Puppenblut - Anna Jansson - E-Book
SONDERANGEBOT

Puppenblut E-Book

Anna Jansson

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Frauenleiche im Eiswasser führt Kommissar Kristoffer Bark in die dunkle Vergangenheit einer geschlossenen Nervenheilanstalt – welche Abgründe erwarten ihn bei seinem 3. Fall?

Januar 1967: Ein lebloser Frauenkörper treibt im eiskalten Fluss Svartån, ganz in der Nähe des Schlosses von Örebro. Der Name der Toten ist Mary Billbro, sie lebte in der Nervenheilanstalt von Västra Mark. Die Todesursache bleibt unbekannt. Mehr als 50 Jahre später ist Marys Enkelin Eva auf den Spuren ihrer Familiengeschichte. Sie möchte unbedingt herausfinden, was ihrer Großmutter damals zugestoßen ist. Doch dann bekommt sie selbst Morddrohungen. Für Kristoffer Bark, Schwedens Experten für Cold Cases, ist klar: Das ist ein Fall für ihn! Seine Ermittlungen führen ihn zu den schrecklichen Taten, die einst in Västra Mark geschahen. Kann er Marys Tod aufklären – und reicht das, um Eva zu retten?

Die »Kommissar Bark«-Reihe:
Band 1: Leichenschilf
Band 2: Witwenwald
Band 3: Puppenblut
Band 4: Mädchenfeuer
Alle Bände können auch unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 572

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Januar 1967: Ein lebloser Frauenkörper treibt im eiskalten Fluss Svartån, ganz in der Nähe des Schlosses von Örebro. Der Name der Toten ist Mary Billbro, sie lebte in der Nervenheilanstalt von Västra Mark. Die Todesursache bleibt unbekannt. Mehr als 50 Jahre später ist Marys Enkelin Eva auf den Spuren ihrer Familiengeschichte. Sie möchte unbedingt herausfinden, was ihrer Großmutter damals zugestoßen ist. Doch dann bekommt sie selbst Morddrohungen. Für Kristoffer Bark, Schwedens Experten für Cold Cases, ist klar: Das ist ein Fall für ihn! Seine Ermittlungen führen ihn zu den schrecklichen Taten, die einst in Västra Mark geschahen. Kann er Marys Tod aufklären – und reicht das, um Eva zu retten?

Autorin

Die Schwedin Anna Jansson gehört zu den erfolgreichsten Schriftsteller*innen ihres Landes. In mehr als zwanzig Jahren hat sie über 60 Bücher geschrieben; als gebürtige Gotländerin ist sie bekannt für ihre Krimireihe Maria Wern, Kripo Gotland. Allein in ihrem Heimatland haben sich Janssons Bücher über vier Millionen Mal verkauft, und sie werden in 17 Sprachen übersetzt. Mit dem Polizisten Kristoffer Bark hat sie einen neuen charismatischen sowie abgründigen Ermittler geschaffen, der im schwedischen Örebro Cold Cases löst. Hier lebt Jansson selbst und recherchiert an den malerischen Originalschauplätzen.

Von Anna Jansson bereits erschienen

Leichenschilf · Witwenwald

ANNA JANSSON

Puppenblut

Ein Kommissar-Bark-Krimi

Deutsch von

Susanne Dahmann

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Dansa min docka« bei Norstedts, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © Anna Jansson 2021

by Agreement with Grand Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023

by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Julie Hübner

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com

(lars johansson/EyeEm, underworld, Palsur, nosyrevy)

JS · Herstellung: sam

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-30379-2V001

www.blanvalet.de

Prolog

Örebro, Freitag, den 20. Januar 1967

Nach einem stürmischen Herbst mit Orkanwinden legte sich der Winter wie eine sanfte Decke über Örebro. Die »Hindersmässan«, im 14.Jahrhundert eine Messe der Bergleute für den Verkauf von Eisenwaren und heute eine fröhliche Januarkirmes, war in vollem Gang. Der Markt mit seinen Karamelläpfeln, handgezogenen Kerzen, selbst gestrickten Handschuhen und gebrannten Mandeln, der Händler und Besucher von nah und fern angelockt hatte, leuchtete wie ein Feuer im Winterdunkel. Ein Mann mit Bart predigte über den Segen einer Wurst mit himmlischem Geschmack und verfluchte den Schnee, der in großen weißen Flocken über die Marktstände zu fallen begonnen hatte. Das Thermometer zeigte drei Grad minus, und es herrschte eine raue Kälte. Seit einer Stunde war es dunkel, doch die Straßenlaternen brannten, und noch wurde an den Marktständen fröhlich verkauft.

Auf dem Fluss Svartån trieben glitzernd zerbrochene Eisschollen zum Schloss hinunter. Ein junges Paar, das gerade Ringe getauscht und sein Verlobungsessen im Restaurant Freimaurerloge genossen hatte, schlenderte von Blekholmen her eng umschlungen über die Brücke. Munter plaudernd kamen sie an dem »Die Burg« genannten mächtigen Gebäude im neugotischen Stil vorbei, wo das Lokalblatt Nerikes Allehanda untergebracht war, als die Frau plötzlich innehielt und auf etwas im Wasser deutete.

»Ein Mensch! Es sieht aus, als wäre da eine Frau im Fluss!«, rief sie und packte ihren Verlobten fest am Arm.

Kein Zweifel: Im dunklen Wasser zwischen den glitzernden Eisschollen trieb eine Frau. Das helle Haar und das bleiche Gesicht wurden vom Schein der Straßenlaternen eingefangen, doch die Frau verschwand wieder, um dann etwas weiter hinten erneut aufzutauchen.

»Ich sehe sie!«, rief der Verlobte und begann zu rennen. Trotz der Eiseskälte stürzte er sich mutig ins Wasser, um die Frau zu retten, während seine Verlobte um Hilfe rief. Jemand hörte sie, begriff den Ernst der Lage und eilte ins Zeitungsgebäude, um einen Krankenwagen zu rufen. Verzweifelt stand die Verlobte auf der Brücke und schrie vor Entsetzen. »Rette dich selbst, Karl. Du erfrierst doch! Du darfst nicht sterben!«

Eine Menschentraube bildete sich. Jemand lief zur anderen Seite des Flusses hinüber und versuchte vergeblich, das Rettungsboot loszumachen, das an einem Baum vertäut lag. Dort lag auch ein Rettungsring, den man nun dem Mann zuwarf, der im Wasser zwischen den Eisschollen ums Überleben kämpfte.

Als einige Minuten später die Sanitäter eintrafen, hatte der Mann die Frau auf rätselhafte Weise aus dem Fluss herausgezogen, kurz bevor sie in die Dunkelheit unter der großen Brücke getrieben wäre. Steif gefroren, mit klappernden Zähnen und blauen Lippen wurde er zum wartenden Krankenwagen geführt. Die Frau aus dem Fluss blieb am Ufer liegen. Sie war nicht mehr zu retten, wurde in einen Leichensack gehoben und später weggebracht.

Für die schwedische Polizei hatte das Jahr 1967 schlecht begonnen. Elf Tage zuvor waren zwei Polizisten und ein Wachmann erschossen worden, als sie drei Männer bei einem Einbruch in der Stadt Handen, südlich von Stockholm, überraschten.

Jetzt war auch in Örebro offensichtlich ein Mord geschehen. Nach der Obduktion stand fest, dass die Frau schon tot gewesen war, ehe sie im Wasser landete, denn sie hatte eine tödliche Verletzung am Hinterkopf. Mithilfe einer Zahnkarte konnte man feststellen, dass es sich bei der Toten um die 43-jährige Mary Billbro handelte, die am selben Tag von einem Arzt in Västra Mark, der Anstalt für Geistesgestörte, vermisst gemeldet worden war. Dort war die Frau ihr ganzes Erwachsenenleben lang eingesperrt gewesen, weil man davon ausging, dass sie nicht in der Lage war, in der Gesellschaft zu leben, ohne sexuell ausgenutzt zu werden. Sie gehörte damit zu den »sexuell Unzuverlässigen«, und damit sich diese schlechten Gene nicht verbreiten und den schwedischen Volksstamm belasten würden, war sie, wie in solchen Fällen üblich, sterilisiert worden. Höchst unglücklicherweise hatte man ihr Freigang gewährt.

Die Anstalt Västra Mark war 1931 in der Zeit der Rassenideologie ins Leben gerufen worden, als man geistig minderbemittelte und als nicht straffähig eingestufte Menschen, Asoziale, Epileptiker und sexuell unzuverlässige Frauen als eine Gefahr für die Gesellschaft betrachtete. Frauen aus ganz Schweden wurden hier auf unbestimmte Zeit eingesperrt, bekamen Eheverbot und wurden gezwungen, ihrer Sterilisierung zuzustimmen. In späteren Jahren war das Regelwerk gelockert worden – eine zweischneidige Angelegenheit. Mary war mehrmals geflohen. Dieser letzte Versuch hatte sie das Leben gekostet.

1

Polizei Örebro, Montag, den 26.November 2018

»Ich bin mit dem Tod bedroht worden!«, empörte sich Eva Kulitz, als sie sich Kristoffer Bark am Tisch in dem Verhörraum, den er gebucht hatte, gegenübersetzte. Sie hatte rote Flecken auf Gesicht und Hals, und die grün und bernsteinfarben melierten Augen wirkten ganz dunkel in der grauen Umgebung. Ein Kollege hatte die Anzeige aufgenommen, und Bark, der den Fall nun übernehmen sollte, hörte sich ihre Geschichte aufmerksam an.

