Pusteblume wart auf mich - Rolf Krenzer - E-Book

Pusteblume wart auf mich E-Book

Rolf Krenzer

0,0

Beschreibung

Das, was 17 Jahre lang Annes Leben ausgemacht hat, ist ins Wanken geraten. Klaus und Jutta sind nicht mehr Vater und Mutter und die Geschwister sind nicht mehr Bruder und Schwester. Sie selbst ist sich plötzlich fremd geworden, seit sie die Wahrheit über ihre Herkunft kennt. Mutter: Ellen Kruchowski, Vater: unbekannt, Beruf der Mutter: Prostituierte. Mit einem Jahr wurde Anne - sie hieß damals noch Alice - völlig verwahrlost und halb verhungert ins Krankenhaus gebracht. Klaus und Jutta holten sie da raus, die leibliche Mutter war einverstanden, auch mit der Namensänderung, doch zur Adoption freigegeben hat sie ihr erstes Kind nie.Anne weiß nicht mehr, ob sie ihren Gefühlen noch trauen kann. Ist die Anteilnahme ihrer Familie echt oder bloß billige Theaterschmiere? Und was wird Jan Mattis sagen, wenn er es erfährt? Die Reaktion des Freundes ist eindeutig: 'Anne oder Alice? Du bist du. Das ist das einzige, was wichtig ist.' Mit dieser Sicherheit schafft sie es, der Frau, die ihre Mutter ist, gegenüber zu treten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 235

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rolf KrenzerPusteblume, wart auf michRoman

Neuausgabe als eBook © 2018 Rolf Krenzer und Verlag Stephen Janetzko,www.stephenjanetzko.dewww.kinderliederhits.de (in Kooperation mit Rolf Krenzer Erben). Alle Rechte vorbehalten. eBook-Aufbereitung: Elke Bräunling & Paul G. Walter.eISBN: 9783957221810 Hinweis: Die frühere Printausgabe erschien zuerst 1988 im Spectrum Verlag Stuttgart GmbH, hier konvertiert nach der 3. Auflage 1993, ehemalige ISBN 3-7976-1440-5.

Pusteblume, wart auf mich

„Hast du keinen Schirm? Du wirst ja ganz nass!”

Anne zuckte zusammen, als sie plötzlich von der Seite angesprochen wurde. Sie war aus dem Schulgebäude gestürmt und hatte nichts mehr wahrgenommen. Sie hatte nicht mal einen Gedanken daran verschwendet, ob sie ihre Jacke brauchte, die an dem Haken neben der Klassentür hing. Sie war nur durch den langen Gang des zweiten Stockes des Kreisgymnasiums gegangen, konnte sich auch nicht daran erinnern, ob sie den Fahrstuhl oder die Treppe benutzt hatte, und war dann wie im Traum über den Schulhof gegangen. Ein Traum? Ein Albtraum!

Dass sie mitten in der Fußgängerzone stand, wurde ihr erst bewusst, als sie von Sylvia angesprochen wurde. Sylvia hielt ihren Schirm über Anne, die erst jetzt merkte, dass ihr der Regen nun nicht mehr weiter auf Haar und Genick trommelte. Anne sah Sylvia verstört an. Schließlich suchte Sylvia mit der rechten Hand in ihrer Jackentasche und förderte ein Päckchen Papiertaschentücher zutage.

“Dir ist das Wasser hinten in den Halsausschnitt gelaufen”, meinte sie und reichte Anne ein Tuch. “Mensch, so doch nicht”, rief sie, als sie sah, dass Anne wie geistesabwesend irgendwie mit dem Tuch hinten an ihrem Hals fummelte. “Dreh dich mal um.” Und mit einem zweiten Tuch wischte sie Annes Hals einigermaßen trocken. “Deine Jacke hast du auch hängen lassen!”

“Lass mich!”, Anne versuchte, unter dem Schirm hervorzukommen. Wollte allein weiter. Bloß mit niemandem sprechen! Und erst recht nicht mit Sylvia.

Doch Sylvia hielt sie fest. Ihre Hand brauchte nur vom Hals auf Annes Oberarm zu rutschen. Mit ihrer kleinen braunen Hand krallte sich Sylvia in Annes Pullover fest.

“Ich hab auch deine Jacke mitgebracht”, sagte sie und versuchte trotz des aufgespannten Schirms, den sie festhalten musste, ihre Tasche noch zu öffnen, um Annes Strickjacke herauszuholen.

“Mir ist nicht kalt.” Anne versuchte kaum noch, sich aus Sylvias Griff zu lösen. Wie apathisch ließ sie es schließlich geschehen, dass ihr Sylvia die Jacke über die Schulter hängte, ohne dabei den Schirm und Annes Pullover loszulassen. Wirklich eine reife Leistung!

