Rache aus der Tiefe des Meeres - Steintór Rasmussen - E-Book

Rache aus der Tiefe des Meeres E-Book

Steintór Rasmussen

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Beschreibung

Eigentlich hatten die sechs Freundinnen aus Norðvík ein entspanntes gemeinsames Sommerwochenende in Gjógvará geplant. Doch in der Nacht nach ihrer Ankunft geht ein Haus im Dorf in Flammen auf und ein Lehrer wird erhängt in seinem Schuppen gefunden. Und plötzlich ist auch Bjørg, eine der Freundinnen, verschwunden. Die herbeigerufene Polizei versucht, das Rätsel zu lösen, doch keine Spur hilft weiter. Sollte der einsame Gummistiefel eines vermissten Fischers, der weiter südlich aus dem Meer gefischt wird, auf irgendeine Weise mit den Verbrechen in Verbindung stehen? Und was ist mit Bjørg, ist sie ein Opfer des Meeres geworden?

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Inhalt

Cover

Titelei

Personen, Orte und Fakten

Steintór Rasmussen

Rache aus der Tiefe des Meeres

Ein Färöer-Krimi

Band 2

Martin Schürholz (Übersetzer)

Thriller

Rasmussen, Steintór : Rache aus der Tiefe des Meeres. Ein Färöer-Krimi. Hamburg, edition krimi 2020

1. Auflage 2020ISBN: 978-3-946734-31-4

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.ePub-eBook: 978-3-946734-32-1

Übersetzer: Martin SchürholzSatz: 3w+p GmbH, RimparUmschlaggestaltung: © Annelie Lamers, edition krimiUmschlagmotiv: © Steintór Rasmussen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG:https://www.verlags-wg.de

© edition krimi, Hamburg 2020Alle Rechte vorbehalten.https://www.edition-krimi.deGedruckt in Deutschland

STEINTÓR RASMUSSEN

Die Rache aus der Tiefe des Meeres

FRÜHER ODER SPÄTER geht jedes Leben einmal zu Ende. Auch wenn es ein grässlicher Anblick sein würde, aber heute Abend sollte es soweit sein.

Die Sonne verschwand vorsichtig hinter den gewaltigen Bergen und warf einen dunklen Schatten ins Tal hinab, wo die Fenster der Häuser unwissend auf das bleiche, graue Meer hinausblickten. Das mit Teerfarbe gestrichene Hjallur1hatte harte Zeiten und heftige Orkane überlebt. Diebe und Landstreicher hatten sich in all den Jahren von ihm ferngehalten. Wenn der Lehrer nicht zu Hause war, war die Tür sorgfältig verschlossen. Jetzt aber stand sie offen, und er ging hinein.

Er ließ die Klinke ins Schloss fallen. Die letzten Stunden eines Lebens waren gezählt. Ein schwarzes und verhängnisvolles Kapitel in der Geschichte der Menschheit würde endlich beendet werden. Das Dorf ahnte nichts Böses. Niemand wusste, dass zwischen den Holzlatten jemand verächtlich lachte. Dass der Tod das Opfer bereits fest im Griff hatte. Er nahm einen Strick und knotete daraus geschickt eine Schlinge, so wie er es auf seiner ersten Fangreise draußen auf dem Meer gelernt hatte. Diese legte er sich um den Hals, ließ ihren Knoten hoch und runter fahren und zog den Strick straff. Der Erstickungstod war möglicherweise nicht einmal der Schlechteste. Jedenfalls würde er das gewünschte Ergebnis bringen. Das Ende.

Zielstrebig und völlig unberührt hatte er Position bezogen. Sein Plan war bereits alt, sein Entschluss jedoch neu. Niemand würde diesen Mann vermissen. Er hatte es nicht anders verdient! Das Urteil und die Strafe. Vor allem seine Ehre und sein Verlangen nach Gerechtigkeit würden ihn die Tat vollenden lassen. Niemand mag es, verachtet, verspottet und in die Einsamkeit getrieben zu werden. So war es ihm schon immer ergangen. In der Schule. Zu Hause. Auf dem Feld. Auf dem Meer. Und sogar jetzt hier im Schuppen. In den letzten Monaten war sein Hass zu einer Geschwulst gereift, die selbst ein Chirurg nicht hätte wegschneiden können. Niemand hatte ihn an einen Psychologen verwiesen, der ihn vielleicht hätte zähmen oder seiner Rachsucht, die gerade zu sieden begonnen hatte, einen Deckel aufsetzen können. Noch bevor am Horizont die Sonne aufgehen würde, würde das Land um einen Teufel ärmer sein.

BJØRG HIELT IHRE Teetasse in der Hand und ließ ihren Blick auf dem schwarz-weißen Küchenkalender ruhen. Samstag, der 17. Juni. Die Strickclubtour nach Gjógvará. Sie hatte das Abfahrtsdatum angekreuzt und dann einen dicken Strich bis zum August hinuntergezogen. Fünf lange Wochen Sommerferien, und darüber hinaus noch ein paar Tage Überstunden abfeiern. Ein himmlisches Gefühl! Trotzdem kam es ihr vor, als hätte sie noch nicht ganz realisiert, dass sie reinen Gewissens die Arbeit liegen lassen und sich ausschließlich um sich selbst kümmern durfte.

Sie hatte sich etwas unsicher gefühlt, als sie am 2. Januar ihren Büroschlüssel ausgehändigt bekam und sich in den weichen Chefsessel fallen ließ. Jetzt würden sie nur noch die Minister der Landesregierung entmachten können. Allzu lange wollte sie in diesem bequemen Sessel jedoch nicht verweilen, das war sicher. Seit fünf Jahren war sie an der Entwicklung des Lebensmittelzentrums von Norðvík beteiligt. Das lag ihr sehr am Herzen, forderte aber auch viel Zeit und Engagement. Es gab keinen Grund, sich da etwas vorzumachen.

Aber jetzt hatte sie Sommerferien. Und wenn sie darüber nachdachte, dann hatte sie den Urlaub niemals zuvor so nötig gehabt hatte wie gerade jetzt. Sie freute sich darauf, in aller Ruhe zu Hause Dinge machen zu können, die allzu lange vernachlässigt worden waren. Zeit für die Familie zu haben. Es genießen, mit ihrem Mann und den Kindern zusammen zu sein. Wieder einmal zu backen oder zusammen schwimmen zu gehen. In den Bergen zu wandern oder Ausflüge über die Färöer-Inseln zu unternehmen. Abends vor dem Fernseher zu faulenzen oder auch nur mit einem spannenden Krimi auf der Couch zu liegen. Das Beste war jedoch, einmal nicht über die Arbeit oder Konferenzbeschlüsse nachdenken zu müssen. Weder Stress zu haben noch Verantwortung zu tragen.

