Pumping Art - Andre Garfeld - E-Book

Pumping Art E-Book

Andre Garfeld

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Beschreibung

Nach dem Tod des Malers Francis Bacon wird dessen Studio in London kartografiert, abgebaut und eingepackt, so dass es original in Dublin, Bacons Geburtsstadt, in einem Glaskubus für die Nachwelt aufgebaut und erhalten werden kann. Vor diesem kunsthistorisch realen Hintergrund zieht es die Hauptfiguren nach London. Im Vordergund stehen deren Geschichten und Beziehungen zueinander. Deren eigene Wege zur manchmal mühseligen Selbstfindung.

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Seitenzahl: 290

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Impressum

Pumping Art Andre Garfeld Copyright:© 2012 Andre Garfeld Published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de ISBN: 973-3-8442-4013-9

Erster Teil

Aufbruch

„Minderwertige Malerei entsteht durch den Anspruch, alles wiedergeben zu wollen, das Ganze versinkt in den Details, die Langeweile ist Folge davon.

Der Eindruck aber, der aus der einfachen Verteilung von Farben, Lichtern und Schatten hervorgeht, das ist die Musik des Bildes...

... das ist sein magischer Akkord ...“

(Paul Gauguin)

__1__

Frank ist unterwegs zu seinem ersten richtigen Job.

Es ist ein Job, sagt er sich.

Das Auto jedenfalls ist schon Teil davon.

Er kennt das Auto nicht. Ein paar Schalter hat er immer noch nicht gefunden und gehört deswegen in dem dunklen Hamburger Regenwetter zu der kleinen Fraktion, die in dem dichten Verkehr ohne Licht fährt. Auch das Navi hat er noch nicht eingeschaltet. Dazu hätte er einmal anhalten müssen. Und das wollte er auf keinen Fall. Er ist sowieso spät dran. Allerdings müßte er Peters Studio auch so wiederfinden. Er ist schon zweimal dagewesen. Zuletzt heute vormittag, um dessen Sachen für den Umzug einzuladen. Beziehungsweise einladen zu lassen von Jan, dessen Assistenten. Anschließend war Frank zu seiner eigenen Bude gefahren, um seine Sachen zu verstauen. Das war Peters erster Vertrauensbeweis an Frank, ihn mit seiner Ausrüstung herumfahren zu lassen. Frank wohnt in einem Studentenwohnheim, ohne zu studieren. Ein Mädchen hält für den Mietvertrag ihren Namen hin. Sie selbst ist vor einem halben Jahr zu ihrem Freund gezogen. Frank hat sozusagen ihre Stelle eingenommen. Er hat in vier Monaten Abiturprüfung, weiß aber noch nicht, was er studieren könnte. Kunst kommt in Frage. Aber er will sich von einem Kunststudium nicht vereinnahmen lassen. Er hat Angst davor. Er will seine Unschuld nicht verlieren. In der Kieler Kunsthalle hat er vor Pencks Riesengemälden gestanden und war wie elektrisiert. In der Kunsthalle Hamburg vor einem Bild von Rothko und da war wieder etwas passiert zwischen ihm und der Leinwand. Er hat es gespürt. Dann ein Besuch in der Tate in London vor einem Jahr. Da war er noch sechzehn.

Er glaubt, daß das eines der Motive für Peter ist, ihm den Job überhaupt angeboten zu haben, ihn mitzunehmen als inzwischen dritten Assistenten. Peter meint, daß Frank studieren soll. Er hat ihn einen Monat in seinem Atelier malen lassen. Peter meint, das es ihm nur an Anschub und echter Förderung fehle. Frank hat das abgewehrt. Seine Malversuche seien bisher mehr als schlecht. Wenn er nach London mitkomme, sei das nur der Job als Fahrer. Fahrer und Assistent für Peter als Fotograf bei diesem einen Projekt. Mehr nicht. Nur dafür schwänze er zwei Wochen die Schule. Und er sagte das so, das auch klar war, daß er nicht etwa als Peters Beute in Frage käme. Peter ist stockschwul und macht daraus keinen Hehl. Aber wenn Franks Anschein für Peter kein Problem darstellt, ist das umgekehrt genauso.

Den Job anzutreten, fährt er Peter nun abholen, um mit ihm pünktlich am Fähranleger zu sein. Peter hat keinen Führerschein mehr seit einer Alkoholkontrolle im Straßenverkehr. Daraus war ein Drogendelikt geworden. Peter war nicht nur betrunken gewesen. Seine jetzige Zweite Assistentin, Mona, die das Atelier verwaltet, war nach diesem Vorfall kurzzeitig seine Fahrerin, bis sich beide in gegenseitigem Einvernehmen von dieser Idee trennten. Seitdem amtiert Jan, der Erste Assistent, als Fahrer, wird aber ständig im Atelier gebraucht, weshalb Frank den Job als Fahrer machen soll. So hat Jan als letzte Amtshandlung just vor zwei Tagen, nach einer Fete, auf der sowohl Peter als auch er selbst verschollen gegangen sind, Peters Auto in irgendeiner Straße stehen lassen. Jan hat Frank die in Frage kommenden Straßennamen genannt, unter denen er den Wagen sehr wahrscheinlich finden würde, mit dem Hinweis, daß im linken Kotflügel ein Ersatzschlüssel klebe. Vermutlich total mit Dreck überkrustet. Danach sollte er zum Atelier kommen, und Peters Sachen einladen. Frank fand beides. Auto und Schlüssel. Fuhr zum Atelier und anschließend zu seiner eigenen Bude.