“Komm, wir gehen ins ‚Amsterdam’ einen Kaffee trinken.”

Anne schüttelte den Kopf.

“Nur bis der Regen aufhört!”

“Nein!” Annes Antwort klang unfreundlich. Sie wusste aus Erfahrung, wie sehr sich Sylvia in dieser treusorgenden Rolle gefiel. Dieses ‚Jetzt-merkst-du-erst-mal-was-du-an-mir-hast’-Spiel, das sie immer spielte, wenn sich nur die Gelegenheit dazu bot. Anne hasste Sylvia, wenn sie diese Platte auflegte. Dann gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder nachzugeben oder Sylvia einfach stehen zu lassen, sich loszureißen und mit schnellen Schritten davon zu gehen. Sylvia würde tödlich beleidigt sein. Aber spielte das eine Rolle? Spielte das jetzt überhaupt noch eine Rolle?

Anne versuchte noch einmal zu verhandeln. “Ich möchte wirklich nicht”, sagte sie. Und sie musste daran denken, wie vollgepresst mit Schülern dieses Café sein musste. Das war fast immer so nach Schulschluss. Die Fahrschüler schlugen hier die Zeit tot, bis sie zum Busbahnhof mussten. Und von den anderen, die hier wohnten, gingen auch noch genug nach der Schule ins ‚Amsterdam’. Das ‚Amsterdam’ gehörte einfach dazu. Zur Schule und überhaupt zum Vormittag. Und der konnte sich bis mittags um zwei ausdehnen.

Anne war oft dort. Fast regelmäßig. Sie richtete es aber immer so ein, dass sie trotzdem halbwegs pünktlich nach Hause kam. Jutta legte größten Wert darauf, dass sie sich alle zusammen an den Mittagstisch setzten. In diesem Schuljahr war das recht günstig für Anne gewesen, weil Johannes, ihr älterer Bruder, erst um zwei nach Hause kam. Das hing damit zusammen, dass er im nächsten Jahr das Abitur machte und sich mit zwei Klassenkameraden bereits jetzt regelmäßig darauf vorbereitete. Er war eben ein Streber. Außerdem gab er an zwei Tagen in der Woche noch Nachhilfestunden. Und danach richteten sie sich alle zu Hause.

“Komm doch mit.” Sylvia versuchte, Anne in Richtung des Cafes zu drängen. “Du bist doch sonst nicht so.”

“Sonst war es auch anders.” Anne blickte Sylvia wie versteinert an.

“Die andern können doch nichts dafür.” Sylvias Stimme klang schon wieder leicht vorwurfsvoll. “Vor allem: Was kann ich dafür?”, fragte sie und sah Anne fast anklagend an. Sie legte wieder den Arm um Anne. “Und außerdem wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.”

Sylvia hatte gut reden. Als Anne im letzten Jahr zu ihr in die Klasse gekommen war, da hatte ihr diese Sylvia imponiert. Das war jemand, der anscheinend alles ‚mit links’ schaffte: Latein und Englisch, Französisch, Chemie und Physik. Und dabei war sie alles andere als ein Streber. Nein, Sylvia war nur zu gern bereit, von dem, was sie konnte und wusste, abzugeben. Anne hatte sich ihr schnell angeschlossen, weil diese Sylvia all das hatte, was ihr fehlte. Und es machte ihr auch nichts aus, dass Sylvia zwei Jahre jünger war. Was waren schon zwei Jahre? Nicht mehr als die beiden Ehrenrunden, die Anne inzwischen im Gymnasium gedreht hatte. Und diese Klasse war noch eine Chance für Anne gewesen. Die letzte.

“Wenn du noch mal mit ihm sprichst ... “ Nein, Anne täuschte sich nicht. Selbst Sylvias Stimme verlor an Zuversicht, wenn sie von Annes Chancen sprach, doch noch in die nächste Klasse zu kommen.

“Es ist doch nicht nur Mathe”, antwortete Anne schroff. “Meinst du vielleicht, dass die Siebert mir in Deutsch noch eine Vier gibt? Oder der Kliegel in Physik statt der Sechs eine Fünf?”

“Ich hatte dir damals geraten, Religion zu nehmen. Dann hättest du wenigstens ein Ausgleichsfach.”

“Religion beim eigenen Vater.” Anne schüttelte sich, dass ihr die Regentropfen um den Kopf flogen. “Niemals.”

“Weiß er denn, wie es mit dir steht?”

Anne überlegte kurz, schüttelte dann wieder den Kopf. “Bestimmt weiß er nichts. Die sagen ihm doch auch nichts. Und zur Konferenz heute Mittag geht er nicht. Er hat heute zwei Beerdigungen.”

