Queen of a lucid dream - Althir Hornet - E-Book

Queen of a lucid dream E-Book

Althir Hornet

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Beschreibung

Atemberaubender und spannender Psychothriller: Helen Toussaint scheint als Ehefrau eines erfolgreichen Rechtsanwaltes das perfekte Leben zu führen. Sie ist jung, attraktiv und wohnt mit ihrem Mann Nick und den zwei kleinen Kindern in einem schönen Haus. Doch als Nick Toussaint den zwielichtigen arabischen Geschäftsmann und vermeintlichen Geldgeber eines Terrornetzwerkes, Ahmed Al Shain, erfolgreich vertritt, ändert sich ihr Leben schlagartig. Als die ganze Familie nach dem aufreibenden Prozess Urlaub auf dem Anwesen von Nicks Senior-Chef der Kanzlei Benninger macht, trifft die sensible Helen auf eine Patientin von Robert Benninger; er ist Psychiater und älterer Sohn des Kanzleinhabers. Sie leidet an einer Psychose mit Zwangs- und Wahnvorstellungen und zieht Helen in ihren Bann. Getriggert durch den Stress der vergangenen Wochen rutscht Helen immer mehr in eine abstruse Welt ab. Als Nick Al Shain während des Aufenthaltes die weitere Zusammenarbeit aufkündigt, setzt dieser eine blutjunge Schönheit auf ihn an, die den Familienvater verführt. Helen erfährt durch kompromittierendes Filmmaterial von der Affäre und tötet das Mädchen in einem Rausch aus Wahnvorstellungen, Medikamenten und Alkohol. Nun gibt es kein Zurück. Nachdem auch Nick verschwindet, wird sie immer mehr von der Polizei und Al Shain, der wieder Zugriff auf geheime Konten und brisantes Datenmaterial einfordert, unter Druck gesetzt. Zusammen mit Robert versucht sie, einen Ausweg zu finden. Doch die Situation wird immer verfahrener. Helens Wahnvorstellungen und Zwänge nehmen zu, sie halluziniert und wird von mehreren Erscheinungen heimgesucht. Eines Nachts taucht ihr Mann Nick wieder auf. Er weiß, dass Helen seine junge Affäre grausam getötet hat. Sie spürt, wie das Leben ihr mehr und mehr aus den Händen gleitet. Aus Angst, ihr Mann würde sie verraten, schmiedet Helen einen teuflischen Plan. Zusammen mit Gabriel, einem jungen Einzelgänger und Betreiber einer Tankstelle, den sie in einem Dorf unweit des Anwesens kennengelernt hatte, bringt sie Nick um. Als Al Shain schließlich die Kinder entführt, gibt Robert seine Vergangenheit bei der CIA preis und aktiviert alte Netzwerke.

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Queen of a lucid dream

2. Auflage, erschienen 12-2022

Umschlaggestaltung: Queen of a lucid dream

Text: Althir Hornet

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-668-1

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.

Althir Hornet

Queen of a lucid dream

Beherrscherin der Zwänge und Träume

Der Prozess.

„Nicht schuldig!“, hämmerte die Stimme des vorsitzenden Richters durch den Gerichtssaal. „Das Gericht befindet den Angeklagten für nicht schuldig“, rekapitulierte der ergraute Endfünfziger in seiner schwarzen Robe in die angespannte Stille des Gerichtssaals hinein, als wolle er in den von Mahagoni und Ehrfurcht geschwängerten Raum auch noch die letzten Zweifel ausräumen. Nickolas und Sebastian senkten unisono ihre Köpfe und entledigten sich eines imaginären zentnerschweren Joches, welches sie die letzten Monate über geplagt hatte. Mehr noch! Es hatte sie an ihre Grenzen geführt und teils darüber hinaus. Den Mann, den die beiden jungen Anwälte vertreten hatten und der in einem dunkelgrauen Maßanzug zwischen ihnen saß, entlockte das Urteil des Gerichts lediglich ein gefasstes süffisantes Lächeln, welches sich träge an seiner Oberlippe von Mundwinkel zu Mundwinkel entlanghangelte und damit den kurz gestutzten schwarzen Oberlippenbart zu einer wellenförmigen Bewegung verleitete.

Während seine beiden Verteidiger rechts und links von ihm noch demütig mit gesenkten Köpfen in ihren schwarzen Roben verharrten und irgendeine Art höheren Wesens für den glücklichen Ausgang des Prozesses zu preisen schienen, erhob sich der schmächtige Araber mit der kräftigen Hakennase. Er rückte seine orange, blümchengemusterte Seidenkrawatte zurecht und fuhr sich mit seinen langen Fingern, dessen Knochen sein Schöpfer lediglich mit einer dünnen Hautschicht versehen hatte, durch das volle dunkle Haupthaar. „Ahmed Al-Shain dankt Ihnen“, sagte er mit gefasster Stimme, als er Nickolas und seinem Partner nacheinander die Hand gab und sein finsterer Blick das emotionale Repertoire eines Untoten versprühte. Danach drehte er sich um und ließ sich, das rechte Bein leicht nachziehend, von seinen Leibwächtern durch die bereits vor dem Saal spalierstehenden Reporter und Fotografen leiten. „Ist das alles? Ahmed Al-Shain dankt Ihnen … nach 6 verdammten Monaten! Gott, was ist das bloß für ein Zombie! Da geht er dahin, zurück in die Unterwelt, aus der er gekommen war.“

„Reg dich nicht auf Nick, denk an die Kohle und den Erfolg, das ist, was zählt. Es ist vorbei. Wenn du so einen Typen vertreten kannst, dann kannst du sie alle vertreten. Sieh es einfach mit professioneller Distanz!“ Sebastian legte seinem Freund und Kanzleipartner brüderlich die Hand auf die Schulter und versuchte ihn zu beschwichtigen. Doch Nick hatte mehr erwartet, nicht in finanzieller Hinsicht – nein, sondern in menschlicher. Ausgerechnet er, der mehr der Idealist war und an das Gute im Menschen glaubte, so abgedroschen das auch für sein Umfeld immer geklungen hatte. Er war Jurist geworden, um der Wahrheit und der Gerechtigkeit in einer Welt des Unrechtes Gehör zu verschaffen. Und er wollte diesen Weg beibehalten, auch als Sebastian ihn nach dem Examen überredete in die Kanzlei seines Vaters einzusteigen. Benninger und Partner war ein elitärer aus 5 Anwälten bestehender Juristenclub, der von dem idealisiertem Bild des im Dienste von Recht und Wahrheitsfindung agierenden Verteidigers so weit entfernt war wie ein Pontifex, der zum Ostergottesdienst mit Kondomen und Antibabypillen um sich wirft. Doch die Chance war zu verführerisch und so nahm der junge Familienvater an. Nick atmete schwer. Er war 33 und nach diesem Prozess, der an diesem Tage nach einem halben Jahr endlich ein für – bis auf den Staatsanwalt – alle Beteiligten glückliches Ende gefunden hatte, hatten sich zu seinem Kinngrübchen noch weitere Einsenkungen in die sonst so makellose Gesichtshaut dazugesellt. Seine blauen Augen schauten durch einen trüben Schleier der Übermüdung in Sebastians kantiges Gesicht, auf dessen vorspringenden Wangenknochen sich die Haut zu einem einstudierten Lachen verbog, während sich der Gerichtssaal leerte und die beiden Freunde allein zurückließ. „Es ist vorbei! Und du, nein was rede ich da, ihr habt euch Entspannung verdient! Du, Helen und die Kinder. Nimm dir die nächsten Wochen frei und mach Urlaub! Fahrt zu unserem Haus aufs Land. Ich rede mit meinem Vater. Nach dieser Feuertaufe hat er nichts dagegen. Da bin ich mir sicher.“

„Ja, du hast Recht. Ich muss runterkommen. Wir haben die letzten Monate nur an dem Fall gearbeitet und die Kinder haben endlich wieder einen Vater verdient.“ „Na also! So gefällst du mir schon besser.“ Sebastian zog sich den Talar aus, fixierte seinen Nadelstreifenanzug in Form und kämmte sich seine nussbraunen leicht gegelten Haare zurück, in denen sich das Licht des Sitzungssaales spiegelte. Nick tat es ihm gleich, er faltete seine Robe und klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Danke Mann, ich weiß das zu schätzen. Noch ein paar lästige Fragen von geifernden Journalisten und der Urlaub kann beginnen.“ Sie schritten gemeinsam durch die zweiflügelige Holztür und fanden sich draußen eingekreist von Reportern und Fotografen wieder, die sie von allen Seiten bombardierten. Nick warf seine dunkelblonde, von hellen Strähnen durchsetzte Frisur zurück und setzte eine dunkle Sonnenbrille auf, denn das Blitzlichtgewitter schien bereits bunte Flecken auf seiner Netzhaut tanzen zu lassen, was seinen Augen Schmerzen bereitete. „Sind Sie mit dem Ausgang des Prozesses zufrieden?“

„Sie meinen, ob wir froh sind, dass wir gewonnen haben und die Unschuld unseres Mandanten beweisen konnten? Natürlich! Was für eine Frage!“, konterte Sebastian die Frage einer Journalistin, die sich aus der Menge an einem Gerichtsdiener vorbei an ihn herangedrängelt hatte und ihm ein Mikro an die Lippen presste. „Sind Sie auch froh, dass ein Waffenhändler und Mitglied eines arabischen Terrorklans, der die Werte der freien Welt mit Füßen tritt, davongekommen ist?“, hakte die brünette Mittdreißigerin im dunklen Hosenanzug nach. „Da wissen Sie mehr als wir … ich habe eben etwas von nicht-schuldig gehört“, klinkte sich Nick ein. „So und jetzt lassen Sie uns durch, kein weiterer Kommentar mehr!“ Sebastian deutete einem Gerichtsdiener der Meute Einhalt zu gebieten. „Gott wird euch bestrafen“, hörte es Nick leise, aber bestimmend schräg hinter sich von der Reporterin. Er drehte sich kurz um und ihr Blick durchdrang seine Sonnenbrille und bohrte sich direkt in seine Augen. Schließlich gelangte man durch einen kleinen Korridor abseits des Trubels am Hauptportal, unbehelligt von weiteren kniffligen Fragen, durch einen Nebenausgang aus dem Gerichtsgebäude hinaus. Schnellen Schrittes an neoklassizistischen Sandsteinsäulen vorbei und sich immer wieder umsehend, ob es dem wissbegierigen Mob nicht doch gelang den beiden zu folgen, erreichten die beiden Anwälte letztendlich die Straßenseite mit der großen Treppe. „So, das wär geschafft“, prustete Sebastian mit unstetem Rückwärtsblick.

