als Jagger auf offener Straße Zagnose in einen Hinterhalt lockte und Beefheart in die Berge von Costa Rica abzischte, um sich dort zu verstecken, bis sich die Stimmung etwas abgekühlt hatte ...) und Feedback, sind allen die Wattebäusche aus den Ohren geflogen, bevor sie tot umfielen, weil dieses ganze verzerrte Elektrozeug, das euch in den Schlaf geschaukelt hat, als ihr noch in der Wiege gelegen habt, damals noch nicht gehört wurde, ein echtes Gehirnbeben. Manche Leute fanden das leicht anstößig, wie der blanke Nerv in einem Draht, der sie wie verrückt anblinkt, aber wir steilen Senkrechtstarter sind von Anfang an tierisch auf diese kulturelle Veränderung abgegangen. Wir haben nur auf jemanden gewartet, der vorbeikommt und die Weicheier platt macht, kick out the jams ... ach, diese Phrase! Tja, das ist auch so eine Geschichte. Hat einen netten messerwetzenden Klang. Ihr werdet bestimmt wieder lachen, aber wir hatten einen ziemlich kritischen Sprachstil, als ich noch ein Zwerg war, harte Riffe wie ›Right on!‹ und ›Peace, brother!‹, nicht diese einfältige telegrafische Scheiße, die bei euch banalen Bälgern heutzutage als Kommunikation durchgeht. Ich kann mich erinnern, als ich auf der High School war (ach, hab ich euch doch schon erzählt: das war das, wo sie dich hinschickten, wenn sie nicht wussten, was sie mit dir machen sollten, also wenn man schon zu groß für den Kinderbunker war, aber noch zu jung, um so zu tun, als würde man in die Männerwelt eintreten, was bedeutete, jeden Tag zur gleichen Zeit zu einem komischen Gebäude zu gehen, um dort stundenlang irgendwelche sinnlose Scheiße zu machen, damit man sich Brot kaufen konnte und alle einen respektierten), also, als ich zur High School ging, hatten wir ein paar ziemlich heftige Sprüche drauf. Wenn beispielsweise einer etwas echt Dämliches machte, hieß es immer ›Hast du Scheiße im Hirn?‹ Auch gut war, wenn man echt angepisst von jemandem war, sagte man ›Du mieser Haufen Scheiße‹. Ein paar von uns, eine Bande von Tagedieben genau wie ihr, fuhren immer zum Spirituosenladen, um Cola und Kartoffelchips zu kaufen, und später stöhnte der Beifahrer immer, ›Knutsch es runter, knutsch es runter!‹, was sich natürlich auf das Essen bezog. Einige Jahre später fingen ein paar phantasiebegabte Individuen damit an, Essen ›Mampfi‹ zu nennen, aber glücklicherweise hat sich dieser schwachsinnige Begriff nicht lange gehalten.

Wir hatten übrigens bereits Jahre vorher schon eine sehr rätselhafte Zauberformel: ›Ich mache nicht solchen Schrott wie du, ich zünde ihn an!‹ Wenn man das sagte, waren die Leute ziemlich irritiert. Wenigstens die Kinder, aber ich habe vergessen, was der Satz bedeutete, ich glaube, er war so eine Art Zen. Wenn man also eine Auseinandersetzung mit jemandem hatte, konnte man einfach diesen Spruch raushauen und je nachdem, wie er von dem Anderen aufgenommen wurde, stiftete er entweder Frieden oder das Ganze endete mit einem Faustkampf.

Aber ich schweife schon wieder ab. Scheiße, Kinder ihr habt Recht, ich werde zu einem alten Ziegenbock mit glasigen Augen. Mit Scheiße im Hirn. Sobald wir mit unserer Anekdotenstunde hier fertig sind, nehme ich mein Morphin und beruhige meinen fiebrigen Verstand für ein, zwei Stündchen. Ich habe heute Abend eine Verabredung mit Delilah Kooch und muss ausgeruht sein, wenn ich beim ersten Hahnenschrei immer noch bumsen will, Orgelöl hin oder her ... mit neunzig sollte man sich in Mäßigung üben.