“Dann hast du ja heute noch nichts zu befürchten.” Sylvia dachte unerhört praktisch.

“Ist dir klar, dass ich keine neue Runde mehr drehen kann?” Anne sah Sylvia trotzig und herausfordernd an. “Kapierst du, dass ich abgehen muss, wenn ich nicht in die nächste Klasse versetzt werde?”

Sylvia räusperte sich. Sie war ja selbst dabei gewesen, als der Wibbert Anne eröffnet hatte, wie es um sie stand. Anne hatte sich alles angehört, ohne mit der Wimper zu zucken. Schließlich war es das dritte Mal, dass sie eine solche Ansprache über sich ergehen lassen musste. Und von Mal zu Mal fühlte sie sich mehr an die Reden erinnert, die ihr Vater in der Friedhofskapelle vor einem Sarg hielt. Nur dass hier alles ohne leises Schluchzen und Nase schnäuzen abging. “Es sieht schlecht aus, Anne Andersen”, hatte der Wibbert zum Schluss mit leiser Stimme gesagt. Anscheinend tat es ihm selbst leid, ihr das zu sagen. “Sehr schlecht”, hatte er wiederholt und sich nach einem leisen Seufzer Edmund Schäfer zugewandt.

Anne hatte gemerkt, dass in der Klasse alle betreten weggeschaut hatten. Wieder einmal war sie sich wie nackt unter lauter gut gekleideten Leuten vorgekommen. Sie hatte nur darauf gewartet, dass die Stunde zu Ende ging. Zum Glück war es die letzte Stunde. Als der Wibbert endlich den Unterricht beendet hatte, war Anne an ihm vorbei zur Tür geschossen. Sie hatte ihn nicht angesehen, obwohl sie ihm anmerkte, dass er noch etwas sagen wollte. Keinen hatte sie mehr angesehen. Keinen in der Klasse. Bloß raus!

“Wenn du nicht versetzt wirst, dann ... “ Es war nicht zu übersehen, wie angestrengt Sylvia überlegte. “Anne, dann hast du ja noch nicht einmal ...“ Sie zögerte weiter zu sprechen.

“Na und?” Daran, dass Sylvia ihre Finger aus Annes Pullover löste und dass plötzlich der Schirm nach vorn rutschte, erkannte Anne, dass Sylvia noch weiter überlegte. Der Regen hatte aufgehört. Sie hatten es nicht einmal bemerkt. Hastig griff Anne nach dem Schirm und klappte ihn zu. “Dann hast du ja noch nicht einmal die mittlere Reife.”

“Stell dir das vor!”, antwortete Anne und hielt Sylvia den zugeklappten Schirm so hin, dass sie einfach zufassen musste. Rückte Sylvia von ihr ab, oder kam es ihr jetzt nur so vor?

“Anne, da musst du doch etwas tun!” Sylvia schrie fast. “Da müssen wir etwas tun!” Sie schaute sich um. Aber sie standen ganz allein in der Einkaufszone. Fast alle Geschäfte hatten über Mittag zu. In den Häusern wurde gegessen. Es roch irgendwie nach Sauerkraut und Erbsensuppe, vermischt mit dem Geruch von frisch gebackenen Pfannkuchen. Es konnten auch Waffeln oder Berliner sein.

“Ja, da muss man etwas tun”, äffte Anne Sylvia nach. Sylvia merkte so etwas nicht. Sie war viel zu leutselig und geradlinig, um auch nur zu vermuten, dass jemand sie nicht ernst nahm oder gar nachäffte.

“Du tust dir aber nichts an!”

Das musste kommen! Natürlich musste das kommen. Sonst wäre Sylvia nicht Sylvia. Sie setzte auch bereits an, um Anne wieder mit ihrem Arm zu bedrängen.

Fast musste Anne lachen. “Ich tu mir nichts an”, sagte sie. “Glaub mir, dafür bin ich bestimmt auch noch zu doof.”

Sie kniff die Lippen zusammen und blickte Syliva an. ”Stell dir vor”, sagte sie spöttisch, “noch nicht mal die mittlere Reife. Noch nicht mal einen ordentlichen Abschluss. Und trotzdem keinen Bock auf Selbstmord!” Ihre Hand deutete auf Sylvia. ”Jetzt bist du dran.”

Anne drehte sich mit einem Ruck um, packte die Schultasche fester, griff mit der anderen Hand nach der Jacke auf ihrer Schulter, um sie festzuhalten, und ging mit schnellen, festen Schritten davon.

Immer schneller lief sie. Es war nicht mehr weit bis zu dem großzügig renovierten Pfarrhaus gleich neben der Stadtkirche. Ein bisschen ging es den Berg hinauf: Die Strassen waren leer. Mittagszeit. Da konnte ihr keiner begegnen und sehen, dass sie Rotz und Wasser heulte.