Auf seiner Stirn hatten sich bereits Schweißperlen formiert und bildeten nun die Schläfen hinab ein kleines Rinnsal. „Gott was bin ich froh, das war der letzte Akt. Der Vorhang ist gefallen und der Applaus lässt auf sich warten. Aber egal!“ Nick zog seine mittlerweile von der Standgaserhöhung der letzten Minuten beschlagene Sonnenbrille ab und bändigte sein strähniges Haar, das ihm jetzt direkt in die Augen fiel. Sebastian nahm seinen Freund bei den Schultern und sah ihn an. „Es gibt Dinge im Leben, für die bekommt man keinen Applaus. Nur Respekt. Kleinkriminelle und Versicherungsbetrüger zu vertreten kann jeder. Aber was wir getan haben, dafür braucht man mehr als nur ein abgeschlossenes Jurastudium. Man braucht das, was nur echte Männer haben!“ Sie schauten sich an und verstanden sich blind. Ein laues Junilüftchen, das ein dezentes Blumenaroma von einer üppigen Anpflanzung jenseits der Straße zu ihnen herüberwehte, huschte wie ein unsichtbarer Geist über ihre Gesichter. „Eier!“, durchbrach Nick die beinahe spirituell anmutende Szene. „Genau mein Freund! Eier! Und mein Vater wusste das, als er uns den Fall übertragen hatte.“ Nickolas nickte wortlos. Dann verabschiedeten sich die beiden Männer mit einem professionellen aber kräftigen Händedruck.

Das Haus am See.

Vor dem weißen Haus mit dem dazu passenden weißen Holzzaun herrschte munteres Treiben. Rechts neben dem kleinen Vorgarten mit dem perfekt kurz getrimmten grünen Rasen befand sich die aus rotem Granit gepflasterte Auffahrt zur Garage, auf der der dunkelgrüne Range Rover mit offener Heckklappe fertig zum Beladen stand. Helen war in den Kofferraum gekrochen, um Taschen und Koffer möglichst so exakt zu justieren, dass auch ja kein Kubikzentimeter Stauraum ungenutzt blieb. „Hier, Mama, ist noch mein Boot. Das Boot muss noch mit. Ich will es schwimmen lassen, dort am See“, quengelte Serafino, den alle nur Fino nannten, da diese Kurzform seines Namens sich besser für Kommandos eignete. „Nein, dein Boot kann hier hinten nicht hinein; wenn ich die beiden Koffer noch unterbringen will, ist hier alles voll. Du musst es mit nach vorne nehmen, zum Beispiel zwischen deine Beine.“ „Aber vorne ist kein Platz, da hat Rahel schon ihre Teddys und Puppen.“

„Nein mein Schatz, der Wagen ist groß genug. Glaub mir!“ Fino musterte mit ungläubigen Kulleraugen den Kofferraum, in dem seine Mutter mit ihrer ausgewaschenen Jeans, die sie sonst nur zum Saubermachen anzog, mit ruckartigen Bewegungen die letzten beiden Koffer verstaute. Trotz seiner sieben Jahre war ihm klar, dass sein ferngesteuertes Motorboot im Heck des großräumigen Autos keinen Platz mehr hatte. Als Helen die Tür zum Kofferraum schloss, schien ihn das Gepäck wie Sardinen in einer Blechbüchse durch die Heckscheibe anzustarren. „So, die Mama duscht jetzt noch und macht sich zurecht. Und wenn der Papa mit deiner Schwester vom Friseur kommt, dann können wir losfahren.“ Sie liftete ihr pinkfarbenes Sweatshirt, das sie sonst wie eine Art Arbeitskleidung nur während des Hausputzes zu tragen pflegte. Erst jetzt fiel ihr auf, wie sehr sie bei der ganzen Verstau-Aktion ins Schwitzen gekommen war, worunter ihre Schminke, die völlig unnötig den makellosen Teint überdeckte, und die sonst so adrett sitzende Frisur gelitten hatten. Fino stand in seinem maritim blau-weiß gestreiften Poloshirt und der dunkelblauen Buntfaltenhose mit den farblich dazu passenden Segelschuhen mit zwinkernden Augen vor seiner Mutter. Einigen Strahlen der Mittagssonne war es nämlich gelungen, den Blätterwall des großen Ahorns, der auf dem Nachbargrundstück stand, zu durchbrechen. „Gib mir das Boot. Ich nehme es mit zu mir nach vorne“, flüsterte Helen mit weicher fürsorglicher Stimme und wuschelte ihrem Sohn dabei durch die blonde Topffrisur.

Dann nahm sie ihn auf den Arm und trug ihn mit ins Haus. Sie setzte Fino auf dem flauschigen grauen Wohnzimmerteppich ab, der sich zwischen der teuren, erst kürzlich erstandenen anthrazitfarbenen Ledercouchlandschaft und dem Arrangement aus naturgebeiztem Kirschholzesstisch mit acht dazu passenden Stühlen befand. Dann zog sie eine mit bunten Comicfiguren designte Kartonbox unter einer Anrichte hervor und würfelte Fino beim Auskippen der Box Bausteine und anderes multiples Spielzeug vor die Füße. „So mein kleiner Schatz, hier hast du was zum Spielen, solange Mami sich im Bad frisch macht.“ Fino ergriff ein paar Klötze und fing an sie aufeinanderzustapeln, während Helen links vorbei an der Küche den Flur entlangging, in welchem sich das Wurzelholzparkett des großzügigen Wohnzimmers fortsetzte. Auf dem Weg schweiften ihre Augen über die Familienfotos und die bunten, selbstgemalten Kinderbilder an den Wänden, die von einem glücklichen, wenn nicht perfektem Familienleben zeugten. Sie hatte diesen Schritt nie bereut, auch wenn sie vielleicht nicht die Erwartungen ihres Vaters erfüllte, der einer alten Juristendynastie entstammte und nur zu gerne gesehen hätte, dass sein einziger Spross seiner Lenden es ihm gleichtun würde. Doch auf der Uni lernte sie Nick kennen, der einige Semester über ihr war und wie es der Zufall so wollte, kreuzten sich ihre Wege auf einer dieser fachinternen Partys. Nick war der Typ, von dem sie immer geträumt hatte. Obwohl ihm in den Augen von Helens Vater der Makel aus einer Arbeiterfamilie zu kommen anhaftete, war er doch zielstrebig und engagiert. Aber auch nicht zu sehr. Er war keiner dieser kalten Ellenbogen-Fuzzies, die für eine gute Stellung über Leichen gingen. Nein! Er hatte auch diesen weiblichen, fast naiven Idealismus, die Welt durch sein Zutun verändern zu wollen. So war es jedenfalls am Anfang. Sie zog ihre verschwitzten Sachen aus und betrachtete sich vor dem Spiegel. Und sie war stolz auf sich. Intensives und regelmäßiges Fitnesstraining sowie regelmäßige Wellness-Programme hatten es geschafft die Natur zu überlisten und den mitunter postpartalen körperlichen Unbill an ihrer Figur vorüberziehen zu lassen.

Die Brust war perfekt, auch wenn ein Chirurg da vor 3 Jahren nachhelfen musste. Der Bauch flach und der Po knackig. Ihre blonden Haare trug sie nur kurz über Kinnlänge, eine allzu frivole Löwenmähne wie zu Jugendzeiten stand ihrer Ansicht nach einer Mutter und Ehefrau eines erfolgreichen Anwaltes nicht zu Gesicht. Sie spitzte die Lippen und ihre blau-grünen Augen überleuchteten das verlaufene Rouge ihrer leicht pausbäckigen Wangen. „Genug jetzt! Dein Ego ist genug schaugelaufen!“, flüsterte sie ihr Spiegelbild an. Sie duschte und zog sich dann frische Sachen an, die sie bereits am Morgen minutiös ausgewählt und im Bad zurechtgelegt hatte. 23 Minuten hatte das Ganze gedauert, denn sie hatte eine Uhr im Bad. Noch sieben Minuten, Nick hatte nämlich versprochen, um 13:00 Uhr mit Rahel zurück zu sein. Bis dahin hätte sie dann alles im Wagen verstaut. Abschließend noch einen Rundgang ums Haus, ob alles zu war, und dann könnte man los. Nachdem der letzte Lidstrich saß und sie zurück ins Wohnzimmer kam, wo Fino mittlerweile auf den imaginären Straßen seiner aus Holzklötzen errichteten Trabantenstadt den Verkehr seiner Matchboxautos regelte, hörte sie das bekannte Motorengeräusches ihres Beetle-Cabrios. „Daddy ist da!“ „Lass uns kurz zusammen die Spielsachen wegräumen, damit wir loskönnen, mein Schatz!“ Serafino willigte mit missmutiger Flunschlippe ein und tat als Alibi 2 Autos und einen blauen Baustein zurück in die bunte Box, die dann von ihr wieder neben den Getränkekisten geparkt wurde.