Aber wie ich bereits ausgeführt habe, bevor ich den Kuschelweg einschlug, blieben die Yardbirds nicht sehr viele Monde zusammen, und als sie sich mit ›I’m a Man‹ verabschiedeten, wurden sie schon von allen Seiten von kleinen Teeniebands geplündert (eines Tages erzähle ich euch mal ein bisschen was über Paul Revere and the Raiders, ha, das glaubt selbst ihr nicht...), die sofort schlechte Imitationen von ›I’m a Man‹ aufnahmen, um ihre Debütplatten voll zu kriegen, Bands wie die Royal Guardsmen, die zwei Nummer-Eins-Hits hatten mit irgendwelchen Späßchen über einen Hund namens Snoopy, der verknöcherte Deutsche in antiken Flugzeugen abschießt. Ich schwör’s bei Gott! Und dann tauchten überall Punkbands auf, die zwar eigene Songs schrieben, aber den Sound der Yardbirds kopierten und ihn auf dämliches Verzerrergematsche reduzierten ... ach, das war himmlisch, es war reine Folklore, das gute alte Amerika, und manchmal glaube ich, das waren die besten Zeiten überhaupt.

Nein, ich glaube das nicht nur, ich weiß es, ich hatte schon um 1970 das Gefühl, als alles zu einer Soße von mäandernden Minnesängern und Balladen singenden Barden und ähnlicher Scheiße gerann, die damals bereits total überholt war. Mann, ’65, ’66, da stand ich morgens auf und machte als erstes das Radio an, weil so viel gute Sounds rausdröhnten. Es gab einen Song ›Hey Joe‹, von dem praktisch jeder behauptete, er habe ihn zusammen mit seinem Scheißbruder nicht nur aufgenommen, sondern geschrieben, obwohl das Stück offensichtlich die psychedelische Mutation eines uralten Folksongs war, der, wie praktisch neun Zehntel aller anderen uralten Folksongs auch, davon handelte, jemanden aus Liebe umzubringen. Und eine Gruppe namens The Leaves hatten mit ›Hey Joe‹ einen Killerhit (das ist übrigens noch so ein Wort, das ihr Quasselstrippen euch merken solltet), aber dann tauchten sie nach ein paar merkwürdigen Alben ab, obwohl sie noch mit einem guten Stück in die Charts kamen, ›Doctor Stone‹, ein echt brachial gespielter, zweideutiger Dopesong. Etwa ein Jahr lang war jedes zweite Stück voller Codewörter für getting stoned, weil alle in ganz großem Stil damit anfingen und es den Reiz des Heimlichen hatte, und die dämliche Regierung hat die Codes nicht rausgekriegt, FBI, CIA und alle anderen auch nicht, bis sie vier oder fünf Jahre später mit diesem aufgeblasenen Merkblatt angetanzt kamen; dieser Typ, der aussah wie eine Kreuzung aus einem Erdhörnchen und dem Amerikanischen Adler und sich lautstark auf den Weg zu einem dieser geriatrischen Urlaubsorte in der Wüste machte, wo die Leute wegen des völlig reizlosen Kitzels, Geld aus dem Fenster zu schmeißen, hinfuhren, dieser Typ heizte also da hin und hielt dort eine überaus gewichtige Rede, damit das Land erführe, dass Drogen und Musik irgendwie zusammenhingen, was natürlich allen schon längst klar war. Die ganze Chose war so dermaßen lächerlich, weil alle Titel, die er als Beispiele heranzog, grottenalt waren, und alle zu diesem Zeitpunkt schon so dermaßen stoned waren, dass es völlig unnötig war, die Leute damit voll zu quatschen, high zu werden.

Aber für mich und eine Menge anderer Leute war dieser Moment, als sich niemand mehr dafür interessierte, weil sich alle schon in dieser Geisteshaltung eingerichtet hatten, exakt der Punkt, an dem alles wieder bergab ging. Statt über Teetrinken mit Mary Jane zu singen oder darüber, wie man sein Ding an der guten alten süßen Slit Annie reibt, hieß es jetzt ›Hilf mir Gott‹, ich suche nach dem Sinn des Lebens oder ich glaube, dass einzig und allein die Liebe die Welt sowohl von Schuppenflechten als auch von Krebs befreien kann, und ich werde den Menschen auf 285 unterschiedliche Arten alles darüber erzählen, ob es dir gefällt oder nicht. Und warum gibt es Kriege, frag doch die Kinder, sie wissen alles, wir können von ihnen lernen, und hey, natürlich mag ich Schwarze, auch wenn meine Leute keine Schwarzen mögen ... darüber gab es endlose Vinylfluten mit dem immergleichen Geschwafel. An diesem Punkt schmiss ich hin und flüchtete mich in den guten alten kantigen ’66er Rock, zurück zu den Wurzeln. Ich holte Platten wie 96 Tears von Question Mark and the Mysterians wieder hervor, die in der Tat mysteriös waren, und ließ zu Dschungel-Voodoo-Gekreische wie ›Wooly Bully‹ die Sau raus, ein unbeschreibliches Stück, das von ein paar Turban tragenden Typen aufgenommen worden war, die in einem Leichenwagen in der Gegend rumfuhren.