»Ich weigere mich, zur Arbeit zu gehen. Ich halte das nicht mehr aus!«

Kristoffer Bark versuchte, sich ein Bild von der Frau zu machen, die er vor sich hatte. Sie war ängstlich und empört. Wahrscheinlich war Eva Kulitz wie er um die fünfzig Jahre alt. Sie trug einen gut geschnittenen Blazer, dazu weiße Bluse und Rock, war diskret geschminkt und auf kleidsame Weise mollig. Das braune Haar durchzogen Strähnchen, und die Lesebrille mit Strassperlen saß ihr wie ein Diadem im Haar. Soweit er verstanden hatte, war sie eine erfahrene Beraterin bei der Krankenkasse. Doch jetzt war das Maß offensichtlich voll. Sie war mit dem Tod bedroht worden, und sie nahm die Drohung ernst.

»Ja, ich finde nicht, dass ich das akzeptieren muss, oder? Ich muss meine Arbeit nach den entsprechenden Gesetzen und Direktiven erledigen. Auch wenn das bedeutet, dass kranke Menschen aus dem Krankengeldstatus herausfallen und in Armut und Elend landen. Die Politiker verstecken sich feige hinter Leuten wie mir, und wir müssen dann die Henker spielen, um die Krankenzahlen runterzubringen, die sie selbst erzeugt haben, indem sie die Möglichkeiten zur Rehabilitierung verschlechtert haben. Ich muss Menschen sagen, dass sie arbeitsfähig sind, obwohl ich sehr gut weiß, dass sie einen normalen Job nicht schaffen können. Und die sogenannten Jobs, auf die wir sie hinweisen, die weder physische noch psychische Anstrengung erfordern, existieren natürlich nicht. Aber das ist nicht meine Schuld! Ich versuche, den Versicherten zu helfen, damit sie das Geld bekommen, auf das sie ein Anrecht haben. Und ich verweigere es denen, die aus dem Regelwerk herausfallen. Da geht es um Gerechtigkeit. Und jetzt bin ich an einen richtig Verrückten geraten. Zum ersten Mal in all den Jahren habe ich wirklich Angst. Ich weiß nicht, wer es ist, aber jemand droht, mich zu töten, und ich möchte ihn anzeigen. Was kann die Polizei da machen?«

»Ich muss Sie erst einmal bitten, mir zu erzählen, was passiert ist. So detailliert wie möglich. Und in der Reihenfolge, wie es Ihnen passt. Ich höre zu.«

Eva Kulitz biss die Kiefer aufeinander, fixierte mit dem Blick einen Punkt an der Wand über Bark und starrte diesen an, als könne sie die Szene vor sich sehen.

»Der Teufel hat sich über meine Katze hergemacht«, sagte sie und schluckte schwer. »Hat sie verstümmelt, sodass ich mit ihr zum Tierarzt fahren und sie einschläfern lassen musste. Ich weiß nicht, wer einem Tier etwas so Ekelhaftes antun kann …« Evas Stimme brach, und ihr stiegen Tränen in die Augen.

»Wann ist das passiert?«, fragte Bark vorsichtig und reichte ihr ein Päckchen Taschentücher.

»Am Samstagabend. Ich war im Brunns-Park zum Tanzen, so wie jeden Samstag. Es spielte Jannez, und an der Kasse gab es eine lange Schlange. Weil das schneller ging, habe ich meinen Mantel nicht an der Garderobe abgegeben, sondern ihn ganz hinten aufgehängt, wo es nichts kostet.« Eva Kulitz wischte sich die Tränen ab, die ihr über die Wangen liefen.

»Ich war spät dran, und wie immer waren ziemlich viele Leute dort. Nachdem ich bezahlt hatte, ging ich sofort runter zur Tanzfläche. Es gibt immer einen Überschuss an Damen, und wenn man einen Mann zum Tanzen abbekommen will, dann muss man auf die Tanzfläche gehen und direkt nach einem Lied jemanden auffordern. Ich habe meinen guten Freund Lars aufgefordert, habe den ganzen Abend getanzt und bin bis zum letzten Stück geblieben. Als ich schließlich meinen Mantel geholt habe, war direkt über der einen Tasche ein großer brauner Fleck. Ich hab’ nachgesehen, und da lagen die Pfote meiner Katze und eine Nachricht. Mir war sofort klar, dass es Tessans Pfote war, denn sie hatte einen weißen Fleck auf jeder Tatze. Ich habe angefangen, laut zu schreien, und gedacht, ich würde in Ohnmacht fallen. Lars hat mir geholfen, nach Hause zu kommen. Tessan war eine Draußenkatze, und am nächsten Tag hat Lars mit mir die ganze Umgebung bis hin zum Wasserturm Svampen abgesucht. Wir haben Tessan in einem Busch gefunden … blutig. Ich musste sie zum Tierarzt bringen und einschläfern lassen. Wie kann ein Mensch nur so böse sein?«

Darauf hatte Kristoffer Bark keine Antwort. »Was stand in der Nachricht?«

Eva holte einen fleckigen und zerknitterten Zettel heraus, entfaltete ihn und legte ihn auf den Tisch. Die dunkelbraunen Partien, die zum Teil den Text verfärbten, konnten Blut sein. Er las.

Eine letzte Warnung: Wenn du weiter in Angelegenheiten herumschnüffelst, die dich nichts angehen, dann wirst du sterben.

Der Text war ordentlich und von Hand geschrieben, grammatikalisch korrekt und ohne Fehler. Das Papier sah aus, als wäre es aus einem Spiralblock mit Rändern gerissen worden.

»Ich verstehe, dass die Frage etwas absurd klingt, aber haben Sie die Pfote noch?«

»Nein, ich habe sie zusammen mit Tessan beim Tierarzt gelassen. Dachte, sie könnten sie vielleicht annähen. Eine Katze hat ja neun Leben. Aber sie konnten nichts mehr tun, außer meine geliebte Katze zu töten. Ich bin so traurig, so schrecklich traurig, sie war so eine schöne Katze. So klug und gesellig.«

»Haben Sie schon häufiger Drohungen oder etwas Ähnliches erhalten, was Sie mit diesem Ereignis in Verbindung bringen könnten?«

»Ja. Aber bisher habe ich es nicht sonderlich ernst genommen. Vor einer Woche steckte ein Zettel hinter dem Scheibenwischer meines Autos, aber den habe ich zerrissen und in den nächsten Papierkorb geworfen. Meist sind die Drohungen nicht so anonym wie diese hier. Normalerweise ruft jemand an, stellt sich vor und sagt, dass ich ein Miststück bin und mich verdammt gut vorsehen soll oder so was in der Art. Aber es ist nicht so erschreckend, wenn man ein Gesicht zu dem kennt, der einen bedroht. Und dann kann man ja auch auf die Beschuldigungen antworten und erklären, dass es die Politiker sind, die entschieden haben, die Regelungen zum Krankengeld zu verschärfen. Es war doch nicht meine Idee, die jetzt dazu führt, dass Kranke in die Armut gedrängt werden. Ich kann Ihnen sagen, es gibt Tage, da frage ich mich, was ich da eigentlich mache. Aber ich muss den Anweisungen folgen. Es gibt angestellte Juristen, die uns helfen, Gerichtsentscheidungen umzusetzen, wenn die Versicherten Klage eingereicht haben.«

»Erinnern Sie sich, was auf dem Zettel hinter der Windschutzscheibe stand?«, fragte Bark.

»Ja. Da stand: Ich wahrne dich, du Beraterhure! Warne mit h.«

»Also falsch geschrieben. War der Zettel auch von Hand geschrieben?«

»Nein, er war mit sehr großen Buchstaben auf einem Computer geschrieben. Vierundzwanzig Punkt, Schrift Calibri. Das weiß ich, weil ich die selbst benutze. Geschrieben war es auf ganz gewöhnlichem weißem, gelochtem Papier. Aber den Zettel habe ich wie gesagt nicht mehr.«

»Gab es abgesehen von diesen Zetteln noch mehr Drohungen?«

Eva runzelte die wohlgeformten Augenbrauen und dachte nach. Wieder wechselten ihre Augen die Farbe. »Vor zwei Wochen. Das war auch ein Samstag, und im Brunns-Park war Tanz im Regenbogen, dem Lokal da. Das ist das reinste Fitnessprogramm, es wird einem heiß, und man schwitzt. Ich hatte Durst und ging in die Cafeteria, um mir eine Limonade zu kaufen. Kurz danach wurde ich unerwartet aufgefordert und habe das Glas und die Dose auf dem Tisch stehen lassen. Als ich zurückkam, hatte jemand eine Glasscherbe hineingelegt. Ich nahm einen Schluck und hatte etwas Hartes, Scharfkantiges im Mund. Zum Glück habe ich es nicht verschluckt. Ich habe alle gefragt, die dort waren, aber niemand hatte jemanden bemerkt, der sich meinem Glas genähert hätte. Ich hatte die Dose selbst geöffnet und die Limonade ins Glas gegossen.«