„Mami guck mal, ich hab Locken!“ Rahel wirbelte in ihrem rosa Kleidchen, das mit Elfen, Einhörnern und sonstigen femininen Fabelgetier überzogen war, hinein ins Wohnzimmer. Mit einem gekonnten Ruck riss sie sich den Strohhut vom Kopf und drehte sich mit unbeholfener Pirouette, aber umso mehr leuchtenden Kinderaugen vor Helen und Fino, um Bewunderung für ihre neue Frisur zu erhaschen. „Das, das ist doch keine richtige Dauerwelle?“, bemerkte Helen mehr erleichtert als fragend, als sie Rahels Drehzwang stoppte und die langen blonden, nun leicht gewellten Haare prüfend zwischen ihren Fingern hin und her rieb.

„Nein, Quatsch, das ist mit so einer Art Lockenwickler gemacht worden, so mit Wärme, weißt du? Die sind nach einigen Stunden wieder raus“, winkte Nick mit einer lässigen Handbewegung ab. Er stand in dem weitläufigen Eingang zum Wohnzimmer und betrachtete wohltuend das aufgeregte Treiben seiner kleinen Prinzessin. Dann trat er an seine Frau heran, die auf dem Teppich kniete, um mit Rahel auf Augenhöhe zu sein, und küsste sie auf die Stirn.

„Du siehst wie immer toll aus!“ Sie erhob sich in seine Arme und erwiderte den Kuss mit ihren vor altrosa Gloss glänzende Lippen auf seinen Mund. „Neue Frisur?“, musterte sie den neuen Cut ihres Mannes und strich ihm über den ausrasierten Nacken, was bei Nick zunächst ein Kitzeln auslöste, dem eine den Rücken hinunterlaufende elektrisierende Gänsehaut folgte. „Komm, lass uns endlich fahren, die Kinder sind schon ganz aufgedreht.“ „Nur die Ruhe“, mahnte Nick und griff Helen in die Taille, auf der das enge schwarze Top mit dem V-Ausschnitt und der Spitze im Dekolletee-Bereich nach oben gerutscht war und ihren Rücken freigab. „Sebastian hat mich eben angerufen, er hatte mir vergessen zu sagen, dass Bekannte von seinem Bruder noch in dem Haus sind und uns gegen sieben Uhr abends den Schlüssel übergeben. Wir brauchen uns also nicht zu beeilen.“ Helen lächelte, zog sich das Top wieder in seine Ursprungsposition und gab Nick noch einen dicken Schmatzer auf den Mund, der von einem energetischen Aufblitzen ihrer bei diesem Licht türkis erscheinenden Augen begleitet wurde. „Fahren wir jetzt endlich Daddy?“, quengelte Serafino, der die ganze Zeit mit seiner kleinen Schwester zusammen das Stelldichein seiner Eltern stumm betrachtete. „Ja, wir fahren jetzt! Kommt! Jetzt sind Ferien! Zwei Wochen nur für uns!“ Nick klopfte Helen auf den Po, der in der Designerjeans besonders prall wirkte, nahm seine Kinder an die Hand und hüpfte mit ihnen nach draußen zum vollgepackten Range Rover.

Sie folgte wippenden Schrittes. Dann stellte sie die Alarmanlage scharf und ging noch einmal ums Haus, um zu überprüfen, ob alle Fenster und Türen geschlossen waren, während Nick den Kindern ins Auto half. Noch kurz den gelben Beetle in der Garage geparkt, Tore zu und der Start in einen relaxten Urlaub war durch nichts mehr aufzuhalten.

Der Wagen war aufgeheizt, Nick lüftete sein weißes Hemd, dessen Ärmel er bis über die Ellbogen gekrempelt hatte; dann setzte er seine Sonnenbrille auf und betrachtete sein Gesicht im Rückspiegel, an dessen Kinn und Wangen sich ein Drei-Tage-Bart breitgemacht hatte und so auch äußerlich den Urlaubsstatus des sonst so glattrasierten Anwalts kundtat. „Du bist auch unrasiert schön genug. Nun lass uns fahren“, lächelte sie und reichte den Kindern spritzsichere Getränkefläschchen mit Saft. Sie fuhren aus der Stadt hinaus und die Klimaanlage kühlte das Wageninnere schnell auf eine angenehme Temperatur ab. Helen ließ durch die Elektronik ihren Sitz in eine halbliegende Position fahren, lehnte sich zurück und schloss unter ihrer Sonnenbrille entspannt die Augen, nachdem sie sich zuvor mit einem Blick nach hinten vergewissert hatte, dass Fino verträumt in sein Malbuch kritzelte und Rahel eingeschlafen war. Nick hatte die Adresse des Ferienhauses, das Sebastians Vater vor 8 Jahren von einem befreundeten Architekten hatte bauen lassen, in das Navigationssystem eingegeben. Es lag auf dem Land an einem kleinen See exakt 389 km entfernt. Nach all dem Stress war das hier der perfekte Moment. Urlaub mit der Familie. Nachdem Helen nach Serafinos Geburt ihr Jurastudium zum Leid ihres Vaters gecancelt hatte, ruhte auf Nick ein extremer Druck, da zu diesem Zeitpunkt klar war, dass er allein für Ernährung und Wohlstand seiner kleinen Familie verantwortlich war. Helens Vater, als letzter Patriarch einer Juristendynastie, hatte diese Rolle schließlich für seine einzige Tochter auch übernehmen müssen und forderte dies ebenso von seinem Schwiegersohn in einem „Gespräch unter Männern“ ein. Und dies vor der Hochzeit, als Helen bereits im 5. Monat schwanger war. Es gab also kein Zurück für ihn. Er schaute auf den Beifahrersitz und sah an ihrem halboffenen Mund, dass sie eingeschlafen war.

Sie hatten die Stadt verlassen, in dessen gutsituierten Außenbezirk sie vor drei Jahren das Haus gekauft hatten. Die Landstraße war leer. Zu beiden Seiten zogen Felder vorbei, die sich in Nicks Sonnenbrille spiegelten wie die Endlosschleife eines Kinofilmes mit ein und derselben Szene. Die Monotonie des Augenblickes verleitete Nick dazu stumm über sein Leben zu philosophieren, über die Stelle, die er in der Kanzlei von Sebastians Vater vor drei Jahren angenommen hatte, die Chance und auch die Bürde finanzstarke Mandanten zu vertreten, die so manches Mal alles andere als unschuldig waren. Doch das Haus musste bezahlt werden, das er Helen, seinen Kindern und ein Stück weit auch ihrem Vater bieten wollte. Vielleicht wollte er es sich auch selbst beweisen? Seine Stirn kräuselte sich, denn dieser Gedanke war ihm unangenehm. Hatte er, der aus einer einfachen Arbeiterfamilie stammte, es doch aus eigener Kraft geschafft! Also was schuldete er sich selbst? Nichts! Er hatte alles erreicht. Eine attraktive Frau aus gutem Hause und zwei wundervolle Kinder.

Der betörende, aber dennoch mit entsprechender Penetranz versehene Klingelton seines Smartphones durchbrach seine Gedankenwelt und wies seinem Adressaten wieder einen Platz in der Gegenwart zu. Nick aktivierte mit ungeschicktem Fingerspiel die Freisprechanlage. „Ich bin’s, Rob!“ Es war Robert, Sebastians älterer Bruder, der zum Erstaunen seines Vaters Medizin studiert hatte, um sich als Psychiater mit den wirklich Irren dieser Welt auseinanderzusetzen. „Rob! Wie geht’s dir? Wir sind auf dem Weg … warte, noch 306 km sagt das Navigationssystem.“

„Lasst euch Zeit, hat dich Sebastian noch erreicht?“

„Ja ich weiß Bescheid, da sind noch Gäste im Haus … Bekannte von dir … sie übergeben uns heute Abend den Schlüssel … der Empfang ist schlecht Robert. Robert? Bist du noch dran?“ Es knisterte und rauschte, doch dann war seine Stimme plötzlich wieder klar zu hören. „Nick hör zu! Es sind … es sind eigentlich eher Patienten, ein Ehepaar. Die Sönnsens. Der Mann ist der Bruder meiner Exfrau und Eva, das heißt seine Frau, ist meine Patientin. Also, lange Rede – kurzer Sinn. Sie ist bei mir schon seit Jahren in Behandlung … und na ja, als ich mich von Nadja habe scheiden lassen … also wir haben uns damals ja einvernehmlich getrennt und sind auch weiter gute Freunde, wie du ja weißt …“ „Ja ich weiß, also komm auf den Punkt, was können wir für dich tun? Es ist Robert“, hauchte er zu Helen hinüber, die mittlerweile wach geworden war. Er drückte auf sein Smartphone, so dass sie mithören konnte.