Peters Sachen sind ordentlich im Kofferraum verstaut, hauptsächlich Fotoausrüstung in stabilen Plastikkoffern und Klamotten in Lederkoffern. Genau das gefällt ihm. Eine gewisse Gedankenlosigkeit seitens Peter in der Abfolge der Dinge. Frank hätte die Sachen auch verticken und abhauen können. Stattdessen sind seine eigenen Sachen nun auch eingepackt, allerdings unachtsam auf die Rückbank geworfen. Drei Stofftaschen, ein etwas weicher Karton und eine teure Reisetasche seines Vaters. Er macht trotz des Wetters Tempo. Für die Dämmerung ist es noch zu früh an diesem Dezembervormittag, aber es dunkelt vor lauter Regenwolken, aus denen es immer stärker schüttet. Die Wischer kratzen in stetem Rhythmus unergiebig über die Scheibe. Sie müssen so alt sein wie der Wagen selbst.

Warum unterhält Peter diesen uralten Toyota Corolla, in diesem verblichenen Rot? Und will ausgerechnet mit dieser Kiste nach England? Er will ihn das noch fragen.

Frank findet die richtige Straße anhand einiger Läden, die er identifizieren kann und muß dann in zweiter Reihe parken. Im Rückspiegel sieht er, daß der nachfolgende Verkehr bremsen und auf die zweite Spur ausweichen muß. Einer hupt, einer blendet mit Fernlicht. Frank überlegt nach mehreren Minuten, ob er aussteigen und ins Atelier hoch-gehen soll. Aber er ist spät dran. Sie werden gewartet und ihn schon gesehen haben.

Tatsächlich kommt Jan aus der Tür, winkt und verschwindet wieder. Dann sprintet ein junges Mädchen von der Straße her an die Tür. Frank hätte ihr Gesicht gerne gesehen. Vielleicht gehört sie zu Peters Leuten. Oder will in eins der anderen Stockwerke. Es gibt neben Peters Atelier noch vier große Wohnungen. Kaum sieht er das Mädchen verschwinden, kaum setzt ein Tagtraum ein, der sich an dem Mädchen und der Art ihres Gangs kristallisiert wie eine Schneeflocke an einem Staubpartikel, erscheint Peter in der Tür. Er läßt einen riesigen Regenschirm aufpoppen und kommt damit, eine Reisetasche in der anderen Hand, zum Auto. Frank öffnet die Tür von innen. Peter verstaut die Tasche auf der Rückbank und steigt vorne zu Frank ein. Der Schirm verschwindet. Peter ist wie immer gut angezogen. Jeans und Hemd, darüber eine kleine Weste wie zu einem Anzug. Dabei scheint er alles grundsätzlich eine Nummer zu klein zu tragen. Er ist übergewichtig, mit einer über den Gürtel quillenden Bauchrolle. Er ist der Typ mit Doppelkinn, birnenförmigem Rumpf, aber schlankem Unterbau. Kein Hintern in der Hose, normale Beine. Womöglich also stammen die Sachen aus einer Zeit, in der er schlanker gewesen ist und er trägt diese Sachen einfach noch. Oder aber, wahrscheinlicher, er kauft sie in dieser Größe und will sie so haben. Sie sehen alle neu und sauber aus. Markenware.

Er reibt die Handflächen aneinander und läßt sie auf die Oberschenkel fallen.

Er sieht sich im Wagen um.

„Alles noch da?“

„Ja.“

„Und alles noch heil?“

„Ja.“

„Okay. Dann mal los.“

__2__

Seine Mutter wohnte in Frankreich. Vor zwei Jahren hat sie das Haus verlassen. Frank hat sie fast ein Jahr nicht gesehen. Als er dann, vor einem Jahr, hingefahren war, sah sie schrecklich aus. Künstlich blondiert, faltig geworden, sichtlich gealtert. Sie war vierzig. Frank war mit Jen zu ihr gefahren. Er hatte irgendwann nach der Schule erwähnt, das er einen Kurztrip nach Frankreich machen wolle, um seine Mutter zu besuchen. Seine Schwester Fanny hatte ihm geschrieben, daß sie schon dort gewesen war. Mit ihrem neuen Freund, einem älteren Typen, den sie bei der Rothko-Ausstellung in Hamburg getroffen hatte. Von dem Typen hatte sie geschrieben, nachdem sie wieder zurück in ihre Wohnung in Berlin war. Der Mann kam ebenfalls aus Berlin und wollte tatsächlich gerade Urlaub in Frankreich machen. Er lud Franks Schwester ein, mitzukommen. Und sie hatte eingewilligt, wenn sie die Gelegenheit nutzen dürfe, ihre Mutter dort zu besuchen. Was sie schon länger vorgehabt habe. Der Typ hatte nichts dagegen. Alles schien zu passen. Berlin. Frankreich. Nur das der Typ dreißig Jahre älter war als Fanny. Die Mutter war davon richtig angepißt. Fannys Freund war sogar älter als sie selbst. Andererseits war er wahrhaftig kultiviert. Und trug teure helle Anzüge. Hatte Vermögen. Was alles Fannys Mutter beeindruckte. Nur Fanny selbst interessierte das nicht. Von ihr aus gesehen war etwas völlig anderes zwischen ihnen passiert. Und das sah auch die Mutter.