Eva erhob sich. »Nun kann ich nicht länger bleiben, ich muss mein Enkelkind aus der Kita abholen. Meine Tochter und ihre Familie sind kürzlich hierhergezogen. Daga ist ein Jahr und vier Monate alt. Ich finde, es ist viel zu früh, sie in die Kita zu geben, aber meine Tochter sagt, sie könne es sich nicht leisten, länger zu Hause zu bleiben.«

»Nur eine letzte Frage und eine Bitte noch«, sagte Bark. »Haben Sie Ihrem Chef von den Drohungen berichtet? Und ich hätte gern so schnell wie möglich eine Liste Ihrer Fälle – die, mit denen Sie im Moment befasst sind, sowie die, an denen Sie im letzten halben Jahr gearbeitet haben. Wenn es eine oder mehrere Personen gibt, die Sie mehr als andere in Verdacht haben, dann möchte ich, dass Sie dies in der Liste markieren.«

»Ich habe schon darüber nachgegrübelt, wer von den Versicherten krank genug wäre, meine Katze zu verstümmeln. Da gibt es schon einige, die infrage kämen. Meinem Chef habe ich noch nichts gesagt. Er ist gerade auf einer Chorreise in Wien, aber ich habe es mit den anderen in meinem Team besprochen. Die meinten, ich sollte schleunigst zur Polizei gehen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie eine Liste bekommen, wenn ich geprüft habe, ob es erlaubt ist, diese Informationen rauszugeben.«

Eva schnäuzte sich und knüllte das Papiertaschentuch zu einem harten Ball zusammen. »Ich habe mich krankschreiben lassen. Ich kann nicht schlafen, kann nicht aufhören, an diese Sache zu denken.«

Kristoffer Bark reichte Eva seine Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch was einfällt, dann rufen Sie mich an. Und sorgen Sie, wenn möglich, dafür, dass Sie nicht allein sind.«

»Wie soll das gehen? Ich bin seit drei Jahren Witwe. Ich habe nur meine Tochter Linn, und die möchte ich wirklich nicht beunruhigen. Sie hat ihre eigenen Sorgen. Ich habe ihr noch nichts von Tessan erzählt.«

Kristoffer Bark brachte Eva Kulitz hinaus und ging dann in das Zimmer der Polizeichefin, Regina Zimmermann, mit der er das Vorgehen im Fall Eva Kulitz erörterte. Dann stieg er die wackelige Treppe zum Turmzimmer hinauf. Dort lagen die Räume, die Bark und seinem Team aus intern versetzten Kollegen zugeteilt worden waren. Hier sollten sie – weit vom Zentrum des Geschehens entfernt – an alten, ungelösten Fällen arbeiten. Bark hatte protestiert, als er den Auftrag bekam, diese Gruppe zu leiten. Er hatte sogar angeboten, auf einen Teil seines Gehalts zu verzichten, wenn ihm die Personalproblematik und all der andere Ärger erspart blieben. Er war Polizist und wollte als Polizist arbeiten, nicht als Therapeut, hatte er zu Polizeichefin Regina Zimmermann gesagt, die auf dem Ohr jedoch taub gewesen war.

Das Turmzimmer hatte große Fenster in drei Himmelsrichtungen, in denen anlässlich der Adventstage rote Schwibbögen aufgestellt worden waren. Angrenzend lag ein Flur mit einer Teeküche sowie eine Abseite, in der sich Ingrid Johansson verschanzt hatte, die sich weigerte, in Großraumbüros zu arbeiten. Ingrid war ein paar Jahre älter als er selbst, hatte also die fünfzig bereits passiert. Sie war Zivilangestellte und hatte zuvor beim Kriminalpolizeilichen Nachrichtendienst KND gearbeitet. Des Weiteren bestand die Gruppe aus Henrik Larsson, einem ausgezeichneten Ermittler, der aber im letzten Jahr wegen kranker Kinder zu 50 Prozent zu Hause geblieben war. Er hatte fünf Kinder jeweils im Altersabstand von einem Jahr und lebte in Todesangst, dass seine Ehefrau wieder schwanger werden könnte. Dann war da noch Alex, der kürzlich den Nachnamen seiner Mutter, Berger, angenommen hatte und frischgebackener Polizist war. Wie er den psychologischen Test geschafft hatte, war Bark ein Rätsel. Aufgrund seiner unterentwickelten Impulskontrolle und seines mangelnden Konzentrationsvermögens war er in schwierigen Situationen nicht zu gebrauchen. Und schließlich gehörte noch Sara Bredow zur Gruppe, die allerdings unter Burn-out litt und krankgeschrieben war.

Als Kristoffer sich an dem ovalen Tisch niederließ, um den sich die anderen bereits versammelt hatten, saß Ingrid wie gewöhnlich da und las die Todesanzeigen in der Nerikes Allehanda. Sie pflegte zu sagen, sie habe den Zenit des Lebensalters überschritten und müsse sich daran gewöhnen, dem Grab mit jedem Tag einen Schritt näher zu sein. Die Lesebrille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht, und das lange graue Haar hatte sich aus dem strengen Pferdeschwanz befreit, den sie zu Beginn des Arbeitstages noch getragen hatte.

»So, dann ist er also tot«, sagte sie nachdenklich.

»Wer ist tot?« fragte Alex und schwang den schwarzen Pony zurück, sodass man seine lebendigen braunen Augen sehen konnte. Er war groß, mager und ständig in Bewegung, wenn er nicht gerade auf Dingen herumtrommelte, summte oder pfiff oder auf einem Oberschenkel den Takt zu Musik schlug, die nur er hören konnte. Jetzt stand er auf und ging zum Fenster, das Richtung Bahnhof und Reisezentrum wies, und schaltete, sozusagen als Probe für den ersten Advent am kommenden Wochenende, den Schwibbogen ein. Eins der sieben Lämpchen leuchtete schwächer als die anderen. Alex schraubte die Birne halb heraus, sodass sie blinkte, während er darauf wartete, dass Ingrid ihnen berichtete, wer gestorben war. Als nichts in dieser Hinsicht geschah, entfernte er die Birne ganz und drückte seinen Kugelschreiber in das Loch. Ein Funkenregen ließ ihn einen Schritt zurückweichen, dann erloschen auch die übrigen sechs Lämpchen in dem Lichterbogen sowie die Leuchtstoffröhren an der Decke. Bis auf den Schein der Straßenlaternen von draußen war es nun dunkel.

»Verdammt noch mal!« Henrik runzelte die buschigen Augenbrauen, fuhr sich mit den Fingern durchs braun melierte, zu lange nicht mehr geschnittene Haar und machte dann eine ärgerliche Geste südländischer Manier über Alex und seine Grobmotorik. »Nimm die Finger von dem Leuchter, zieh den Stecker raus und setz dich hin! Der wird vor dem ersten Advent nicht angemacht!«

»Musste doch checken, ob er funzt. Um zu wissen, wie die Dinge funktionieren, muss man sie untersuchen, auch wenn das manchmal mit sich bringt, dass sie kaputtgehen. Sonst lernt man nämlich gar nichts«, antwortete Alex mit einer Miene, als würde er jetzt Lob für seinen Einsatz erwarten.

Da hatte Henrik, der übernächtigte Vater einer reichen Kinderschar, die Schnauze voll. »Dass du immer alles um dich rum kaputt machen musst! Was ist eigentlich los mit dir? Haben sie dich immer wieder auf den Fußboden fallen lassen, als du klein warst? Pfoten weg, setz dich hin und sei still.«

»Ich glaube, eine Sicherung ist raus«, sagte Ingrid und stand auf, um mit der Taschenlampe in der Hand nachzusehen.

»Hast du vielleicht einen gewischt gekriegt?«, fragte Henrik, der sich nun doch Sorgen machte, dass Alex zu Schaden gekommen sein könnte. »Wenn man einen Stromschlag bekommen hat, dann muss man sofort ins Krankenhaus. Da können sich minikleine Pfropfen lösen, die ins Gehirn, ins Herz oder in die Nieren gehen. Ist dir klar, dass du gerade mit dem Tod gespielt hast?«

Henriks Frau war Ärztin. Er selbst war ständig damit beschäftigt, an Krankheiten zu denken, und zwar in der Regel an ansteckende oder an solche, die zum Tode führten. Oft rief er die Servicenummer des Gesundheitsamtes an oder suchte seine Wahrheiten aus den weniger vertrauenswürdigen Seiten im Netz zusammen. Seine Frau hatte er angeblich kennengelernt, als er früher fünf- oder sechsmal pro Monat in dem Ärztehaus aufgeschlagen war, in dem sie arbeitete, um sich dort beruhigende Antworten zu holen.