„Es ist so …“ Robert war neben seiner Tätigkeit als praktizierender Nervenarzt auch ein bekannter Psychoanalytiker und somit für sein mitunter ausschweifendes Redeverhalten bekannt. „Sie ist bei mir seit Jahren in Behandlung. Und … und daher etwas seltsam.“ „Natürlich ist sie seltsam, deswegen ist sie ja auch deine Patientin, welcher normale Mensch konsultiert auch sonst einen Seelendoc!“

„Na ich wollte nur, dass ihr das wisst, sie redet halt wirres Zeug und ist darin auch sehr überzeugend, also wundert euch nicht.“

„Weswegen behandelst du sie?“, fragte Helen. „Das kann ich dir nicht sagen. Arztgeheimnis. Hat aber etwas mit dem Tod ihrer Tochter zu tun. Sprecht sie aber bitte nicht darauf an!“

„Ist …, ist sie gefährlich?“

„Nein. Zumindest nicht im physischen Sinne. Sie ist nicht aggressiv oder so, weder zu sich noch zu anderen, sie …“ „Sie redet wirres Zeug, wir haben verstanden. Danke für die Warnung, wir lassen uns ja nur die Schlüssel aushändigen.“ „Ja genau, also schönen Urlaub und meinen Glückwunsch zu dem gewonnenen Prozess.“ „Vielen Dank, mach’s gut Rob!“ Nick legte auf und zuckte mit den Schultern. „Egal was soll’s, die sind dann ja weg, also egal wie verrückt seine Bekannte auch sein mag, mit denen haben wir nichts weiter zu schaffen.“

„Ja du hast Recht. Das Haus und du gehören dann mir und den Kindern ganz alleine.“ Helen streichelte ihm über den Oberschenkel und würzte das Ganze mit dem Blick eines verliebten Teenagers, der unter ein paar Haarsträhnen hervorlugte, als sie verlegen ihren Kopf zur Seite kippte. Sie bewunderte ihn als Mann. Und für den Weg, den er gegangen war, und für das, was er für sie und die Kinder geschaffen hatte. Vermutlich wäre sie auf der Strecke geblieben, hätte sie ihr Studium beendet und sich wie Nick als Jurist beweisen müssen. Denn das Geschäft war hart und voller Zynismus. So nahm sie die Schwangerschaft an wie eine gute Fee, die sie vor dem drohenden Unheil erlöste. Sie blickte aus dem Fenster. Die Landschaft begann sich zu wandeln. Die Felder wichen grünen Wiesen, auf denen Kühe und Rinder mit melancholischer Lethargie in der Sonne ruhten. Hier und dort waren jetzt vermehrt Bäume und Knicks eingestreut, die sich in dem näherkommenden Horizont zu kleinen Wäldchen formierten. Helens Lider begannen sich wieder mit bleierner Schwere zu füllen und der Vorhang des Schlafes fiel erneut über sie herein.

Ein kühler und feuchter Duft stieg ihr in die Nase. Ein Gemenge aus verdunstetem Morgentau, welcher sich von üppigem Blattwerk erhob, und den nussigen Ausdünstungen vermodernden Unterholzes. Sie öffnete die Augen und fand sich inmitten eines Farnhaines wieder, dessen fächerhafte Blätter sie um eine gute Kopfgröße überragten. Ihre nackten, rot lackierten Füße standen auf einem dicken Moosteppich. Unbeweglich, starr wie altes vom Leben verlassenes Holz stand sie da. Dann bewegten sich die Farne, als wollten sie ihr mehr von diesem sinnberauschenden Gebräu aus fotosynthetisiertem Sauerstoff und Waldluft zufächeln. Erst jetzt bemerkte sie, dass nicht nur ihre Füße nackt waren, sondern sie lediglich mit einem durchsichtigem Negligé bekleidet war, dass ihren makellosen Körper bis zur Hüfte umspielte, aber nicht bedeckte. Sie schaute nach oben, außerhalb des Farns breitete sich der Wald aus mit einer Reihe von mächtigen Bäumen, an deren dunkelschiefergrauen, fast steinern wirkenden Stämmen das Moos hinaufgekrochen war. Dahinter verbarg sich farblose Schwärze, die zusammen mit den Spalier stehenden Bäumen dem lebensfrohen Grün des überdimensionierten Farnes spottete. Die breiten Kronen mit dem vollen Blattwerk versperrtem dem Tageslicht den Weg zum Boden, als wollten die Erde und sämtliche Kreaturen, die auf diesem Flecke wandelten, unter sich sein. Nur wenige Strahlen erhellten das jungfräuliche Grün. Helen machte behutsam einen Schritt nach dem anderen, denn aus einer erreichbaren Ferne drang fröhliches Geplätscher an ihr Ohr. Jede Berührung ihrer Füße mit dem Waldboden elektrisierte sie. Zuerst begannen nur ihre Sohlen zu kribbeln, dann schlich die Gänsehaut mit einem kühlen, aber angenehmen Schauer ihre Waden hinauf, um schließlich ihre Schenkel zu erreichen und in der Scham zu finalisieren. Behutsam schob sie das spiralförmig gekräuselte Blattwerk mit ihren Händen beiseite, das sie mitunter freundlich an Wangen und Hüften tätschelte.

Doch als ihr Blick zu beiden Seiten schweifte, dort wo sich der düstere Wald auftat, sah sie in der namenlosen Dunkelheit zwischen den Stämmen leuchtende Augenpaare, die sie aus dem Nichts anzustarren schienen. Auf ihrer Haut begann mehr und mehr die wie durch einen Vaporisier zerstäubte Luft zu kondensieren, so dass der Hauch von Nichts wie eine zweite durchsichtige Haut auf ihr klebte. Das Herz trieb das Blut mit vibrierenden Schlägen durch den Körper. Es begann immer härter und schneller zu schlagen. Urplötzlich lichtete sich der Hain, die düsteren Stämme mit ihrem wachenden Blattwerk, die Finsternis und die in ihr wohnenden Augen waren verschwunden. Sie betrat eine Wiese vor einem kleinen See, der sich inmitten eines Kreises aus Trauerweiden befand und von dem Schwaden geisterhaften Nebels zu Helen herüberzog. Ihr ganzer Körper war durchnässt, übersät mit funkelnden Schweißperlen, die sich zu kleinen Rinnsalen vereinigten und der Schwerkraft folgend an ihrer Haut hinunterrannen. Es war heiß und ohne den schützenden Wald brannte die Sonne erbarmungslos. Am Rande des Sees erschien durch den Nebel hindurch eine Gestalt, die bis zu den Knien im Wasser und mit dem Rücken zu ihr stand. Der glatten Haut und dem muskulösen Körperbau nach war es ein junger Mann. Sie entledigte sich ihrem letzten Kleidungsstück und ging durch den sich auflösenden Nebel auf den Mann zu, der sich, als sie unmittelbar hinter ihm stand, umdrehte und ihre bloßen Hüften mit festem Griff packte. „Fürchte dich nicht Helen“, sprach ein gesichtsloser Mund.

Ihr Herz spurtete, sie presste ihre Lippen auf seine blutroten Lippen, die wie kalter Honig schmeckten. Er massierte ihre Schenkel, die Brüste erigierten, bis die rosafarbenen Knospen fast platzten. Helens Schoß glühte, alles Blut schien sich in ihm zu vereinigen, ihre Hände ergründeten rutschige, aber weiche Klippen. Ihr Beckenboden verbündete sich mit dem Herzschlag und sie spürte, wie jede Sekunde der Damm brechen wollte. Sie war bereit ihn zu empfangen. Den Namenlosen, wer immer er auch sein mochte, er sollte in sie eindringen und in ihr seinen schneeweißen Lustfluss verspritzen. Der Schleier, der die Szene umgab, lichtete sich und aus ihm heraus formierte sich ein Gesicht von kantiger Gestalt mit großer spitzer Nase und schwarzem Haar. Unter ebenso dunkle Brauen blitzten wilde Augen voll Fanatismus und Wahn.

„Helen …?Helen!“ Gottes Stimme ertönte durch die Wolken und erlöste sie. Ihre Augen öffneten sich. Unsicher und völlig verschwitzt blickte sie umher. „Du … du hast geträumt!“ Sie schaute aus dem Fenster. Das Auto stand still am Straßenrand. „Alles ok?“ Nick hatte die Sonnenbrille abgenommen und blickte seiner Frau durch einen Schleier der Besorgnis an. „Es … es war ein Alptraum. Ja! Ich hatte einen Alptraum!“ Sie atmete mit sich tief hebender und senkender Brust ein und wieder aus, um ihren Puls herunterzufahren und den Verstand zu resetten. Nachdem sie sich einen Moment gesammelt hatte und die reale Welt sie wieder begrüßte, schaute sie zurück und sah nun, dass auch Fino und Rahel, die sich jeweils an ein Kuscheltier klammerten, ihre Mutter mit ängstlicher Miene betrachteten. „Was hast du geträumt? Du bist ja völlig fertig.“

„Ja Mami, erzähl uns den Traum, dann kommt er nicht zurück“, unterstützte Serafino seinen Vater. „Ach es war … es war von dem Prozess. Daddys Mandant der … egal, ich kriege es nicht mehr zusammen … ist auch nichts für Kinder. Lasst uns eine Pause machen.“ Sie streichelte Nicks Wange. „Wirklich alles ok mit dir?“

„Ja alles gut. Solche Träume gehen zum Glück genauso schnell, wie sie gekommen sind.“ Sie stiegen aus. Auf der großzügigen Landstraße war weit und breit kein Wagen zu sehen. Helen zog ihr völlig durchnässtes Top aus und trocknete sich den Oberkörper ab. Nick hatte den Range Rover in einer kleinen Nebenbucht der Straße am Eingang zu einem holprigen Feldweg geparkt, so dass sie gefahrlos aussteigen und mit den Kindern ein paar Schritte gehen konnten, um sich die Beine zu vertreten. „Lasst uns ein Picknick machen.“