Jedenfalls gab das für Frank den Ausschlag, ebenfalls nach Frankreich losfahren zu wollen. Fanny war immer sein Vorbild gewesen. Sie war die große Schwester, die ihn inspirierte. Sie schickte ihm seit Jahren Bücher, CDs mit Musik, Bildbände über Gegenwartskunst und vor einem Jahr war sie es, die durch ein Gespräch mit ihm sein Projekt mit den Interviews für den Kunst-Kurs angeregt hatte. Und sie war ihm bis heute Vorbild, auch wenn sie weit weg in Berlin wohnte. Was er stark fand: Sie war dort in verschiedenen Bewegungen aktiv, wechselte häufig ihre Partner, schrieb ihm auch darüber Briefe, aus denen er nur durch Montage einen Brief-Roman hätte machen können. Vielleicht sollte er das eines Tages tun. Er würde sie natürlich um Erlaubnis fragen.

Immer wieder wollte er sie in Berlin besuchen. Dann war sie verreist. Dann paßte es bei ihm nicht. Am liebsten wäre er mit Fanny zur Mutter gefahren. Aber dann war Fanny mit ihrem neuen Freund schon dagewesen, ehe Frank mit ihr hätte fahren können. Als er danach einmal Ratz und Göbsen seine Absichten erzählte, nach Frankreich zu fahren, sprach Jen ihn an. Sie lief mit ihnen nach dem Unterricht zum Busbahnhof und erzählte ihrerseits, daß sie in der zehnten Klasse als Austauschschülerin nach Frankreich zu einer Familie im Süden des Landes gesollt hatte, aber wegen einer Erkrankung hatte absagen müssen. Und leider war es nie zu einer Neuauflage gekommen. Der Wunsch aber, dahin zu gehen, war geblieben und immer stärker geworden. Ob sie nicht mitkommen könne. Frank gab das einen Stich. Er hatte bis dahin zwei Freundinnen gehabt. Und stellte sich nun vor, mit Jen vier Tage unterwegs zu sein, mit Bahn und Bus und viel Zeit zum reden. Jen sah zu gut aus, um einfach so mitzufahren. Frank gehörte zwar zum attraktiveren Kern in seiner Klasse, aber er war sich deswegen gegenüber den Mädchen absolut nicht sicher. Vor allem Jen gegenüber nicht. Jeder mochte sie. Er auch. Er besonders. Warum also fragte sie ihn?

Trotzdem willigte er spontan ein.

Und so fuhren sie zusammen.

Es wirkte wie Klassenfahrt zu Zweit. Unverbindlich. Frank hatte die Nacht vorher nicht geschlafen, weil er mit Ratz wieder mal mehr als die halbe Nacht an der X-Box COD Deathmatches gezockt hatte. Manchmal machten sie das in Franks Haus zu viert oder fünft. Da war Platz. Und es gab immer Vorräte.

Trotzdem war es jetzt nicht schlecht, todmüde zu sein. Er und Jen lachten bereits am Fahrkartenautomaten. Er wirkte wie betrunken. Sie amüsierte das. Sie sah blendend aus. Aber hier sah er, daß etwas nicht stimmte. Es war in ihrem Blick. Eine Form von Traurigkeit. Im Zug meinte sie, daß sie ebenfalls angeschlagen sei. Er fragte aber nicht nach der Story dahinter. Er mochte solche Storys nicht. Von niemandem. Aber weil sie beide angeschlagen waren, legten sie noch vor der südlichen Provence einen Zwischenstopp ein und nahmen irgendwo in in der Mitte Frankreichs ein Zimmer in einer kleinen Pension. Das war nicht vorgesehen gewesen. Aber in Ordnung. Jen bestritt die Konversation vor Ort. Es gab nur ein Ehebett. Hatte Jen danach gefragt? Frank mußte in diesem Bett jedenfalls feststellen, das er trotz Latte, die er sofort bekam, zu müde war und gleichzeitig zu aufgeregt, um mit Jen zu schlafen. Er konnte die Erregung nicht steigern. Etwas fehlte. Irgendwann sank er zurück und war noch in der gleichen Minute eingeschlafen.

Am nächsten Morgen war alles in Ordnung.

Sie frühstückten bei der Gastgeberin, einer älteren Dame. Jen sprach mit ihr französisch. Jen wirkte frisch. Sie war zurechtgemacht. Sie drückte einmal Franks Hand. Sie waren dennoch kein Paar.

Es war immer noch wie Klassenfahrt. Nur das sie zusammen in einem Bett gelegen und Sex gehabt hatten. Aber auch das passierte auf Klassenfahrten. Das Ganze führte erstmal nicht automatisch dazu, daß sie nun zusammen waren. Es blieb eine Reise in den Süden Frankreichs.

Am Vormittag trafen sie bei Franks Mutter ein. Schon beim Klingeln an der Haustür explodierte dahinter mehrstimmiges Gebell. Dann genauso hirnlose Befehle einer brüchig-schrillen Frauenstimme. Die an dem ekelhaften Gekläffe nichts änderte. Mit dem Öffnen der Tür, die zuerst einmal gegen das Spektakel nach innen aufgestemmt werden mußte, weil die Mistviecher wie blöd dagegen drückten, kamen drei Mischlinge zum Vorschein, immer weiter bellend, die dann, als die Tür kaum halb offenstand, an Frank und Jen hochsprangen, während seine Mutter dahinter jeden einzelnen Köter mit Namen anschrie, von denen jeder idiotischer als der andere war: Schwanz, Püppi, Lakritz. Und erst, als seine Mutter mit der flachen Hand ein paar Hinterteile erwischte, zogen die Viecher jaulend die Schwänze ein, bellten noch ein paarmal, rannten aufgeregt weg und kamen nach zwei Sekunden wieder und bellten und leckten und schnupperten wie wild an den Besuchern. Das Betragen war jetzt offenbar erlaubt.

