Puschkins Erben - Svetlana Lavochkina - E-Book

Puschkins Erben E-Book

Svetlana Lavochkina

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Beschreibung

Sommer 1820: Alexander Puschkin, auf dem Weg in die Verbannung, verliert beim euphorischen Bad im wilden Dnjepr bei Zaporoschje, einem langweiligen ukrainischen Nest, seinen wertvollen Türkisring und bekommt starkes Fieber. Neun Monate später gebärt die Wirtin des ihn beherbergenden Gasthauses ein Kind. 31. Dezember 1976, Zaporoschje: Die Familie Katz feiert in großer Runde Silvester, selbst die über Hemingway promovierende Alka hat den langen Weg aus Moskau auf sich genommen. Doch sie ist mal wieder enerviert ob der provinziellen Rückständigkeit ihrer Verwandten, einzig der schöne Schwarzmarktkaufmann Mark aus Odessa scheint sich abzuheben vom familiären Pöbel. Schließlich nutzt Möchtegernpoet Josik, Ehemann von Alkas Cousine Rita, die Gelegenheit, Mark seine große Entdeckung zu verkünden: Die Familie stammt vom berühmten russischen Dichter Alexander Puschkin ab!

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Seitenzahl: 405

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Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Die Verwendung einiger Begriffe im Text spiegelt nicht die Haltung des Verlages wider.

Originaltitel: Zap, erschienen bei Whiskey Tit, Vermont 2017

Verlag Voland & Quist, Berlin, Dresden und Leipzig, 2019

(c) der deutschen Ausgabe by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Kristina Wengorz

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

www.voland-quist.de

eISBN: 978-3-86391-248-2

Svetlana Lavochkina ist Autorin sowie Übersetzerin ukrainischer und russischer Lyrik. Geboren und aufgewachsen in der östlichen Ukraine, lebt sie heute mit ihrer Familie in Leipzig, wo sie als Lehrerin und Kolumnistin arbeitet. Lavochkina schreibt auf Englisch, ihre Texte wurden bisher in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien in den USA und Großbritannien veröffentlicht. 2013 wurde ihre Novelle Dam Duchess mit dem Pariser Literaturpreis ausgezeichnet. Der Roman Puschkins Erben, im Original Zap, stand 2015 auf der Shortlist vom Tibor Jones Pageturner Preis in London.

Diana Feuerbach ist Autorin und Übersetzerin, lebt in Leipzig. Die Absolventin des Deutschen Literaturinstituts hat zuvor in den USA studiert und gearbeitet. Darüber hinaus hat sie mehrfach die Ukraine und Russland bereist und sich in eigenen Texten mit der postsowjetischen Welt beschäftigt, etwa im 2014 erschienenen Roman Die Reise des Guy Nicholas Green (Osburg Verlag).

Sommer 1820: Alexander Puschkin, auf dem Weg in die Verbannung, verliert beim euphorischen Bad im wilden Dnjepr bei Zaporoschje, einem langweiligen ukrainischen Nest, seinen wertvollen Türkisring und bekommt starkes Fieber. Neun Monate später gebärt die Wirtin des ihn beherbergenden Gasthauses ein Kind. 31. Dezember 1976, Zaporoschje: Die Familie Katz feiert in großer Runde Silvester, selbst die über Hemingway promovierende Alka hat den langen Weg aus Moskau auf sich genommen. Doch sie ist mal wieder enerviert ob der provinziellen Rückständigkeit ihrer Verwandten, einzig der schöne Schwarzmarktkaufmann Mark aus Odessa scheint sich abzuheben vom familiären Pöbel. Schließlich nutzt Möchtegernpoet Josik, Ehemann von Alkas Cousine Rita, die Gelegenheit, Mark seine große Entdeckung mitzuteilen: Die Familie stammt vom berühmten russischen Dichter Alexander Puschkin ab!

Für meine Eltern Bella und Michael Lavochkin

Selten nur fliegt ein Vogel bis über die Mitte des Dnjepr.Dieser Gewaltige! Kein Fluß der Erde kommt ihm gleich.

Nikolai Gogol

Inhalt

I Ein kleiner Türkis geht verloren

Kapitel 1

II Moskau–Odessa, Schnellzug 95

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

III Geniale Gene

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

IV Süß und salzig

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Quellenangaben

I

Ein kleiner Türkis geht verloren

1

Sommer 1820

Aus vollem Halse gähnend, öffnete der russische Dichter Alexander Puschkin mit seinen manikürten Fingern, an denen die Ringe leise klimperten, den schweren Brokatvorhang. Seine weißen Seidenhosen aus Paris, der Mode letzter Schrei, und die rote Rubaschka – ein Bauernhemd aus grobem Leinen, passend zu seinem derzeitigen Rang als Rebell – waren schmutzig und verknittert von der bereits eine Woche währenden Reise. Es war der Tag der Sommersonnenwende.

»Diese verdammte ukrainische Sonne wagt es, mich schon im Morgengrauen zu blenden«, sagte Puschkin, wie immer mürrisch beim Aufwachen.

»Das kommt davon, dass es Eurer Exzellenz gefallen hat, wieder bis zum Mittag zu schlafen«, murmelte der alte Leibeigene Nikita auf der gegenüberliegenden Sitzbank der Kutsche in seinen Bart.

Seine Majestät Alexander I. war gnädiger gewesen, als man es erwarten durfte von einem Monarchen: Er hatte sich dazu herabgelassen, das Flehen seines Reichshistoriografen Karamsin zu erhören und Puschkin ans Schwarze Meer zu verbannen, ins warme Odessa. Der junge Lackaffe hatte für seine boshaften Epigramme über hochrangige Hofleute und sogar den Zaren selbst eigentlich Sibirien verdient.

»Das Schwarze Meer wird ihm die Gockellaunen austreiben und ihn weit fortspülen von Sankt Petersburg und den Gezeiten der Geschichte«, sprach der Reichshistoriograf. »Es ist unsere Pflicht, das Teufelsblut in seinen Adern in die richtige Bahn zu lenken – immerhin war sein Urgroßvater der Lieblingsmohr von Zar Peter dem Großen.« Der Historiograf, in der russischen »Tabelle der Ränge« zur Rangklasse drei zählend, verneigte sich über Gebühr bis zur Erde, als wäre er von dreimal niedrigerem Rang, um seinem Gesuch Nachdruck zu verleihen. Es stimmte, dass Puschkin auch ihn, den liebevollen Mentor, nicht verschont hatte. Das Epigramm Dein sirupsüßes Ziegenmeckern ist Tyrannenlob schmerzte noch wie eine frisch empfangene Wunde. Trotzdem war Karamsin ein gütiger, ehrenwerter Mann, klug genug, seinen Einfluss bei Hofe darauf zu verwenden, Puschkin nicht in der tödlichen sibirischen Kälte krepieren zu lassen. Er wusste seit Langem, dass das Talent seines Zöglings sein eigenes weit übertraf und dass seine einzige Chance auf einen Platz in der Geschichte darin bestand, sich zum Retter und Wohltäter des künftigen Shakespeares der russischen Literatur, des künftigen Mozarts der russischen Poesie aufzuschwingen.

»Was für ein charakterloser Mensch Sie doch sind, Karamsin«, bemerkte Seine Hoheit mit einem Achselzucken. »Er spuckt Ihnen ins Gesicht, Sie wischen drüber und verhätscheln ihn weiter. Aber schön, es sei, wie Sie wünschen. Falls er vollends auf die schiefe Bahn gerät, ist es Ihre Schuld.« Höchstpersönlich schrieb Alexander I. die »Erlaubnis des Zaren für die Reise nach Odessa« in Puschkins Pass.

»Noch eine bescheidene Bitte, Eure Majestät«, sagte der Historiograf und wurde dabei puterrot. »Es wäre der Gipfel Eurer Gnade, Puschkin ein wenig Geld für unterwegs mitzugeben … Ich fürchte, er hat sich beim Glücksspiel ruiniert.«

Puschkin belegte in der imperialen Rangtabelle den zehnten von vierzehn Rängen: Kollegiensekretär. Dies berechtigte ihn zu einem steuerfinanzierten Dreigespann für seine Kutsche. Auf frische Pferde würde er unterwegs allerdings warten müssen, denn zuerst wurden staatliche Postkutschen und Beamte höheren Ranges versorgt.