„Wie weit ist es noch?“

„60 Kilometer.“ Sie schaute zum Himmel, zwinkerte mit den Augen und bemerkte, dass die Sonne ihren Zenit schon lange überschritten hatte und sie bereits einige Stunden unterwegs waren, wobei sie die meiste Zeit mit Schlafen verbracht hatte. Sie holten Decken und einen Korb mit allerlei Wegzehrung aus dem Wagen und breiteten auf einer brachliegenden Wiese ein kleines Lager aus. „Dort hinten wird es hügelig und das Wetter scheint auch schlechter zu sein“, bemerkte sie, die den in Fahrtrichtung liegenden Horizont mit seinen tiefhängenden, aus massiven grau geformten Wolken betrachtete. „Ja, stimmt! Aber das muss nichts heißen, der Wetterbericht hat die nächsten Wochen Sonnenschein prophezeit“, nuschelte Nick, der gerade eine Hartwurst verzehrte. „Es sieht aus, als wenn dort hinten der Himmel die Erde bedroht.“

„Rede nicht so einen Unsinn Serafino, mach deiner kleinen Schwester keine Angst!“, fuhr Helen ihrem Sohn über den Mund, denn nach dem Alptraum, der sie vorhin heimgesucht hatte und dessen Bildgewalt ihr nach wie vor im Kopfe herumspukte, hatte sie für solche Phantasien kein Verständnis. „Das wird ein schöner und entspannter Familienurlaub. Ganz egal, wie das Wetter wird!“ Nick fuhr den Kindern durch die Haare, die brav ihren Obstsalat aus kleinen bunten Plastikschälchen löffelten, und blickte dann zu seiner Frau, die ihm bejahend zunickte. „Esst auf, wir haben es gleich geschafft. In nicht einmal einer Stunde sind wir am Ziel. Einige Kilometer vor dem Haus ist ein kleines Dorf, da werde ich noch mal volltanken und wir kaufen noch ein paar Sachen ein.“

„Ich will Vanilleeis und Brownies … und Schokomilch … und … und Nudeln mit Hacksoße.“

„Oh ja, Nudeln mit Hacksoße … die machen wir gleich heute Abend, oder Grillwürstchen …“

„Stopp, halt, nicht so schnell, wir haben genug Zeit für all eure Essenswünsche“, versuchte Nick mit einem gönnerhaften Lachen die Konsumwünsche seiner Kinder zu beschwichtigen, die wie dicke Regentropfen aus den Mündern von Rahel und Fino auf ihn einprasselten. „In Ordnung. Lasst uns die Pferde satteln und weiterfahren.“

Helen hob die Picknicksachen auf und packte alles

zusammen, wobei ihr die Kinder halfen, während Nick die Decken zusammenrollte und wieder im Auto verstaute. Rahel hüpfte zum Wagen und kletterte auf den Sitz, während Serafino noch leicht verträumt in den Horizont hineinstarrte. „Komm Fino, wir wollen weiter“, ermahnte ihn Helen und nahm ihn schließlich an die Hand, um ihn zum Auto zu führen. Beschwingt von der Vorstellung, nach einer langen Autofahrt bald am Ziel zu sein, ging es weiter. Die Kinder brabbelten gelöst auf den hinteren Sitzen und spielten mit Stofftieren. Die Straße war menschenleer und Nick gab dem SUV ordentlich die Sporen. Sie schaute aus dem Fenster. Die Landschaft zog an ihnen wie im Schnelldurchlauf vorbei. Die Felder und Äcker wichen jetzt lichten Wäldchen und der hügelige Horizont mit den tiefhängenden Konvoluten aus schweren, feuchtigkeitsschwangeren Wolken, welcher eben noch in weiter Ferne lag, schien auf sie eine beinahe sogartige Wirkung zu haben. Der Bewuchs wurde immer dichter, bis letztendlich nur noch ein kleiner Wiesenstreifen zu beiden Seiten der Straße zurückblieb und sich dort hinter ein saftiger Mischwald auftat, dessen Baumwipfel dicht an dicht in den nun völlig sonnenbefreiten Himmel hineinragten. Ein Wind, der ein Unwetter erwarten ließ, rieb das mächtige Blattwerk gegeneinander, so dass ein kräftiges Rauschen und das Knarren uralter Stämme zu hören waren. Nick drosselte die Geschwindigkeit und machte die Scheinwerfer an. Denn obwohl die Straße genau so leer und breit war wie zuvor, so wirkte sie wie ein enger und lichtentbehrter Korridor. „Das ist ja ein schöner Empfang“, kommentierte er das Naturschauspiel. Helen schwieg. Das Treiben ihrer unmittelbaren Außenwelt hatte ihre sonst so gelöste Urlaubsstimmung schwinden lassen. Hitze stieg in ihr auf und sie bemerkte, wie sich ihre Wangen mit Blut füllten und röteten. Der Bauch war aufgetrieben und schmerzte, als wolle sich eine Leibesfrucht aus ihr herauspressen. Sie versuchte sich zu konzentrieren und den Schmerz mit tiefen Atemzügen aus sich herauszuatmen. „Alles ok mit dir?“, fragte Nick, der von ihr unbemerkt immer wieder zu ihr hinüberschaute. „Ja, es ist nichts. Ich hatte eben nur so Bauchkrämpfe, aber jetzt ist es besser!“ Sie schaute ihren Mann an und rang sich ein verkniffenes Lächeln ab. „Du siehst schlecht aus. Soll ich halten?“

„Nein …, nein nicht hier … gleich in dem Dorf, da vertrete ich mir noch einmal die Beine. Es geht auch schon wieder.“ Sie streichelte seinen Oberschenkel und warf ihm noch einen verliebten und beschwichtigenden Blick zu. Als sie wieder heraus sah, bemerkte sie, wie sich der Straßenrand mit Blumen säumte, denen es gelang die Finsternis mit ihrem leuchtenden Blau zu durchstrahlen. „Oh Mami, schau die schönen Blumen“, ertönte es von Rahel, die sich ihre kleine Stupsnase an der Fensterscheibe plattdrückte. „Das ist Aconitum napellus. Blauer Eisenhut!“, erklärte Nick seiner Tochter freudig. „Da vorne ist das Tal mit dem Dorf, wir halten dort. Am See gibt es noch genug Blumen für dich zum Pflücken.“ Die Landschaft wurde wieder weiter und der Wald schien sich zu lichten, was Helen sofort Druck und Hitze aus dem Körper nahm und sie aufleben ließ. Am Eingang zum Dorf sahen sie, wie sich zu ihrer Rechten ein kleiner Fluss entlangschlängelte, der zuvor von den mächtigen Bäumen verdeckt worden war. An einem Gestade stand eine alte Wassermühle aus rotem Backstein, an deren Seite ein großes Mühlenrad seine hölzernen Schaufeln energisch durch das Wasser trieb. Es folgten mehrere einfache Häuser, deren heller Putz bereits besser Zeiten gesehen hatte und an vielen Stellen das Mauerwerk preisgab. Zu jedem einzelnen gehörte ein kleiner oder auch größerer Garten, in dem in symmetrischer Reihe alte knorrige Obstbäume standen. Dazwischen spannten sich manches Mal Wäscheleinen, an welchen weiße Bettlaken oder Kleidungsstücke hingen. Nick drosselte das Tempo. Sie befanden sich auf der Hauptstraße, die das Dorf wie eine Schlagader durchzog. „Schaut! Die haben alle Beete mit Blumen und Gemüse. Das scheinen alles Selbstversorger zu sein.“ Er zeigte mit dem Finger auf eines der Häuser. Auf dessen Grundstück war hinter einem hölzernen Zaun, an dessen Pfählen sich eine Hecke pinkfarbener Wicken entlanghangelte, ein größeres Feld angelegt. Die Erde war hier zu kleinen Wällen aufgeworfen, dessen dunkelbrauner Humus von zartgrünen Sprösslingen durchbrochen wurde, wie exakt in Reihe exerzierende Soldaten. „Hoffentlich gibt es hier überhaupt Geschäfte oder eine Tankstelle. Sonst müssen wir ewig fahren, um etwas einkaufen zu können.“

Helen, die von klein auf das urbane Leben gewohnt war, taxierte missmutig das ländliche Treiben. Zwar sahen die Gärten im Gegensatz zu den Häusern sehr gepflegt aus, doch vermisste sie ihre Bewohner, denn die Straße und die Anwesen, die sie säumten, waren menschenleer, was dem Ort eine gewisse Lethargie verlieh. Sie schaute sich um. Rahel und Fino waren auf dem Rücksitz eingeschlafen. Die lange Fahrt hatte ihren Tribut gefordert.

Nach ungefähr zwei Kilometern gelangten sie in den Ortskern. Von der Hauptstraße aus, die das Tal auf dem vor ihn liegenden Weg wieder in die Einöde verließ, gingen zu beiden Seiten kleinere Straßen oder Gassen ab, deren Bodenbelag denselben brüchigen Zustand aufwies wie der Putz der Häuser. „Gut, dass wir ein geländegängiges Fahrzeug haben“, witzelte Nick zynisch, als er sich umschaute. „Die Kinder schlafen?“ Helen nickte. „Halte da vorn, da hinten am anderen Ende ist eine Tankstelle und da vorne auf der anderen Seite sind ein paar Läden!“ Sie war froh endlich Zeichen der Zivilisation zu erkennen. Auf der linken Seite war eine Ladenzeile, auf dessen Fußgängerweg sogar Menschen zu sehen waren. Außerdem erspähte sie Ampeln und Zebrastreifen als erste Insignien eines geregelten Stadtlebens. „Dem Navi nach sind es von hier noch 12 Kilometer. Ich finde, wir sollten für heute Abend nur etwas zum Grillen und ein paar Getränke einkaufen. Der Wagen ist randvoll. Morgen, wenn wir alles ausgepackt haben, kommen wir zurück und kaufen richtig ein.“

„Ja, du hast Recht“, erwiderte Helen und rieb sich müde die Stirn. „Geh du rüber. Ich tanke inzwischen, so kann ich bei den Kindern bleiben.“ Nick stieg aus und ging über die Straße zu einem der kleinen Geschäfte, während Helen zur Fahrerseite wechselte.