Seine Mutter lebte tatsächlich bardotmäßig mit mehreren Hunden, wie Fanny in ihrem Brief geschrieben hatte, und schien noch depressiver geworden zu sein, als Frank es erinnerte. Die jeweils äußeren Enden der Brauen ihrer Lider und der Mundwinkel waren steil nach unten gezogen. Leidensmiene. Und das inmitten dieser Hunde. Er haßte Hunde.

Er hätte schon gleich kotzen können.

Und dann tauchte dieser Typ auf, Mutters neuer Freund, der diesen Hundespast einfach ignorierte, obwohl man das unmöglich konnte. Er schaffte das deshalb, weil er selbst Teil dieser hochneurotischen Veranstaltung war. Er wartete kaum ab, bis sich die Situation beruhigt hatte, als er, in der Küche, in der es unangenehm nach Hund roch, ungefragt seine Krankengeschichte zum Besten gab. Die Hunde winselten hektisch, wollten die Hände der Besucher lecken. Und der Typ erzählte von seinem Herzinfarkt, von Stents, Reha und benutzte die Begriffe so, wie Kranke das gerne mögen, wenn sie über sich reden, mit leuchtenden Augen, und einer Stimme, die an Fahrt gewinnt. Das ist wie Wichsen. Und genau das war es. Die eigene Krankengeschichte erregte ihn, er konnte nicht mehr aufhören, sie war seine höchstpersönliche Wichsvorlage.

Seine Mutter erläuterte währenddessen den Hunden, was sich denn wohl gehöre und was nicht. Seid ihr jetzt mal brav! Das tut man doch nicht! Das ist doch mein Kleiner, der uns besuchen kommt!

Als der Wichser nicht aufhörte, zu erzählen, fuhr Frank ihm über den Mund und fragte seine Mutter, ob sie eigentlich irgendeinen Geldbetrag vom Vater bekomme oder wenigstens ihren Schmuck mitgenommen habe. Sie schüttelte den Kopf. Ihm fiel ein, daß sie das vor dem Wichser vielleicht nicht zugeben durfte. Der Typ holte gerade seine Medikamentenschachteln und breitete sie auf dem Küchentisch aus. Die Hunde bellten sofort wild den Tisch und den Mann an, als hätte er Fressen daraufgeschüttet. Die Mutter hatte offenbar ein Einsehen und brachte zwei der Hunde raus in irgendein anderes Zimmer. Übrig blieb ein Wackelpudding, der wie verwandelt dasaß und blöd glotzte und leise winselte. Aber auch das ödete Frank an. Er haßte die Viecher wirklich.

Aber es war immerhin ruhiger geworden.

Aus einem Nebenraum hörte man einen Fernseher. Die Mutter blieb lange weg. Der Typ erzählte, zeigte seine Brustnarbe. Seine Mutter kam wieder und fragte, ob er und Jen etwas essen wollten. Nein, ganz bestimmt nicht hier. Das sagte Frank nicht. Aber das dachte auch Jen. Das sah er. Nein, sie würden in der nächsten Stadt essen und dann auf ihr Zimmer, sich ausschlafen. Die Mutter nickte und wollte lächeln, was mehr oder weniger mißglückte. Mein Junge, sagte sie.

Erst außer Sichtweise des Hauses überlegten sie, wohin sie überhaupt wollten. Sie hatten kein Zimmer. Jen sagte ein paar französische Leute- oder Städtenamen. Frank hatte Französisch in der Mittelstufe nach einem Jahr abgewählt, weil er keinen Zugang zu der Sprache fand. Er mochte sie nicht mal hören. Deshalb sagte er zu Jen, sie solle entscheiden, wohin.

Letztendlich kamen sie zwei Stunden später am Nachmittag mit einem Bus irgendwo an der Südküste an. Jen sprach paar Sätze Französisch mit dem Busfahrer, der sie daraufhin breit anlächelte.

Und abends lagen Frank und sie wieder in einem kleinen Zimmer zusammen in einem Bett. Es war dunkel geworden. Vom Küstenstädtchen fiel diffuses Licht gegen die Zimmerdecke.

„War das schlimm für dich?“

„Was jetzt?“

„Deine Mutter?“

„Geht so. Vielleicht sollte man von der Idee Abschied nehmen, daß Familie automatisch was bedeutet. Letztendlich können das einem total fremde Leute sein“

„Familie bedeutet aber was.“

„Aber nicht automatisch.“

„Doch.“

„Mußt du gerade sagen.“

„Meine ist nicht repräsentativ“, sagte sie.

„Was ist denn repräsentativ?“

„Du kommst immerhin aus sowas wie gutem Haus.“

„Komme ich nicht.“

„Weil deine Eltern sich getrennt haben?“

„Nein. Es war nie ein gutes Haus. Doch, das Haus war gut. Ist es noch. Das Haus selbst. Aber nicht die Leute, die darin gewohnt haben.“

„Auch deine Schwester nicht?“

„Doch. Ich meine meine Eltern.“

„Aber du hast immer Geld gehabt oder nicht?“

„Ja. Aber Geld ist kein Ersatz ...“

„Für ... ?“

„Familie.“

„Weißt du denn, was das ist?“

„Was, Ersatz?“

„Nein, Familie.“

„Ich glaub nicht. Ich verstehe mich mit meiner Schwester.“

Sie legte eine Pause ein.

„Und was machst du jetzt?“ fragte sie dann.