Damals kam ich auch in großem Stil noch mal auf die Yardbirds-Imitatoren in der Juniorrockerliga zurück. Da gab es Back Door Men von den Shadows of Knight, die echt gut darin waren, sich die Yardbirds-Riffs draufzuschaffen und neu umzusetzen, und Psychotic Reaction von Count Five, die das zwar nicht so draufhatten, aber ihre ganze Routine mit so derartig dreckiger Hingabe ausspielten, dass ich total auf sie abfuhr! Sie waren ein Haufen Gitarre schlagender Flegel aus irgendeiner gesichtslosen kalifornischen Vorstadt, und nur ein paar Monate, nachdem ›I’m a Man‹ nicht mehr in den Charts war, charteten sie schon wieder mit einer plumpen Imitation namens ›Psychotic Reaction‹. Und das war ein Riesenhit, meiner Meinung nach sogar ein größerer Hit als ›I’m a Man‹, der mich seinerzeit natürlich ganz heiß abgehen ließ, der aber, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ganz cool war, na ja, einfach genau richtig. Der Song war ein billiger Abklatsch, völlig albern. Er fing mit diesem verzerrten Gitarrenriff an, das sie aus einem Johnny-Rivers-Hit geklaut hatten, der mir gerade nicht einfällt – der vor ›Secret Agent Man‹ – und ging dann in den behonktesten Text aller Zeiten über. Und zwar, Moment mal, so in der Art wie: ›I feel depressed, I feel so bad / Cause you’re the best girl that I’ve ever had / I can’t get yer love, I can’t get affection / Aouw, little girl’s psychotic reaction... / An’ it feels like this‹, und dann knallte ein Eins-zu-Eins ›I’m a Man‹-Verschnitt los. Absolutes Dynamit. Anfänglich habe ich das Stück gehasst, aber als ich stoned in der Gegend rumfuhr, lief es gerade und ich langte mir an den Kopf: ›Was hab ich mir dabei nur gedacht? Das ist ein großartiger Song!‹

Das Album (Double Shot DSM 1001) hatte auch noch ein killermäßiges Cover, ein Foto, das aus einem Grab heraus aufgenommen war, die Bandmitglieder standen am Rand und glotzten hämisch in die Grabstätte. Echt gruselig, mal abgesehen davon, dass sie alle karierte Hemden und Freizeithosen von Penney’s trugen. Das war nicht ganz so gruselig, aber längerfristig doch irgendwie ganz nett gemacht. Die Farben und die Schrift waren auch echt hübsch.

Auf der Rückseite waren vier Fotos von ihnen: Count Five, wie sie eher unbeholfen in Bela-Lugosi-Umhängen auf dem Rasen vor einem alten düsteren Herrenhaus stehen und versuchen, finster auszusehen; Count Five bei irgendeiner L.A.-Tanzshow, die sie komplett aufmischen, während rechts im Bild eine Meute kreischender Teenager, vermutlich durch einen Kordon von ihren Idolen getrennt, auf sie zu drängt; Count Five im Fernsehstudio; und Count Five, wie sie ihr Gepäck mit ziemlich finsterer Miene in den Kofferraum ihres Autos laden, bereit für die Große Tournee, die alle Popstars unweigerlich antreten müssen (wahrscheinlich haben sie das ganze Zeug in den Kombi der Frau des Managers gepackt).

Im Gegensatz zu den vielen dümmlich trüben Albumhüllen der lahmen späteren Jahre, als die Bands einfach vergaßen, irgendwelche Informationen auf der Rückseite zu bringen, außer vielleicht Songtitel oder eine gefakte Kodachrome Naturstudie, die die Band zeigt, wie sie um einen sterbenden Mammutbaum oder ähnliches herumschleicht, war die erste Eruption von Count Five auf der Rückseite einfach voll gepackt mit allen wichtigen Informationen, wie Namen, Spitznamen, gespielte Instrumente und Alter der Bandmitglieder (der Älteste war neunzehn). Auch die Songtitel sahen vielversprechend aus: abgesehen von den beiden von The Who gekupferten Stücken, waren alles Originale, Titel wie ›Double-Decker Bus‹, ›Pretty Big Mouth‹ und ›The World‹, um nur die ersten drei zu nennen, klangen so, als sollte man sie nicht verpassen.