Bjørg musste zugeben, dass das letzte halbe Jahr anstrengender gewesen war, als sie es erwartet hatte. Sie wollte versuchten, den Kopf freizubekommen. Aber das würde noch eine Weile dauern, darüber war sie sich im Klaren. Ihr war so, als wäre sie nach einer langen, aufregenden Reise eben wieder gelandet. Als müsse sie sich erst akklimatisieren und selbst finden. Bisher hatten ihre Träume und Pläne ihr Flügel verliehen. Aber jetzt tat es gut, zumindest die Füße in heimatliche Erde gepflanzt zu haben. Sie wusste, was für sie im Leben wirklich wichtig war. Sie mochte ihre Arbeit, aber ihre Kinder Nakita und Ari liebte sie über alles. Ohne Zweifel mehr als sich selbst.

In den 39 Jahren ihres Lebens hatte sie viele Träume Wirklichkeit werden lassen. In Norðvík wurde sie geschätzt, wenngleich es auch Menschen gab, die sie beneideten und es nicht verstanden, dass eine so begabte Frau, die dazu noch aus gutem Hause kam, es nötig gehabt hatte, einen Ägypter zu heiraten.

Aber Bjørg gab wenig darauf, was die Leute sagten und dachten. Sie hatte zu lange im Ausland gelebt, um dieser Art färöischer Engstirnigkeit Beachtung zu schenken. Sie wusste, dass überall, wo es Menschen gab, auch Vorurteile bestanden, egal ob diese nun in Wanderstiefeln oder eleganten Schuhen durchs Leben schritten. Das schicksalhafte Leben ihres Mannes Salar, der sich auf diesem Planeten immer als Flüchtling fühlen würde, hatte sie gelehrt, dass ihr Wohlstand keine Selbstverständlichkeit war, weder heute noch in Zukunft. Daher genoss sie es, sich Zeit für ein gemeinsames Wochenende mit ihren besten Freundinnen zu nehmen.

ER FÜHLTE SICH zunehmend sicherer inmitten der Holzlatten. Jetzt war es wichtig, keine kalten Füße zu kriegen oder irgendwelche Zweifel aufkommen zu lassen. Er würde eine Tonne benötigen, auf der er seine Füße abstellen konnte. Dazu musste er das Fass mit dem gesalzenen Speck heranrücken. Seine starken Hände erledigten das mit Leichtigkeit. Er bedauerte jedoch, dass für diese Zwecke verdammt gutes Essen verderben musste und schielte nachdenklich auf die getrockneten Grindwalstreifen, die wie schwarze Penisse von den Querbalken hinabhingen. Er konnte es nicht lassen, an seinen Freund zu denken, Grani. Dann fiel sein Blick auf die Schafskeule, die drüben an einem Nagel hing. Vielleicht sollte er sich einfach ein paar Scheiben von diesem fetten Schenkel abschneiden.

Einen Augenblick lang stand er mit einem Lächeln auf dem betonierten Fußboden und kaute grübelnd auf dem vorzüglich schmeckenden Fleischhappen herum. Hatte er alles bis ins letzte Detail durchdacht? Was war mit dem Balken, der quer durch den Schuppen verlief und dem Hören nach schon ganze Schafsherden und bündelweise Trockenfisch getragen hatte? Würde derselbe Balken auch das Gewicht jenes Nordinsulaners aushalten, der hier den Selbstversorger spielte, seine Beute zum Trocknen aufhängte, sie in ein Fass füllte, salzte und zerlegte …?

Mit beiden Händen ergriff er das ungehobelte Holz und hievte sein eigenes Gewicht in die Höhe. Jede Sehne seines gewaltigen Körpers wirkte angespannt. Er war stärker als fast jeder andere. Ein Viertel von ihm hatte seine Wurzeln in der Ortschaft Sumba2. Er war ein wahres Muskelpaket und hatte noch nie Hemmungen gezeigt, jede einzelne Muskel auch zu gebrauchen. Es gab niemanden, den er fürchtete. Weder Gott noch die Menschen. Geschweige denn sich selbst. Jetzt, wo er einmal so gut zugange war, bekam er Lust, alles aus sich herauszuholen. Aber der dicke Holzbalken gab sich keine Blöße. In einigen Stunden würde dieses selbstherrliche Geschöpf von der Decke herabhängen. Der größte und widerwärtigste Schlachtkörper, den dieser Schuppen je gesehen hatte. In den kommenden Tagen würde der ein oder andere vermutlich nach ihm fragen. Aber schon bald würde er nur noch eine tote, verweste Gestalt sein.

BJØRG BETRACHTETE SICH selbst in ihrem silbergerahmten Flurspiegel und drückte die Finger in ihre Wangen. In ihrem hübschen Gesicht zeichneten sich erste Falten ab. Sie wusste, dass die Haut im Laufe der Jahre nicht straffer würde. Und es gab dieses ungeschriebene Gesetz, demzufolge Frauen mittleren Alters, die viel lachten und Verantwortung trugen, am härtesten davon betroffen sein sollten. Ihr nächster Geburtstag würde schon der vierzigste sein.

Ja, so schnell verging die Zeit. Da nützte es auch nichts, nach Rezepten für den Erhalt der Jugend und deren Schönheit zu suchen. Jeden Tag wurden ihr neue Weisheiten zu diesem Thema aufgetischt. Sie sollte vielmehr die Erste sein, die sich eingestand, wie schwierig es war, die Rolle einer Frau zu erfüllen, die im Arbeitsleben zu denken hatte wie ein Mann, sich jedoch zurechtmachen sollte wie eine Dame, gleichzeitig aber aussehen wollte wie ein junges Mädchen und dabei zu schuften hatte wie ein Pferd. Nein, sie musste sowohl bei der Arbeit wie auch im Privatleben lernen, ihren eigenen Weg zu finden. Aber für wen war das schon einfach?