„Ich weiß es noch nicht.“

„Okay, dann sollten wir jetzt schlafen.“

„Willst du schlafen?“

„Ja.“

„Okay.“

„Kraulst du mir noch den Rücken?“

„Aber du mir dann auch.“

__3__

Am Fähranleger sitzen sie im Regen im Auto und warten darauf, daß die Fähre endgültig entladen ist. Der Regen fällt unaufhörlich. Frank denkt an das Honorar, das er bekommt. Das Honorar, das Peter für das Projekt bekommt und an Frank weitergibt. Frank braucht das Geld. Dem fällt seine Frage wieder ein.

„Warum Fähre? Warum nicht Flugzeug?“

„Ich fliege nur in Notfällen. Und das hier ist keiner.“

„Was sind Notfälle?“

„Ich hatte noch keinen.“

„Okay. Und was wäre einer?“

Peter denkt nach. Er wirkt schweinsgesichtig, mit einer Art blonder Tolle in der Stirn. Ein Mund wie Klaus Kinski. Der sieht immerhin sinnlich aus. Sein Übergewicht stört nicht. Peter gibt das einen ganz eigenen Charakter.

„Ich weiß es nicht.“

„Was?“

Frank ist abgelenkt gewesen.

„Was ein Notfall wäre.“

„Okay. Und was ist mit der Strecke Harwich London? Schafft das diese Karre?“

„Wieso Karre?“

„Weil das ´ne Karre ist.“

„Ich hänge dran. Nicht alles, was alt ist, ist schlecht. So geht es mir mit meinen Kameras.“

„Aber du hast Morgen Termine. Wohnungsschlüssel in Billericay und dann das erste Treffen in London in der Mews Reece.“

„Das schaffen wir.“

„Ist das eure Planung?“

„Was für eine Planung?“

„Eure. Monas und deine?“

„Ja.“

„Und wenn das Auto das nicht macht?“

„Macht es.“

„Ist das die Planung?“

„Was denn immer für eine Planung?“

„Na, Planung. Auto. Fahrt. Strecke. Wohnung. Studio.“

„Mann, wir haben zwei Termine.“

„Genau.“

„Und die halten wir ein.“

„Okay.“

„Alles klar dann?“

„Ja. Nee, eins noch. Warum nicht Calais Dover?“

„Weil ich ich nie wieder durch Belgien fahren und das auch nicht noch einmal irgendjemandem gegenüber begründen möchte.“

„Okay. Gut. Alles klar.“

„Gut.“

„Und warum Billericay?“

„Was Billericay?“

„Die Wohnung da. Warum da?“

„Da gibt´s eine Zugverbindung über Brentwood nach London. Damit oder mit dem Auto ist es keine Stunde Fahrt.“

„Aber warum willst du ausgerechnet da wohnen?“

„Nach Erinnerung und Karte, ich bin da oft längs gefahren, mit meinem Vater.“

„Okay.“

„Ist schon lange her.“

„Okay.“

„Und als Jugendlicher wollte ich dann immer da wohnen.“

„Okay.“

Pause.

Eine längere Pause.

„Er hat sich umgebracht, als ich sechzehn war. Aufgehängt. In der Scheune. Ich sollte ihn zum Essen holen.“

„Ohui.“

„Ja. das war ...“

„Was?“

„Nichts.“

„Wie alt bist du jetzt?“

„Zweiunddreißig.“ Er sieht Frank an. „Und du achtzehn.“

Das ist keine Frage.

Frank erwidert auch nichts darauf.

Es entsteht eine weitere Pause.

„Nimmst du dir irgendwie ein Vorbild an Warhol? Oder Koons oder Hurst?“

„Womit?“

„Mit deinem Studio. Deinen Assistenten.“

„Nein. Nein. Das ist einfach ... der Job. Das hat sich so ergeben. Wie kommst du darauf? Setzt du dich damit auseinander?“

„Auseinander? Womit?“

„Mit Kunst. Kunstgeschichte. Biographien. Solchen Sachen. Fakten.“

„Nein. Nicht wirklich.“

Es dauert noch eine Stunde, bis die Fähre komplett entladen ist. Pkws und Lkws, die in langen Reihen heruntergefahren und dann endgültig verschwunden sind. Die ersten Fahrzeuge hier auf dem Parkplatz fahren an, die darauf nur gewartet haben, und beginnen, in den Schiffskörper zu verschwinden.

Frank sieht sich das an.

Die Fähre ist mehrstöckig.

Ein schwimmendes Einkaufscenter. Zwei Parkdecks darunter als dunkle Katakomben. Sie stellen den elend roten asbach Korolla in diesen hadesmäßigen metallenen Dämmer zwischen hunderte andere Wagen. Sie nehmen jeder eine Tasche und wollen als erstes ihre gebuchte Kabine suchen.

Das erste kaum wahrnehmbare Schwanken unter seinen Füßen, das er auf dem Weg nach unten auf einer der durchsichtig gegitterten Metallstufen spürt. Beginnt damit die Reise?

__4__

Frank war bisher einmal in England gewesen. In London. Vor einem Jahr. Da war er noch sechzehn. Er wollte damals unbedingt in die Tate. Er kaufte teure Flugtickets und landete in Heathrow. In der Stadt hatte er ein Hotelzimmer in der Innenstadt gebucht. Er wollte einmal übernachten, um genügend Zeit für die Tate zu haben. Seine damalige Freundin war mit. Uli. Den Flug hatte er ihr bezahlt. Frank sollte in ein paar Tagen siebzehn werden. Uli war schon achtzehn. Sie hatte einmal in der Mittelstufe wiederholt und war in seine Klasse gekommen. Sie checkte federführend in dem Hotel ein. Und er tat das, wofür er sich nicht besonders anstrengen brauchte: daneben stehen und älter aussehen, als er war. Frank war vor allem groß. Und sein Gesicht war so geschnitten, das er zwar jung, aber seriös aussah. Auf keinen Fall minderjährig. Was er zu dem Zeitpunkt war. Er hatte sich zudem sauber und gut abgestimmt gekleidet. Er wußte, das er so und mit Uli leichter zurecht kam.