Aber Kinderchen, ich muss euch sagen, es kostete mich viele Wochen des Nachdenkens und so manche Stunde Schweiß, gebückt über den Verkaufstresen eines Plattenladens, bevor ich mir schließlich ein Herz fasste und die Platte kaufte. Warum? Tja, sie war so aggressiv mittelmäßig, dass ich ihr nur schwer widerstehen konnte, und gleichzeitig war ich mehr als vorsichtig, weil ich wusste, wie ungeschliffen sie sein würde. Erst viel später, als ich schon in den Kitschbottichen von Elton John und James Taylor ertrank, erkannte ich, dass Derbheit das wahrhaftigste Kriterium für Rock’n’Roll war, je härter das Gedröhne und Gekrache, desto mehr Spaß hatte man an dem Album und desto länger hörte man es. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich mir einen Schneidezahn ausgeschlagen, den Schädel rasiert und praktisch jedes Opfer gebracht, um auch nur noch ein einziges weiteres Album dieser krachenden, hyänenschreienden Rasanz zu bekommen. Aber es war schon zu spät.

Ich versuchte immer wieder, die Psychotic Reaction LP zu kaufen. Ich ging rüber zum Unimart, total breit von Gras, Muskatnuss, Wodka, Romilar, oder kam mit glasigen Augen gerade von zehn Stunden auf Dexedrine runter, die ich damit verbracht hatte, ein paar Probleme in Geometrie abzuarbeiten (ich war ein richtiger kleiner Gelehrter, wenn ich die magische Medizin genommen hatte, die in dir einen manischen Wissensdurst hervorruft), ich probierte jede Taktik aus, um meine Widerstandsfähigkeit zu schwächen, aber nichts funktionierte. Fuck, ich hatte eine scheiß gespaltene Persönlichkeit! Und zwar wegen eines scheiß Count-Five-Albums! Vielleicht war ich dichter an der Irrenanstalt, als ich mir je hatte träumen lassen! Auf der anderen Seite, wegen was sonst sollten ich oder einer meiner Altersgenossen schizoid werden, wenn nicht wegen eines lausigen Rock’ n’Roll-Albums? Mädchen? Ach Quatsch, zu direkt, zu einfach, zu irrational. Drogen? Klar, aber wenn, dann machten die mich schizoid – ›Du zahlst dafür, dass du mit uns rumspielst, Junge!‹ –, nicht mein eigenes Wrack dualistischer Seelenqualen. Nein, nicht mehr und nicht weniger als eine Platte, ein Rock’n’Roll-Album von entsprechendem Stellenwert wie Psychotic Reaction (wer rastete schon bei einer Stonesplatte aus, von den Beatles ganz zu schweigen) konnte meine Ohrlappen pulverisieren, meinen Boden durchlöchern. Ich wusste es, weil ich schon mal einen ganz ähnlichen Desorientierungsanfall beim Question Mark and the Mysterians-Album hatte! Ich war bei einem Freund, total auf Romilar, und er hatte das Nervenwässerchen Colt 45 intus, und ich sagte: ›Tja, ich hab mir heute das Question Mark and the Mysterians-Album gekauft‹, und plötzlich floss das Gleichgewicht aus meinem Kopf wie das Wasser nach dem Tauchen aus den Ohren, ein zielloser Strudel begann durch meinen Schädel zu wirbeln und wurde allmählich immer schneller, obwohl ich nicht hätte sagen können, ob es einfach ein Luftzug draußen war oder etwas direkt zwischen Fleisch und Knochen. Ich hatte mein Leben vor Augen, echt kein Scheiß – ich meine damit nicht, dass bei mir ein Film von der Geburt bis zu diesem eher unangenehmen Moment des existentiellen Schwindels ablief, sondern ich sah mich, wie ich unzählige Plattenläden betrat und wieder verließ, ein Heidengeld blechte, in einer endlosen Kette stand, das Schlagen und Klingeln der Registrierkassen im Ohr, die Summen in Höhe von $ 3,38 und $ 3,39 und $ 3,49 und den anderen Preisen, die ich auswendig kannte, zweifelsohne ganz der vorbildliche amerikanische Konsument, obwohl ich nie ein vollwertiges Mitglied war, ich sah Mülleimer randvoll mit den Hüllen (in die die Läden ihre Alben verschweißen), um nicht beim Klauen erwischt zu werden, wenn man aus dem Laden latscht. Ich sah mich bei Tausend Gelegenheiten, wie ich mit raschen, zielgerichteten Schritten auf mein Auto zugehe, den Schlüssel im Zündschloss drehe und in meiner frisierten Karre durchstarte, total high in der Vorfreude auf all die Offenbarungen, die in fünfunddreißig oder vierzig Minuten explodierenden Sounds liegen würden, sobald ich zu Hause angekommen war, mit dem ewigen Versprechen, dass dieses eine Mal die Gitarren wie TNT abgehen und ein galvanisches Brutzeln im Gehirn freisetzen würden – KABUMM!!! – und dir wenigstens einmal die Schädeldecke bis in den Himmel geblasen wird. Dein Gehirn glänzt an der Decke, klebt dort wie gegipste Stalaktiten, während dein durchgedrehter Körper herumrennt und wütende, wenig menschliche Wortfetzen herausschreit, in unberechenbaren Kreisen herumhüpft und abgehackte Silben ausspuckt wie ein Freak in einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium des Superstar-Syndroms.