Die Kutsche schaffte nur siebzig Werst am Tag. Die Wälder Weißrusslands, in deren dichtem Tannenpelz bisweilen Elche den Weg versperrten und Eichhörnchen aufs Kutschendach sprangen, um mit ihrem Schwanz über die Fenster zu fegen, wichen endlich der Steppe: kahl und bleich wie Packpapier, heiß wie ein Ofen und so staubig, dass man niesen musste. Hier und da war die graue Wüste mit lilafarbenen Disteln und Federgräsern gesprenkelt.

»Noch so ein unbedeutendes Nest«, brummte Puschkin und presste seine lange Nase an die Scheibe. »Wie heißt es diesmal?«

»Zaporoschje, Eure Exzellenz«, antwortete Nikita.

An der lustlosen Straße, unter müden Pappeln, standen wacklige Häuslein. Sie lugten hervor wie die faulen Zähne eines alten Mannes. Auf dem Dorfplatz jagte ein Hahn, dem der Kamm übers Auge hing, in gemächlichem Tempo eine Henne, darauf vertrauend, dass sie sich keine große Mühe geben würde, allzu schnell davonzurennen. Auf den Zäunen hing Kochgeschirr, als hätte man abgeschlagene Köpfe auf Latten gesteckt. Von den Ställen wehte ungeduldiges Wiehern herüber.

An einer Straßenecke hockte eine Zigeunerfamilie mit ihren Fiedeln und Gitarren. Die Zigeuner waren so geschwächt von der Hitze, dass sie selbst die vorbeifahrende Kutsche eines Adligen, voller Verheißung auf einen Verdienst, nicht auf die Beine brachte. Die Frauen fächelten sich mit ihren übereinander getragenen Röcken Luft zu, die Männer entblößten ihre gelockte Brust.

»Diese Gegend gleicht dir aufs Haar. Hast du nicht zur Abwechslung mal eine andere?«, jammerte Puschkin.

»Ihr schaut aus dem falschen Fenster, Eure Exzellenz«, sagte der Leibeigene Nikita.

Alexander Sergejewitsch Puschkin rutschte auf die andere Seite der Sitzbank. Das in Leder gebundene Versepos Childe Harolds Pilgerfahrt von George Gordon Byron fiel von seinem Schoß zu Boden.

Die Trauerweiden lächelten matt. Das Gras, sanft wie Lammwolle, stand voller weicher, scheuer Kornblumen. Die nächste Sakkade erfasste ein steiles Ufer: ein Spiegel so breit wie ein Leben, das blaueste Blau des Dnjepr, ein Fluss wie aus einer anderen Welt. Nun glaubte Puschkin den Geschichten Gogols, jenes verrückten ukrainischen Schriftstellers, der jedes Mal vor seiner Tür stand, wenn Puschkin gerade ein Nickerchen machen wollte oder wenn er Damen empfing, egal, ob adlige oder gewöhnliche. Selten nur fliegt ein Vogel bis über die Mitte des Dnjepr. Es konnte auch kein Schiff segeln in seiner Mitte. Scharfe Stromschnellen, umtost von reißenden Fluten, machten den Fluss unbefahrbar.

»Waaahnsinn!«, schrie Puschkin über die Köpfe der Pferde hinweg. Die Tiere bremsten so heftig ab, dass Nikita mit dem Kopf an das Kutschendach stieß und der Kutscher vorn auf dem Bock, von einer Staubwolke verschluckt, einen dreistöckigen Fluch ausstieß.

Als Puschkin ausgestiegen war, entledigte er sich seiner Stiefel aus spanischem Leder und riss sich Dutzende Ringe von den Fingern: Rubin, Smaragd, Karneol, Amethyst, Türkis … eine Handvoll Geschenke von diversen Gräfinnen, die Seine Exzellenz nun dem Leibeigenen Nikita entgegenschleuderte. »Lies sie wieder auf, alter Hund, und Gott bewahre, falls du einen einzigen Ring verlierst.« Dann riss er sich die rote Rubaschka vom Leib, gefolgt von den maßgeschneiderten Pariser Hosen, die so viel gekostet hatten, wie ein Leibeigener in einem ganzen Jahr verdiente. Er knüllte die Kleider zusammen und warf sie Nikita hin. In seiner dunklen, geschmeidigen Nacktheit, knapp eins fünfzig groß, mit zierlichen Füßen, sprang der Dichter mit dem kompaktesten Körperbau der Welt kurz entschlossen ins Wasser, in die »brennend kalte Bestie von einem Fluss!«. Im Uferstaub suchte Nikita nach den Ringen. »Böses Blut, teuflisches Blut, dämlicher Mohr!«

Puschkin durchsteppte den Dnjepr mit kräftigen Kraulzügen. Er näherte sich einer Stromschnelle, wurde abgedrängt von der Strömung, wieder und wieder, hielt aber hartnäckig weiterhin auf einen finsteren Felsen zu.

»Den Rubin hab ich, den Karneol auch … Smaragd, Amethyst … alle da. Aber wo zur Hölle ist der Türkis?«, grummelte Nikita am Ufer und steckte sich die im Staub aufgelesenen Ringe, einen nach dem anderen, an seine rheumatischen Finger. Keinen konnte er höher schieben als bis zum ersten Gelenk.

Alexander Sergejewitsch meisterte eine große Stromschnelle und kletterte die warmen Klippen hoch. Er lag auf dem grauen Granit wie ein glückliches Kruzifix, keuchend von der Anstrengung: Die Arme mit den hüpfenden Bizepsen ausgebreitet, presste er seine dunklen Pobacken auf den rauen Stein. Wasser tropfte aus seinen dichten Wimpern. Sein Hodensack zog sich zusammen; das Schamhaar stand hoch wie Igelstacheln.

»Dnjepr, du schwangere Wölfin!«, rief Puschkin. »Du bist voller ertrunkener Kosaken, gesunkener Türkenschiffe und riesiger Welse! Alle, alle schlummern in deinem gefräßigen Blaubauch. Mir aber hast du deinen steinernen Nippel geschenkt, an mir hast du Gefallen gefunden, das weiß ich.«

Die Flusswellen stiegen empor, königlich, indigoblau, und senkten sich wieder, leicht, blaugrün, ehe sie in himmelszartem Schaum zu des Dichters Füßen brachen. Über ihm stand müdes Himmelsblau, bleich gebrannt von der verdammten ukrainischen Sonne.

»Dnjepr, du launische Braut! Du kannst ruhig an meiner Brust wüten und meinen Spatz zausen, ihn beißen mit deiner Kälte. All das macht mich nur stärker. In hundert Jahren aber, wenn der letzte Zar tot ist, werden dich die gewaltigen Kiefer und Zähne eines riesigen Wassermahlwerks bezwingen, und eine Stadt, schön und groß genug für eine Million Seelen, wird aus deinem Schoß herausspritzen! Nikita, alter Narr, bin ich nicht prachtvoll anzusehen?«

»Schwimmt lieber zurück, Eure zähe Exzellenz, oder Ihr holt Euch das Fieber und sterbt im Frühling Eures Lebens! Was soll ich dann Ihrer Durchlaucht, Eurem Vater, sagen?«

Puschkin drehte sich auf den Bauch und presste seine gesamte Vorderseite an den Fels. Herz und Lenden wurden eins mit den Stromschnellen, der nasse Backenbart rieb den rauen Stein. Als die ukrainische Sonne ihn genug gebrutzelt hatte, sprang der Dichter wieder ins Wasser und schwamm an Land.

»Du hast ja keine Ahnung, altes Wildschwein, wie es sich anfühlt, einen sauberen Körper in dreckige Kleider zu stecken«, sagte er zu Nikita, der ihm die rote Rubaschka hinhielt, damit er hineinschlüpfe. Angewidert schnüffelte er an den Achseln des Hemdes. »Du weißt ja nicht mal, was es heißt, sich zu waschen.«

»Eure unfaire Exzellenz sollten mich nicht beleidigen. Gehe ich nicht schon mein Lebtag jedes Weihnachten in die russische Banja? Wie ein Heiliger lasse ich mir den leibeigenen Dreck mit Birkenreisern abklopfen«, sagte der gekränkte Nikita mit einem Kopfschütteln und gab seinem Herrn die Ringe zurück, einen nach dem anderen.