Danach gingen sie in einen nahen Pub und tranken Bier. Anschließend kam der erste von zwei Besuchen in der Tate. Frank wollte das splitten. Wegen der Fülle. Und das war tatsächlich notwendig. Es gab den neuen Turner Saal und es gab eine temporäre Rothko Ausstellung, ebenfalls in einem eigenen Saal. Und man schaffte schon kaum die dauerhaften Exponate an einem Tag. Außer man lief und nickte sie einfach ab.

Frank sah von der Dauerausstellung die Hälfte. Unter anderen ein Pollock Bild, das mit einer dicken roten Kordel vor Berührung geschützt werden sollte. In jedem Saal saß ein uniformierter Aufseher in eine der Ecken auf einem Stuhl. Frank paßte es genau ab, das Bild einmal kurz mit den Fingerspitzen zu berühren, als der Typ in die entgegengesetzte Richtung guckte. Frank kam sich vor wie ein dummer Teenager, der einmal das Objekt seiner Begierde berühren mußte. Das machte diese Stadt. Er spürte es. Hier war er Teil von etwas. Frank konnte es nicht benennen. Es war nicht allein das Historische dieser gewaltigen Metropole. Nicht allein der Boden, auf dem man stand. Nicht die ehrwürdigen Gebäude. Nicht diese um ihn versammelte Kunst. Es war der Zusammenschluß von allem. Dieses verdammte Bild hatte Pollock gemalt. Es stammte von ihm. Er hatte es berührt. Das war erregend. Auf unbestimmte Art. Hier wurde Zeit aufgehoben. Authentizität hergestellt. Durch Raum. Das war London. Das spürte er. Seine Freundin konnte ihm nicht folgen. Sie lachte. Und war froh, als sie endlich wieder draußen waren, auf der Straße, in der Luft, im Trubel.

Für sie war die Erregung eine ganz andere.

Er verstand das sogar.

Für ihn war Kunst manchmal etwas Besonderes.

Für seine Freundin die Stadt selbst.

Geschäfte, Restaurants, Menschen. Der ganze Moloch. Sie gingen die Marsham Street ab, sahen Westminster Abbey, liefen durch Whitehall und kamen zum Trafalgar Square. Unweit davon lag die National Gallery mit der National Portrait Gallery und Frank überlegte tatsächlich einen Moment, ob sie sich nicht aufteilen sollten. Er in die Gallery und sie Richtung Covent Garden. Vereinbarter Treffpunkt in sechs Stunden da und da. Aber er sagte nichts davon. Er ging mit ihr. Denn immerhin waren sie zusammen.

Aber er würde Morgen noch mal seinen Tate Auftritt haben. Morgen käme die andere Hälfte der regulären Ausstellung dran und Rothko und Turner. Dazu waren sie hier. Nur dazu.

Abends im Hotelzimmer genoß er dennoch den Luxus daumendicker, makellos weißer Handtücher im großzügigen Bad. Sie hatten die doppelte Größe normaler Handtücher. Er benutzte sie zum Duschen genauso wie das hauseigene Gel, das sogar noch besser war als seines zu Hause. Er hatte es nicht mitgenommen. Er kannte solche Hotels. Früher war er mit seinen Eltern und seiner Schwester gereist.

Er besah sich im Spiegel über dem ausladenden blitzsauberen Waschbecken, das er jetzt gleich entweihen würde. Er war dünn. Seine Brust wirkte zu flach. Die Haare darauf waren im Spiegel nicht zu sehen. Aber er bekam so etwas wie ein Kreuz. Seine Schultern bewirkten eine gut proportionierte Form des Oberkörpers. Er machte keinen Sport. Er aß wenig. Jetzt hatte er nur zuviel Pints intus. Zwei Ale, zwei Lager. Er war erschöpft vom Laufen durch die Stadt und von dem Bier.

Er putzte sich die Zähne.

Dann ging er zu Bett. Uli lag schon darin. Aber sein Pimmel blieb nicht lange genug hart. Ansonsten hatte er nie Probleme. Er brauchte eine Frau nur ansehen und sein Ding stand ab wie ein Metallrohr. Jetzt hatte er zwar eine Erektion, die aber, um im Bild zu bleiben, merkwürdig weich blieb, glühendweiches Eisen. So heiß, aber weich. Seiner Freundin schien das nichts auszumachen. Sie küßte ihn, als sie in dem Bett lagen, auf den Mund, die Stirn, die Wangen, liebevoll, nicht fordernd, zuletzt noch einmal seinen biegsamen Ständer.

Dann schmiegte sie sich an seine Seite und auf mehr war sie nicht aus. Sie schlief sogar als Erste ein. Erst morgens weckte sie ihn, drängender. Legte sich nackt auf ihn. Das mochte er. So viel Körper wie möglich an seinem. Diese ganze Haut überall. Die Rundungen ihres Hinterns. Uli war üppig gebaut. Und dann ging alles ohne Hinsehen. Alles paßte perfekt. Wie ein langer improvisierter Tanz mit automatisierten Bewegungen. Mit einem eigenen Rhythmus. Mit Drehungen. Gegeneinander verschieben. Harten Griffen. Dem Überfließen reiner Energie. Bis alles Eins war.