Aber das ist nur Phantasie. Die echte Vision, der wirklich durchgeknallte Flash war genauso wie die Wirklichkeit, nur dass sie in einem endlosen Loop immer weiter spielte. Die wahre Geschichte ist, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, um die Apokalypse losbrechen zu hören, durch die Eingangstür zu fallen und die Cellophanhülle ›zu Ihrer Sicherheit‹ aufzureißen, die Platte herauszunehmen – ah, sieh nur, die Rillen, total lackschwarz, noch ohne jeden Schmierfleck, glänzend und neu und so scheiß unberührt, dann die Farbe des Labels, seine glühende Aura, die schon einen zarten Hinweis auf die Klänge gibt, die dieser Scheibe entströmen werden. Oder handelt es sich lediglich um eine langweilige monochromatische Oberfläche, wie eine Schulmauer (wie bei RCA und Capitol, nachdem irgendein Depp sie neu gestaltet hat – ein Beispiel für künstlerische Zurückgebliebenheit)? Und schließlich legt man die Platte auf den Teller, eine perfekte Sekunde dreht sie schwerelos, gefolgt von dem Moment der Wahrheit, Nadel in Rille, und endlich Sound.

Was dann kommt, ist oft so dermaßen unspannend, dass es selbst den rationalsten Menschen in tiefe Verzweiflung stürzt. Bäh! Die ganze Musikwelt ist voller Einfaltspinsel und Scharlatane, mit Ausnahme von einigen wenigen Genies und einsamen Eulenspiegeln.

All das sah ich vor mir, während ich inmitten der Agonien des weichgespülten Question Mark and the Mysterians-Sounds saß, und mehr noch, ich sah mich selbst als verwirrten alten Knacker, der eine Ausgabe des 96 Tears-Albums in den Händen hält, und mit dem hängenden Unterkiefer eines Mannes, der am Ende seines vergeudeten Lebens steht und ins Leere starrt. Und im nächsten Moment, die Uhr muss praktisch still gestanden haben, sagte mein Freund offensichtlich höchst erstaunt: ›Du hast Question Mark and the Mysterians gekauft?‹

Ich glotzte ihn stumpf an. ›Klar‹, sagte ich, ›warum nicht?‹

Mir ist schon klar, dass das ziemlich pathologisch klingt – obwohl ich das, bevor ich es hier ausgesprochen habe, nie so empfunden hatte –, und die Freudschen Anklänge sind vermutlich kinderleicht zu sehen. Aber was ich nicht verstehe ist, was das alles zu bedeuten hat? Nicht, dass ihr den Eindruck bekommt, dass das Kaufen und Hören von Platten per se bei mir immer mit derartigen Wahn- und Desorientierungsanfällen oder einem besonderen Maß an Besessenheit und Zwangsneurose einhergeht. Es ist nur einfach so, dass Musik für mich schon immer mit einem fluktuierenden Fanatismus gekoppelt war – genau genommen, seit ich in der ersten Klasse zum ersten Mal ›Der Sturm‹ aus der Wilhelm Tell Ouvertüre in einem Fernsehkartoon hörte. Und beim Autofahren während meiner Oberschulzeit, als Songs wie ›There Goes My Baby‹ im Radio liefen und als ich in der fünften meinen ersten Plattenspieler bekam und zum ersten Mal Sachen hörte wie John Coltrane und Charlie Mingus’ The Black Saint and the Sinner Lady und die Stones und Feedback und Trout Mask Replica. All das waren Meilensteine. Jeder einzelne briet mein Gehirn nur noch mehr, besonders die Erfahrung, die ersten Male ein Album zu hören, das so absolut, so Gehirn verdrehend war, dass man ehrlich sagen konnte, danach nicht mehr derselbe zu sein. Black Saint and the Sinner Lady hat das bei mir ausgelöst, und noch ein paar andere Alben. Es gibt Erlebnisse, an die man sich sein ganzes Leben lang erinnert, wie der erste richtige Orgasmus. Und der ganze Sinn dieser absurden, mechanischen Beschäftigung mit aufgenommener Musik ist das Streben nach diesem unbezahlbaren Moment. Es ist also nicht so, dass Musik den Verstand aus den Angeln hebt, sondern eher so: wenn einen schon irgendetwas die Wände hochgehen lässt, kann es eben genauso gut eine Platte sein. Weil die beste Musik stark ist und dich leitet und reinigt und das Leben an sich ist.