»Ich glaube, ich habe gerade mein Gehör auf dem einen Ohr verloren«, sagte Alex, als das Licht wieder anging, mit einem vielsagenden Blick auf Henrik und wandte sich dann Ingrid zu, die wieder ins Zimmer zurückkam, nachdem sie die Sicherung wieder reingedreht hatte. »Wessen Todesanzeige hast du denn entdeckt?«

Bark antwortete an ihrer statt. »Aber das musst du doch wohl auch in den Nachrichten gehört haben! Es geht um den reichsten Mann von Örebro, nur Gruben-Johannes oder auch Your Highness genannt. Er war schon neunzig, also kein junger Mann mehr, war Ingenieur und betrieb irgendwelche Gruben und beschäftigte sich mit Wasserkraft, und weiß der Teufel, ob er nicht auch Schuhe hergestellt hat. Oder war das sein Vater?«

Ingrid schüttelte den Kopf über Kristoffers Ratespiele. »Der Vater von Gruben-Johannes, Ludwig, hat die Gruben betrieben und ein Vermögen mit seinen Erfindungen gemacht. Was Johannes genau getan hat, weiß ich nicht. Ich nehme mal an, er hat das Geld verwaltet. Man sagt ja, dass die erste Generation ein Unternehmen gründet, die nächste es verwaltet und die dritte dann das verprasst, was die Vorfahren angesammelt haben.« Ingrid sah Bark auffordernd an. »Wie sollen wir unsere Arbeit priorisieren? Hast du mit Regina Zimmermann darüber gesprochen?«

Kristoffer nickte. »Wir haben noch vom letzten Fall einen Teil Papierkram übrig, und dann haben wir eine Anzeige auf dem Tisch wegen Morddrohungen gegen eine Beraterin der Krankenkasse. Zimmermann hat entschieden, dass wir uns darauf konzentrieren sollen.« Bark erklärte in Kürze alles in Bezug auf die Anzeige von Eva Kulitz. »Wir müssen uns die Fälle anschauen, mit denen sie im Moment befasst ist, und ihren Chef, ihre Arbeitskollegen und einen Freund namens Lars verhören, der sie am Samstag vom Brunns-Park nach Hause gefahren hat. Außerdem dürfen wir Kollegen vom Streifendienst anfordern, um herumzufragen, ob im Brunns-Park jemand etwas gesehen oder gehört hat, was mit der Morddrohung zu tun haben könnte.«

»Das klingt, als hätte die Drohung etwas mit ihrer Arbeit zu tun«, warf Henrik ein. »Es ist oftmals eine persönliche Katastrophe, wenn man aus der Krankenkasse geschmissen wird, dann muss man nämlich erst mal alles von Wert verkaufen und kann erst danach zum Sozialamt gehen und um Hilfe bitten. Ich glaube nicht, dass die normalen Leute schon kapiert haben, dass es wirklich alle treffen kann, auch Leute, die eine Bestätigung vom Arzt haben. Weißt du, Bark, ich kann verstehen, dass die Berater Morddrohungen erhalten, obwohl sie ja nur die Sparbeschlüsse der Politiker ausführen müssen.«

»Es kann auch jemand gewesen sein, der die Kasse betrogen hat, oder ein kriminelles Netzwerk, das Eva Kulitz aufgedeckt hat«, meinte Alex. »Jedes Jahr gehen zwanzig Milliarden durch Versicherungsbetrug verloren, hab’ ich gelesen. Kriminelle Netzwerke ziehen das Geld aus dem Wohlfahrtssystem. Wenn man als Lohn zehn Prozent vom Gewinn bekäme, würde ich da sehr gerne als Ermittler Dienst tun.«

»Ja, wenn sich sogar der irakische Verteidigungsminister schwedische Sozialhilfe erschleichen kann, dann scheint das System wie ein Sieb zu funktionieren. Hier geht’s immerhin um Geld, das die wirklich Kranken so verzweifelt benötigen.«

Als Kristoffer Bark nach der Besprechung aus dem Gerichtszentrum heraus war, fiel ihm ein, dass er etwas im Turmzimmer vergessen hatte. Er drehte um und stieg die wackelige Treppe noch einmal hoch. Es war jedes Mal ein kleines Abenteuer zu sehen, ob die Konstruktion einen Mann in der Hundert-Kilo-Klasse aushalten würde.

Auf einem Regal neben seinem Schreibtisch stand ein Topf mit einer Weinpflanze, die er von seinem Vater bekommen hatte. Robert Bark hatte seinen Sohn angehalten, sie an einem Ort einzupflanzen, an dem er sich für länger niederlassen wolle. Die Traube hieß »Blaue Bergslagen«, was einen an die Uniformen der Polizisten in der Region denken ließ. Die blauen Trauben schmeckten bitter wie Wacholder und waren von einer Sorte, die rauem Klima, Kälte und Nährstoffmangel standhielt. Im Moment sah die Pflanze so aus, als würde sie sich in ihrem Topf sehr wohl fühlen. Kristoffer brach ein Ästchen ab und packte es erst in nasses Küchenpapier und dann in eine Plastiktüte, ehe er das Polizeirevier verließ. Er hatte etwas damit vor.

Draußen war es eisig, und der Atem wurde zu weißem Rauch. Schneekristalle fielen im Schein der Straßenlaternen, während die Baumkronen mit kleinen Lämpchen dekoriert waren, die einen künstlichen kreideweißen Schein von sich gaben. Kristoffer ging zum Bus, der ihn nach Hause in die Drakenbergsgata in Tybble bringen würde. Er dachte an Mia Berger, die Therapeutin, zu der zu gehen Zimmermann ihn gezwungen hatte, damit er an seinem Zorn und seiner gestörten Impulskontrolle arbeiten konnte. Anfänglich war ihm das wie eine Strafe vorgekommen, doch es wurde noch schlimmer: Er hatte sich insgeheim rettungslos in seine Therapeutin verliebt, und das peinigte ihn. Bei seinem letzten Therapiegespräch hatte er allen Mut zusammengenommen und gefragt, ob sie jetzt, da die Therapie beendet sei, mit ihm zu Abend essen wolle. Und zu seiner unerhörten Freude und Erleichterung hatte sie zugesagt. Kristoffer war nicht der Mann großer Liebeserklärungen, seine Talente lagen woanders, das war ihm bewusst. Sein Plan war, ihr den Ableger der Weinranke zu schenken. Im besten Fall würde sie verstehen, dass dies eine ausgestreckte Hand war – auch wenn die Dinge im Moment, gelinde gesagt, kompliziert waren.

2

Es war bereits seit ein paar Stunden dunkel. Eva Kulitz war von ihrem Besuch bei der Polizei zurückgekehrt und saß mit ihrer Tochter in der Küche.

»Unsere Familie hat übrigens wirklich eine seltsame Geschichte«, sagte sie, um über etwas anderes zu sprechen als das Schreckliche, was passiert war. Sie war verschreckt, wollte aber Linn nicht beunruhigen.

Ihre Tochter saß auf der anderen Seite des Küchentischs und umschloss einen Becher warmen Glögg mit beiden Händen. Draußen war es bitterkalt, und ihre Wangen waren rosig von dem Spaziergang hierher. Obwohl Linn kein größeres Interesse für die Ahnenforschung ihrer Mutter zeigte, fuhr Eva doch fort: »Ich wurde zur gleichen Zeit geboren, als meine Großmutter Mary ihren letzten Atemzug tat. Ihr letzter Atemzug wurde sozusagen mein erster, wenn man es poetisch ausdrücken will. Ganz so war es allerdings nicht, ich wurde ungefähr nämlich eine Woche vor ihrem Tod geboren. Am 20.Januar 1967 wurde sie im Fluss Svartån gefunden. Vielleicht habe ich in dem Moment einen Teil ihrer Seele übernommen.«

Linn lachte und schüttelte sich ihr lockiges blondes Haar aus dem Gesicht. Ihre Augen waren ungewöhnlich blau, sie hatte einen leichten Silberblick und Grübchen in den Wangen. »Jetzt klingst du aber dramatisch, Mama.«

»Es war dramatisch. Die Polizei hatte immerhin den Verdacht, dass es sich um Mord gehandelt haben könnte, aber der Fall ist nie aufgeklärt worden. Meine Großmutter wurde wahrscheinlich überfallen und von hinten niedergeschlagen. Die Mordwaffe könnte ein Hammer gewesen sein. Dann wurde sie in den Fluss geworfen. Sie ist also nicht ertrunken. Die Polizei hat nie einen Täter gefunden und auch kein Motiv. Man spekulierte, ob sie vielleicht rückwärts gestürzt war, sich den Kopf an irgendetwas aufgeschlagen hatte und dann so verwirrt gewesen war, dass sie in den Fluss ging.« Eva schüttelte den Kopf über diese Behauptung. »Ich finde, das klingt sehr weit hergeholt. Mary war zu der Zeit in der Psychiatrie und hatte Ausgang, soweit ich weiß«, sagte sie und griff nach einem weiteren Pfefferkuchen. »Sie war erst 43 Jahre alt, als sie starb, acht Jahre jünger als ich jetzt bin, und auf den Fotos sieht sie aus wie eine alte Frau mit einem Schal um den Kopf, schlecht sitzenden Kleidern und vergammelten Zähnen.«

»Wie läuft es denn so in der Ahnenforschungsgruppe?«, fragte Linn, da sie das Thema nun doch nicht umschiffen konnte.

»Im Moment sprechen wir über DNA. Man kann einen Abstrich machen lassen und erfahren, mit wem von den Menschen, die registriert sind und eine Analyse haben machen lassen, man wahrscheinlich verwandt ist. Signe und Hilding in meiner Gruppe haben das gemacht.«

Linn verdrehte die Augen und lächelte. »Bist du sicher, dass du das wissen willst? Was, wenn wir mit einem Vergewaltiger oder einem Mörder oder irgendeinem gruseligen Steuerbetrüger verwandt sind?«

»Jeder muss für seine Handlungen einstehen«, sagte Eva. Sie schenkte noch etwas Glögg nach und reichte ihrer Tochter die Schale mit Safranwindbeuteln, die sie während des Mittagsschlafs der kleinen Daga gebacken hatte.