Zum Glück stand die Haustür noch offen. Das war eine der typischen Angewohnheiten ihres Vaters: Die Tür blieb mittags so lange offen stehen, bis alle zu Hause waren. Er hörte es in seinem Arbeitszimmer, wenn der letzte heimkam. Er wartete förmlich darauf. Dann stand er vom Schreibtisch auf, ging die paar Stufen zur Haustür hinunter und schloss sie mit einem kräftigen Schlag. Das war das Zeichen für Jutta, dass sie die Suppenterrine ins Esszimmer tragen konnte. Das war auch das Zeichen für Anne, Johannes, Esther und Florian, sich möglichst umgehend im Esszimmer einzufinden. Dort saß Klaus am Kopf des Tisches und wartete. Und Jutta streckte die Hand nach dem ersten Teller aus, um ihn mit Suppe zu füllen. So war es auch gewesen, als Klaus selbst noch ein Kind war. Er war in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Das betonte er immer sehr stolz. Mit diesen Regeln, die er sich und seiner Familie auferlegte, versuchte er, ein Stück Ordnung und Harmonie in einer Welt zu erhalten, die ihn von Tag zu Tag mehr erschütterte und erschreckte. Wenigstens dieses winzige Stück heile Welt beanspruchte er für sich. Und sie spielten alle mit, Johannes und Esther, Florian und Anne ... und am allermeisten Jutta. Ja; Jutta hatte seit Beginn ihrer Ehe mit Klaus die Rolle der Pfarrfrau übernommen. Die Hausfrauenrolle, die Klaus von ihr erwartete. Zumindest, wenn es ums Essen ging. Sie spielte diese Rolle, und jeder wusste, dass sie ihr eigentlich nicht entsprach. Ihr Engagement für die Friedenswoche, ihr Kampf für das Frauenhaus in der Stadt und der Lehrauftrag in der Volkshochschule - das gehörte zu Jutta, war unverwechselbarer Teil ihrer Persönlichkeit. ln den Regalen stapelte sich die Frauenliteratur, die Jutta von dem Erlös ihres Lehrauftrages bezahlte. Dafür gab es kaum Kochbücher. Und wenn, dann nur solche, die ihr irgendjemand mal geschenkt hatte.

Die Haustür stand offen. Fehlte außer Anne noch jemand? Wenn sie nicht die letzte war, dann reichte es wenigstens noch, .das Gesicht zu, waschen und sich soweit wieder in, den Griff zu bekommen, dass man ihr am Mittagstisch nichts ansah.

Als sie die Tür ihres Zimmers hinter sich schloss, musste sie für einen Moment an Sylvia denken. Sie biss sich auf die Lippe und fühlte sich schlecht, weil sie Sylvia einfach so stehen gelassen hatte. Aber dann stellte sie sich vor, dass Sylvia jetzt mit den anderen im ‚Amsterdam’ saß und über sie sprach. Informationen aus erster Hand hatte sie parat. Sensationen mit ein bisschen Mitleid vermischt. Heute Nachmittag würde ganz Hebringen wissen, dass Anne Andersen nun endgültig ohne Abschluss von der Schule gehen musste. Vor allem Jan Mattis würde es erfahren. Und gerade mit ihm hätte Anne so gern noch vorher gesprochen. Er hätte es von ihr erfahren müssen, bevor es im Ort die Runde machte. Jan Mattis Westphal, mit dem sie nun schon seit zwei Jahren sehr eng befreundet war. Ihr kam es vor, als wären sie schon seit einer Ewigkeit zusammen. Eine Ewigkeit voller Jan-Mattis-Tage, so dass Anne sich überhaupt nicht mehr vorstellen konnte, wie es ohne ihn war. Jan Mattis hatte nie groß nach ihren Schulproblemen gefragt. Er hatte es einfach hingenommen, dass sie kleben blieb, als er weiterrückte. Bedauert hatte er nur, dass sie nun nicht mehr in einer Klasse waren und nicht mehr den ganzen Vormittag nebeneinander sitzen konnten. Als sie dann die zweite Ehrenrunde drehte, hatte er ihr viele gute Ratschläge gegeben und sogar angeboten, mit ihr zu pauken. Mehrmals sogar. Und er hatte immer so zart und behutsam die Rede darauf gebracht, dass sie richtig gerührt war. Aber irgendwie hatte es sich dann doch immer wieder anders ergeben. Immerhin bestand nun noch der schwache Trost, dass er es in diesem Jahr vielleicht auch nicht schaffte. Aber war das überhaupt ein Trost? Jedenfalls hatte er gestern, als sie zusammen ihren Partner-Eisbecher bei ‚Luigi’ gegessen hatten, einige dunkle Andeutungen gemacht. Vielleicht hatte er das alles aber auch nur aus Sympathie gesagt. Jan Mattis brachte so etwas fertig. Wie lange lag dieses Gestern schon zurück? Nur einmal die Uhr um vierundzwanzig Stunden zurück drehen! Nur noch einmal leben können, ohne Wibberts sorgenvolle Stimme im Ohr zu haben. Sie ließ sich nicht verdrängen. Kam immer wieder: ‚Es wäre sicher richtig, wenn Sie mit Ihren Eltern sprechen würden’, hatte Wibbert gesagt. ‚Wenn Sie mit Ihren Eltern ... ‚ Anne wusste nicht, ob er jemals vorher Sie zu ihr gesagt hatte. Sie kannte den Wibbert, seit sie zurückdenken konnte. Und im Kirchenvorstand war er auch. Jedenfalls war er schon oft bei Klaus gewesen. Früher hatte Anne Onkel Herbert zu ihm gesagt. Jetzt erinnerte sie sich wieder daran. ‚Es wäre sicher richtig, wenn Sie mit Ihren Eltern sprechen würden!’