Die ehrlichste Autobiographie, die ich schreiben könnte, und ich weiß, dass das auch für viele andere gilt, würde hauptsächlich an Plattentheken stattfinden, an Jukeboxen, auf dem Fahrersitz Gas gebend, während ein Morgenmagazin auf dich einprügelt, in schlaflosen Nächten weit nach Mitternacht, alleine unter Kopfhörern mit ausgedehnten Brücken in phantastischen Landschaften und engelsgleichen Chören im Kopf, oder im großen gütigen Schoß Amerikas sitzend, stoned oder auch nicht, während du dir auf die Schenkel klatschst und dich gut fühlst.

Also kaufte ich schließlich mit dem Mut des Wahnsinnigen die Count Five. Ich glaube, den Ausschlag gab ein Fanmagazin für Teenager (damals die einzige Möglichkeit für den hartgesottenen Hörer, wenn man herausfinden wollte, was mit den neuen Produkten los war), das ich gelesen hatte. Count Five hatten ›eine Million Dollar beim Kartenvorverkauf‹ abgelehnt, weil sie sonst das College hätten abbrechen müssen und deshalb, so ihr Manager, hätten alle Jungs eingesehen, dass das wichtigste eine gute Schulbildung sei. Zum Schreien! Das hat echt solchen Eindruck auf mich gemacht, dass ich das nächste Mal, als ich mir die Platten im Regal genauer ansah, schnaufte: ›Die Jungs, die wieder zur Schule gehen...‹ Das ist schon ein gewisses Unterscheidungsmerkmal – man stelle sich Mick Jagger vor, wie er, geplagt von plötzlichen Gewissensbissen, zwischen zwei Schluck Champagner in einer beim Jet-Set angesagten Location, plötzlich von der unausweichlichen Wahrheit wie vom Blitz getroffen wird: Junge, du brauchst einen Abschluss. Du magst vielleicht Millionär sein, aber glaubst du, du wirst den Rest deines Lebens Popstar sein? Sicher nicht. Was willst du in den langen Jahren des dunklen Herbstes machen? Willst du enden wie Turner in Performance, dir jemanden besorgen, der dir das Hirn wegbläst, weil dir gerade keine bessere Beschäftigung einfällt? Noch ist es nicht zu spät! Geh wieder an die London School of Economics und mach den Abschluss! Der Mensch braucht irgendeine Form von konstruktiver Arbeit, sonst ist er ein bedeutungsloser, ehrenloser Nichtsnutz. Also kippt Mick den restlichen Champagner runter, löst sich von dem süßen Ding an seiner Seite und rennt los, um sich einzuschreiben. Schließlich macht er seinen Abschluss in Kunst, und als die Stones sich auflösen, lässt er sich häuslich nieder und lehrt einer endlosen Reihe eifriger Plagen das Malen einer geraden Linie. Was für ein leuchtendes Beispiel! Vielleicht wäre er vom Papst gesegnet oder ins Weiße Haus eingeladen worden! Aber das alles wird natürlich nie passieren, denn Mick Jagger ist aus härterem Holz geschnitzt als Count Five.

Ich kaufte das Album. Am selben Tag wie Happy Jack von The Who. Ich stürzte nach Hause, fand an Happy Jack Gefallen und kotzte bei Psychotic Reaction.