Als leitende Angestellte hatte sie in ihrem Betrieb, dem „Føroya Matvørudepil“, die Aufgabe, für den Verkauf von Lebensmitteln aus dem Atlantik Regeln zu schaffen, die nicht nur die Kunden zufriedenstellten, sondern auch den Bedürfnissen der färöischen Hersteller gerecht wurden. Mittlerweile hatten kompetente Färinger, deren Vorfahren ihre Nahrungsmittel über Jahrhunderte mit logischem Denken und traditionellem Wissen verarbeitet hatten, begonnen, dem internationalen Markt aufzuzeigen, welche Bakterien selbst europäische Mägen und Darmsysteme vertragen konnten und dabei klarzustellen, dass die Umsetzung der Esskultur auf dem Festland nicht alleine Technokraten und Spezialisten vorbehalten sei. Aber alles, was fremd war, brauchte eine gewisse Zeit, um verdaut zu werden.

Ihr Bauchgefühl sagte Bjørg, dass in ihrem Mann ein verborgener Konflikt brodelte. Ein tiefer Verlust und eine Leere, die er nicht in Worte fassen konnte. Sie hatte versucht, ihn danach zu fragen, aber da er sich ihr nicht weiter öffnen wollte, hatte sie entschieden, ihn vorläufig in Ruhe zu lassen. Sie und Salar teilten schon seit mehr als 10 Jahren ihr Leben, aber der innerste Kern eines jeden Menschen würde dauerhaft eine Geheimkammer bleiben. Eine innere Tiefe, die kein Außenstehender wirklich erkunden konnte. Bjørg hatte sich daher oft allein gefühlt.

Mit entschuldigendem Blick schenkte sie der Frau im Spiegel ein Lächeln und startete einen kurzen und letzten Inspektionsrundgang durch das Wohnzimmer. Das starke Tageslicht wies sie darauf hin, dass die Fensterscheiben geputzt werden mussten, aber das konnte ihr Mann machen. Für einen Moment blieb sie tief in einen Traum versunken an dem großen, der Bucht zugewandten Fenster stehen. Es schien, als würde sie die heimische Ruhe und die Aussicht auf den Fjord genießen. Aber das konnte sie doch immer haben. Sie fühlte sich glücklich und frei. Eigentlich sollte es nicht schwer sein, sich für ein paar Tage zu verabschieden von hier, aber an diesem Morgen war alles etwas anders. Sie fühlte eine sonderbare Unruhe in sich aufkommen. Als würde sie an ihrem perfekten Leben nicht lange festhalten können. Ihre sonst so warmen Gefühle waren kürzlich durch eine Nachricht aufgeschreckt worden, die sie bei einer öffentlichen Fernsehdiskussion aufgeschnappt hatte. Eine mit einem Türken verheiratete Frau aus Roskilde hatte demnach bei der Rückkehr von ihrer Arbeit ein leeres, kinderloses Haus vorgefunden. Ihr Mann, mit dem sie zwei gemeinsame, heranwachsende Töchter hatte, hatte völlig überraschend zusammen mit den Mädchen das Land verlassen. Allem Anschein nach wollte er sie in der Türkei mit strenggläubigen Muslimen zwangsverheiraten. Das Bild der weinenden Mutter hatte sich auf ihrer Netzhaut eingebrannt. Bjørg hasste sich selbst dafür, dass auch sie zeitweise von den typischen Zweifeln und Vorurteilen attackiert wurde, die die Menschheit gegenüber fremden Kulturen und andersartiger Herkunft schon immer empfunden hatte. Ihr Problem war aber niemals das Vertrauen zu Salar und ihr Zusammenleben mit ihm, sondern vielmehr die Angst vor der Zukunft und dem wachsenden Fremdenhass, der nach und nach die gesamte Bevölkerung in Besitz zu nehmen schien.

Während sie am Fenster stand, wurde es draußen heller. In der Wolkendecke hatten sich große Lücken aufgetan. Sie musste sich auf den Weg machen. Ronja und Jórun wollten mit ihr fahren. So würden sie gleich in Stimmung kommen. Sie durfte den Make-Up Beutel nicht vergessen. Sie mochte es, mit Niveau aufzutreten. Da sie abends im Hotel essen gehen wollten, hielt sie es für angebracht, auch elegantere Kleidungsstücke mitzunehmen. Der neu eingestellte Meteorologe hatte für das Wochenende schönes Wetter versprochen, und es sah aus, als würde sich seine Vorhersage bewahrheiten. Für den Fall, dass sie eine längere Tour in die Berge unternehmen wollten, wäre es gut, auch eine Tube Sonnencreme dabeizuhaben. Und nicht zu vergessen die leichten Joggingschuhe, falls sie Lust bekommen sollte, ein paar Kilometer durch die faszinierende nordfäröische Natur zu laufen. Jetzt füllte wieder ihr Lächeln das Haus. Sie brauchte nur noch den Kindern und ihrem Mann einen Abschiedskuss zu geben.

*

Da Anita stets Wert darauf legte, genügend Zeit zur Verfügung zu haben, hatte sie in Erwägung gezogen, schon am Vorabend zu fahren. Als Frühaufsteherin war es ihr dann aber gelungen, Lina, die Frau ihres Bruders, und Maria, die Freundin aus dem Strickclub, zu der sie von jeher ein besonders enges Verhältnis pflegte, zu überreden, morgens zeitig zu starten. So konnten sie zunächst den Schlüssel für ihr Wochenendhaus in Empfang nehmen, einkaufen gehen und sich langsam akklimatisieren.