Ein lauter Schlag drang bis in Annes Zimmer und verdrängte alle weiteren Gedanken. Die Haustür war ins Schloss gefallen.

Anne wusch sich gründlich das Gesicht und prüfte mehrmals im Spiegel, ob man ihr noch ansah, dass sie geheult hatte. Sie trocknete sich schnell ab und legte einen Hauch Puder auf. Dann stürmte sie die Treppe hinunter. Noch wusste hier niemand etwas. Noch hatte sie einen Informationsvorsprung.

So blieb also noch diese ungetrübte Stunde, diese Mahlzeit. Ein Schonraum, eine Schonzeit. Jede einzelne Sekunde wollte Anne ausschöpfen. Jede einzelne Sekunde, die noch frei war von dem, was dann kam, wenn sie Jutta und Klaus erklären musste, dass es unsinnig wäre, dass sie morgen früh noch mal zur Schule ginge. Nein, diese Blamage würde sie sich ersparen.

“Einen Löffel oder zwei?”, fragte Jutta, als Anne ihr den Teller reichte.

“Zwei”, antwortete Anne und nahm sich vor, die Suppe so langsam zu essen, wie sie nur konnte. Danach kamen noch der Hauptgang und der Nachtisch. Schonzeit! Drei Gänge Schonzeit. Und doch musste sie mit beiden Händen nach dem Teller greifen, den Jutta ihr reichte. So sehr zitterte sie.

“Der Florian wird jetzt mit uns beten”, sagte Klaus und nickte seinem Jüngsten aufmunternd zu. Früher hatten sie alle zusammen ein Tischgebet gesprochen, später abwechselnd. Vor einiger Zeit hatte Esther sich geweigert, und Johannes und Anne hatten gleich mit eingestimmt, dass ihnen diese Tischgebetaufsagerei auch schon längst nicht mehr passte. Sie hatten das ‚Problem’ allerdings ganz diplomatisch gelöst und den Benjamin der Familie, den elf-jährigen Florian, als Nachfolger ausgeguckt. Und der war noch in einem Alter, in dem es ihm nichts ausmachte, jeden Mittag den Spruch aufzusagen.

'“Kommherrjesusseiunsergast ... “ haspelte Florian in Atem beraubender Geschwindigkeit herunter, und erleichtert stellte Anne fest, dass anscheinend niemand bemerkt hatte, dass sie mit zittrigen Händen eben fast die Suppe verschüttet hätte. Sie hielt die Augen geschlossen und erschrak, als sie Florians und Juttas Hände links und rechts spürte.

“Amen”, sagten alle und drückten sich fest die Hände. “Gesegnete Mahlzeit!”

Klaus gab seiner Stimme einen überzeugenden Klang, obwohl er wusste, dass heute wieder einer der beiden Tage war, an denen sich Jutta mit ihrer vegetarischen Mahlzeit durchgesetzt hatte. Jeweils an zwei Tagen in der Woche kämpfte sich Klaus durch Grünkernklösschen, Sojakeimlinge und Sojafleisch, durch gebackene Bananen mit Curry und Reis oder panierte Selleriescheiben. Vor einem Jahr war es zu heißen Diskussionen gekommen, ob man es wirklich wahr machen und feste vegetarische Tage einplanen sollte. Theoretisch gab es überhaupt keine Gegenargumente. Nur das Umsetzen in die Praxis fiel besonders Klaus, Anne und Florian schwer. Für Klaus gab es nichts Köstlicheres als ein saftiges Stück Fleisch. Aber Jutta setzte sich durch, und Esther und Johannes unterstützten sie dabei. Sie rechneten vor, wie gut die Bevölkerung der Erde satt werden könnte, wenn die Reichen auf das Fleisch verzichten wurden. Johannes war hier gründlich informiert und gab sein Wissen auch unaufgefordert gern weiter. Esther versuchte damit zu überzeugen, dass sie sich ausführlich über den Nährwert der sogenannten Vollwertkost verbreitete. Jutta aber sagte nicht mehr als: "Du bist Pfarrer! Und das hier hat etwas mit praktizierter Nächstenliebe zu tun!” Damit hatte sie Klaus überzeugt, wenn auch nicht seine Vorliebe für Fleischgerichte jeglicher Art aus dem Weg geräumt .