»Dummkopf! Du denkst, ich merke es nicht, wenn du einen dünnen Ring mit einem winzigen Türkis verlierst!« Puschkin packte Nikita am Frackkragen. »Die Scheiß-Gräfin Woronzowa hat ihn mir geschenkt und dazu Diamanttränen an meiner Brust geweint, als wir uns verabschiedet haben. Lass mich raten, Scheusal – du hast ihn mir geklaut, um ihn heute Abend mit den Stallknechten zu verzocken!«

Die Herberge gehörte dem Juden Nahum Knoblauch und seiner fruchtbaren Frau Rosa mit ihrer Matrjoschkaherde. Knoblauch- und Zimtlocken, die jedem Kamm widerstanden. Die Frau war leichter entflammbar als Schießpulver, ihre Reize quollen aus dem Korsett. Der Ort war dermaßen provinziell, dass der Wirt noch eine gepuderte Perücke trug … in den Zwanzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts!

»Ich fürchte, Eure Exzellenz wird auf Ihre frische Troika warten müssen«, sagte Nahum und befahl seinem Stallknecht, erst einen staatlichen Postboten zu bedienen und dann einen armenischen Händler.

»Wenn ich schon warten muss und, wie es sich für einen Rebellen gehört, eine dreckige rote Rubaschka trage, so will ich in deiner Schenke zu Abend essen. Ich werde die ukrainischen Charaktere beobachten, von denen du dich ernährst«, sagte Puschkin.

»Eure edle Exzellenz«, bemerkte Nahum, »im Stall könntet Ihr noch viel mehr Eindrücke sammeln.«

»Werd nicht frech, Jude. Und mach flott, ich hab Hunger.«

Die Hühnerbrühe schmeckte meisterlich, die Käseknödel noch besser. Rosa, die Frau des Juden, servierte sie mit viel Schwung. Sie beugte sich über Puschkin in ihrem kurvenreichen Unterrock, der allerdings so undurchsichtig war wie eine Rüstung. Auf dem Kopf trug sie ein graues Haarnetz.

Augenblicklich sehnte sich Alexander Sergejewitsch nicht mehr nach Bœuf Stroganoff aus dampfenden Schüsseln, nach Foie gras oder dem berühmten, sündhaft teuren Oliviersalat, der in Sankt Petersburg unter den schwingenden Kronleuchtern des Talon serviert wurde. Die Kinder des Juden schwirrten wie Fliegen um den alten Holztisch. Puschkin strich ihnen über die Köpfe, ein Zeichen volksnaher Zärtlichkeit. Die Wirtin neckte er mit der Beschreibung eines fabelhaften Schweinskoteletts von der Farbe ihrer Wangen. Er kippte ein Glas Horilka, roten Pfefferschnaps, mit derselben Leichtigkeit wie Veuve-ClicquotChampagner zum Sonntagsfrühstück.

Die Zigeuner, wiederauferstanden nach Sonnenuntergang, spähten zum Kneipenfenster herein. Dünne, klagende Melodien ertönten von ihren Fiedeln. Eine nackte Frauenschulter schimmerte durch die Scheibe.

»Dieser Betrüger von einem Leutnant, letzte Nacht in Mogilew!«, sagte Puschkin, die Backen voller Buchweizenhonigkuchen. »Hätte ich nicht zweihundert Rubel beim Poker verloren, könnte ich jetzt diese sinnliche Schönheit des Südens einladen, damit sie ihre Nomadinnenliebe an mich verschwendet.«

Ein dicker und ein dünner Kosake betraten die Gaststube. Sie trugen weiße Hemden mit Stickereien und türkische, mit Seide gesäumte Schalwars, die sie dem abgereisten armenischen Händler zu Wucherpreisen abgekauft hatten. Bei den Kosaken galt es als ungehörig, sich auf seine Kleider etwas einzubilden, deshalb pflegten sie teure Seide absichtlich mit Teer zu beschmieren.

Die Köpfe der beiden Männer waren kahl wie Eier, mit einer aus dem Schädeldach wachsenden Strähne, die man »Heringsschwanz« nannte. Der dicke Kosake hatte seinen Heringsschwanz um das linke Ohr geschlungen, von dort über den Nacken gezogen und noch einmal um das rechte Ohr gelegt. Der Heringsschwanz des dünnen Kosaken hing nur bis zur Schulter, doch er kringelte sich wie die Locke einer Gräfin.

Die beiden waren der übelste und unehrenhafteste Rest des kühnen ukrainischen Kriegervolkes. Ihre Kleider wurden mühelos schmutzig, ohne jedes Zutun des Trägers. Der russische Zar hatte die Kosaken nach Osten verbannt, denn sie waren ein widerliches Volk, zu freiheitsliebend und grausam. Bevor sie sich auf den Weg machten, hatten viele von ihnen ihre Schätze vergraben – Raubgut aus den Türkenkriegen. Es hieß, die Hügel am Dnjepr seien voller Goldmünzen und juwelenbesetzter Musketen.

»Wollt wohl wieder nach Schätzen graben, miese Plünderer«, begrüßte sie Nahum.

»Halt’s Maul und gib mir ein großes Glas Horilka, Jude«, verlangte der fette Kosake Nikolai.

»Mir auch«, sagte der dünne Petro, der schon stark schwankte. »Heute ist unsere letzte Nacht in der alten Heimat, unserem Mütterchen.«

»Nein, keinen Schnaps mehr für Petro, Jude. Er hat sich heute schon fürchterlich besoffen. Los, erzähl mal, was du gesehen hast!«

»Einen nackten schwarzen Teufel in unserem Dnjepr, auf unserem Fels. Er hat seinen Schwanz gezeigt«, sagte Petro, »unserem Dorf den Arsch zugedreht und den Stein gefickt!«

Der Jude Nahum schürzte die Lippen und ging in die Küche, um den Horilka zu holen. Dabei murmelte er etwas Deftiges in seinem Jiddisch.

»Mutter Gottes, behüte uns vor solchem Abschaum! Ich schwöre beim Heiligen Geist, ich hab den Teufel gesehen«, beteuerte Petro. Seine Augäpfel zuckten von der schrecklichen Vision. »Er hat Gott gelästert und widerliche Ketzereien gebrüllt.«

»Was, dummer Ochse, hat er denn gesagt?«

»Er hat unseren heiligen Fluss mit höllischen Flüchen belegt, die ich nicht verstehen konnte.«

Puschkin, unbemerkt geblieben in seiner Rubaschka, erhob sich von seinem Tisch. Er spreizte sich über die Anrichte und machte eindeutige Bewegungen mit seinem Hintern. Die Gläser in der Anrichte schepperten.

»Dnjepr, du schwangere Wölfin!«, heulte er. »War es so, dünner Kosake?«

Die Männer sprangen vor Schreck auf und ließen den Horilka stehen, ungetrunken und unbezahlt.

»Ich muss Eure Hoheit bitten, meine guten Möbel nicht zu entehren«, sagte der Jude Nahum streng. »Ihr bezahlt mir auf der Stelle das kaputte Glas. Und hört auf, meine Kunden zu erschrecken!«

»Schon gut«, lachte Puschkin. »Ich entschädige dich.« Er zog ein großes Goldmedaillon aus seiner französischen Hose. »Gefällt dir das? Ein Geschenk von Mademoiselle de Mignon persönlich. Stell dir vor, wie erstaunlich meine Manneskraft gewesen sein muss, dass die beste Kurtisane von Sankt Petersburg mir eine Locke schenkt.«

Nahum taxierte das Medaillon mit angeekelter Miene. »Für Hurenhaar ist kein Platz in diesem anständigen Haus. Nicht einmal, wenn es in Gold gefasst ist.«

»In diesem Judenhaus spukt es«, keuchte Petro, als sie weit genug weg waren. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht hineingehen?«

»Tut mir leid, Kumpel, ich hab’s nicht geglaubt. Ich dachte, du bist besoffen und übergeschnappt.«

»Gott mit uns, Satan mit ihnen!«, fluchte Petro.

»Haltet euch fern«, sagte er zu der Gruppe Zigeuner, »das ist ein Bordell für Teufel und Itzigs.«

Die Zigeunerin lachte aus voller Brust. Ihre Röcke wirbelten in der Dunkelheit.

»Was redest du mit der, die ist selbst eine Hure des Teufels«, sagte Nikolai.