Kurz vor ihrer Ankunft hatten sie ihr Auto vor dem Supermarkt nahe der Brücke geparkt. Nun schoben sie einen großen Einkaufswagen an proppenvollen Regalen und Kühltheken vorbei, die ihnen die gleiche Auswahl an Lebensmitteln und Alltagsartikeln boten, wie sie es von den Einkaufszentren Norðvíks her gewohnt waren. Da der alte Laden in Gjógvará mittlerweile Geschichte war, waren sie im Auto übereingekommen, dass es am besten wäre, ihr Geld im Supermarkt des Gemeindezentrums auszugeben. Um diese Tageszeit würde es überall noch leer sein, so dass sie kaum auf bekannte Gesichter stoßen würden. Eine ältere Frau trippelte mit einem Werbeblättchen in der Hand durch die Gänge, offensichtlich darauf bedacht, bei allen Angeboten der Handelskette auch ja um keine Krone betrogen zu werden. Ein junger Mann stand ungeduldig am Kassenband, auf das er Bananen, Butter und eine zerknitterte Brötchentüte gelegt hatte, als wolle er so schnell wie möglich bedient werden. An der Kasse selbst saß ein junges Mädchen, das so aussah, als hätte sie das Leben noch vor sich. Und ein bärtiger Mann in grauem Kittel, der etwa in ihrem eigenen Alter sein mochte, kam schwer schleppend mit mehreren Kanistern ausländischer Sommersäfte, die offensichtlich auch im Angebot waren, auf sie zu. Als er an ihnen vorbeiging, nickte er höflich und sagte „Guten Morgen“. Sie waren bester Laune und hatten auf ihrer Supermarkt-Rundfahrt mit dem rollenden Gittergefährt viel zu bedenken. Aufmerksam um sich schauend und selbst den kleinsten Warenkauf genau abwägend erreichten sie mit ihrem inzwischen mit Gemüse und Obst, frischem Aufschnitt, Eiern, Fischfrikadellen und Fleisch gefüllten Wagen die Regale mit soeben gebackenem Brot und Milchbrötchen. In einem engen Gang stand eine Palette mit Schokoladenaufstrich, während sich inmitten der abwechslungsreichen Warenlandschaft Waschpulver, Ananasdosen und Cornflakes-Packungen wie Gebirgskämme abzeichneten. Ihre Einkaufsliste hatten sie mehr oder weniger im Kopf. Bei drei so erfahrenen Hausfrauen war die Gefahr, etwas Wichtiges zu vergessen, eher gering. Dennoch sollte es an nichts fehlen. Sie hatten schließlich vor, gut zu frühstücken und am Nachmittag gemütlich Kaffee zu trinken. Das Abendessen wollten sie im Hotel einnehmen, und auch für die Nacht sollte noch etwas vorrätig sein. Für den Sonntag hatten sie geplant, sich selbst etwas Leckeres zu kochen und es gemeinsam zu genießen, jetzt wo ihr Ausflug nach Gjógvará endlich wahr geworden war.

Lina Valará schlug vor, den Gesamtbetrag vorzustrecken. Sie würden später abrechnen. Sie zog die Visakarte durch den Schlitz, tippte die vier Ziffern ihrer Geheimzahl ein, und das Mädchen an der Kasse wartete schüchtern darauf, dass das Terminal den Zahlvorgang abwickelte. Lina meinte, in den Augen des Mädchens etwas Bekanntes zu entdecken und überlegte, sie nach ihrem Namen zu fragen. Aber offensichtlich handelte es sich nur um eine der vielen, die sich in ihrer Freizeit ein paar Öre hinzuverdienen wollten und deren Leben sie nichts anging. Die Strickclubdamen sollten sich lieber auf sich selbst konzentrieren und einfach ein nettes und unbeschwertes Wochenende miteinander verleben.

Norðvík, November 1975

ES WAR DUNKEL, windig und regnerisch. Die Uhr zeigte kurz vor acht. An diesem Morgen war die Schultasche leicht, sein Gemüt aber schwer. Sein Vater war auf Fangreise. Die Mutter hatte ihn bis zum Schulhof begleitet, den Rest musste der Lehrer erledigen. Es fiel ihm schwer, ihre Hand loszulassen. Auch wenn er bereits zehn Jahre alt und kein Kleinkind mehr war, wirkte alles so groß und verunsichernd in dieser fremden Stadt. Das Gebäude bestand aus drei Stockwerken, die Anzahl der Schüler betrug mehrere Hundert. Eine Schule ist eine Schule, hatte seine Mutter gesagt. Egal, ob man nun in Eysturdalur oder in Norðvík lebte.

Einige Tage zuvor waren sie im Büro des Rektors gewesen. Dort hatte man seinen Namen registriert und ihm erklärt, dass er in die 4c gehen würde. Er sollte sich Schreib- und Rechenhefte besorgen und ein Etui mit Bleistiften, Anspitzer und Radiergummi mitbringen. Die Bücher würde er von der Schule gestellt bekommen.

Ihm war kalt, und seine Beine waren nass, als er in grünen Gummistiefeln, weiten Jeans und färöischem Parka unter dem Vordach stand und darauf wartete, dass es acht Uhr wurde. Die Fellkapuze hing nachlässig auf seinen Schulterblättern, seine Mütze dagegen trug er bewusst auf dem Kopf. Er wusste nicht, ob die Kinder von Norðvík den Anblick eines Jungen mit roten Haaren gewohnt waren. Niemand auf dem großen Schulhof kam ihm bekannt vor. Es gab also keinen Grund, auf irgendwen zuzulaufen. Er nahm sich Zeit zu warten. Einige Jungen kamen auf ihn zu und schauten ihn verwundert an. Als wäre er ein zahmes, seltenes Tier. Sie fragten ihn, wie er hieß und wo er wohnte. Er sagte ihnen seinen Namen laut und deutlich. Jóhannus Martin. Schwieriger war es, seinen Wohnort zu nennen. Er überlegte, ob er in diesem neuen Ort zu Hause war oder nicht. Er wusste nicht einmal, wo hier Norden und Süden waren. In der ersten Zeit würden sie in einer Kellerwohnung leben. Sollte die Familie hier in der Großstadt heimisch werden, würden sie vielleicht ein Haus bauen oder kaufen. In Eysturdalur würde es langfristig keine Perspektiven geben, hatte sein Vater gemeint. Keine Arbeit und keine weiterführenden Schulen. Für den Fall, dass der Junge sich bilden und etwas aus seinem Leben machen wolle. In Norðvík würde er bestimmt neue Freunde finden. Dort gäbe es haufenweise Kinder. In seiner Klasse würde er sicherlich den ein oder anderen Jungen kennenlernen, mit dem er Lust hätte zu spielen. In der ersten Zeit würde alles ein wenig anders sein. Nur die Gewohnheit mache gute Arbeiter, laute ein Sprichwort. Bestimmt würde er Oma und das alte Dorf vermissen, aber die meisten Kinder lernen schnell, sich in der Fremde zurechtzufinden. Wenn er sich zuvorkommend geben und auf die Lehrer hören würde, würde ihm das Leben in Norðvík sehr bald gefallen.

Als die Schulglocke klingelte, strömten die Kinder zu den Eingangstüren und in die Schule hinein. Vor der ersten Stunde brauchten sie sich nicht in Reihen aufzustellen und auf den Lehrer warten. Auf dem Weg durch das gewaltige Treppenhaus versuchte er, den Kindern zu folgen, die etwa in seinem Alter zu sein schienen. Die Viertklässler waren unter der großen Dachschräge untergebracht. In einem engen, halbdunklen Flur fand er das richtige Klassenzimmer. Und einen freien Haken, an den er seinen Parka hängen konnte.