In der Tate lernte er dann, daß es etwas gab, das ihn genauso berührte wie Sex. Dabei war er kein Kunst-Spast, der las, was darüber geschrieben wurde. Der uralte gängige Urteile übernahm. Er konnte einfach nur staunen. Aber erst hier in der Tate sah er, bei seinem zweiten Besuch am zweiten Tag, daß es keine Vermittlung von Malerei gab. Nicht durch Abbildungen in Büchern. Nicht durch Reden oder darüber schreiben. Man mußte einfach nur vor ihr stehen. Vor ihren Bildern. Und dann: Bild und Betrachter. Dazwischen passierte es. Das war der Raum, in dem Kunst stattfand. Alles andere war Gefasel. Der Versuch, mit kleinen Bildchen in Büchern etwas davon wiederzugeben. Das funktionierte nicht. So einfach war das. Ein Bild war dazu da, das man es betrachtete. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Er hatte Tränen in den Augen.

__5__

Bei dem Projekt in London geht es darum, nach dem Tod des Malers Francis Bacon dessen vollkommen versifftes und zugemülltes Atelier, so wie er es hinterlassen hat, von seiner Londoner Adresse in der Mews Reece in Kensington nach Dublin, seiner Geburtsstadt, in die Huge Lane Gallery zu verfrachten und dort in einem Glaskasten für die Nachwelt original wieder aufzubauen.

Bacon hat das Atelier seinem Ex-Liebhaber, dem Kunstkritiker John Edwards hinterlassen, der es wiederum der Kuratorin Mary McGrath überantwortet hat, damit sie dieses Projekt durchführen kann. Damit dies Eins zu Eins geschieht, mit allen Gegenständen, den 100 Leinwänden,

1500 Fotos,

70 Zeichnungen,

1300 Zeitungsausrissen,

2000 Malutensilien wie Pinseln, Lappen, Dosen, Gläsern,

Briefen,

Schallplatten,

Magazinen,

werden sie, so, wie sie original herumliegen auf Regalen, Tischen, in Schränken, und vor allem auf dem Boden, zuerst kartographiert, fotografiert und dann archiviert. Dazu sind eine Archäologin, ein Fotograf und ein Archivar engagiert, jeder von ihnen mit Assistent, damit dieses Chaos genauso rekonstruiert werden kann. Bacon hat das Studio dreißig Jahre lang nie aufgeräumt oder saubergemacht, im Gegenteil, er hat sogar die Pinsel an den Wänden oder der Tür abgestrichen. Benutzte Lappen liegen lassen. Sogar als gestalterische Elemente Staub und Dreck mit in die Farben verrührt.

Peter und Frank bekommen das als eine der Wenigen und Letzten noch einmal in diesem Originalzustand zu sehen. Und Peter ist als Assistent von Perry Ogden angestellt, des Fotografen.

__6__

Die Kabine auf der Fähre ist ein Witz.

Mona hat sie gebucht. Sie kann nicht gewußt haben, daß es eine Besenkammer mit zwei übereinander an einer Wand befestigten Regalen ist, die die Betten darstellen sollen. Man erkennt das an den darauf liegenden gefalteten grauen Decken. Keine Kopfkissen. Das ganze Ding erinnert an Umkleide. Nicht allein das Platzangebot. Die Wände reichen nicht bis zum Boden und nicht bis zur Decke. Sie lassen überall freie Spalten. Das ist wirklich Umkleide. Und das ganze Ding befindet sich auch noch so tief unten im Schiffsbauch, das sie im Falle einer Havarie niemals rechtzeitig durch die verschiedenen, farblich unterschiedlich gekennzeichneten Flure und dicken Schotten und Metalltreppen zurück nach oben kämen.

„Hier penne ich nicht“, sagt Frank.

„He, ist nur für eine kurze Nacht. Ich beschwer´ mich auch nicht.“

„Das meine ich nicht.“

„Was dann?“

„Das liegt zu tief. Zu tief im Schiff. Das meine ich.“

„Laß uns erst mal was trinken. Vielleicht siehst du das danach anders. Oder gar nicht mehr.“

Er lacht.

Peter will unbedingt sein erstes Pint trinken. Die Fähre ist bereits englisches Territorium. Und Peter ist Engländer. Er ist in London geboren und aufgewachsen. Mehrmals im Jahr fährt er hin, irgendwelche Leute besuchen. Deshalb ist die Anreise für ihn nichts Besonderes. Er hat schon verschiedene Fähren genommen, auch diese hier. Und hat schon in solchen Kabinen gelegen. Aber immer so zugedröhnt, das er davon nie etwas gespürt hat. Diesmal allerdings will er länger in England bleiben, sechs Monate und wird in diesem Land zum ersten Mal außerhalb der Stadt wohnen. Mona hat fast alles organisiert, was mit diesem Projekt zusammenhängt, aber um diese Wohnung in Billericay hat er sich selbst gekümmert. Er hat schon immer einmal außerhalb auf dem Land wohnen wollen. Nun ist dazu die Gelegenheit. Mona hält in der Zeit das Atelier in Hamburg am Laufen. Telefonate, Verwaltung, Abrechnungen, Termine. Und Jan, zweiundzwanzig Jahre jung, sein Zweiter Assistent, ist zuständig für die handwerkliche Ausführung der laufenden Aufträge von Lebensmittelfotografie. Peter umgibt sich gerne mit jungen Menschen.

Sie finden auf die oberen Decks, lange, niedrige, neonbeleuchtete Gänge zwischen aneinandergereihten Geschäften und Fast Food-Ecken, alles mit offenen Türen. Man kann überall hineinspazieren. Das tun auch hunderte Menschen. Großes Gedränge und Geschlendere. Andere scheinen zielstrebiger. Viele sitzen schon und essen.