Sie gingen zum Dnjepr. Die von Gott geschaffene Nacht senkte sich in einem zarten Schleier aus Mondlicht herab. Einträchtig kräuselten sich die Fluten. Sogar der verruchte Vielfraßfels ruhte schläfrig und friedlich. Das Wasser gluckste träge um ihn herum. Ein Romantik liebendes oder vom Fusel beduseltes Auge hätte mit Sicherheit kleine Goldkosaken erspäht, die auf tänzelnden Silberpferden entlang der Ufergefilde ritten.

Endlich setzten sie sich nieder, ihre Fingernägel schwärzer als die schwarze Erde, unter einer alten Eiche, die in grauer Vorzeit schon Stämme von Skythen und Mongolen hatte vorbeiziehen sehen. Jeder der kräftigen Äste erinnerte sich noch daran, wie er zum ersten Mal die Last eines Seiles mit einem Menschenkörper daran gespürt hatte. Könnte man alle Gehängten durch das Dickicht der Zeitalter sehen, wäre die Eiche ein Weihnachtsbaum aus der Hölle, geschmückt mit Kriegern verschiedenster militärischer Dienstgrade und mit Weibsbildern, deren Haare in allen Farben leuchteten.

Die beiden Männer starrten den Mond an und hätten ihn durchaus auch anheulen können.

»Diese Mistkerle müssen verdammt schlau gewesen sein. Ich weiß, dass die Erde hier zum Bersten voll ist mit Schätzen, aber wir finden rein gar nichts!«, jammerte der Kosake Petro. »Kosake Kupa hat eine ganze Fuhre Schmuck irgendwo in der Nähe vergraben, das weiß ich genau. Er führt uns an der Nase herum. Immer erwischen wir die falsche Stelle!«

»Hör mal, es ist eine Sünde, dass wir nach den Schätzen unserer Verwandten graben, solange der Staub ihre Spuren noch nicht bedeckt. Außerdem haben sie ihre Schätze natürlich mit Flüchen belegt, mit furchtbaren uralten Zaubersprüchen.«

»Weißt du was?«, sagte Petro. »Wenn wir heute Nacht schon leer ausgehen, so lass uns selbst einen Schatz herstellen und in der Erde vergraben. Sind wir etwa schlechter als die anderen? In dreißig Jahren können unsere Kinder dann herkommen und den Schatz wieder ausgraben.«

»Haha, und sie werden nur einen Scheißdreck finden! Los geht’s!«

»Ich gebe meinen bestickten Gürtel. Hab ich dem Armenier etwa keine fünf Rubel dafür bezahlt? Aber was, Schwachkopf, willst du beisteuern? Ein Stück von deinem Heringsschwanz?«

»Du hast deinen ja abgeschnitten, blöd wie du bist. Ich aber hab meinen zehn Jahre wachsen lassen!«

»Siehst du, deshalb ist er ein Schatz.«

»Guck mal dort! Was zur Hölle ist das?« Nikolai zeigte ins Gras, wo etwas scheu glänzte.

»Ein Ring! Halt ihn mal ins Mondlicht!«

»Mann, das ist echter Schmuck! Feinstes Gold! Und ein Türkis! Aber winzig klein, wie eine Laus! Der würde meiner Braut nicht mal am kleinen Finger passen!«

»Und meiner nicht mal an einem einzigen Haar ihres Zopfs!«

»Es wäre sogar peinlich, ihn dem Juden Nahum zu verkaufen. Oder ihn nach Osten mitzunehmen.«

»Besser, wir vergraben ihn hier – unser Juwel, unseren Schatz. Jetzt sind wir wirklich nicht mehr schlechter als die anderen.«

Sie formten einen kleinen Erdhaufen und legten einen Stein darauf, groß wie ein Pferdekopf.

»Jetzt den Furcht einflößenden Fluch. Kennst du welche?«

»Wir denken uns einen aus.«

Kosake Nikolai zog eine Ahle aus seinem Schalwar und begann in kyrillischer Keilschrift zu kratzen. Die Worte diktierte er sich selbst; Petro half mit der einen oder anderen Formulierung. Verstoßene, die sie waren, konnten sie doch lesen und schreiben.

Wer diesen Schatz findet, ist eine Schweineschnauze, ein Stutenarsch, ein ungetaufter Hund, eine Schlangengeburt, ein Krampf in meinem Schwanz … Was der Teufel scheißt, musst Du fressen! Rühr diesen Schatz an, und Deine Eier sollen platzen, und Deine Mutter soll im Arsch sein! Dafür küss meinen Kosakenarsch.

»Wieso hast du dreimal Arsch geschrieben?«, fragte Petro schüchtern. »Du hättest auch Kehrseite oder Hinterteil schreiben können, dann wäre der Fluch besser.«

»Halt’s Maul, halbes Hemd. Wofür hältst du dich – König Salomon?«, erwiderte Nikolai. »Ein geschnitzter Arsch kann nicht furzen.«

Die Kosaken beendeten ihre Arbeit unter der Eiche und nahmen noch einen Schluck aus ihrem Horilka-Fläschchen. Die Wiese drehte sich vor ihren Augen, im Uhrzeigersinn und dagegen. Die Männer torkelten über das Gras und um andere Bäume. Sie beschimpften und verfluchten einander, bis sie ein paar Meter von der Eiche, zwischen einer Weide und einer Linde, zu Boden fielen und einschliefen.

Eine Zigeunerin tanzte im Wirbelschwung in die Taverne. Klimpernde Ketten, Salbeistrauch in den Achselhöhlen. »Huhu, Eure Exzellenz!«, girrte sie. »Ihr braucht mir kein Geld zu geben, Ihr habt sowieso keins. Aber ich will Euch berühren, Euch, den Unsterblichen, den Auserwählten! Welch zarte Hand, welch aristokratische Hand … die Lebenslinie so tief, so kurz! In hundert Jahren wird Euer Name anstelle von Gottes Namen erklingen. Wo wir jetzt stehen, wird ein großer Platz sein, nach Euch benannt, mit Euch aus Granit geformt in der Mitte. Kühles Brunnenwasser wird Eure französischen Granithosen netzen.«

»Erzähl mir noch mehr solcher Wahrheiten«, sagte Alexander Sergejewitsch freundlich und umfasste mit seiner Hand die entblößte Brust der Zigeunerin. Die Hausherrin Rosa drehte gleichgültig den Hahn auf. Aus dem Samowar floss bronzefarbener Tee in eine dünne Porzellantasse, deren Goldrand halb abgeblättert war.

»Hütet Euch vor Huren, Eure Exzellenz! Sie sind Euer Ruin. Eure künftige Ehefrau ist sehr sexy. Ihr werdet sterben für sie, dabei kennt sie keine einzige Zeile aus Euren Gedichten.«

»Zwischen Sodom und Gomorrha, zwischen Itzig und Neger«, lachte der Leibeigene Nikita um Mitternacht in der Dienstbotenkammer.

»Und Zigeunerabschaum obendrauf«, sagte der ukrainische Stallknecht und füllte die Gläser zum fünften Mal mit Selbstgebranntem. Nikita wünschte, er hätte den kleinen Türkisring nicht verloren, sondern eingesteckt, wie sein Herr es vermutete. Damit wäre er beim Durakspielen auf der sicheren Seite gewesen. Seine Exzellenz war aufbrausend, wurde aber schnell wieder friedlich: ein paar leichte Schläge, und die Sache war erledigt. Nun aber büßte Nikita seinen Frack ein. Der verfluchte ukrainische Mond bescherte ihm keine Trümpfe. Den Horilka spülte Nikita mit dünnem, modrigem Tee hinunter.

Puschkin saß auf dem gemachten Bett. Das Bettzeug war so gut wie weiß. Er hatte sein Etui geöffnet, in dem ein makellos weißer Gänsekiel und ein Tintenfässchen steckten. Dazu hatte er einen Stapel cremefarbenen Papiers vor sich liegen. Als Aufwärmübung vor dem Niederschreiben von Versen zeichnete der Dichter ein wenig: sich selbst auf der Klippe, eindeutig nackt, die Wirtin in ihrer undurchsichtigen Weiblichkeit, die Zigeunerin mit schimmernder Schulter, zwei erschrockene Kosaken und zwei Schnörkel, die man nicht lesen konnte. Dann schrieb er: Frankreichs Grab, das blut’ge Waterloo!