Nachdem sie Rahel noch vorsichtig ein vollgesabbertes Stofftier aus den kleinen Händen nahm und Fino ein kleines Kissen in den Rücken schob, steuerte sie die Tankstelle am Ende des Ortes an. Der Tankstelle war eine kleine Autowerkstatt angeschlossen, denn als Helen vor eine der Zapfsäulen fuhr, kam ein junger Mann aus einer breiten Garage, in der ein alter dunkelblauer BMW 3.0 aufgebockt war. Er mochte um die 25 sein und winkte ihr aus der Entfernung freundlich zu, nachdem er ein Werkzeug beiseitegelegt und sich an einem kleinen Waschtrog außerhalb der Garage Hände und Unterarme von grobem Schmutz und Ölflecken gereinigt hatte. „Ich bin gleich für sie da!“, rief er zu ihr herüber, während er sich mit einem weißen, zerschlissenen Frotteehandtuch die letzten, mit braunem Öl emulgierten Seifenreste von den kräftigen Händen wischte. „Hi, ich bin Gabriel. Sie wollen tanken?“, entsprang es einem empathisch lächelnden Mund, aus dem blendend weiße Zähne blitzten. Er schickte seine braunen Haare, die ihm in Form einer kleinen Tolle über der Stirn hingen, mit einem gekonnten ruckartigen Kopfrucken nach hinten, pustete sich noch eine letzte widerspenstige Strähne aus dem Auge und ging wortlos zur Säule, ohne eine Antwort abzuwarten.

Sie öffnete schnell den Tankdeckel. Er versenkte den Stutzen und wischte sich mit der anderen Hand einen kleinen Fleck vom Daumenballen an seiner Latzhose aus Jeansstoff ab, unter der er – von einem gut definierten Oberkörper einmal abgesehen – wetterbedingt kein Shirt trug. „Bitte vollmachen!“, forderte Helen freundlich und erntete einen bestätigenden Augenaufschlag, der unter geschwungenen Brauen hervorblinkte. „Sie sind auf der Durchreise?“

„Äh … ja, sozusagen. Wir machen Urlaub in einem Ferienhaus … dort ein paar Kilometer weiter die Straße runter.“

„Das Haus am See?“

„Ja, genau! Sie kennen es?“

„Ja, ein ziemlich großes Anwesen. Es gehört einem reichen Staranwalt.“

„Es ist der Chef meines Mannes. Mein Name ist Toussaint. Helen Toussaint!“ Sie war sich unsicher, ob sie einem Fremden, dem sie vor einigen Minuten das erste Mal im Leben begegnet war, das erzählen sollte. So kamen ihr die Worte stockend über die Lippen. Aber da sie gut erzogen war und eben nicht unhöflich sein wollte, ließ sie sich auf diese Minimalvariante des Small Talks ein.

Der junge Mann, der ihr, obwohl erwachsen, sofort seinen Vornamen verriet, stellte sich aber nicht weiter als besonders wissbegierig heraus. Als der Tank voll war und der Stutzen kurz ruckte, fragte er mit weicher und einfühlsamer Stimme höflich: „Brauchen Sie noch etwas? Ölwechsel? Soll ich den Reifendruck prüfen? Scheiben waschen? Ist alles Service und kostet nichts extra!“ „Nein … nein … danke. Bitte nur tanken!“ Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten und sie mehr und mehr verlegen wurde. Sie senkte den Kopf und versuchte sich die Haare ins Gesicht fallen zu lassen, damit sie ihre Scham verbargen. „Na ja …“, begann sie und schürzte die Lippen. „Vielleicht können Sie ja doch die Scheiben putzen und mal nach dem Öl sehen. Mein Mann ist gerade da drüben ein paar Sachen einkaufen … und wenn es Ihnen nichts ausmacht …“

„Nein, ganz und gar nicht, dafür bin ich da. Hier kommen selten Leute vorbei, denen man etwas anbieten kann. Meist habe ich nur Einheimische als Kunden. Die kennt man alle in- und auswendig … wirklich kein Problem … ich freue mich über jedes neue Gesicht! Und wenn es dann auch noch so hübsch ist …“ Er vollzog nun die gleiche Geste, mit der Helen eben ihre Verlegenheit zu verbergen suchte. Doch da sie kleiner war und zu ihm aufschaute, sah sie, wie sich seine Wangen wie bei einem verliebten Teenager mit Blut füllten. „Das ist sehr freundlich von Ihnen und ich weiß das zu schätzen!“ Gabriel löste die Situation, die jetzt für beide gleichermaßen peinlich zu werden drohte, auf, indem er zu einem Eimer mit Wasser und Putzmittel ging und die Scheiben des Range Rovers putzte. Helen blieb stehen und schaute zur anderen Straßenseite hinüber. Als sich die Tür eines der Geschäfte öffnete und der Hauch eines Glockenklanges durch die windlose Stille des Ortes zu ihr herüberzog, sah sie Nick mit einer großen Tüte den Laden verlassen. Gabriel war eben fertig geworden. „Da kommt mein Mann. Das mit dem Öl prüfen machen wir morgen, ok?“

„Ja gut. Ist mir recht, kein Problem. Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Gute Reise noch.“ Sie schaute auf die Zapfsäule und rundete den Betrag großzügig auf. „Der Rest ist für Sie. Vielen Dank!“

„Das … das wäre nicht nötig gewesen. Vielen Dank.“ Gabriel nahm das Geld, das Helen ihm mit festen Griff und geweiteten Pupillen in die noch feuchte Hand drückte, was ihm signalisierte, dass hier Widerspruch fehl am Platz war. Dann stieg sie ein und öffnete Nick, der ungelenk mit der großen Tüte hantierte, die Fahrertür. Sie verstaute alles zwischen ihren Beinen und auf der Mittelablage. „Hast du alles bekommen?“

„Ja! Hast du getankt?“

„Ja, lass uns fahren.“ Während Nick sich anschnallte, schaute sie kurz aus dem Fenster hinaus und sendete ein kurzes Lächeln durch die frisch geputzten Scheiben hinaus zu dem hilfsbereiten Tankwart. Auf dem Rücksitz räkelte sich Rahel kurz in ihrem rosa Märchenkleidchen und rieb sich die Augen, während Serafino sich noch im Tiefschlaf befand und sein Stofftier vollsabberte. „Schlaf weiter mein Schatz, wir sind gleich da“, sprach Helen mit sanfter Stimme. „So, noch 8 Kilometer, dann haben wir es endlich geschafft“, bemerkte Nick mit einem Blick auf das Navi, während er der Hauptstraße folgte, die sich stur durch die leicht hügelige und bewaldete Landschaft zwängte. Der Himmel hing tief und die schweren grauen Wolken schickten sich an jeden Augenblick einen Regenguss zu gebären. Ungefähr nach der Hälfte der verbleibenden Strecke wurde die Landschaft wieder flacher. Das Tageslicht war durch die Witterung, welche der Schönheit eines Sommertages spottete, nun fast vollständig ausgesperrt. Nick hatte die Scheinwerfer angemacht, die die Straße entlangleuchteten. „Da vorne müssen wir links ab, dann sind es nur noch ein paar Hundert Meter.“ Er schlug das Lenkrad ein und bog in einen sandigen und holprigen Weg ab, der sich durch einen lichten Mischwald bahnte. „Da vorne ist es. Glaube ich.“ Helen deutete mit dem Finger auf ein weißes Haus, das von einer dichten Hecke umgeben wurde. „Ja hier ist es! Das ist ja riesig!“ Nick staunte: Obwohl ihm Sebastian bereits von der Ferienresidenz seines Vaters vorgeschwärmt hatte, hielt er es bis zu diesem Zeitpunkt für eine wohlwollende Übertreibung. Die Hecke, die anscheinend soweit das aus diesem Blickwinkel zu beurteilen war, das ganze Grundstück umschloss, war ungefähr 2,5 Meter hoch und bestand aus einem immergrünen, herzförmigen Blattwerk, das perfekt in Form getrimmt und hier und dort von Efeu und anderen Schlingpflanzen durchsetzt war. An der Einfahrt zum Haus wölbte sie sich zu einem dichten, grünen Torbogen auf. Das weiße, zweiflügelige Tor, das eine barocke Schwingung aufwies, stand einladend offen.