Linn nahm ein Stück Gebäck und legte den Kopf etwas schief. »Wenn ich Seherin wäre und nicht Psychologin, dann hätte ich dich jetzt gefragt: Was denkst du über die Seele deiner Großmutter? Was hast du in diesem letzten Atemzug von Mary bekommen?«

»Vielleicht ist es das, was ich zu verstehen versuche. Wer war sie, oder wer hätte sie sein können, wenn sie ihr Leben so hätte leben dürfen, wie sie wollte? Irgendwoher muss die Musikalität in unserer Familie ja kommen. Ich habe in meiner ganzen Jugendzeit Gesangsstunden genommen und mehrere Stipendien bekommen, auch wenn es nicht zu einer musikalischen Karriere geführt hat. Und du spielst so schön Cello, dass die Engel weinen. Mein Vater war völlig taub, was Töne anging, von der Seite kommt es also nicht. Dein Vater war auch nicht gerade musikalisch.« Eva merkte, dass Linn ihr nicht mehr zuhörte. Stattdessen starrte sie aus dem Fenster, als hätte sie ein Gespenst gesehen.

»Was ist denn, Linn? Ist etwas passiert?«

Linn drehte sich wieder zu Eva und sah auf. »Ich dachte, da draußen würde jemand stehen und zu uns hineinstarren. Aber vielleicht bin ich auch nur überdreht, als Psychologin trifft man eben den einen oder anderen Verrückten.« Sie lachte bemüht und versuchte ein Lächeln. »Vergiss es. Ich bin einfach ein bisschen gestresst. Bei der Arbeit ist es gerade sehr viel. Als ich meine Praxis eröffnet habe, hätte ich nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, finanziell über die Runden zu kommen. Dabei habe ich mehr Patienten, als ich bewältigen kann, und einige von ihnen sind sehr – extrovertiert.«

»Möchtest du darüber sprechen?«

»Momentan ist der schwierigste Fall eine Frau mit einer komplexen Form der Persönlichkeitsstörung: Borderline mit einem Einschlag von antisozialem Verhalten und Narzissmus. Sie ist spielsüchtig und hat sich finanziell komplett ruiniert. Im Moment ist sie krankgeschrieben, weil sie sich von fast allen schon Geld geliehen hat und daher nicht mehr zur Arbeit gehen kann. Ihre eigene Verantwortung in alldem vermag sie überhaupt nicht zu erkennen. Die wirtschaftliche Katastrophe beruht ihrer Meinung nach auf Pech und den Fehlern anderer. Sie sieht alles nur in Schwarz und Weiß und hasst alle möglichen Menschen. In ihrer Jugend hatte sie eine Phase, in der sie sich selbst verletzt hat.«

»Das klingt anstrengend.«

»Ja. Dann habe ich noch eine andere Klientin, eine Frau, die gerade Mutter geworden ist und fürchtet, sie könnte ihr Kind verletzen. Sie glaubt, sie würde verrückt werden und das Baby aus dem Fenster werfen oder erstechen. Sie hat alle scharfen Gegenstände im Haus entsorgt und Riegel mit Schloss an die Fenster gemacht. Meiner Ansicht nach handelt es sich um Zwangsgedanken. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie ihr Kind wirklich verletzen würde, aber manchmal klingen ihre neurotischen Fantasien gefährlich realistisch.«

»Es ist sehr mutig von ihr, dir das zu erzählen«, meinte Eva. »Aber ich verstehe, dass es dich belastet.«

Linn nickte und fuhr fort: »Und dann habe ich eine ältere Frau, die von schweren Schuldgefühlen geplagt wird. Das hat sich zu einer sozialen Phobie entwickelt – sie isoliert sich, will niemanden treffen und weigert sich, die Pflegehilfe reinzulassen. Die Tochter begleitet sie jedes Mal zu mir in die Praxis. Die alte Dame hat Ende der Sechzigerjahre als Krankenschwester in Västra Mark gearbeitet. Eigentlich müsste sie ganz dringend erzählen, was ihr dort passiert ist, doch das kann sie nicht. Sie ist verletzlich, und ich kann keinen Druck auf sie ausüben, sondern sie nur bestärken und ermuntern, es sich von der Seele zu reden.«

»In Västra Mark? So hieß die Anstalt, in der meine Großmutter war. Vielleicht hat deine Klientin sie ja getroffen.« Eva sah ihre Tochter einen Moment lang forschend an. »Aber es ist nicht nur die Arbeit, oder, Linn? Wie geht es euch denn zu Hause?«

Linn kniff die Augen zusammen und schüttelte sich ein wenig. Man sah, dass sie sich überwinden musste auszusprechen, was sie auf dem Herzen hatte. »Ich denke über Trennung nach. So geht es jedenfalls nicht weiter. Man könnte ja meinen, dass ich als Psychologin eine Strategie hätte, um den Konflikt zu lösen, in dem Joar und ich gelandet sind, aber das funktioniert nicht. Ich halte es nicht aus, wenn er mich anfasst, weil ich so wütend auf ihn bin, und doch sehne ich mich nach Nähe. Sehne mich danach, dass es wieder so wird wie früher. Komisch, oder?«

»Seit ihr hierhergezogen seid, habe ich schon bemerkt, dass es zwischen euch nicht so gut läuft. Was ist eigentlich das Problem?«

Eva nahm an, dass es um Geld ging. Joar arbeitete als Künstler und goss Skulpturen in Beton – schwer zu vermittelnde, eigentümliche Sachen mit Einschlüssen von grünen und braunen Glasflaschen. Nur leider verkaufte er niemals etwas. Die Miete des Schuppens, in dem er arbeitete, kostete fünftausend Kronen im Monat, doch im Grunde verdiente er nichts und verbrachte die meiste Zeit vor dem Computer, um Inspirationen für neue Kunstwerke zu finden … wie er sagte.

Linn seufzte laut. »Eigentlich ist nichts Großartiges passiert. Kein besonderes Ereignis. Es sind all die kleinen ärgerlichen Momente, die zu einem Berg angewachsen sind. Das Übliche. Er sitzt wie angeklebt vorm Computer. Ich erinnere ihn daran, dass er an der Reihe ist, die Spülmaschine auszuräumen. Er bleibt vorm Computer sitzen. Ich erinnere ihn noch mal. Er seufzt und verdreht die Augen und wird wütend. Ich koche Abendessen. Er nimmt seinen Teller, lässt mich am Küchentisch sitzen und setzt sich an den Computer und spielt diese verdammten Spiele. Ganze Nächte verbringt er damit und würde den ganzen Tag verschlafen, wenn ich ihn nicht aus dem Bett zwingen würde, bevor ich zur Arbeit gehe. Er seufzt. Ich bin wütend und enttäuscht. Er seufzt wieder und räumt die Spülmaschine aus, nachdem ich ihn angeschrien habe. Wenn er es getan hat, dann ist er stolz über seinen Einsatz und erwartet, dass ich froh und dankbar bin. Aber die Arbeitsfläche ist nicht abgewischt, auf dem Herd ist das Kartoffelwasser festgebrannt, der Tisch ist voller Krümel, und unter Dagas Stuhl liegen lauter Essensreste. Das Küchenpapier ist aus, weil er das letzte Blatt genommen und es nicht ersetzt hat, der Müll quillt über, und er sieht es nicht. Er glaubt, wir würden gleichberechtigt leben. Obwohl er sagt, dass er mich liebt, nutzt er mich aus, indem er den Hilflosen spielt. Das ärgert mich, und dann werde ich wütend, aber ich halte es nicht aus, jedes Mal zu meckern oder noch mehr Wutausbrüche zu kriegen. Ich wende meinen Zorn nach innen und habe keine Lust mehr auf Sex und merke, wie ich anfange, ihn zu verachten. Ein bisschen mehr mit jedem Mal.«

»Habt ihr darüber schon mal richtig geredet?«, fragte Eva und spürte, wie der Ärger sie überkam. Sie biss sich auf die Zunge, um nicht rundheraus zu sagen, welche Meinung sie von ihrem Schwiegersohn hatte.

»Es gibt keinen Raum für Gespräche, solange er vom Computer besessen ist. Ich weiß, was ich zu mir selbst sagen würde, wenn ich meine Klientin wäre. Es gibt nur zwei Alternativen: akzeptieren oder gehen. Im Moment sammle ich Kraft, um ihm zu sagen, dass ich die Trennung will. Und gleichzeitig habe ich Angst, wie er es schaffen soll, sich um Daga zu kümmern, wenn wir ein geteiltes Sorgerecht haben. Das ist es hauptsächlich, was mich zurückhält. Er merkt nicht, wenn es an der Zeit ist, die Windeln zu wechseln, und schert sich überhaupt nicht um Dagas Sicherheit. Er lässt Zigarettenkippen und seine Schlaftabletten rumliegen und seine Weingläser irgendwo stehen, obwohl sie da rankommen kann. Ich wage es nicht, ihn mit unserem Kind allein zu lassen.