Aber Psychotic Reaction war das Album, auf das ich immer wieder zurückkam. Ich spielte es etwa ein Jahr lang oft und voller Schadenfreude, bis es mir von ein paar Bikern gestohlen wurde, und als ich es dann 1971 in einem Second-Hand-Plattenladen wieder entdeckte, Mann, da sprang ich hoch und machte ein Freudentänzchen. Aber dann tat ich etwas merkwürdig Kleinliches und Geiziges. Es stand im $ 1,98 Regal, direkt neben Platten wie Cosmo’s Factory und Deja Vu, und irgendwie kam mir das unangemessen vor – es hätte in der 89-Cent-Grabbelkiste stehen müssen, da wo es hingehörte, zusammen mit all den anderen abgehalfterten Altlasten aus vergangenen Tagen, zwischen Doin’ the Bird von den Rivingstons, das ich auch kaufte, und 96 Tears, das tatsächlich dort stand und meine Meinung bestätigte, offensichtlich hatte der Angestellte dieses Mal genug Verstand, es dort hinzustellen, wo es sich am besten aufgehoben fühlen würde. (Wenn euch diese Personalisierung irritiert, keine Bange: Als ich in der Siebten war, besuchte ich die Stadt, in der ich das Jahr zuvor gelebt hatte, und holte den Mr. Lucky-Soundtrack von Henry Mancini ab, den ich vor dem Umzug einem Freund geliehen und vergessen hatte abzuholen. Als ich wieder zu Hause war, stellte ich das Mr. Lucky-Album ins Plattenregal neben seinen ehemaligen Nachbarn, das Peter Gunn-Album. Wie ich so auf sie hinuntersah, wurde mir ganz warm ums Herz. Ich dachte, dass sich die beiden alten Freunde, so ziemlich die ersten Platten, die ich mir gekauft hatte, bestimmt freuen würden, sich nach so langer Zeit endlich wieder zu sehen. Vielleicht hatten sie sich ja auch ein paar interessante Geschichten zu erzählen.)

Was ich als nächstes tat, war, das Count Five Album, das ich immer so geil gefunden und von dem ich mir unzählige Male gewünscht hatte, ich hätte es noch, in die Höhe zu halten und zum Ladenbesitzer zu sagen: ›Was zum Teufel hat das Ding hier im $ 1,98-Regal zu suchen? Kein Mensch zahlt dafür $ 1,98!‹

Er sah es eine Sekunde lang abwägend an. Ich ergriff den Moment: ›Wie lange steht das hier schon? Doch bestimmt schon ein oder zwei Jahre, während andere Alben kommen und gehen. Es gehört da rüber! In die 89-Cent-Kiste!‹

›Hm, wahrscheinlich hast du Recht‹, sagte er. ›Ich glaube, dass die Platte – nein, eigentlich die ganze Band – einer dieser ewigen Fehlgriffe der Geschichte ist. Ja, stell’s rüber in die 89-Cent-Kiste.‹

›Gekauft!‹ brüllte ich, ging rüber, schmiss ihm einen Dollar hin und rannte raus. Ich hatte ihn! Den Artefakt! Eine Steintafel aus Tutanchamuns Grab! Ein lang verlorenes Juwel! Unbezahlbar – und ich hatte es für 89 Cent gekriegt!

Nun, seid versichert, liebe Kinder. Die Zeit hatte der Größe des Count-Five-Albums keinen Abbruch getan. Genau genommen hat sie das immer noch nicht. Es klingt immer noch genauso schmutzig und unorthodox wie damals, 1967. Seit dem Tag, an dem ich es kaufte, habe ich Happy Jack wahrscheinlich nicht mehr als fünfmal gespielt, obwohl ich es immer noch habe (man vermutet immer, diese Klassiker, aus denen du erstmal nichts ziehst, werden alle ihren wahren Wert und eigentlichen Reiz eines Tages enthüllen – vielleicht muss man ihnen selbst erst gerecht werden), aber bei Psychotic Reaction werde ich ewig durchdrehen und abrocken. Im ersten Monat nach dem Wiedererwerb muss ich es mindestens zehnmal gespielt haben und das will echt was heißen. Sobald Psychotic Reaction von den Wänden zurückknallte, brannte ich wie ein armer Junge voller Port oder Tokajer vor sinnloser Freude, während ich um den Plattenspieler herumhüpfte und stampfte, und selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte mich nicht hinsetzen können.

Track für Track, man hätte bei den Warner/Reprise-Veröffentlichungen eines ganzen Jahres keinen besseren Deal machen können. ›Double-Decker Bus‹ und ›Peace of Mind‹ ließen die Yardbirds wie klassische Meister dastehen, so lebendig, wie die Titel klangen, letzterer wegen eines der perfektesten Beispiele in der Geschichte für ein auf den Punkt gespieltes Gitarrenriff, ersterer wegen seines echt kosmischen Textes (›Well just you walk / Down any street / If you don’t see one of us / You’re sure to see / A double-decker bus!‹)