Europa war noch immer tief beeindruckt von Napoleon. Jedes zweite Gedicht handelte von ihm, Hass und Bewunderung verschlangen einander binnen Verslänge, von Britannien bis nach Sibirien. Knapp eins fünfzig groß, mit zierlichen Füßen, der kompakteste Tyrann der Welt.

Plötzlich färbten sich die Buchstaben vor Puschkins Augen rot. Sie sprangen vom Papier, die Schnörkel schnitten Grimassen. »George Gordon, Lord Byron, Ihr steht heute Nacht mit Eurem Klumpfuß auf meinen Versen«, murmelte Alexander Sergejewitsch. Er knüllte das Blatt zusammen und warf es unter den Tisch.

Als der Leibeigene Nikita weit nach Mitternacht zurückkehrte, roch er das Unglück sofort. »Mein edler Herr, mein zäher Herr ist krank! Der Fluss straft ihn mit Fieber!«, schrie er und rannte mit seiner Kerze ins Schlafzimmer der Wirtsleute.

Rosa zog einen Mantel über ihr Nachthemd. Erschreckend kahl ohne ihr Haarnetz stieg sie gähnend über ihren schnarchenden Gatten, watete zwischen den auf dem Boden schlafenden Kindern hindurch und schlurfte los, um einen Eimer Wasser, ein paar Lumpen und eine Flasche Essig zu holen.

Der Dichter lag auf der Bettdecke, die Glieder von sich gestreckt wie ein Seestern. Das Kissen lag auf dem Boden, auf der knurrenden Brust klebte Schweiß.

»Ein Eichbaum ragt am Meeresstrande.

An goldner Kette festgemacht,

kreist rund um seinen Stamm im Sande

ein weiser Kater Tag und Nacht.«

»Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst schreiben lernen, elender Nichtsnutz!«, stöhnte Puschkin mit geschlossenen Augen. »Nun werden diese kostbaren Verse in den Muschelschalen des Dnjepr verschwinden, in der verfluchten Ödnis der ukrainischen Steppe.«

»Ich kenne ein heilendes Gebet, falls du nicht willst, dass er stirbt«, sagte die Wirtsfrau zu Nikita. »Aber ein Goj-Sklave darf es nicht hören. Du musst mich mit Seiner Exzellenz allein lassen.«

»Ich hol deinen Mann, du heidnische Schlampe!«

»Viel Glück, den kriegst du vor morgen früh nicht wach«, spottete Rosa. Die Wände des Gasthauses bebten friedlich von Nahums Schnarchen.

Das Auge am Schlüsselloch, das Ohr an der Tür, konnte Nikita nichts erkennen außer den Armen der Frau und ihrem schwingenden Kleid. Ein schauderhaftes Gebet quoll durch das Schlüsselloch wie beißender Klangrauch.

»Schöne Jüdin, schöne Jüdin«, stöhnte Puschkin in seinem Delirium.

»Guckt mich an, kleine Schnorrer!« Kosake Nikolai drohte mit seinem stummligen Zeigefinger. Seine Söhne, ein halbes Dutzend, lagen auf Strohsäcken zwischen dem Reisegepäck. Alle Jungen waren kahl geschoren bis auf die Mini-Heringe am Haarwirbel, die sie um ihre Finger zwirbelten. »In dieser letzten Nacht auf unserer mütterlichen Schwarzerde verrate ich euch ein schreckliches, aber überaus nützliches Geheimnis. Es geht um unseren Familienschatz. Unter einem Lindenbaum bei einem Felsen am Ufer des Dnjepr … Ach, nein, es war eine Weide. Also gleich gegenüber von der Vielfraßklippe liegt der Schatz vergraben, beschützt von einem furchtbaren Fluch. Wenn ihr vierzig Jahre alt seid, könnt ihr hierher zurückkommen und euch die Geschenke holen, die euer kühner Vater für euch in der Erde ließ. Auch wenn ihr sie nicht verdient, dort unter jener Weide liegen sie.«

»Also ist es nun eine Weide oder eine Linde, Väterchen?«, fragte einer der Jungen, sein Heringsschwänzchen über den Kopf haltend wie eine Suchrute.

»Wo zum Teufel ist der Unterschied? Ihr verwechselt ja sogar Heu mit Stroh«, sagte Nikolai und brach sich beinahe die Hand, weil der Hintern seines Sohnes so knochig war.

»Ich wüsste zu gern, wo der bestickte Gürtel ist, für den du unser letztes Geld verschwendest hat, als du ihn dem armenischen Sauhund abgekauft hast«, schimpfte Nikolais fette Frau und bedrohte seinen Solarplexus mit einer geballten zum Austeilen bereiten Faust. »Wie ich sehe, ist dein Wanst neun Monate schwanger. Wollen wir ihn ein bisschen flacher machen?«

»Weide oder Linde, Weide oder Linde, du Scheusal?«, skandierte Petros Frau zwei Hütten weiter, ihren dürren Gatten zwischen den Knien. Hilflos wand er sich zwischen den Schlägen, die sie ihm mit ihrem meterlangen, schwarzen Schiffstau von einem Zopf verpasste, wie immer, wenn sie ihm eine Lektion erteilte.

»Weide oder Linde, Weide oder Linde?«, wiederholten ihre kleinen Zwillinge mit frühreifem Rhythmusgefühl.

Es war Hochsommer, als der Reichshistoriograf Karamsin, unterwegs nach Odessa, Puschkin rein zufällig fand. Der Dichter fieberte noch immer. Die Waden in Essiglumpen gewickelt, hatte er noch dasselbe »schöne Jüdin, schöne Jüdin« auf den Lippen.

Der Leibeigene Nikita, rotzbesoffen, fiel Karamsin vor die Füße. Er verwechselte ihn mit Puschkins Vater. »Es tut mir leid, Eure Senior-Exzellenz Puschkin, dass ich nicht besser aufgepasst habe auf Euren Sohn. Aber Ihr liebt seinen Bruder sowieso mehr.«

Der Reichshistoriograf beglich Puschkins Schulden für Kost und Logis. Mithilfe des Wirts, der froh war, den Gast endlich los zu sein, und unter den sehnsuchtsvollen Blicken Rosas wurde Puschkin mit Lappen, die man in Brunnenwasser getränkt hatte, so gut wie sauber gewischt. Man zog ihm ein frisch gestärktes Hemd mit holländischer Spitze an, aus der persönlichen Garderobe des Reichshistoriografen. Seine Arme hingen schlapp an ihm herunter, an den Fingern steckten die verblassten Edelsteine. Nur der kleine Türkis fehlte. Man trug den Dichter in die Kutsche. Ein Dutzend ausgeruhte, wohlgenährte, lebhafte Rösser waren angeschirrt, wie es sich für einen Adligen des dritten Ranges der Tabelle ziemte. Mit fröhlichem Gebimmel setzte sich die Kutsche in Bewegung. Die knackigen, weißen Pferdeärsche bombardierten die staubige Straße mit dampfenden Äpfeln. Puschkin wurde entlang der Fluten des Dnjepr zum Schwarzen Meer getragen, der Genesung entgegen, auf zu neuen Juwelen, zu tollkühnen Hengsten, neuen Schulden, neuen Meilen von Jamben und Trochäen, auf zu neuen Gräfinnen und schließlich zur schönsten Ehefrau Russlands, bei deren Anblick sogar dem Zar der Schweiß auf die Stirn trat – jene Gattin, die Kostümbälle mehr liebte als Bücher und deren Ehre Puschkin das Leben kostete: eine übermütige Kugel, empfangen mit siebenunddreißig beim Duell.

»Falscher Gockel in meinem Stall! Hast du geglaubt, bei einem halbschwarzen Goj merke ich nichts?«, fragte Ehemann Nahum seine allzu fruchtbare Frau an einem kalten Märzmorgen und verpasste ihr einen kräftigen Schlag ins Genick. Die schöne Jüdin drehte sich weg, an der Brust ihren neugeborenen Sohn, seine Haut einen winzigen Hauch dunkler als der vertraute Knoblauchton der Familie.

II

Moskau–Odessa, Schnellzug 95

1

31. Dezember 1976

Alka zog den Kattunvorhang auf. Links im Stoff wellte sich der Rote Platz, rechts das Schwarze Meer. Moskau–Odessa. Der Schnellzug 95 hatte die ersten einhundert Schneekilometer zurückgelegt.