“Du bist ja ganz heiß, Kind”, sagte Jutta, als sie Annes Hand losgelassen hatte. “Du wirst uns doch nicht krank werden.”

“Heiß?”, fragte Anne und begann, die Suppe zu löffeln. “Ich weiß nicht...”

“Ist was?”, fragte Jutta noch einmal und blickte sie prüfend von der Seite an.

“Mm, mm”, brummelte Anne und löffelte weiter ihre Suppe. Während des Essens spürte Anne, dass etwas anders war als sonst. Sie hatte den Eindruck, dass Klaus sie hin und wieder von der Seite ansah. Täuschte sie sich? Auch Jutta war anders als sonst.

In einem unbemerkten Augenblick legte Anne Gabel und Messer hin und befühlte unter dem Tisch ihre Hände. Sie strich mit der linken über die rechte Hand, dann umgekehrt. Nein, die Hände waren nicht heißer als sonst. Ganz normale Temperatur. Nur zittrig waren sie noch ein bisschen. Anne merkte, dass sie sicherer wurde. Nein, keiner an diesem Tisch hatte bisher erfahren, dass seit heute morgen alle Wünsche und Hoffnungen begraben waren. Keinem war das, was Wibbert in der Klasse geäußert hatte, zugetragen worden. Jetzt lag es an ihr, sie hier zu Hause zu informieren. Dass es nicht allzu rosig um ihre Versetzungschancen stand, daran hatte sie nie Zweifel gelassen. Und Klaus und Jutta hatten es ja auch längst aufgegeben, sie mit Nachhilfestunden zu traktieren, die in den beiden vorausgegangenen Jahren viel gekostet, aber nur wenig gebracht hatten. Anne hoffte, dass ihre gelegentlichen mehr beiläufigen Bemerkungen von Jutta und Klaus wohl verstanden worden waren. “Wenn du nur einigermaßen über die Runden kommst”, hatte Klaus einmal gesagt. Dieses ‚nur einigermaßen’ war ein Trost gewesen, zumindest nach der ersten Panne. Ärgerlich, dass solche Pannen immer nur ihr passierten! Johannes hatte die ganze Schulzeit ohne eine einzige Wiederholung hinter sich gebracht. Gewiss, er war sehr fleißig. Ein Streber, fand Anne. Seine einzige Schwäche war Mathe. Und die hatte er von Jutta geerbt. Jedenfalls behaupteten das beide. Esther wusste anscheinend überhaupt nicht, was es bedeutete, Schwierigkeiten in der Schule zu haben. Sie tat nicht mehr als Anne. Manchmal noch weniger. Und doch. Noch nie war sie mit einem Ungenügend heimgekommen. Sie packte eben alles. Sie fasste etwas an und hatte sogleich eine Glückssträhne in der Hand. Anne konnte das nicht begreifen. Esthers einzige Schwäche war Französisch. Und die Sprachenschwäche hatte sie von Klaus geerbt. Klaus hatte schon Schwierigkeiten, ein paar englische, zum Teil eingedeutschte Wörter der Umgangssprache richtig auszusprechen. Bei Esther hatte es sich nur im Französischen ausgewirkt. Englisch und Latein bereiteten ihr überhaupt keine Schwierigkeiten. So hatte sie Französisch als allererstes Fach aufgegeben. Und seit dieser Zeit war ihr Zeugnis ohne jeden Makel.

Und Florian? Nun ja, der hatte mit Deutsch seinen Kampf. Besonders die Diktate waren reine Schlachtfelder, in denen der rote Kugelschreiber seiner Klassenlehrerin wie ein blutbeschmiertes Schwert zwischen die Buchstaben und Wörter fuhr. “Er wird's noch kapieren”, meinte Jutta immer und wies darauf hin, dass ihre eigene Klassenlehrerin damals vehement dagegen gewesen war, dass sie eine weiterführende Schule besuchte. Eben auch wegen der Rechtschreibung. Aber Jutta hatte sich nicht beirren lassen, hatte das Abitur, geschafft und auch ihr Lehrerstudium erfolgreich absolviert. Dass sie jetzt nur die paar Stunden in der Volkshochschule unterrichtete, lag einzig und allein daran, dass sie ausgerechnet einen Pfarrer geheiratet hatte und sich irgendwann den Forderungen gebeugt hatte, die eine kleinstädtische Kirchengemeinde an eine Pfarrfamilie zu stellen gewohnt war.