Nick steuerte auf den Vorplatz vor dem Haus, der genau wie der Weg, den sie entlanggekommen waren, aus plattgewalztem Sand bestand. Da auf der linken Seite das Fahrzeug der Gäste – ein dunkelblauer BMW Kombi – stand, parkte er auf der rechten Seite neben einem großen Apfelbaum. „Wow, so groß habe ich es mir nicht vorgestellt. Lass die Kinder noch im Wagen schlafen. Wir klären kurz die Formalitäten. Die eine ist eine Patientin von Sebastians Bruder, die soll schräg drauf sein, da ist es eh besser, dass die Kinder das nicht mitbekommen.“ Sie nickte ihrem Mann zu. Genau wie er war sie von dem Haus und der Größe des Grundstückes überwältigt. Sie standen beide vor dem Wagen und schauten sich um. Das gesamte Anwesen musste beinahe die Größe eines Fußballfeldes haben. Auf dem Vorplatz befanden sich zu beiden Seiten zwei alte Apfelbäume mit knorrigen, in sich verdrehten Stämmen, als hätten sie sich wie ein Korkenzieher aus den runden Grasinseln geschraubt, die inmitten des Sandes standen. Sie erstrahlten im vollen Bewuchs mit kleinen grünen Früchten! „Schau, die tragen sogar schon kleine Äpfel – im Juni! Das ist doch viel zu früh!“ Helen taxierte erstaunt die kleinen Äpfel, die überall an den mächtigen Zweigen prangten. „Ja, du hast Recht, aber vielleicht ist das eine spezielle Sorte, oder das Klima ist hier besonders. Keine Ahnung.“

Nick schaute in den Horizont und sah, wie sich der Himmel vor ihnen auftat. Wie die schweren Wolken aufrissen und die ersten Sonnenstrahlen sich ihren Weg zur Erde erkämpften. „Sieh nur, es klart auf!“ Das große weiße Haus, welches Sebastians Vater erst vor ein paar Jahren hatte bauen lassen, nachdem er das begehrte Grundstück erworben hatte, leuchtete vor ihnen in seiner ganzen Pracht. An der Frontseite befanden sich große Fenster, die beide Ecken rechtwinkelig ausfüllten. Davor waren symmetrische Beete, welche leicht anstiegen und sich mit gekrümmter Harmonie um die Hausecken zu einem Dreiviertel-Kreis herumschwangen. Sie waren mit allerlei exotischen Zierbüschen und für Nick und Helen schönen, aber nicht weiter definierbaren Gewächsen bepflanzt. Auf der rechten Seite durchbrach eine Gruppe von Gartenzwergen das perfekt inszenierte Gründesign. Links wogte eine Linde mit ihren Zweigen bis an den dreistufigen Treppenaufgang heran, der an einer schönen weiß-blauen Holztür mit Messinggriff endete. Helen und Nick schritten weiter nach rechts. Einerseits, um das gesamte Grundstück zu erfassen, andererseits, um ihre Vormieter zu suchen, von denen es bislang noch kein Lebenszeichen gab.

Das Haus hatte einen großen, beinahe parkähnlichen Garten. Ganz am anderen Ende, vielleicht 60 Meter von Helen und Nick entfernt, war der See. Nick erkannte am Ende der riesigen Rasenfläche, die bis an den See heranreichte und zum Wasser komplett offen war, einen hölzernen Bootssteg. Zu beiden Seiten an der Stirnseite der Rasenfläche befand sich direkt am Wasser jeweils eine riesige Trauerweide. An der Längsseite rechts war wiederum ein Beet mit farbenfroher Botanik, hinter dem sich ein Wall üppiger Rhododendren auftürmte, der in voller Blüte stand und einen angenehmen Geruch verströmte, welcher selbst über diese Entfernung deutlich wahrnehmbar war. Sie betraten den kurz auf Golfer Niveau getrimmten Rasen und machten sich auf die Vormieter zu suchen, um den Schlüssel in Empfang zu nehmen. Auf dem Weg verweilten sie einen Wimpernschlag vor einer riesigen alten Buche, welche sich in der rechten Ecke des Anwesens emporragte und deren fleischiges, dichtes Blattwerk die gesamte nordwestliche Ecke des Anwesens in einen für menschliche Augen undurchdringlichen Schatten tauchte. Der Himmel begann sich zu lichten und die Wolken wurden mehr und mehr vertrieben, was unmittelbar Helens Stimmung besserte, über die sich im Laufe der Anfahrt ein dunkler Schleier gelegt hatte.

Sie reckte ihre kleine Stupsnase in eine heranwehende Brise aus Blumen-Rhododendren-Aromen hinein und schloss die Augen, um die Witterung in vollen Zügen genießen zu können. Der Schleier des Unheils ward vertrieben und zog sich zurück in die Untiefen ihrer sonst so unbefleckten Seele, aus der er emporgekrochen war. Nick nahm sie bei der Hand und lächelte seine Frau verliebt an. Seine Kinngrübchen spannten sich zu kleine Rauten und die weißen Zähne blitzen zusammen mit seinen Augen aus seinem Gesicht hervor, was Helens Herz sofort mit Wärme und Geborgenheit erfüllte.

Als sie an der Rückseite des Hauses angekommen waren, standen sie vor einer breiten Terrasse. Der helle Sandstein des ganz im mediterranen Stil designten Arrangements setzte sich in einem breiten dreistufigen Aufgang fort. Plötzlich wurde Helens Blick von einem Windhauch gerufen, der wie ein Fingerstreich ihre rechte Wange tätschelte. Ihre Augen führten sie vorbei an dem großen Beet mit den Rhododendren zu der riesigen Trauerweide, die ihr exaktes Abbild auf der gegenüberliegenden Seite fand. Von dem dahinterliegenden See zog ein kühler Lufthauch auf, welcher das grüne bis zum Boden reichende Geäst der beiden Weiden unruhig hin und her wogen ließ. Sie verlangsamte ihren Schritt und entglitt Nicks Hand. „Ah da ist er!“, rief er ihr noch nach, als sie sich langsam, fast schleichend in Richtung des Baumes machte, der mehr und mehr im Wind seine strähnigen Äste schwang und Helens Blick auf einer Gestalt ruhen ließ, die sich inmitten des durch die aufkommenden Böen tosenden Grüns befand. Nick hatte seine Frau kurz aus dem Augenwinkel beobachtet, doch gerade in diesem Augenblick kam ein kleiner Mann gekleidet in weiß-blauem Strickpulli mit V-Ausschnitt und karierter Golfer Hose über die breite Terrassentreppe auf Nick zu und streckte ihm freundlich die Hand entgegen. „Eric Sönnsen, Sie müssen Nick Toussaint sein. Robert hat viel von Ihnen erzählt“, plätscherte es aus dem gut gebräunten Gesicht eines Endvierzigers heraus, in dessen hellbraunem, zu einem Seitenscheitel frisiertem Haar der Zahn der Zeit bereits einige graue Stellen genagt hatte. „Ja, genau. Ich grüße Sie. Sie sehen gut erholt aus“, erwiderte Nick und war im Begriff einen standesgemäßen Small Talk einzuleiten. „Sie sind zu viert, sagte mir Robert“, entgegnete Sönnsen mehr ausweichend als fragend und richtete sein Augenmerk an Nick vorbei in die Ferne. „Ja, da ist noch Helen, meine Frau und unsere Kinder Serafino 7 und Rahel 5 Jahre alt … sie … sie schlafen im Wagen.“

Er wendete sich um und zeigte mit dem Finger in Richtung des Autos. Seinen Blick hatte er aber zu Helen ausgerichtet, die er in einiger Entfernung vor der Weide stehen sah. Obwohl der mächtige Stamm des Baumes fest und ehern mit dem Boden verbunden war, so schien es, als ginge von ihm eine Art Energie aus, welche sich wellenförmig in das Geäst einspeiste und es mit rhythmischen Bewegungen erfüllte. Helen assoziierte einen schüttelnden Wischmopp und musste kurz über diesen Gedankengang schmunzeln. Nach einem impulsartigen Windstoß, der von seewärts kommend das grüne Gestrüpp für einige Sekunden auseinanderriss, sah sie, wie eine Frau in einem langen weißen Kleid aus der Mitte des Baumes auf sie zuschritt. Sie erschrak und wich einen Schritt zurück. „Fürchte dich nicht“, sagte die Frau mit freundlicher Stimme.

„Oh … nein oh … entschuldigen Sie, ich hatte Sie eben noch aus der Entfernung gesehen und plötzlich waren Sie wie vom Erdboden verschluckt und …“

„Und nun gab mich die Weide wieder frei. Du musst Helen sein!“ Sie war klein, zierlich wie eine Fee, doch war ihr Blick starr und durchdringend. Schönes dunkles Haar umrahmte ein glattes Gesicht mit straffem Tonus, jedoch ohne jegliche Mimik. Es umspielte die schmalen Schultern, um letztendlich in dem weit dekolletierten Kleid auf mädchenhaften Brüsten zu enden.

Helen ergriff freundlich die ihr gereichte Hand. „Ich bin Eva, ich musste mich nur kurz von der Weide verabschieden, damit unsere Heimreise gesegnet ist.“ Helen stutzte und erinnerte sich dann an das Telefonat mit Robert auf der Hinfahrt. So lächelte sie freundlich. „Ja na klar …“ „Nein!“

„Nein! Es ist dir nicht klar!“ Helen bemerkte plötzlich Härte in ihrer Stimme. Es war keine Aggressivität, vielmehr Besorgnis. So sprach sie mit ihren Kindern, etwa wenn sie Serafino verbot die Kerzen auf dem Esstisch anzuzünden, aus Angst, er könne sich oder das Haus in Brand stecken. „Du musst die Regeln befolgen, dann wird alles gut und ihr habt eine schöne Zeit. Du, dein Mann und … und die Kinder.“ Helen wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte, sie schürzte die Lippen und strich sich durch die Haare um Zeit zu gewinnen. „Ich weiß, das wird alles neu für dich sein. Aber wenn du gehorchst, dich nie vom rechten Pfade wendest und immer aufrecht deinem Herzen folgst, dann wirst du es überstehen.“ Sie ergriff Helens Unterarme und das Grün ihrer regungslosen Augen zog Helen in einen Bann. Ihr Herz schlug ihr bis hoch zur Kehle. Mit einem Ruck löste sie sich und wich zurück. „Ich … ich weiß nicht, was Sie meinen … wir wollen hier nur Urlaub machen … wir sind gestresst! Nick hat einen schweren Prozess hinter sich und … und wir wollen uns nur ausruhen!“