Außerdem glaube ich nicht, dass er sich auf gute Weise um Daga kümmern würde, weil er dafür zu egozentrisch ist. Nichts darf beschwerlich sein. Solange sie süß ist, knuddelt er mit ihr, aber sowie etwas von ihm verlangt wird, entzieht er sich. Ich will das alleinige Sorgerecht, aber ein Sorgerechtsstreit kann unglaublich schmutzig und widerlich sein. Ich glaube, er merkt, dass der Bruch bevorsteht. In der letzten Zeit hat er angefangen, gemeine Sachen zu sagen. So was wie, dass ich langweilig und hässlich bin und er leicht jemand anders finden kann, wenn ich keinen Sex mit ihm haben will. Und er weigert sich zu sagen, wohin er geht, wenn er abhaut.«

Eva war erschüttert von dem, was sie da hörte. »Glaubst du, er hat eine andere? Dass er das hier provoziert, damit du die Sache in die Hand nimmst und Schluss machst? Das ist auch nicht ungewöhnlich.«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Alles geht den Bach runter, Mama, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Denn auch wenn das krank klingt, liebe ich ihn doch, oder zumindest liebe ich die Idee, die wir zu Anfang von einem gemeinsamen Leben hatten. Ich wusste nur nicht, dass ich … dass ich gezwungen sein würde, die gesamte Verantwortung für unsere Beziehung und unsere kleine Familie zu übernehmen.« Linn schloss die Augen und wirkte, als würde sie die Tränen unterdrücken.

Eva stand auf und ging um den Tisch herum, um ihr großes Mädchen zu umarmen. Sie wiegte sie im Arm, so wie damals, als sie noch klein gewesen war. Ohne Worte, die das Recht verkleinern würden, einfach nur zu weinen und Verzweiflung zu empfinden. Nur die Umarmung einer Mutter.

Linn griff nach einer Serviette und schnäuzte sich. »Glaubst du, du könntest dich morgen Abend um Daga kümmern? Ich habe einen Tisch in der Freimaurerloge gebucht. Joar und ich müssen reden. Wenn wir zu Hause sind, lässt er den Computer nicht aus dem Blick.«

»Ja, natürlich. Daga kann hier übernachten, und dann bringe ich sie am Morgen in die Kita.«

»Danke, Mama. Was würde ich ohne dich tun?« Linn wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Wie war es eigentlich zwischen dir und Papa? Ihr habt doch auch gestritten. Meine ganze Jugend über habt ihr gestritten.«

»Ja, aber nicht über die Arbeitsteilung. Seine Mutter war Köchin, und wie du weißt, hat er es geliebt zu kochen, und ich hab’ das Putzen und die Wäsche übernommen. Er hatte ein gutes Auge dafür, was getan werden musste.«

»Worüber habt ihr dann gestritten?«, fragte Linn.

Eva hatte das Gefühl, dass Linn das Gespräch von ihren eigenen Sorgen ablenken wollte, dass sie nicht mehr über Joar sprechen mochte. Einen Moment lang verhandelte sie mit sich selbst und entschied dann, ganz ehrlich zu sein.

»Dein Vater und ich haben gestritten, weil ich dumm und ängstlich war. Ich konnte nicht darauf vertrauen, dass er mich liebte und bei mir bleiben würde. Die ganze Zeit habe ich nach Beweisen dafür gesucht, dass er mich im Stich lassen würde, und habe Strategien entworfen, wie ich damit fertigwerden würde. Ich habe schamlos geflirtet, um für den Fall, dass er mich verlassen würde, jemanden in Reserve zu haben. Aber er ist geblieben und hat mich bis zu seinem Tod geliebt. Stell dir vor, wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich nicht so viel unnötige Unruhe schaffen müssen. Ich wollte die Kontrolle haben, aber das Leben bringt keine Garantien mit sich.«

Linn hielt Eva weiterhin umarmt. »Na ja, dass deine Mutter alleinstehend war und gestorben ist, als du klein warst, sodass du in eine Pflegefamilie gekommen bist, war sicher nicht so einfach für dich. Dein mangelndes Vertrauen hat ganz klar damit zu tun, dass du deine Mutter, deine einzige Sicherheit, so früh verloren hast.«

Eva richtete sich auf und setzte sich wieder auf ihren Platz am Küchentisch. »Ich erinnere mich kaum an sie, und ich habe meine Pflegeeltern geliebt. Ich hätte es nicht besser treffen können.«

»Und trotzdem war diese Angst, verlassen zu werden, da. Hast du jemals darüber nachgedacht, eine Therapie zu machen?«

Ein Geräusch aus dem Schlafzimmer ließ Linn aufstehen. Daga war aufgewacht, und Eva blieb die Antwort auf die Frage erspart.

Ihre Tochter kam mit einer verschlafenen Daga im Arm wieder in die Küche und sah sich erstaunt um. Erst jetzt entdeckte sie, dass etwas fehlte.

»Wo ist der Katzenkorb und Tessans Schüssel?«, und nach einem weiteren prüfenden Blick fragte sie: »Was ist, Mama, warum siehst du so komisch aus?«

»Ein Verrückter hat meine Katze verstümmelt, sodass ich gezwungen war, zum Tierarzt zu fahren und sie einschläfern zu lassen. Ich werde bedroht.«

»Aber warum hast du nichts gesagt? Warum hast du das nicht sofort erzählt?«

3

Nachdem Linn und Daga nach Hause gefahren waren, ließ sich Eva wieder an den Küchentisch sinken. Sie war gezwungen gewesen zu erzählen, was mit der Katze passiert war, und Linn war natürlich sehr besorgt. Eva hatte ein schlechtes Gewissen, obwohl sie nichts dafürkonnte, dass ein Verrückter ihr Leben bedrohte. Es war nicht das erste und wahrscheinlich auch nicht das letzte Mal. Doch diesmal war es ernst. Das hatte Linn mit sehr besorgter Stimme gesagt. Wer ein Tier auf eine sadistische Weise tötete oder verletzte, war bereit, noch weiter zu gehen.

Rastlos drehte Eva eine Runde durch ihre Dreizimmerwohnung. Im Mietshaus war es still. Bisher hatte sie noch nie darüber nachgedacht, aber plötzlich fühlte es sich nicht mehr sicher an, im Erdgeschoss zu wohnen.

Es war Ironie des Schicksals, dass sie vom Wohnzimmerfenster aus den Wasserturm Svampen sehen konnte. Von der Spitze des Turms, 58 Meter über dem Boden, hatte sich ihre Mutter an einem Morgen im Mai 1971 zu Tode gestürzt. Sie hatte sich umgebracht, weil sie mit der Verantwortung für ein vierjähriges Mädchen alleine überfordert gewesen war. Als Grund war von einer unbehandelten postnatalen Depression die Rede gewesen. Gunilla musste zutiefst verzweifelt gewesen sein, keinen anderen Ausweg gesehen und wohl gedacht haben, es wäre besser für ihre kleine Tochter, wenn ihre Mutter aus ihrem Leben verschwand.

Eva zitterte am ganzen Leib, als ihre Fantasie quälende Bilder davon erschuf, wie der Körper der Mutter nach dem Sturz auf den Asphalt ausgesehen haben musste. Nein, sie durfte nicht daran denken. Sie versuchte, alle bösen Gedanken wegzuschieben und sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Aber eine Erinnerung von vor langer Zeit tauchte auf, der Gedanke an eine Szene, als Eva einen Mantel bei Gleißner & Åberg hatte kaufen wollen. Da war sie auf eine alte Arbeitskollegin von Gunilla gestoßen, die erzählte, dass Evas Mutter eigentlich immer hatte studieren wollen. Das wäre ihr sehnlichster Wunsch gewesen, doch es war kein Geld dafür da gewesen, und später war dann alles aus den Fugen geraten. Es hatte sich wie ein Schlag in die Magengrube angefühlt, als sie das erfuhr.

Eva setzte sich an den Computer und loggte sich bei Tinder ein. Drei Jahre war es her, seit ihr Mann an Krebs gestorben war, und vor einem Jahr hatte sie sich einen Account auf der Datingseite angelegt. Es war ein Trost, jemanden zu haben, mit dem man reden konnte, wenn sich abends die Stille wie eine Glasglocke über die Wohnung legte. Hier bekam sie die Bestätigung, dass sie auch mit 51 Jahren immer noch eine attraktive Frau war.

Auf diesem Weg hatte sie auch Lars kennengelernt, mit dem sie in den letzten Monaten zum Tanzen im Brunns-Park gegangen war. Er arbeitete beim Korvbrödsbagarn – einem Unternehmen in Örebro, das Hot-Dog-Buns herstellte – und war abends eigentlich immer müde. Lars liebte es, Anekdoten zu erzählen. In seiner letzten Chatnachricht hatte er über Henri Jansson geschrieben, der das Bäckereiunternehmen gegründet hatte. Er war in den Fünfzigerjahren zu allen Würstchenbuden gefahren und hatte gefragt, ob sie ihm die Wurst auch direkt im Brot servieren könnten. Auf diese Weise schuf er eine Nachfrage, und die Geschäfte nahmen Fahrt auf. Jetzt backten sie draußen in Lillån mit viel Erfolg Hot-Dog- und Hamburger-Buns.