Zunächst war Klaus Studienleiter in einer Akademie gewesen. Ein freies, mehr der Wissenschaft und der Vermittlung aktueller gesellschaftlicher und religionspädagogischer Strömungen gemäßes Arbeiten. Nach sieben Jahren aber hatte man ihn als Gemeindepfarrer benötigt. Mehr als sieben Jahre freies Schaffen in der Akademie hatte man ihm von oben her nicht zubilligen wollen. Das war bei ‚Kirchens’ eben so. Vielleicht war er damals auch ein wenig zu aufmüpfig gewesen, zu modern in seinen Auffassungen und Äußerungen, zu politisch. Das Pfarramt in der Gemeinde war dann ein Sprung ins kalte Wasser gewesen. Doch Klaus hatte sich arrangiert. Nur Jutta! Sie war es, die plötzlich erfahren musste, was es bedeutet, die Frau eines Gemeindepfarrers zu sein. Sie, die während der Akademiezeit so frei und ungebunden gelebt hatte, die Wissenschaftler, Schriftsteller, Musiker, eben alles, was Rang und Namen hatte und zu Akademietagungen eingeladen wurde, bei sich zu Hause empfangen konnte, sie musste jetzt lernen, sich dem kleinstädtischen Gemeindemief anzupassen. Sie meuterte zunächst und versuchte schließlich doch, irgendwie in die Rolle der Pfarrfrau hineinzufinden. Aber sie weigerte sich standhaft, im Kirchenchor zu singen oder gar unter den Abenden der Frauenhilfe zu leiten. Und dass einige Damen des Kirchenvorstandes es ihr verübelten, dass sie den Garten des Pfarrhauses verwahrlosen ließ, verschaffte ihr sogar noch zähneknirschend Genugtuung. Die hatten ja keine Ahnung, was es bedeutet, den Garten ökologisch zu bearbeiten. Jedenfalls damals noch nicht, als sie als erste überhaupt in Hebringen damit anfing. Aber in Johannes hatte sie schon bald einen echten Verbündeten gefunden.

Nach und nach hatte sie sich immer weiter freigeschwommen, hatte dort Einfluss genommen, wo es ihr möglich war. So hatte sie den ersten Dritte- Welt-Laden im Gemeindehaus eröffnet. Sie war auch eine der ersten gewesen, die in Hebringen während der Friedenswoche täglich eine Stunde lang schweigend für den Frieden gestanden hatte. Und sie hatte sich gefreut, dass sie nicht allein mit ein paar Grünen dastand, sondern dass auch einige aus der Kirchengemeinde dabei waren. Klaus ging nicht mit. Der Kirchenvorstand ließ es nicht zu, dass sein Pfarrer auch nur die geringste politische Aktivität zeigte. Einmal war es zu einer schwer wiegenden Diskussion gekommen, weil Klaus an dem verrosteten Mahnmal zum ‚Tag der deutschen Einheit’

als ein paar Worte verloren hatte, die nach Meinung des Kirchenvorstandes eines Pfarrers nicht würdig waren. Schlimmer noch war, dass die Heimatzeitung die Sache aufgegriffen hatte und der Bürgermeister und die gesamte Regierungskoalition im Rathaus auf die Barrikaden gingen und zum Sturm gegen ihn bliesen. Seit dieser Zeit versuchte man ganz direkt Einfluss auf den Kirchenvorstand auszuüben. Und einigen politisch Festgelegten gelang es, in den neuen Kirchenvorstand gewählt zu werden. Die Kontrolle war stärker geworden, und manchmal, blies Klaus der Wind kalt ins Gesicht. So konnte Klaus zwar in der Friedenswoche zu Gebetsabenden einladen, auch mal einen Redner der Friedensinitiative bitten, aber nur, wenn das Gleichgewicht gewahrt blieb. Es musste dann auch ein General der Bundeswehr her. Darauf wurde im Kirchenvorstand streng geachtet. Klaus und Jutta, aber auch Esther und Johannes hatten sich, jeder auf seine Art, hier in Hebringen und ganz direkt mit dem Leben in diesem Haus arrangiert. Sie hatten sich so eingebracht, dass sie den Vorstellungen der Hebringer entsprachen. Andererseits aber schufen sie sich dadurch einen Freiraum, der ihnen allein gehörte. Weil Esther und Johannes ohne Schwierigkeiten die Anforderungen der Schule erfüllten, hatten sie es mit allem anderen recht leicht. Da konnte jeder mal schnell ein Auge zudrücken.