Die grauen Wolken hatten sie wieder eingeholt und sie spürte dieselbe Beklemmung wie nach ihrem Traum. „Ich bin deine Freundin und will dir helfen! Weiche also nicht und höre mich an.“ Ihr Gesicht erlangte das ersten Mal zum Leben und verzog sich zu einer traurigen, beinahe theatralisch wirkenden Grimasse. Helen schaute sich um, die Schönheit des Anwesens war verflogen. Ein Schauer breitete sich über ihren Körper aus und ihre Hände und Lippen zitterten. Sie sah Nick mit Herrn Sönnsen vor der Terrasse stehen und winkte ihm hilfesuchend zu. „Du kannst nicht entfliehen“, hauchte es wieder hinter ihr. Als sie sich umdrehte, streckte ihr Eva ein kleines Buch in braunem Ledereinband entgegen. „Hier, das ist für dich! Ich habe alles aufgeschrieben, als ich gesehen habe, dass du kommst. Es wird dich prüfen! Es wird dich versuchen! Und wenn du nicht stark bist und die Regeln befolgst, so wie es niedergeschrieben steht, dann wird es dich töten!“

„Lassen Sie mich in Ruhe!“

„Nimm das Buch. Darum bitte ich dich. Denn es soll dir kein Leid geschehen Schwester! Kein Leid, wie es mir widerfahren ist.“ Ihre Stimme wurde ganz weich und ihre zarten Lippen verformten sich zu einem gütigen Lächeln. Der erste Schlag ihrer Wimpern, den Helen registrierte, wusch die Starrheit und Härte aus ihrem Blick. Sie beruhigte sich wieder und schämte sich, dass sie so überreagiert hatte. „Es … es tut mir leid. Ich wollte nicht so unhöflich sein. Wir … ich und Nick … mein Mann. Wir hatten eine schwere Zeit.“

„Ich weiß, meine Schwester. Lasse die erste Stufe immer aus. Streichle die Linde, dann wird sie es dir danken. Die Weiden schützen dich. Alles andere steht hier geschrieben.“ Sie streichelte sanft Helens Wange, über die ein paar Tränen kullerten. Sie nahm das Buch und formte mit ihren Lippen einen unhörbaren Dank. Eva Sönnsen nickte und schloss kurz die Augen. Dann wendete sie sich ab. „Alles ok bei euch? Helen …?“ Helen erwachte wie aus einem Sekundenschlaf. Nick und Herr Sönnsen standen unmittelbar hinter ihr. „Ja es ist alles gut, ich habe mich nur mit Ihrer Frau unterhalten“, antwortete sie noch etwas verlangsamt und mit schweifendem nach Orientierung suchenden Blick. „Das ist Helen. Meine Frau.“ „Eric Sönnsen, angenehm!“ Sie erwiderte freundlich, aber noch etwas abwesend den Händedruck. „Ich habe ihr von der Linde und der Weide erzählt“, sagte Eva, die sich hinter ihren Mann gestellt hatte und die Arme um seine Hüfte schloss. „Du hast ihr doch hoffentlich keine Angst eingejagt, mein Schatz“, antwortete er mit einem Augenzwinkern und negierenden Kopfrucken in Helens Richtung. „Nein, natürlich nicht! Ich habe ihr auch mein Buch geschenkt, damit auch alles gut geht und die beiden einen schönen Urlaub mit ihren Kindern haben.“ Sie schlängelte sich wie ein pubertierendes Mädchen um ihn herum und knabberte ihm von hinten neckisch am Ohr. Nick, der Eva Sönnsen zum ersten Mal sah, kommentierte das kindische Treiben der attraktiven Endvierzigerin mit gesenktem Blick und einem verlegenen Zucken seiner Mundwinkel. Helen schaute derweil ungläubig mit tiefen Stirnfalten auf die Frau herab, die ihr eben noch mit wirrer Apathie entgegengetreten war. „Gehe schon mal zum Wagen Schatz, ich komme gleich nach. Ich muss noch kurz etwas mit den Toussaints besprechen.“ Eva löste flugs ihren Klammergriff, klatschte ihrem Mann auf den Po und trollte sich mit wippenden Hüften. Ihr Mann schaute sich um und als seine Frau außer Hörweite war, wendete er sich mit ernster Miene Helen zu. „Hören Sie, ich weiß nicht, was Robert über meine Frau erzählt hat? Aber meine Frau ist krank. Nicht körperlich. Nein, es ist ihr Innerstes. Ihre Seele. Sie leidet an einer manisch-depressiven Gemütsstörung und an sogenannten Zwangsneurosen. Es ist nach dem Tod unserer Tochter aufgetreten, den sie nie überwunden hat. Also was immer sie Ihnen erzählt hat …“ Er machte eine Pause und schaute Helen tief in die Augen, um sich zu vergewissern, dass sie auch alles verstand. „Glauben Sie ihr kein Wort! Sie lebt in einer völlig anderen Welt. Sie ist fest davon überzeugt, dass sie das Schicksal oder irgendwelche Ereignisse beeinflussen kann.“

„Beeinflussen? Durch was beeinflussen?“, schaltete sich Nick ein, als er sah, wie Helen einen festen Kloß aus ihrer Kehle wegschluckte. „Durch Gedanken … durch bestimmte Handlungen … Stereotype, immer wiederkehrende Bewegungen, was weiß ich! Ich bin leider, oder zum Glück, nicht Teil ihrer abstrusen Welt. Es ist mal besser … mal schlechter. Sie nimmt Medikamente … hat auch schon Therapien gemacht. Alles sehr schwierig … alles sehr schwierig.“ Seine Stimme senkte sich und er biss sich auf die Faust. Nick und Helen schauten verstummt zu, wie er vor ihnen in sich kehrte. „Das tut uns leid … Robert hatte nur etwas angedeutet, nichts Genaues wegen der Schweigepflicht.“

„Aber sie ist meine Frau und ich liebe sie“, platze er plötzlich aus seiner Lethargie hinaus. Dann klatschte er in die Hände, ohne dass er Nicks Bemerkung registriert zu haben schien. „Das Buch … sie hat mir dieses Buch hier gegeben.“ Helen holte das kleine, in Rindsleder gebundene Buch hervor, das sie sich in den Hosenbund gesteckt hatte. „Ah ja, DAS Buch!“ Er presste seine Lippen aufeinander und zog zischend die Luft ein. Helen öffnete es und sah, dass es handgeschrieben war. Jede einzelne Seite. Die Schrift war immer gleich. Unnatürlich, fast wie gedruckt. Aber es war Tinte. Die Abstände der einzelnen Zeilen waren von exaktem Abstand. Teilweise waren Zeichnungen mit eingestreut. Alles mit einer unmenschlichen Ordnung versehen. „Machen Sie es zu und werfen es weg. Oder noch besser, verbrennen Sie es. Es ist die Enzyklopädie ihres irren Universums, mit wirren für rational denkende Menschen nicht nachvollziehbaren Regeln, Gesetzen und sonstigen Eigenheiten. Sie hat es nach dem Tod unserer Tochter verfasst. Es ist das Produkt eines vergifteten Geistes, der den Menschen, welchen er bewohnt, nach und nach zu Grunde richtet! Nehmen Sie Abstand davon, ansonsten haben Sie den Wahnsinn meiner Frau den ganzen Urlaub lang in Ihrem Kopf. Und das wollen Sie bestimmt nicht – oder?“

„Nein, das wollen wir nicht! Oder Schatz?“

„Nein, ganz bestimmt nicht!“ Helen atmete schwer, es sollte eine schöne Zeit werden. Alles war perfekt. Das Haus, Nick, der gewonnene Prozess und ihre wunderbaren Kinder. Doch just in diesem Moment schlich sich wieder ein Gedanke in sie ein, der sie in ihrer perfekten Welt schon zu manch ruhiger Stunde gequält hatte: Das Schicksal könnte auch sie heimsuchen! Ohne sich anzumelden, bei ihr vorbeischauen und die Tür eintreten, um sie und ihre geliebte heile Welt mit unbarmherziger Härte zu drangsalieren. Ihr Leben glich der Romantik eines Turner-Gemäldes und das Schicksal – in welcher Gestalt es sich auch immer ihr offenbaren mochte – war jederzeit in der Lage es mit dem tiefsten Schwarz der Unterwelt zu entzaubern. Wäre es nicht zu schön dies alles abwenden zu können? Nick und Eric Sönnsen bemerkten, wie Helen in Begriff war von einer seltsamen Magie befallen zu werden. Nick packte seine Frau sanft an der Schulter und als sie sah, wie sich der „Alles-istgut-ich-bin bei-dir Ausdruck“ auf sein Gesicht malte, schloss sie das Buch wieder, obwohl sich ihre Augen nur schwer von der anmutigen Schrift und der perfekten Symmetrie der Zeichnungen lösen konnte. Sie war entschlossen es beim nächsten Papierkorb zu entsorgen. Oder es sogar im Kamin zu verbrennen, wie eine Hexe den reinigen Flammen zu übergeben, um auf Nummer sicher zu gehen.

„Nun kommen Sie, genug Trübsal geblasen! Es ist Ihr Urlaub, also genießen Sie ihn!“ Eric streifte sich mit einer lässigen Handbewegung die Ärmel seines Pullis über die Ellbogen, während ein aufforderndes Wippen seines Seitenscheitels den beiden deutete ihm zu folgen. „Über Haus und Grundstück habe ich bereits mit Ihrem Mann gesprochen. Am Bootssteg befindet sich ein Ruderboot, das zu einer romantischen Fahrt mit Erkundung der kleinen Insel in der Mitte des Sees einlädt.“ Er ging forschen Schrittes in Richtung der Autos vorneweg und resümierte in Form eines Selbstgespräches eine Art Sightseeing-Tour, welche zeitweise durch ausladende Gesten und kurzen Blickkontakt zu Nick und Helen unterbrochen wurde. „Grillen kann man dort übrigens auch! Im Haus gibt es praktisch alles, Kamin …, Billard. Sogar ein Flügel steht dort … unglaublich nicht! Das hat sich Sebastians Vater ganz schön was kosten lassen! Na egal.“