Entlang der Schienen rannten Schwärme von Fichten und Birken, um die letzten mageren Sonnenstrahlen zu fangen. Der Waggon Nummer 9 gehörte zur ersten Klasse: ein Schlafwagen mit nur zwei Betten pro Abteil, bezogen mit rotem Samt, der weiche Polster formte, nicht schlechter als die Sitze im Bolschoi-Theater. Der rote Teppich auf dem Boden war nahezu sauber, und der aktive Wortschatz der Schaffnerin beinhaltete »bitte« und »selbstverständlich«. Manchmal benutzte sie die Wörter sogar.

In der ersten Stunde der Fahrt saß Alka mit fest zusammengepressten Beinen, ihren Reisegenossen missmutig musternd. Ihre linke Hand entfernte sich nie zu weit von ihrem Schoß. Die Mutter hatte das Portemonnaie in Alkas Schlüpfer eingenäht – eine Vorsichtsmaßnahme gegen Raubüberfälle im Zug.

Alkas Mitfahrer war ein großer, Furcht einflößender Armenier Mitte fünfzig mit widerwärtigem Gesicht, pechschwarzen Augenbrauen und scharf konturierten, dunklen Lippen, über die ein grau gesprenkelter Schnurrbart hing. Sein Mantel aus teurem Bisampelz hing an einem Haken hinter ihm. Das dichte Haar auf seinem Kopf erweckte nicht den Eindruck, als ob es bald ausgehen würde. Während der ersten Stunde hatte der Mann Alka keines Blickes gewürdigt. Er hatte sie beim Einsteigen in Moskau auch nicht gegrüßt. Er starrte die gegenüberliegende Wand an, als befände er sich in tiefer Meditation. Dann ging er hinaus und ließ die Tür zufallen.

Alka öffnete ihre Tasche. Ernest Hemingways The Sun Also Rises, original und ungekürzt, die Scribner’s Ausgabe von 1970, gekauft in der Buchhandlung für Internationale Literatur am Kalinin-Prospekt. Ihr Vater hatte Alka die fünfzehn Rubel für das Buch gegeben. Sie mochte das Titelbild: ein öliger, orangefarbener Eierkuchen als Sonne, dazu zerzauste spanische Wolken und gefurchte Hügel in verschiedenen Grüntönen, ein wärmender Anblick im russischen Winter.

Alka arbeitete an ihrer Dissertation mit dem Titel Verfall und Kritik als Keimzellen des Sozialistischen Realismus und Klassenbewusstseins in Hemingways Helden. Ihr hölzernes Englisch reichte, um der Romanhandlung folgen zu können, doch es gab zu viele Wörter, die sie nicht kannte. Das war nicht anders zu erwarten in Anbetracht von Universitätsprofessoren, die nie einem lebenden englischen Muttersprachler begegnet waren, nicht einmal am Moskauer Institut für Pädagogik. Zum Glück hatte die Zeitschrift für ausländische Literatur kürzlich eine Übersetzung des Romans veröffentlicht, sodass Alka in der Hauptsache die russische Version lesen konnte und nur hin und wieder im kostbaren Original nachschlug. Diese Übersetzung hatte, um ehrlich zu sein, den Ausschlag gegeben für die Wahl ihres Dissertationsthemas. Sie hätte ebenso Updike oder Joyce wählen können, aber die waren noch nicht auf Russisch erschienen. Sie legte die Zeitschrift für ausländische Literatur neben das elegante Original und ließ ihren kritischen Geist in Sherlock-Holmes-Manier walten.

Pernod ist ein grünlicher Absinthersatz. Wenn man Wasser zugießt, wird er milchig. Er schmeckt wie Lakritzensaft, pulvert einen kolossal auf, aber man fällt auch genauso schnell wieder ab.

Lakritze hatte Alka bislang nur einmal probiert, als kleines Mädchen, und es hatte scheußlich geschmeckt. Lakritze stand ohnehin ganz unten in der Hierarchie sowjetischer Süßigkeiten.

»Die dekadenten Trinkgewohnheiten in den kapitalistischen Ländern führen unter anderem dazu, dass dem Alkohol verfallene Schriftsteller nicht in langen Sätzen schreiben können. Stummeltext, Spiegelbild geschrumpfter Hirnmasse und schwachsinnigen Denkens«, schrieb Alka in Schönschrift, die Spitze des Kugelschreibers in ein dickes Notizheft pressend, das ihr Vater als Geschenk von einer DDR-Delegation erhalten hatte, die seine Fabrik besuchte. Es war doch schick, fand sie, so »vor sich hinzuarbeiten an der Dissertation, unterwegs im Zug, ins freiwillige Exil«, wie sie es für sich selbst formulierte.

Schade, dass dieser Satz nicht zum Thema der Doktorarbeit passte. Doch seine kluge Prägnanz gefiel Alka so gut, dass sie ihn unbedingt verwenden wollte, in irgendeinem Absatz gegen Ende der Abhandlung. Sie war neunundzwanzig Jahre alt und gehörte zu den fleißigsten Doktorandinnen Moskaus. Eine akademische Laufbahn brachte Vorteile; sie ersparte Alka die Erniedrigung, vor einer Klasse pubertierender Rüpel stehen zu müssen. Zurzeit war sie als Assistentin in einem Sprachlabor tätig, wo sie mehr mit Tonbändern aus den Dreißigerjahren als mit Menschen in Kontakt kam. Jedoch hatte die kilometerlange, aristokratische Abdankungsrede von König Edward VII. ebenso wenig auf ihre eigene Phonetik abgefärbt wie die Received Pronounciation von Henry Higgins.

Alka klemmte den Stift in die Mitte des Notizhefts und betrachtete ihre Handschrift mit tiefer Befriedigung. Dann fuhr sie sich mit den Fingern durch ihr dschungeldichtes Haar, das man afrikanisch hätte nennen können, wäre es nicht schreiend rot gewesen. Nicht einmal der beste Friseur Moskaus konnte diese Mähne in eine kultivierte Form zwingen. Der in alle Richtungen abstehende Fitz erinnerte an ein Stachelschwein. Alka machte sich nicht viel Hoffnung in Bezug auf den »scharfen Kavalier aus Odessa«, der am Silvesterabend auf der Party ihres angeheirateten Cousins Josik erwartet wurde, wie ihre Mutter ihr verraten hatte. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Sie war nicht leicht an den Mann zu bringen, das wusste Alka selbst.

Was Zaporoschje anging, war sie einerseits ganz einer Meinung mit dem Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin: »Zap – der Blinddarm der Welt!« Andererseits, gestand sie sich zögerlich ein, ließ sie sich gern umsorgen von den hinterwäldlerischen Verwandten, die sich dort um sie scharten. Es war ihre Mission, ein wenig Licht in die Kleinstadttristesse dieser Leute zu bringen. Schließlich war sie von Kopf bis Fuß gebildet. Rita, ihre Zap-Cousine, hing ihr bei jedem Besuch an den Lippen.

Dieser Cousine, einer liebenswerten Deppin, brachte Alka gewöhnlich als Zeichen kultureller Wohltätigkeit etwas aus Moskau mit. Letztes Jahr war es eine Schallplatte von ABBA gewesen, die Alka für zwanzig Rubel, die natürlich von ihrem Vater stammten, einem kubanischen Kommilitonen abgekauft hatte. Ernesto hatte ihr sehr gefallen.

Wenn es um Männer ging, besaß Alka einen erlesenen Geschmack: dunkelhaarig und stark mussten sie sein, gute Manieren und feine Gesichtszüge mussten sie haben, ohne die mongoloide Verlängerung der Wangenknochen, mit der die meisten russischen Gesichter infiziert waren, was sie sofort disqualifizierte. Eine lebende Mischung aus Gregory Peck, Jack Nicholson und Clint Eastwood hätte unter Umständen Alkas Anforderungen genügen können. (Al Pacino und Dustin Hoffman waren von dieser Wunschmixtur ausgeschlossen, weil nicht groß genug.) Ehrlich gesagt traf Ernesto Alkas Geschmack nicht ganz, doch seine dunklen Haare und der insgesamt unrussische Typus regten sie zu Fantasien an. Mit einem verführerischen Havanna-Lächeln hatte Ernesto die zwanzig Rubel eingesteckt und Alka geheimnisvoll zugezwinkert. Seine Wimpern wuchsen dicht an dicht wie die Tannen in den Alleen des Alexandergartens, wo Alka und er vielleicht bald Hand in Hand spazieren würden.