Florian und Anne dagegen taten sich schwerer. Das merkte man auch an ihren Schulleistungen. Aber Florian war noch klein, da konnte man noch hoffen. Nur bei Anne war es problematisch. Sie kam sich selbst wie die berüchtigte Ausnahme von der Regel vor. Keiner in dieser Familie hatte es geschafft, zweimal die Klasse zu wiederholen.

Als Anne kurz zu Klaus hinblickte, ertappte sie ihn dabei, dass er sie wieder ansah. “Hübsche Ohrringe hast du”, sagte Klaus, um irgendetwas zu sagen. „Hast du sie neu?”

“Klaus!” Florian schüttelte den Kopf und schaute zweifelnd zu seinem Vater hinüber. “Die hat sie doch zu Weihnachten bekommen! Von euch!”

Gleich kam Jutta Klaus zu Hilfe. “Das kann er doch nicht mehr wissen”, sagte sie. “Wir haben sie damals zusammen ausgesucht, Anne und ich. Und dann hat er das eingepackte Päckchen nur Weihnachten in seinem Schreibtisch aufbewahrt.”

Klaus nickte. “Mit mir könnt ihr's ja machen”, meinte er und zerdrückte leise lächelnd eine dicke Kartoffel auf seinem Teller, bevor er sich den roten Bohnenbrei darüber löffelte. “Hübsch sind sie trotzdem”, sagte er und zwinkerte Anne zu. “Übrigens, hast du heute um fünf was vor?”

“Warum?”

“Da ist etwas, was wir gern mit dir besprochen hätten, Jutta und ich.”

“Warum nicht jetzt?”, fragte Anne und hoffte, dass das Zusammensein mit den anderen hier am Mittagstisch das, was besprochen werden sollte, nicht so wichtig, so bedrohlich machte.

“Wir brauchen ein bisschen Zeit dazu”, meinte Klaus. “Und ich habe gleich zwei Beerdigungen. Ich möchte, dass wir wirklich Zeit füreinander haben.”

Ja, das verstand Anne. Trotzdem erschien es ihr unmöglich, so lange auf das Gespräch zu warten. “Kann ich nicht mit Jutta sprechen?”, fragte sie.

Jutta schüttelte den Kopf. Und da entdeckte Anne plötzlich, dass sie traurige Augen hatte.

“Hab ich irgendetwas angestellt?”, fragte sie in die Stille hinein, die sich über die anderen am Tisch gelegt hatte.

“Nein! Denk doch so etwas nicht!” Klaus wehrte mit beiden Händen ab.

“Ist es wegen der Schule?”, fragte Anne und war in diesem Augenblick bereit, jetzt und sofort alle schlechten Karten auf den Tisch zu legen. Die Sechs in Mathe, die Fünf in Englisch ...

Da spürte sie Juttas Arm um ihren Hals. “Anne”, sagte sie leise, “es hat nichts mit der Schule zu tun. Wir müssen nur einfach mal miteinander reden.” Sie warf Klaus einen ärgerlichen Blick zu. “Wenn du jetzt nicht genug Zeit hast, wäre es besser gewesen, du hättest überhaupt nicht damit angefangen.”

“Si tacuisses”, sagte Johannes und hob den rechten Zeigefinger, was wenigstens Esther zum Lachen brachte.

“Ich wollte doch nur, dass wir heute noch miteinander reden und dass sich keiner für später was vornimmt.” Klaus wirkte richtig unglücklich.

“Ich bin sowieso zu Hause”, sagte Anne. Wo hätte sie auch hingehen sollen? Heute! Keinen Schritt würde sie aus dem Haus tun. Nur keinem aus ihrer Klasse begegnen! Nein, heute würde sie den ganzen Tag hier bleiben. Den Walkman auf die Ohren ziehen, laut aufdrehen und nur noch Pop hören. So laut, dass alles andere davon verdrängt würde.

“Vielleicht wäre es auch gut, wenn Jan Mattis heute mal nicht kommen würde.” Das war wieder Jutta. “Wenigstens nicht zwischen fünf und sechs.”

“Er kommt heute überhaupt nicht”, sagte Anne. “Wir haben uns heute Morgen verfehlt und nicht verabredet.” Sie schnäuzte sich kurz in ihr Taschentuch. “Außerdem will er mit seinen Eltern nach Frankfurt fahren. Sein Vater will da irgendwas einkaufen. Und seit Jan Mattis den Führerschein hat, muss er immer fahren.”