Aber die wahren Klassiker des ersten Count-Five-Albums, die zu der Zeit, als sie aktuell waren, ignoriert wurden, hätten sich als unglaublich einflussreich erweisen können, wenn mehr Leute verstanden hätten, was die Band da eigentlich machte. ›Pretty Big Mouth‹ war ein knackiger Tex-Mex-Straßenjam, der Song erinnerte irgendwie an eine Gruppe von weißen Red Mountain Mariachis und antizipierte bereits die noch derberen Exkursionen des zweiten Albums mit einem der großartigsten chauvinistischen Texte aller Zeiten: ›I ended up in the deep deep South / Makin’ love to the woman with a real big mouth!‹

›They’re Gonna Get You‹ war ähnlich, ein Essay mit elastischem Rhythmus über Barbershopmusikparanoia, es glänzte vor allem wegen der Stimme, die delirierend zwischen düsterer Wehklage, Iggy vorausgreifend, und einem Komikfalsetto schwankte. Aber der wahre Bringer war ›The World‹, ein Kracher, dessen absolute Monotonie unter den Füßen bockte wie eine dieser sich verschiebenden Rampen in einem Crazy House auf der Kirmes, während der Text aus einem spartanischen Minimum von Sätzen bestand – ›I’ll tell the world, your’re my girl, you’re so fine, you are mine‹ –, gekrächzt zwischen einer Reihe von Juchzern und Quiekern, glotzäugig vor Freude und dem Stolz des Irren.

Leider war Psychotic Reaction das einzige Count-Five-Album, das bereits zu seiner Zeit bekannt und geschätzt war. Double Shot, eine Plattenfirma, die bei der Promotion von Westküstentalenten genauso launisch war wie ESP-Disk im Umgang mit New Yorker Innovatoren wie The Godz, beerdigte praktisch ihre zweite und dritte Veröffentlichung, sie promoteten und vertrieben sie mit einer Kurzsichtigkeit und Gleichgültigkeit, die nur noch Deccas Umgang mit den frühen The Who gleichkommt. Die Band war aber wenigstens mit einem granatenmäßigen Manager gesegnet, der nicht nur die Vision hatte, ihr Potential zu verstehen, sondern auch genug hartnäckige, hökerische Energie, um ihnen schließlich einen Vertrag mit Columbia zu verschaffen, wo sie noch zwei weitere tolle Alben eingespielt haben, die jedoch, was die Verkaufszahlen anbelangte, Flops waren, obwohl sie diesmal die Produktionsmöglichkeiten und Promotion bekamen, die sie ohnehin schon immer verdient hatten. Die Ignoranten schrieben sie immer noch als Yardbirds-Verschnitt ab, die Kritiker ignorierten oder verunglimpften sie mit den abfälligsten Kategorisierungen und das traurige Ergebnis war, dass ihr wichtigstes Werk nie die Aufmerksamkeit bekam, die ihm gebührt hätte.

Während die ›Undergroundpresse‹ und die selbsternannten Vorreiter des öffentlichen Geschmacks immer noch ihrer Verschwörung des Schweigens anhingen, waren es ironischerweise die ach so verhassten Fachblätter des ›Establishments‹, die erstmals Count Fives Errungenschaften in ihrer frühen Blüte würdigten: ›Wie so viele andere, haben sich Count Five nach ihren eher ungeschliffenen Anfängen schließlich zu handwerklich soliden Musikern entwickelt, die sich durch ihre Feinsinnigkeit und Differenziertheit auszeichnen, und einen der frischesten, ausgefeiltesten Sounds der letzten Zeit geschaffen‹, schrieb Billboard über Count Fives viertes Album Ancient Lace and Wrought-Iron Railings (Columiba CS 9733).

Aber als Snowflakes Falling on the International Dateline (Columbia MS 7528) erschien, blies es jeden, der Ohren hatte, all die Kids, die frisch und frei genug waren, der meinungsmachenden Mafia den Stinkefinger zu zeigen, durch die Tür bis runter zur Ecke. Es bot das einmalige ›Schizophrenic Rainbows: A Raga Concerto‹, das keiner, der es volle siebenundzwanzig Minuten lang gehört hat, je vergessen wird, vor allem nicht die gewaltige Wucht des abrupten Einsatz von George Szell and the Cleveland Orchestra auf voller Lautstärke in der achtzehnten Minute. Allein wegen dieses Songs muss es als das Meisterwerk unter ihren Alben gelten, obwohl das melancholische ›Sidewalks of Calais‹, das die A-Seite beendet, mit seinem bemerkenswert gereiften Text auch großartig war: ›Pitting, patting, trying not to step on the cracks / In Europa, where we saw no sharecropper shacks / Reciting our Mallarmé / Those films with Tom Courtenay / And your hand in mine / On the sidewalks of Calais / Oh no, I shan’t forget ...‹