In Anbetracht der Tatsache, dass Hemingway auf Kuba gelebt hatte, ähnelte Ernesto dem berühmten Schriftsteller ein wenig, auf eine eigentümliche Art. Die Übereinstimmung der Namen ließ sogar vermuten, dass Ernesto gut und gern Hemingways unehelicher Sohn sein konnte.

Ganz allein in ihrem Zimmer wartete Alka auf seinen Anruf und hörte dabei immer wieder die ABBA-Platte, die sonnigen Stimmen in Dance, King Kong Song, Waterloo, Hasta Mañana. Sie starrte die zwei lichtstrahlenden Frauen auf dem Cover an, besonders die blonde, deren glattes Haar friedlich um die Schultern floss, ihren in der Farbe electric blue engelhaft leuchtenden Overall und ihre hohen, goldenen Stiefel (selbst in Moskau war es leichter, zum Mond zu fliegen, als goldene Stiefel zu finden).

Voller Schuldgefühle versuchte Alkas Vater, Ersatz zu beschaffen. Er kaufte ihr drei italienische Meisterwerke aus Kalbsleder: schwarz, braun und dunkelgrün. Die Eltern hatten striktes Zutrittsverbot zum Zimmer der Tochter, wo Alka stundenlang zu den ABBA-Songs tanzte, in wilder, schamloser Manier, wie sie es auf den abendlichen Tanzveranstaltungen des Pädagogischen Instituts niemals wagen würde.

Ihre Eltern bewunderten sie, während Alka ihre Mutter für eine primitive Glucke hielt. Sie verübelte ihr besonders, dass sie die leicht hervortretenden Augen von ihr geerbt hatte. Nathan Chaimowitsch Katz, respektierter Direktor der Moskauer Fabrik für Schuhcreme, kommunizierte mit seiner Tochter am liebsten in der Rubel-Sprache. Alkas einschüchternde Blicke erinnerten ihn allzu gut daran, dass er außer den verschiedenen Rezepturen für Schuhcreme nichts wusste. Wenn er in angeheitertem Zustand vergaß, dass er sich in Alkas Gegenwart nicht über das Drama der Mischungsverhältnisse von Wachs, Talg und Leinsamen auslassen durfte, über die Komödie der Harze oder die Tragödie überdosierter Schwefelsäure, stand Alka voller Verachtung vom Tisch auf. Dabei vergaß sie gern, dass die verhasste Schuhcreme ihr den Studienplatz am Moskauer Institut für Pädagogik gesichert hatte, der zweitbesten Wahl nach der Universität Moskau – und genau dieses »Zweitbeste« schrie Alka ihrem Vater ins Gesicht, wenn ihr etwas nicht passte.

Drei Wochen lang musste sie warten, bis sie Ernesto wiedersah, in einer Nische des Haupteingangs zum Institut. Er erforschte gerade die Rundungen einer für ihre Dummheit bekannten Blondine von der Fakultät für Grundschullehrer. Alka wollte die Schallplatte entzweibrechen und in den Müllschlucker im Treppenhaus werfen, doch der Gedanke an den stinkenden Schlund verursachte ihr Brechreiz. Also nahm sie die unglückselige Scheibe mit nach Zap. Ein sündhaft teurer Luxusartikel für den guten Zweck – oh, wie stöhnte Cousine Rita vor Bewunderung! Arglos und drollig, wie sie war, versprach sie »Allotschka«, alle Lieder auswendig zu lernen.

2

Eingehüllt in den Geruch des Tambours, des zugigen, nach Teer, Klo und Seife stinkenden Verbindungsteils zwischen den Waggons, betrat Alkas Mitreisender das Abteil und türmte sich vor ihr auf.

»Weißt du, wer ich bin?«, fragte er.

»Nein, leider nicht.« Alka sah erschrocken zu ihm hoch.

»Ich bin Arifón Armaïsowitsch Esaw-Yantz, Chefarzt für Gynäkologie und Geburtshilfe.«

Alka tat, als sei sie in ihre Lektüre und die Notizen für die Doktorarbeit vertieft.

»Vielleicht sollte ich dich, wo wir beide nun einen Tag und eine Nacht in diesem Zug verbringen und ich der beste Frauenarzt im Bezirk Zap bin, untersuchen? Wir machen einen Abstrich, testen auf Entzündung, Zervixerosion, Brustkrebs … Wir haben jede Menge Zeit zusammen, und alle meine Instrumente sind in dieser Tasche. Willst du sie sehen? Ich habe sie aus Moskau, brandneu und blitzblank. Schau dir mal dieses Spekulum an! Die Spreizung kann ich anpassen, je nach Mundform der Frau. Für dich passt die kleinste, glaub meinen dreißig Jahren Erfahrung.«

Alka ließ ihren Stift fallen.

»Ich werde in die Seele deines Schoßes sehen, und zwar besser als dein Liebhaber. Aber wahrscheinlich hast du gar keinen Liebhaber. Leg das Buch weg! Wir wollen uns deiner Gesundheit widmen, damit du kräftigen Nachwuchs hervorbringen kannst! Als Arzt muss ich dir leider sagen, Jungfer, dass deine Haare das einzig Starke an dir sind. Deine Gene, das verraten deine Gestalt und Gesichtsfarbe, müssen sich unbedingt mit armenischem Erbgut vermischen.«

»Betagter Bürger, Ihr Betragen ist inakzeptabel«, sagte Alka schließlich. »Mein Vater ist der Direktor der Moskauer Fabrik für Schuhcreme.«

»Wie du willst, Jungfer. Sich nicht untersuchen zu lassen, ist dumm und gefährlich. Dass du dir ständig zwischen die Beine fasst, ist ein Anzeichen für Pilze oder Fischfotze.«

Esaw-Yantz nahm die Zeitschrift Herold der ausländischen Frauenheilkunde zur Hand und begann, darin zu lesen, die Seiten mit dem Schnabel seines Spekulums umblätternd. Er nahm die topaktuellen medizinischen Neuigkeiten mit buddhistischem Gleichmut auf. Plötzlich warf er das Spekulum auf den Tisch und rief etwas wie »Dschi-Pott« oder »Jeans-Not«, Alka verstand ihn nicht richtig. Sein fetter Mittelfinger stach in die Luft.

»Befindet sich fünf bis acht Zentimeter tief in der vorderen Scheidenwand, zwischen Scheidenöffnung und Harnröhre. Stimulation führt bei allen Testpersonen zu multiplen Orgasmen. Merkwürdig, was diese Kapitalisten im Westen so alles entdecken. Und ganz ohne Medikamente! Zu blöd, dass dieser rote Stachelhering mir nicht helfen wird, die Sache zu überprüfen.«

Alka konnte sich in der Gesellschaft des Arztes nicht auf ihre Arbeit konzentrieren und holte stattdessen ihr Strickzeug hervor. Es war Abendbrotzeit. Esaw-Yantz stellte ein Glas mit Tabaka-Hähnchen auf den Tisch. Er klemmte ein Hühnerbein in sein Spekulum und begann, das Fleisch mit knackendem Kiefer zu verspeisen.

»Ich habe eine brave Ehefrau und eine heißblütige Geliebte. Oh, wenn du sie sehen könntest!«, berichtete er mit vollem Mund und zeichnete üppige Rundungen in die Luft. »Wenn mein Bruder in Moskau als Maler was taugen würde und nicht so ein hoffnungsloser Schmierfink wäre, würde ich ihn beide Frauen porträtieren lassen. Stell dir vor, wie sie sich beim Modellsitzen streiten würden! Haha! Ich habe ihm gesagt, er soll Breschnew und die anderen Parteibonzen malen. Aber nein, er bleibt bei seinem unverständlichen Kikeriki. Abstrakte Malerei! Puschkin sollte ihm den Arsch versohlen.«

Esaw-Yantz wischte sich die Finger an einer Serviette ab, ehe er erneut in seine bodenlose Tasche griff und ein zusammengelegtes Mieder aus Polyester auspackte, schwarz mit pinkfarbener Spitze an den Säumen und Strapsen. Made in France, stand auf dem Anhänger.