Für einen Klassenraum, in dem sich 23 Kinder sieben Stunden lang zusammen aufhalten sollten, kam es ihm hier ziemlich warm vor. Aber sie würden ja auch Pausen machen und Zeit für das Mittagessen haben. Der Lehrer stand da, nahm die Klasse in Empfang und wünschte allen zusammen höflich einen guten Morgen. Er selbst bekam mit einem leichten Lächeln einen Platz zugewiesen, auf den er sich setzen sollte. Auf seinem Weg über den dicken Linoleumboden hörte er plötzlich die schrille Stimme des Lehrers: „Hier in Norðvík tragen wir drinnen keine Sturmhauben.“

BJØRG SETZTE SICH in ihrem Auto zurecht, einem sechs Jahre alten Opel, den sie und ihr Mann kurz nach ihrer Rückkehr auf die Färöer-Inseln gekauft hatten. Sie schrieb Ronja eine SMS – einfach nur einen Smiley, dazu das Wort „von“ und ihren Namen – und schickte sie ab. Salar stand mit den winkenden Kindern Nakita und Ari auf dem Hof. Sie lächelte mütterlich zurück und schickte ihnen einen Kuss. Sie waren so liebenswert. Ihre persönlichen Juwelen. Ab und zu kamen ihr diese schweren und nicht ganz unbegründeten Gedanken, aber als Familie brauchten sie sich keine Sorgen zu machen. Ganz im Gegenteil. Seit dem Jahresende unterrichtete Salar an der Schule zwei Tage pro Woche Mathematik, darüber hinaus hatte er einige Klavierstunden zugeteilt bekommen. Das stärkte sein Selbstvertrauen und gab der Familie finanziell größere Freiräume. Über Weihnachten hatten sie geplant, nach Ägypten zu fliegen und Salars Eltern zu besuchen, um die es im Laufe der Jahre einsam geworden war. Sie hatten auch vor, Reparaturen am Haus vorzunehmen und sich nach einem neuen Auto umzusehen. Möglichkeiten, das zusätzliche Einkommen auszugeben, gab es also genug. Und nachdem Bjørg den Chefposten der Firma „Føroya Matvørudepil“ angenommen und in Sachen Lohn und Ansehen auch einen Sprung nach vorne gemacht hatte, waren die Wünsche und die Lust, das Geld unter die Leute zu bringen, gleichermaßen gewachsen.

Im Kreisverkehr bog sie nach rechts ab in Richtung Zentrum. Es würde nett werden, mit Ronja zu fahren. Sie war es, die Bjørg damals eingeladen hatte, dem Strickclub beizutreten. Obwohl sie in der Schule nur in Parallelklassen gegangen waren, hatten sie in ihrer Jugend viel Zeit miteinander verbracht und oft gemeinsame Touren in die Stadt unternommen. Selbst als sie beide im Ausland lebten und studierten, hatten sie es geschafft, den Kontakt zu halten. Sie hatten viele Gemeinsamkeiten, sich immer etwas zu erzählen und oft Grund, miteinander zu lachen.

Ronja arbeitete als Journalistin bei „Vikan“ und hatte immer irgendeine interessante Geschichte parat. Oder sie fragte und forschte so lange, bis sie etwas Neues und Spannendes zugetragen bekam. Die meiste Zeit ihres Lebens war sie Single gewesen, aber als die biologische Uhr langsam begann, schneller zu ticken und auch sie gezwungen war, ihrem 40. Geburtstag in die Augen zu schauen, hatte sie sich Niki geangelt, den umsichtigen und zuvorkommenden Leiter der Webabteilung des Medienhauses, der noch nicht einmal 35 war. Vor einem Jahr hatte Ronja sich eine moderne Wohnung im Herzen der Stadt gekauft. Sie wohnte in der dritten Etage und genoss die Aussicht über die Bucht und auf den Norðurfjall.

*

Bjørg stellte ihr Auto ab und ging zum neuen Einkaufszentrum hinüber, das von riesigen Glaswänden und imposanten Säulen geprägt war, die das stolze Bauwerk und die Bewohner seiner etwa 50 Wohnungen vor den härtesten Winterstürmen, aber auch den heißesten Sommertagen schützen sollten. Sie musterte das Gebäude, das der Stadt ein neues und modernes Aussehen verlieh. Ronja saß auf einer der hübschen Bänke und strahlte über das ganze Gesicht. Man hätte meinen können, sie wäre die Sonne, die sich soeben den Weg durch die Wolkendecke gebahnt hatte.

„Siehst du, wie gut das Wetter ist? Ist das nicht unglaublich?“ Bjørgs Worte, mit denen sie ihre Freundin herzlich begrüßte und dabei ihren sommerlich gekleideten Körper umarmte, klangen nicht wie Fragen, sondern wie eine freudige Feststellung.

„Ja, wirklich wie bestellt für unseren Ausflug“, antwortete Ronja. „Alle lächeln und wirken überglücklich heute Morgen. So ist es immer, wenn auf den Färöer-Inseln die Sonne scheint.“ Sie drehte sich so weit wie möglich um sich selbst und sah nur hochzufriedene, strahlende Menschen. Alle wollten diesen herrlichen Moment genießen. Auch wenn der Einkauf und andere Verpflichtungen trotzdem erledigt werden mussten, war es einfach schön, dass es auch solche Tage gab. Ganze Familien kamen mit ihren Frühstücksbroten aus der Bäckerei heraus und fütterten mit deren Krusten die im Wasser herumplanschenden Enten. Kinder kletterten oder schaukelten auf dem außerhalb des Wohnblocks gelegenen Spielplatz. Obwohl die Uhr erst 10 zeigte, saßen die Erwachsenen mit einer Tasse Kaffee in der Sonne oder aßen zusammen mit ihren quietschvergnügten Kindern ein Eis.

Ronja warf ihre Tasche in den Kofferraum und setzte sich neben Bjørg auf den Beifahrersitz.

„Mein Gott … ist das warm und schön draußen. Der perfekte Tag, um unsere Wochenendtour zu starten. Was für ein Timing! Findest du nicht auch?“ Sie stieß Bjørg wie ein Kind in die Seite. Diese wiederum versuchte, das Auto langsam aus der Tiefgarage herauszumanövrieren und sich auf das Fahren zu konzentrieren.