Lars war im Moment nicht online. Doch hatte er eine Nachricht hinterlassen, in der er fragte, wie es ihr nach dem, was mit der Katze passiert war, ginge, und sie bat, sich zu melden, wenn sie Gesellschaft wolle. Im Moment hätte sie das gerne angenommen, wenn er verfügbar gewesen wäre. Auch wenn sie beschlossen hatte, die Männer, mit denen sie sich traf, nicht zu nah an sich herankommen zu lassen, war es heute doch belastend, allein zu sein. Niemandem außer Lars hatte sie ihre Telefonnummer überlassen, und nur er wusste, wo sie wohnte.

Abgesehen von Lars chattete sie noch mit vier anderen Männern. Der eine war Dan, der behauptete, er sei Bestatter, und der wahrscheinlich seine Frau betrog. Dann war da noch Mårten, der Fliesenleger, der sehr direkt zur Sache kam. Er wollte sie sehen und dann am liebsten in einer nahen Zukunft mit ihr zusammenziehen. Seine Frau hatte ihn vor zwei Wochen verlassen, und er konnte die Einsamkeit nicht ertragen. Mårtens Freunde hatten die Partei seiner Frau ergriffen, und er war sehr verbittert, besaß aber einen schwarzen Humor und einen intelligenten Sarkasmus, was sie ansprach. Dann war da noch Greger, der nicht ohne Talent gern Dirty Talk betrieb. Ansonsten war er ziemlich geheimniskrämerisch. Wahrscheinlich hieß er in Wirklichkeit nicht einmal Greger. Er behauptete, Wirtschaftsberater, ehemaliger Fallschirmjäger, Masseur und noch einiges mehr zu sein. Es war schwer, sich das alles zu merken. Natürlich glaubte sie ihm nicht, aber er war definitiv unterhaltsam. Und dann war da noch Malek, ein Mann um die fünfundzwanzig. Er arbeitete schwarz in einem Restaurant, vergötterte seine Mutter und spielte Fußball, sah aus wie ein Gott und verteilte Komplimente. Malek war in diesem Moment online und schrieb:

Du hast hübsche Augen. Ich mag schöne Augen, und der Rest von dir ist auch schön, meine Blume.

Sie plauderte eine Weile mit ihm, doch als die Konversation allzu aufdringlich wurde, sagte sie, nun müsse sie schlafen. Sie wollte sich auf keinen Fall richtig mit ihm treffen, weil Linn das Foto, das sie hochgeladen hatte, mit Photoshop bearbeitet hatte.

Stattdessen wechselte sie zu Dan, dem Bestatter, der sich unter keinen Umständen live mit ihr treffen wollte. Dan war klug und mit seinen Gedanken über Leben und Tod und alles, was dazwischen lag, intellektuell stimulierend. Zuletzt hatten sie über Ahnenforschung gesprochen und darüber, wie es sein konnte, dass man die Ängste seiner Eltern erbte. Er war gegen die DNA-Probe. Als er sah, dass sie online war, schrieb er:

Dan: Daran verdienen doch nur die Versicherungsunternehmen. Die können die Frage stellen, ob du deine DNA hast überprüfen lassen, und sich dann weigern, dich gegen Krankheiten zu versichern, die in der Familie liegen, oder die Prämie erhöhen, wenn das Risiko besteht, dass du vorzeitig Krebs oder einen Herzinfarkt kriegen könntest.

Eva: Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Der Kursleiter unserer Gruppe hat sich testen lassen und erfahren, dass er mit Gustav Wasa verwandt ist, dazu mit der Urmutter aus Dalarna, von der alle Ahnenforscher sprechen, und dann noch mit Oskar II.

Dan: Das klingt doch ziemlich ungenau. Ist es das Geld wert? Ich halte das eher für Betrug. Wahrscheinlich ist es auch ein bisschen so wie zum Beispiel Fakten in alten Kirchenbüchern zu finden.

Eva: Es kann natürlich Überraschungen geben, zum Beispiel dass man erfährt, einen anderen Vater zu haben als man geglaubt hat, oder Geschwister, von denen man nichts wusste.

Dan: Muss aufhören, meine Frau … du weißt. Wir sprechen uns. Bald.

Jetzt war Lars online, obwohl er eigentlich schon lange schlafen müsste, wenn er es schaffen wollte, um vier Uhr aufzustehen und in die Bäckerei zu fahren.

Lars: Wie geht es dir, Eva? Ich denke die ganze Zeit an dich und das Schreckliche mit der Katze.

Eva: Danke für deine Fürsorge. Der Tierarzt hat gefragt, ob ich Tessan begraben möchte, aber ich habe gesagt, sie sollen sie verbrennen. Ich habe keinen Garten, in dem ich sie beerdigen könnte, und ich weiß nicht, wie das läuft, wenn man eine Katze auf dem Tierfriedhof begräbt. Ich meine, ob es viel Geld kostet und man das Grab pflegen muss und so.

Lars: Vielleicht ist es besser so, dass der Tierarzt sich darum gekümmert hat. Wusstest du, dass der Tierfriedhof früher ein Hinrichtungsplatz war? Die letzte Hinrichtung dort fand Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Der Mann, der da hingerichtet wurde, hieß Stachel, und die Frau, die er mit einem Messer niedergestochen hatte, wurde Mücke genannt. »Stachel hat Mücke gestochen«, schrieb die Zeitung. Nun ja … das war eine wahre Begebenheit.

Eva: Nein, das wusste ich nicht. Können wir über etwas Schöneres reden?

Lars: Entschuldige, aber eine Sache wollte ich noch fragen. Hast du Anzeige bei der Polizei erstattet?

Eva: Ja, aber erst heute. Ich wollte erst mit den anderen im Büro sprechen. Ob sie etwas wissen. Die fanden auch, dass ich es anzeigen sollte. Ich habe mit einem Kriminalinspektor namens Bark gesprochen.

Lars: Gut!

Eva: Ja, und trotzdem fühle ich mich irgendwie nicht sicher. Ich wohne im Erdgeschoss und … nein, lass uns von etwas anderem reden. Diese Sorge macht mich fertig.

Lars: Ich verstehe, dass sich das schlimm anfühlt, aber ich möchte trotzdem fragen: Kommst du am Samstag mit zum Tanzen im Brunns-Park?

Eva: Vielleicht.

Lars: Morgen ist ja auch Tanz. Wenn du möchtest, hole ich dich ab. Ich werde dich nicht aus den Augen lassen. Wenn du mit mir zusammen bist, bist du sicher.

Eva: Nein, ich glaube, das schaffe ich nicht, Lars. Vielleicht ein andermal. Sagen wir mal, dass ich am Samstag mitkomme. Ich nehme den Bus hin, aber du darfst mich gerne nach Hause fahren, wenn du mit dem Auto da bist.

Eva loggte sich aus und fuhr den Computer herunter. Noch einmal ging sie zum Wohnzimmerfenster und starrte in die Dunkelheit, hinüber zu Svampen, der beleuchtet war. Inzwischen hatte die Dachterrasse einen Schutzzaun, um Selbstmordkandidaten davon abzuhalten, hinunterzuspringen. Sie überlegte, ob das ihre Mutter gehindert hätte. Da sie sich entschlossen hatte, hätte sie sich genauso gut vor einen Zug werfen können.

Eva ging zum Bücherregal und holte das Album heraus, in dem sie ein paar Fotos aus der Zeit aufbewahrte, bevor sie in ihre Pflegefamilie gekommen war. Evas Pflegeeltern wohnten in Borås, und sie fuhr mehrere Male im Jahr dorthin, um sie zu besuchen.

Das Fotoalbum hatte einen roten Stoffbezug, der abgenutzt und verschossen war. In dem Album gab es ein Schwarz-Weiß-Foto von ihrer Großmutter Mary als Teenager. Die Ähnlichkeit mit Linn war erstaunlich. Die hellen, in Korkenzieherlocken herunterhängenden Haare, die großen dunklen, von schwarzen Wimpern umrandeten Augen, der fröhliche Mund und die Grübchen. Der schlanke Körper, die gerade Haltung, in der sie – mit dem Herrensitz Karlslund im Hintergrund – vor dem Fotografen stand. Dann war da eine Fotografie von Mary mit einer Krankenschwester, die sehr viel jünger aussah als sie selbst, aus der Zeit in Västra Mark. Ein Saal mit vielen Webstühlen im Jahr 1944. Großmutters Haare waren kurz geschnitten, und Scham und Verzweiflung hatten sich bereits in ihr Gesicht eingegraben. Was für eine Diagnose hattest du, Großmutter? Warum haben sie dich eingesperrt? Eva wurde klar, dass sie tatsächlich keine Ahnung hatte.

Weiter vorne im Album fand sie ein Foto von ihrer Mutter Gunilla als Zweijährige mit einer Puppe im Arm. Direkt nachdem Mary sie in Västra Mark zur Welt gebracht hatte, war sie zur Adoption freigegeben und dann zwischen verschiedenen Pflegefamilien herumgereicht worden. Die ersten Fotos waren schwarz-weiß. Auf den Bildern aus den späten Sechzigerjahren war Gunillas Haar zu einer hohen Frisur mit Haarspangen auf beiden Seiten toupiert. Sie war schmal, an der Grenze zu mager, und ihr Lächeln wirkte traurig. Die Fotos aus den Siebzigerjahren waren vergilbte und verblasste Farbabzüge.