Frank will hinaus.

Peter meint, daß er ihnen Sitzplätze suche. Er müsse dringend sein erstes Pint haben. Frank könne nachkommen. Er werde ihn schon finden.

Frank nickt und geht weiter an Schaufenstern vorbei. Dahinter sieht er Mädchen vor Regalen mit gefärbten Flakons an ihren Handgelenken riechen, lachen und reden. Er sieht sie an. Er stöhnt innerlich. Er hat drei oder vier Tage nicht masturbiert. Das ist immer gefährlich. In Cezannes Biographie heißt es: Sein problematisches Verhältnis zu Frauen hält ihn von Aktstudien fern. Das könnte auch auf ihn zutreffen. Mädchenkörper sind magisch. Wie kann man nicht von ihnen angezogen werden? Wie sie nicht berühren wollen? In Frank ist das immer vorhanden. Die Gier nach Haut. Nach Wärme. Nähe. Oh Gott, er darf nicht mal daran denken!

Er nimmt einen Treppenaufgang, stößt eine schwere Doppeltür auf und findet sich plötzlich draußen wieder. Auf einem Außendeck. Es regnet immer noch. Das ist die berühmte kalte Dusche, haha. Frank stellt sich mit dem Rücken gegen eine Wand, die trocken ist. Das Deck ist fast leer. Sein Blick geht auf das Fährgelände, auf ein Kai des Hamburger Hafens. Unter trübem Tageslicht. Winternachmittag. Kalt. Bald wird es dunkel. Ein paar letzte Autos fahren noch in den Schiffskörper.

Dann ist der Parkplatz leer, bis auf die, die nicht mitfahren. Die bleiben. Und winken. Irgendwann sprudelt und gurgelt Wasser auf- und abschwellend, das Schiff vibriert, die Motoren dröhnen, es gibt eine weiche Bewegung, weg von der Kaimauer, zuerst langsam, dann schneller, die Kaimauer entfernt sich, das Vibrieren pendelt sich auf einer Höhe ein, treibt nun deutlich das Schiff über das Wasser der Elbe. Die Winkenden werden kleiner.

Frank sieht sich um.

Ein alter Mann mit Kamera in Plastikfolie filmt die Abfahrt. Fünf Meter weiter zieht eine ältere Dame an einer Leine einen kleinen Hund im Mäntelchen hinter sich her. Das Viech will nicht laufen. Die Dame redet auf es ein. Und zieht wieder an der Leine. Wer richtet jetzt wen ab? Wer prägt wessen Verhalten? Frank haßt genau dies. Nicht die Hunde als Geschöpfe. Aber den Zirkus, der mit ihnen veranstaltet wird. Rituale, die entstehen.

Er wendet sich ab. Geht.

Die Entfernung zum Ufer ist größer geworden. Das Tempo der Fähre ist erstaunlich. Das ist die Strömung. Sie sind nun mitten auf der Elbe. Häuser auf großen Grundstücken ziehen vorbei. Jetzt im Winter sind sie zu sehen. Im Sommer, wenn die Bäume voller Laub sind, nicht. Das sind die reichen Vororte. Dann kommen Häuser und Höfe in der Landschaft. Die Elbe weitet sich. Die Ufer weichen noch weiter zurück. Das Land ist absolut flach. Darauf nun geduckte Höfe, miniaturisierte Strommasten, die hinter Feldern Straßenverläufe andeuten. Bleiche Wiesen. Kaum Farben. Grau, Braun, blasse Grünflecken. Und das alles hinter diesigen Schleiern.

Irgendwann öffnet sich die Elbmündung zum Übergang in die Nordsee. Man sieht den Übergang nicht. Gerade ist es noch Elbe, dann Nordsee. Offene Nordsee. Wind darüber, eiskalter Wind. Frank muß einen anderen Platz aufsuchen. Er streift die Kapuze seines Sweatshirts über, zieht die Kordel enger. Ihm ist kalt geworden. Die Jacke, die er trägt, wärmt nicht.

Durch eine Dünung, die unter ihm rollt, schwankt er beim Gehen leicht zur Reling hin. Er beugt sich darüber, sieht nach unten zu dem Geräusch, das von den Wellen verursacht wird, wo sie gegen die Schiffswand klatschen und rauschen und smaragdgrün schaumig zurückbleiben. Frank wundert das, wo die Nordsee doch grau ist, wenn man über sie hinweg sieht.

Er beugt sich weiter vor.

Die Tiefe hat einen starken Sog.

Der Wind betäubt sein Gesicht.

Er möchte fast hinunterspringen.

Aber er richtet sich wieder auf.

Er ist inzwischen naß vom Regen geworden.

Er denkt daran, daß in dreizehn Tagen Weihnachten is und er dann zum ersten Mal nicht zu Hause sein wird. Und das sein Vater das noch nicht weiß. Er weiß noch gar nichts. Frank ist weg. Und das ist ein tieferer Einschnitt als nur die Reise. Er ist aus dem ausgezogen aus dem Elternhaus. Er ist weg von Zuhause.

Seinen Vater hat er aber schon seit einem Monat nicht gesehen. An den will er jetzt allerdings nicht denken. An ihn nicht und an niemanden.

Er will gar nicht denken.

Am liebsten will er hier oben bleiben. Die ganze Überfahrt. Aber die dauert laut Auskunft zweiundzwanzig Stunden. Über Nacht. Nein, er geht zu Peter zurück. Gesellschaft ist zwar nicht Teil des Jobs, aber Teil von etwas, das er nicht benennen kann bezüglich Peter.