„Oh ja“, sagte sie und schaltete in den dritten Gang. „Aber jetzt dürfen wir nicht vergessen, auch Jórun einzusammeln. Wir drei fahren zusammen, und Anita nimmt in ihrem Wagen Lina und Maria mit …“

„Maria? Ja, gut dass auch sie mit uns kommt“, meinte Ronja. „Sie hat wirklich eine schlimme Zeit durchgemacht. Mitten auf unserer Weihnachtsfeier, ich glaube, das war das letzte Mal, dass wir uns alle zusammen getroffen haben, wurde sie mehr tot als lebendig aus dem Meer gezogen.“ Ronja schüttelte sich hinsichtlich des Wahnsinns, den sie damals erlebt hatten. „Aber ich glaube, dass Maria langsam wieder in der Lage ist, nach vorne zu schauen. Unglaublich, dass sie allein die Verantwortung für Hallvins Sünden tragen sollte. Da war Tarina ganz schön auf dem Holzweg. Oder was denkst du?“

„Ich sehe das natürlich genauso. Wir alle haben doch unsere Problemchen, mit denen wir uns herumquälen. Nur du bist in der glücklichen Lage, ein sorgenfreies und perfektes Leben zu führen“, zog Bjørg sie auf. „Aber erzähle, was macht denn die Liebe? Es fehlt nur noch, dass du mit Niki zusammenziehst und ihr zwei nette Kinder bekommt. Ehe eure Batterien leer sind.“

„Ha ha ha … Man kann ja nie wissen …“ Ronja lachte herzlich. „Aber vorläufig gibt es nichts Neues unter der Sonne. Man soll jedenfalls niemals nie sagen.“

Sie fuhren gemächlich über den Eystari Ringvegur und genossen es, für einen kurzen Moment nur zu zweit im Auto zu sitzen. Gleich aber würden sie selbstverständlich gerne einen Platz für Jórun freimachen, die beileibe auch keine Langweilerin war. Ganz im Gegenteil, sie war die Stimmungskanone des Strickclubs, die sang und Geschichten erzählte. Dazu wusste sie fast alles über alle. Sie war immer gut gelaunt, obwohl auch sie ihr Päckchen zu tragen hatte. Ihr Mann war im wahrsten Sinne des Wortes verblüht, wie sie es auszudrücken pflegte. Und ihr Sohn, der sich – ausgestattet mit Bergen von Essen und süßen Getränken – hinter verschlossenen Gardinen und tief versunken in seiner eigenen Computerwelt am wohlsten fühlte, glich ihrer Meinung nach einer Kellerratte. Jórun stand auf dem Bürgersteig und blinzelte dem starken Licht entgegen, als ein grauer Opel, der mit zwei Damen besetzt, beide 1978-Modell, dunkle Sonnenbrillen tragend und ihre bloßen Arme halb aus den Fenstern heraushängend, über die Straße gerollt kam.

Als auch Jórun ihre Tasche im Kofferraum verstaut hatte, begrüßte sie die beiden Mädels auf den vorderen Plätzen und machte es sich gutgelaunt auf der weichen Rückbank bequem. Sie alle wussten, wohin es ging, was ihnen wiederum reichlich Zeit gab, über Gott und die Welt zu schwätzen. Jetzt galt es nur noch, die Stadt zu verlassen, ohne in dieser heißen Blechdose dahinzuschmelzen. Im Tunnel herrschte zwar etwas Gegenverkehr, sie selbst wurden aber weder von schweren Lastwagen noch durch im Schneckentempo fahrende alte Männer ausgebremst. Auf ihrer Fahrbahn war außer den drei junggebliebenen Damen niemand in Sicht. Sie wirkten gelöst, und zumindest Bjørg und Ronja machten rege Gebrauch von ihren gut geölten Stimmbändern.

Das Thermometer im Auto zeigte 16 Grad an, als die drei auf ihrer Fahrt nach Norden und den Bergen entgegen in den Ort Undir Gøtueiði auf den spiegelblanken Fjord hinunterblickten.

„Mach bitte an der Tankstelle eine kleine Pause. Ich würde gerne auf Toilette gehen und ein Eis kaufen.“ Jórun, die bisher die meiste Zeit ruhig auf der Rückbank gesessen und aus dem Fenster geschaut hatte, hatte diesen großartigen Einfall, der die beiden anderen gleich überzeugte.

„Ich dachte gerade dasselbe“, erwiderte Bjørg. „Wir haben ohnehin keinen Grund zu hetzen. Wenn wir uns Zeit lassen, steht halt bei unserer Ankunft das Frühstück schon auf dem Tisch“, scherzte sie. Nur eine kurze Pause und ein Eis, mehr wollten sie doch gar nicht. Bjørg setzte den linken Blinker und hielt neben einer der Zapfsäulen an. Da der Dieselpreis auf sieben Kronen gefallen war, wollte sie auch tanken. Ach, was war das schön, zusammen wegzufahren. Die Gesellschaft und diesen wunderbaren Morgen zu genießen. Und ein leckeres Eis. Es war fast wie damals, als sie noch kleine Mädchen waren. Kichern und dummes Zeug reden. Dann aber auch mal schweigen können oder wetten, wer es wohl am längsten schafft, den Mund zu halten. Letzteres gestaltete sich da schon als etwas schwieriger. Aber mit einem Eis in der Hand, das andernfalls zu schmelzen drohte, musste der Mund kurzfristig für andere Dinge herhalten und der Redemechanismus vorübergehend in den Leerlauf geschaltet werden.

Schließlich beabsichtigte Jórun jedoch, das Schweigen zu brechen. Sie biss ein Stück der harten Waffel ab, leckte das fließende Eis von ihren Fingern und überließ ihrer Papierserviette den Rest. Es musste jetzt heraus. Sie steckte ihren Kopf vornüber zwischen die beiden Vordersitze.

„Ja, ihr sollt die Ersten sein, die es erfahren. Es gibt keinen Weg zurück. Die Entscheidung ist gefallen, Mädels. Ulrik und ich werden uns trennen. Er hat einen Job beim Gymnasium in Næstved angenommen, und ich werde in unserem Haus bleiben.“

„Wirklich? Meinst du das ernst? Du scherzt!“ Sowohl Ronja als auch Bjørg waren etwas schockiert.

„Die Ehe ist ein heiliges Gesetz. Es gibt keinen Grund, Witze darüber zu machen.“ Jórun spuckte diese Worte beinahe aus wie eine Geistliche, und sie mussten alle lachen. Ihre Nachricht war zwar nicht wirklich lustig, andererseits aber auch nicht so tragisch. Der Grund, warum Jórun und Ulrik so lange zusammengeblieben waren, war einzig und allein ihr gemeinsamer Sohn, der heute 20 Jahre alte Jónas. Gott weiß, was aus ihm nun werden würde? Er, der stets die Rollos hinuntergezogen hielt, um im Keller der Eltern in seiner eigenen virtuellen Welt zu leben.