Eva blätterte weiter, doch ihre Gedanken gingen eigene Wege. Ihre Mutter Gunilla hatte nicht viel zu vererben gehabt, das meiste war wohl weggeworfen worden. Das Einzige, was Eva noch von ihr besaß, war eine alte Puppe, die bei den Pflegeeltern oben auf einem Schrank in einer Schachtel verwahrt worden war, damit das Kind sie nicht kaputt machte. Es war dieselbe Puppe wie auf dem Foto, das Gunilla als Zweijährige zeigte. Im Laufe der Jahre war die Puppe jedoch in Vergessenheit geraten, und Eva hatte sie erst von ihren Pflegeeltern bekommen, als sie von zu Hause ausgezogen war. In dem Zusammenhang erfuhr sie auch, dass die Puppe einmal ihrer Großmutter Mary gehört hatte und dass diese im Januar 1967 Ausgang bekommen hatte, um ihre Tochter zu besuchen. Während dieses Ausgangs war sie ermordet worden. Gunilla hatte gerade ein Kind bekommen, und Mary wollte ihr die Puppe zum Geschenk machen. Wahrscheinlich war sie so verarmt, dass sie nichts anderes zu geben hatte als ihr eigenes altes Spielzeug. Eva hatte die Puppe immer noch in einem Pappkarton im Schrank liegen, doch viele Jahre nicht mehr an sie gedacht.

Nun stand sie auf, holte den Karton vom obersten Brett im Schrank und setzte sich damit aufs Sofa. Der Deckel war verstaubt. Das Kleid der Puppe war ausgeblichen und schmutzig und roch schwach nach Mottenpulver. Die Puppe selbst war aus einer Art Hartplastik mit einem glänzenden braun-beigen Hautton. Das Gesicht war immer noch süß, mit Rosenmund und blauen Schlafaugen, doch das blonde Haar war verfilzt. Der Kopf saß etwas schräg auf dem Körper, und man konnte ihn abschrauben, wie sie feststellte. Es sah aus, als wäre in der Puppe etwas drin. Vorsichtig zog Eva ein hauchdünnes Seidenpapier heraus. Auf dem Blatt, das sie vorsichtig auseinanderfaltete, stand etwas geschrieben:

Västra Mark, 6. August 1943

Liebes Tagebuch!

Heute muss ich die ganze Zeit weinen. Sie haben mir die Haare abgeschnitten, obwohl ich geweint und sie gebeten habe, das nicht zu tun. Meine langen Haare, auf die ich so stolz war. Alle hier in Västra Mark müssen das Haar auf Höhe der Ohren abgeschnitten tragen. Langes Haar sei unhygienisch, heißt es. Hier ist alles hygienisch. Sie waschen und fegen und wischen jede Ecke. Es ist verboten, sich zu schminken. Aber Alberta hat rotes Krepppapier gefunden, das sie nass macht und sich die Wangen damit anmalt. Wenn man auf Toilette geht, werden einem genau abgezählte Seidenpapierblätter zugeteilt. Einige haben sich Papilloten aus dem Seidenpapier gemacht, andere haben sich Zigaretten gerollt und sind erwischt worden, dafür werden dann alle bestraft. Rauchen ist verboten. Eitelkeit ist die schlimmste Sünde. Sie wollen die Gesellschaft vor uns schützen, vor unserer Unzucht und den niedrigen Begierden, die uns ins Verderben geführt haben. Außer dem Arzt und einem Wachmann gibt es keine Männer hier. Der Gärtnermeister ist durch eine Frau ersetzt worden. Briefe zu schreiben ist verboten, und es ist nicht einmal erlaubt, Stift und Papier zu besitzen, aber ich habe einen Bleistiftstummel gestohlen. Es gibt kein anderes Papier als das Toilettenpapier, auf dem man schreiben könnte, deshalb musst du, liebes Tagebuch, dich mit dem begnügen, was da ist.

Deine hingebungsvolle und sehr traurige Mary.

Eva fühlte, wie es in ihrem Bauch zog. Wenn ihre Großmutter Mary das hier geschrieben hatte, dann war dies der Schlüssel zu dem Schicksal, das ihr eigenes Leben geformt hatte. Sie schloss die Augen und spürte Marys Atemzug wie einen leichten Wind auf ihrem Gesicht.

4

Kristoffer Bark hatte nach der Arbeit geduscht und sich für das Abendessen mit seiner ehemaligen Therapeutin Mia Berger schick angezogen. Wie Champagner blubberte eine ruhelose Vorfreude auf den Abend in ihm. Sie würden sich um zwanzig Uhr im Restaurant Freimaurerloge treffen, wo es jetzt montags immer Jazzabende gab. Wie ein verirrter Geist wanderte er zwischen den Räumen in seiner Dreizimmerwohnung umher, die im Zentrum von Tybble, ein paar Kilometer von der Innenstadt entfernt lag.

Er trat auf den Balkon hinaus. Es schneite immer noch. Im Schein der Straßenlaternen sah er Kinder, die auf dem Hügel beim Spielplatz Schlitten fuhren, und spürte, wie die wohlbekannte Wehmut ihn überkam. Früher einmal war seine Tochter Vera auf diesem Hügel Schlitten gefahren, eingepackt in einen viel zu großen rosafarbenen Overall und mit einer weißen dicken Mütze auf den Ohren. Sie wollte unbedingt die Mütze aufziehen und keinen Helm. Er hatte Angst, dass sie mit einem der anderen Kinder zusammenstoßen und sich verletzen könnte. Oder dass sie Schnee ins Gesicht kriegen oder an den kleinen Händen frieren könnte.

Sie hatten heiße Schokolade mit Schlagsahne getrunken. Er hatte die Sahne in ihrem Becher zu einer Zwergenmütze geformt, und sie hatte vor Begeisterung ihr herrliches zwitscherndes Lachen gelacht. Wenn er da nur gewusst hätte, dass die Momente, in denen sie lachte, die kostbarsten waren, die das Leben zu bieten hatte! Vera lebte nicht mehr, und jeden Abend zündete er im Messingleuchter auf dem Küchentisch eine Kerze an, um mit ihr darüber zu reden, wie der Tag gewesen war. Manchmal hatte er schon geglaubt, ihre Stimme in seinem Kopf zu hören.

Als Vera Ostern 2013 verschwunden war, war er vor Unruhe und Sorge fast untergegangen. Und als er dann viel später herausgefunden hatte, dass sie ermordet worden war, hatte eine eisige Leere von seinem Leben Besitz ergriffen. Die Person, die sie getötet hatte, war eine verlorene Seele, die sich jetzt in psychiatrischem Gewahrsam befand. Veras Mutter, Ella, hatte ihren Schmerz mit Alkohol und Tabletten betäubt und hielt sich in einer Entzugsklinik auf, und obwohl sie schon vor Veras Tod seit vielen Jahren getrennt gewesen waren, bezahlte Kristoffer doch ihre Miete, damit ihre Wohnung nicht zwangsgeräumt wurde. Er hatte das Gefühl, er sei es Vera schuldig, sich um ihre Mutter zu kümmern.

Kristoffer ließ die Gedanken an die Vergangenheit los und stimmte sich auf den Abend mit Mia Berger ein. Das erste Mal, als er sie gesehen hatte, war an einem Karfreitagabend ebenfalls im Restaurant Freimaurerloge gewesen. Sie hatte am Tisch nebenan gesessen und allein zu Abend gegessen, und er hatte den Blick nicht von ihr wenden können. Die braunen, warm schimmernden Augen, der rote Mund und das Lächeln waren direkt in seine von Grund auf gefrorene Seele gedrungen, in der es viel zu lange keinen Platz für andere Gefühle als Pflichtbewusstsein und Weiterleben gegeben hatte. Als sie aufstand und mit graziösen Schritten durch das Lokal ging, sodass ihr das dunkelbraune Haar auf dem Rücken tanzte, war er völlig gebannt gewesen. Das Bild ihrer Erscheinung war ihm in jener Nacht nach Hause und bis in seine Träume gefolgt.

Es war ein Schock gewesen festzustellen, dass sie dann seine Therapeutin wurde. Er ging zu ihr, um über Gefühle zu sprechen, doch was er wirklich empfand, hatte er nicht erzählen können, um sie nicht zu verlieren. Doch heute Abend, jetzt, da die Therapie abgeschlossen war, würde er es vielleicht wagen, ihr sein Herz zu öffnen, wenn sie ihm die richtigen Signale sandte. Nein, nein – hier musste er seine wilden Gedanken zügeln, das waren nur Fantasien. Es war ihre Arbeit, zuzuhören, sie war dafür bezahlt worden. Für sie war er ein Klient unter vielen. Und doch … Nein! Er wischte den Gedanken fort, weil er ihm nach dem, in was er hineingeraten war, so unmöglich vorkam. Er hatte gelobt, sich niemals mehr mit einer Arbeitskollegin einzulassen, nicht einmal für eine Nacht, nicht nach dem Fehltritt mit Gaby.

Kristoffer zog sich zum zweiten Mal, seit er nach Hause gekommen war, ein anderes Hemd an. Der Verlauf dieses Abends fühlte sich lebensentscheidend an, denn es gab eine Sache, die er Mia der Ehrlichkeit halber gestehen musste, und das war in keiner Hinsicht einfach. Es ging um Gaby.