»Fünfzig Rubel für diesen hübschen Fummel, was sagst du dazu? Ich kann es kaum erwarten, ihn ihr anzuziehen und sofort wieder vom Leib zu reißen. Willst du ihn mal anprobieren? Nein, besser nicht, er würde an dir herunterhängen wie ein Sack. Ach, wie ich meine Geliebte vermisse! Wo ist sie nur, meine leckere Lende!«

Rote Flecken traten auf Alkas Gesicht, während sie darüber nachgrübelte, welche geistreich-beleidigende Antwort sie dem ungehobelten Doktor geben könnte. Doch die Wörter in ihr waren ein einziges Knäuel.

Schon wickelte Esaw-Yantz ein zweites Wäschestück aus: einen fallschirmgroßen, weißen Schlüpfer. Auf dem Etikett stand Made in German Democratic Republic.

»Der hier, Jungfer, ist für meine liebe Gattin. Ich sage dir, es war nicht leicht, die richtige Größe zu finden. Von einer guten Frau kann man nicht genug haben!«

Abgesehen von der enormen Größe besaß der Schlüpfer keinerlei Besonderheiten, denn »eine gute Ehefrau muss bescheiden und keusch sein«, wie Esaw-Yantz mit erhobenem Zeigefinger erklärte. »Ach, welche Mühen wir doch auf uns nehmen für unsere Lieben: zwei Stunden Schlange stehen – eine angesehene Persönlichkeit wie ich!«

Als der Doktor das dritte Hühnerbein in Angriff nahm, überlegte es sich Alka mit dem Stricken noch einmal anders und legte das Strickzeug zurück in den Koffer. Sie konnte unmöglich zulassen, dass die zarte Wolle das aufdringliche Aroma kaukasischer Gewürze annahm. Schlimm genug, dass ihr Hemingway in der druckfrischen Übersetzungsausgabe der Ausländischen Literatur schon zu riechen anfing.

Acht Hühnerbeine aß Esaw-Yantz zum Abendbrot. Eins nach dem anderen nagte er ab und stapelte die Knochen zu einer Baba-Jaga-Hütte.

»Exzellentes Hühnchen! Die Lorbeerblätter und der Knoblauch … in Tomatensaft und Massandrawein geköchelt … Der Chefkoch des besten armenischen Restaurants von Moskau hat es für mich zubereitet. Da, nimm den letzten Schenkel, du musst ein bisschen zunehmen.«

Alka senkte den Kopf und hielt sich die Nase zu. Der zobelbraune Schnurrbart von Esaw-Yantz färbte sich blutrot.

Die Schaffnerin brachte den Tee. Esaw-Yantz bat sie, das Spekulum abzuspülen und danach in kochendes Wasser zu tauchen.

»Sie sind Frauenarzt, Genosse?« Die Schaffnerin war angenehm überrascht.

»Jawohl, und ein hervorragender dazu.«

»Was für ein Glück! Könnten Sie mich vielleicht untersuchen, Genosse Doktor? Ich habe absolut keine Zeit, in die Poliklinik zu gehen.«

»Aber natürlich, Schätzchen, sobald ich meinen Tee getrunken habe.«

Esaw-Yantz nahm zwei Zuckerwürfel mit dem noch dampfenden Spekulum und löste sie im Tee auf, den Metallschnabel auf und ab bewegend.

»Jungfer«, wandte er sich wieder an Alka, »zum letzten Mal biete ich dir die Teilnahme an einem überaus bedeutenden medizinischen Experiment an. Hilf mir, die Theorie zu überprüfen, die in dieser grundseriösen Zeitschrift beschrieben wird. Ich schwöre bei meinen vierzehn Kindern und ihren acht Müttern: Es dauert nicht lange.«

Alka presste ihre Knie so fest wie möglich zusammen. Sie wünschte, sie hätte ein Telefon, um ihren Vater anzurufen oder die 02 (die Miliz), doch so etwas war 1976 noch Science-Fiction.

»Mach dich unten herum frei und leg dich hin«, befahl Esaw-Yantz. »Wir werden den G-Spot suchen, um herauszufinden, ob nur die Frauen in den kapitalistischen Ländern einen haben oder ob er bei sowjetischen Frauen auch vorkommt.«

Alka stürmte aus dem Abteil und knallte die Tür hinter sich zu. Sie rannte zur Kabine der Schaffnerin an der Spitze des Waggons, wo ein Boiler gerade eine neue Tasse dünnen Tees ausspie.

»Ich muss das Abteil wechseln«, sagte sie der Schaffnerin mit zitternden Lippen.

»Zum Plätzetauschen ist es zu spät«, lächelte die Schaffnerin, und ihr goldener Eckzahn wurde sichtbar. »So ein höflicher, angesehener, respektabler Gentleman von einem Arzt! Ich wäre gern an deiner Stelle. Mädchen, du musst verrückt sein!«

»Aber er bedrängt mich«, beharrte Alka, »er ist zu einer Vergewaltigung fähig!«

Die Schaffnerin prustete los. »Guck sich einer die an!« Tränen füllten die Falten in ihren Augenwinkeln. »So ein feiner Knochen aus Moskau! Glaubst du wirklich, dass ein Mann bei dir einen Ständer kriegt? Kein Ständer für Knochen«, lachte die Schaffnerin noch lauter über ihren eigenen Witz.

Alka brach in Tränen aus.

»Ich verspreche dir, dass er dich nicht anrühren wird, Mädchen.« Die Schaffnerin klopfte ihr auf die Schulter. »Ist ja schon gut. Hier ist noch ein Tee für dich, nun geh zurück in dein Abteil.«

»Ich werde alles meinem Vater erzählen. Er leitet die Moskauer Fabrik für Schuhcreme«, heulte Alka. »Er wird dafür sorgen, dass man Sie feuert!«

»Nur zu«, erwiderte die Schaffnerin.

Alka wagte sich nicht zurück ins Abteil. Sie blieb eine Weile im Gang stehen und betrachtete die Verzierungen an der Fensterscheibe. Zahllose Hühnerfedern bedeckten das Glas. Sie lief zum anderen Ende des Waggons und stellte sich hinter eine breithüftige Frau in hohen Stiefeln, die an der Tür zum WC wartete. Die Frau hob ihren Rock hoch und zog an ihren gerippten Wollstrümpfen. Mit Schwenkbewegungen ihres Hinterteils brachte sie die Strümpfe in die richtige Position. Die Schaffnerin kam mit einem Teetablett vorbei. Sie schaute die Frau wütend an.

»Hau ab, du gehörst nicht hierher! Denkst du, ich hab dich nicht längst gesehen? Geh zu deinem Klo in der dritten Klasse.«

»Die Sowjetunion ist das Land der Proletarier«, antwortete die Frau stolz. »Ich scheiße verflucht noch mal dort, wo ich will.«

Die Klotür ging auf. Esaw-Yantz kam heraus mit einem Lächeln, das seine sechs Goldzähne zeigte. »Lass sie rein, Schätzchen«, sagte er leise. »Mehr Hygiene im Leben der sowjetischen Frau führt zur Verringerung von Pilzinfektionen.«

»Nur weil der verehrte Genosse Doktor es wünscht«, schmollte die Schaffnerin.

Im Abteil wischte Esaw-Yantz sein Spekulum mit einer Serviette ab und legte es in seine Ledertasche. »Schlaf wohl, Mademoiselle, mich erwarten Patientinnen, die meiner gründlichen Diagnostik und meines umfangreichen Expertenwissens bedürfen.«

Alka war sehr froh. Sie ging nun selbst zur Toilette, wobei sie empfindlich zusammenzuckte, als ihr das Portemonnaie beinahe entschlüpfte. Es berührte schon die metallene Innenseite der Kloschüssel. Alka putzte sich die Zähne und wusch ihr verquollenes Gesicht, wütend am geizigen Wassernippel zerrend.

Zurück im leeren Abteil zog sie das Fenster ein paar Zentimeter nach unten. Zungen frischer Luft leckten die Hähnchendämpfe fort. Sie machte ihr Bett zurecht. Weil sie Hausarbeit nicht gewöhnt war, verwechselte sie die Innenseite des Kissenbezugs mit der Außenseite. Aus der Decke stahl sich eine kleine Feder und stach Alka in den Daumen.