Ulrik, früher ein hochinteressanter, intellektueller Däne, der alles über Geschichte und Gesellschaftsfragen wusste und in seiner ersten Zeit als Lehrer in Norðvík den Mädchen beinahe mit Worten die Slips ausgezogen hatte, war total langweilig und menschenscheu geworden. Sein Unterricht in der Schule hielt zwar ein zweckmäßiges und qualitativ gleichbleibendes Niveau, aber ansonsten mied er es, unter Leute zu gehen. Jórun fand, dass er zu gar nichts mehr zu gebrauchen war. Er läge – in jeder Beziehung – nur noch auf der faulen Haut. Abends säße er gedankenverloren am Computer oder in seinem bequemen Sessel, um dicke Bücher über längst verweste Könige oder einbalsamierte Sonnengötter zu wälzen. Mittlerweile hätte er schon einen steifen Nacken und sogar einen Bauch bekommen. Letztgenannter sei nunmehr das einzige Körperteil, das er überhaupt noch zum Wachsen bringen würde. Jórun grinste verächtlich. Nach der Ólavsøka, dem färöischen Nationalfeiertag, würde er das Land verlassen. Friede sei mit ihm. Vielleicht hatte er ja heimlich etwas gespart. Sie wusste es nicht. Es war ihr auch ziemlich egal nach all den Jahren, in denen er weder Interesse gezeigt hatte, mit ihr ins Bett zu gehen noch zusammen mit seinem Sohn das Mittagessen einzunehmen. Nein, es war wahrlich kein Geheimnis, dass die Beziehung zwischen ihr und Ulrik schon lange an einem hauchdünnen Faden gehangen hatte. Ihr Zusammenleben konnte man nur noch als mausetot bezeichnen.

„Nein, es ist hoffnungslos, und ich habe einfach keine Lust mehr“, erklärte Jórun. „Jetzt ist es wenigstens raus.“

„Aber ist das nicht großartig?“, entgegnete Ronja mit schelmischem Gesichtsausdruck. „So können wir wenigstens wieder zusammen auf die Piste gehen. Wir können schon heute Abend in Gjógvará anfangen. Hübsche, aufdringliche Frauen in unserem Alter haben einen hohen Marktwert, wie du weißt!“

Obgleich ihr Selbstvertrauen schon einmal größer gewesen war und sie sich in einem inneren Zwiespalt befand, lächelte Jórun und machte sich einen Spaß daraus, ihrer Freundin Recht zu geben. Ihre schöne Autofahrt in die hohen und großartigen Berge des Nordens verdiente es, Inspiration für andere und bessere Gedanken zu sein, statt als sich nur über verrostete Liebe und Trennung auszulassen.

Ungeachtet dessen, dass sie bisher meist selbst die Wortführerin gewesen war, bat Ronja ihre beiden Mitreisenden auf einmal darum, den Mund zu halten. Sie hatte mit halbem Ohr den Nachrichten des Senders „Rás“ gelauscht und drehte die Lautstärke höher.

„Die Fischer der ‚Sóljan‘ aus Suðurvágur, die am Donnerstag zwei Seemeilen südöstlich der Sumbaklippen Langleinen ausgelegt hatten, entdeckten beim Einholen der Setzleine an einem ihrer Angelhaken einen Gummistiefel. Dieser konnte mit dem verschwundenen Jóhannus Martin Mikkelsen, nach dem bereits seit mehr als einer Woche gesucht wird, in Verbindung gebracht werden. An dem Stiefel standen die Buchstaben JMM, also die Abkürzung seines Namens, so wie sie der Vermisste immer in seine Ölkleidung und Stiefel schrieb. Der 51 Jahre alte Jóhannus Martin Mikkelsen wurde zuletzt am Abend des 8. Juni in Eiði, dem westlichen Ortsteil Vágurs, gesehen. Später war ununterbrochen nach dem vermissten Mann gesucht worden, sowohl auf dem Meer als auch an Land.“

„Ich dachte, es käme nur in Kurzgeschichten oder Zeichentrickserien vor, dass die Fischer statt Fischen einen Stiefel am Haken haben“, meinte Bjørg spöttisch, obwohl sie sehr wohl wusste, dass diese Sache keineswegs zum Lachen war.

Ein toter Mann auf der Südinsel war für die Frauen aus Norðvík jedoch kein Grund, sich die Wochenendtour vermasseln zu lassen.

DER PENSIONIERTE LEHRER hatte beste Laune. Während er die Wanderschuhe schnürte, summte er ein altes Volkslied. „Tra-la-la-lai … Mein Land, in dem die Sonne scheint auf den tiefblauen Fjord, und das grüne Gras an den Hängen wächst immerfort … Tra-la-la-la-lai … Sollte ich einmal zieh’n in ein fremdes Land, die Gedanken ging’n gleich zurück zum Heimatstrand …“ Tummas Pól erhob sich von den flachen Steinplatten und schritt mit aufrechtem Gang davon. Ohne es zu bemerken, trällerte er ununterbrochen verschiedene Melodien. So wie er es schon oft getan hatte, wenn er alleine spazieren ging. Er konnte sogar pfeifen wie ein Star. Diese Fähigkeit hatte er sich als kleiner Junge angeeignet, und zwar genau hier an diesem Ort. Er erinnerte sich gerne an die unvergesslichen Momente zurück, in denen er draußen auf dem Feld oder unter Bäumen saß, diesen standhaften, munteren Vogel beobachtete und dabei dessen wunderschönem Gesang lauschte. Ein Star gab sich nicht gleich jedem zu erkennen. Vielleicht war das seine Art, Paarungsbereitschaft zu signalisieren? Oder genoss er es einfach, sich selbst zu hören? Wie auch immer, sein herrlicher Gesang begleitete ihn durch alle Jahreszeiten und sein ganzes Leben.

Es tat gut, endlich ein paar Tage für sich selbst zu haben. Sein eigener Herr zu sein. Das Lehrerdasein war Geschichte. Nun konnte er seinen eigenen Stundenplan erstellen. Die dörfliche Idylle erleben. Und den färöischen Sommer genießen. Die beeindruckende Natur. Durch die vertrauten Berge wandern. Bis hin zu den Steilküsten, wo er die frische, salzige Luft riechen und einatmen konnte. Im Rucksack ein paar Brotscheiben mit Skerpikjøt3 und Presswurstrollen mitnehmen. Und je nach Verlangen zwischen heißem Tee oder einem kalten Bier zu wählen.

Er war nicht mehr der Jüngste. Wer jedoch glaubte, er würde in seinem alten Heimatort nur auf der Bank sitzen, die Füße hochlegen und den herrschsüchtigen Kindern zusehen, wie sie auf dem Teich mit Holzflößen zwischen den Enten herumkurvten, ja, der würde sich irren. Als langjähriger, loyaler Diener der färöischen Volksschule hatte er von kreischenden Kleinkindern die Nase voll. Gewissenhaft, wie er nun einmal war, hatte er bis zum letzten Tag ausgehalten. Seine Pension fiel dadurch nicht gerade gering aus. Er erfreute sich immer noch bester Gesundheit. Und so konnte er tagsüber das Dorf verlassen und das Weite suchen. Den wunderschönen Weg hinunter zur Felsspalte und von dort hinauf zu den Schafshütten gehen. Wenn er von ganz oben auf den majestätischen Vogelfelsen herabblickte und dabei den sich brüstenden Eissturmvogel hörte, dann war das ein wahrer Segen für einen Mann, der das Pensionärsdasein in vollen Zügen zu genießen gedachte.

Aber nichts blieb, wie es einmal war. Die Felsspalte, an der er es als kleiner Junge seinen Papa und die anderen Männer von deren Fangreisen abholte, war nicht mehr wiederzuerkennen. Heute war der schöne, geschichtsträchtige Anleger einzig und allein dazu da, Touristen in den Ort zu locken. Koste es, was es wolle. Plötzlich waren alle unter Zugzwang geraten, denn es war die Parole ausgegeben worden, dass es für die Besucher unzumutbar sei, nicht jeden Schritt auf betonierten Untergrund setzen zu können. Und so war im Dorf das große Betongießen angesagt gewesen. Der moderne Färinger hatte es nicht gelernt, das rechte Maß zu wahren. Das Neueste war, dass die ganze Kluft durch ein Regenbogenfarbenspiel beleuchtet werden sollte. Nur Gott mochte wissen, was die Alten dazu gesagt hätten. Ihm selbst kam jedenfalls nur ein Wort in den Mund. Schwachsinn. Er war ein Freund der alten Schule. Hätte er ein Mitspracherecht, so würde er die Meinung vertreten, dass Morgenrot und Abenddämmerung doch auf natürliche Weise genau das für diesen Zweck geeignete Licht spenden würden. Aber hier im Ort wurden Kultur und Tradition nicht respektiert. Es wurde nur herumhantiert und dummes Zeug fabriziert.

Heute aber wollte er sich nicht ärgern. Er war ein begeisterter Wanderer, und die Natur war in all den Jahren sein bester Freund geworden. Der gestrige Tag saß ihm immer noch in Hirn und Knochen. Mit seinem Fernglas bewaffnet war er bis zur Felsnadel Búgvan gegangen. Unterwegs war er auf jede Menge Moor- und Heidevögel gestoßen. Regenbrachvögel, Goldregenpfeifer, Zwergschnepfen und Austernfischer. Im Lambadalur hatte er eine gierige Raubmöwe auf ihrem Beutezug beobachtet, während auf einem ruhigen Gewässer ganz in der Nähe ein Sterntaucherpaar schwamm. Es war beeindruckend gewesen, ganz vorne an der Steilküste zu stehen und den 188 Meter hohen Stakkur-Felsen zu sehen, der sich senkrecht aus dem Meer erhob. Hier wimmelte es nur so von Seevögeln. Obwohl der Bestand an Trottellummen und Papageitauchern in den letzten Jahren stark zurückgegangen war, so herrschte immer noch reges Treiben unter den sogenannten Schwarzvögeln. Er hatte dabei an die Kinder seiner Schule gedacht, denen das Interesse an Pflanzen und Vogelarten komplett abhanden gekommen war. Sie kannten ebenso wenig den Unterschied zwischen einem Star und einer Krähe, wie sie wussten, welche Gewächse man als Farne und welche man als Rosenwurz bezeichnete. War die Akelei vielleicht eine seltene Unkrautart? Und trotzdem waren seine Schüler so nett gewesen und hatten ihm an seinem letzten Arbeitstag einen großen Sumpfdotterblumenstrauß gepflückt und ihn mit Moosfarnen verziert. Was ihnen die Zukunft wohl bringen mochte? Zum Glück war das nicht mehr sein Problem. 42 Jahre lang hatte er als Lehrer seine Pflicht getan, er für seinen Teil war also niemandem etwas schuldig geblieben.

Aber jetzt begann für ihn das schöne Leben. Er würde kommen und gehen können, so wie es ihm passte. In den letzten Tagen hatte er viele Leute getroffen und angesprochen. Gjógvará war stets gut besucht. Vor allem von Fremden und Ausländern. Unentwegt kurvten hier Autos, Busse und Menschen herum. Hier und da sah er aber auch Gesichter, die er von früher her kannte. Gleichaltrige, mit denen zusammen er studiert oder die Schule besucht hatte. Vereinzelte ehemalige Dorfbewohner, die nach und nach Besitztümer im ganzen Land angehäuft hatten. Oder auch junge Burschen, die er nur vom Sehen kannte.

Es machte ihm Spaß, Menschen zu begegnen. Einen Moment stehen zu bleiben. Über Wind und Wetter zu sprechen. Die Situation des Landes zu diskutieren und die Probleme der großen, weiten Welt zu lösen. Es gab aber auch einige wenige Leute, die für diese Art von Small Talk nicht empfänglich zu sein schienen. Die weder mit Ironie noch mit Schlagfertigkeit umgehen konnten. Vielleicht, weil sie schlecht informiert oder gar ungebildet waren. Manche Familien sind eben so. Den eigenen Genen und Erbanlagen kann man wahrlich nur schwer entkommen. Sie sind wie der Hund, der hinter seinem eigenen Schwanz herläuft. Dummheit und Minderwertigkeitsgefühle vererben sich. Das hatte er in seinem Leben immer und immer wieder feststellen müssen. Aber die Zeit war zu kostbar, um über Dummköpfe nachzudenken, die statt im Mutterleib an Land zu gehen schon als Spermatozoen hätten weggespült werden müssen.

ER SCHAUTE AUS dem Trockenschuppen auf das Meer hinab, auf das immer wieder Boote mit hoffnungsvollen jungen Leuten hinausfuhren. Auch er hatte dieses Leben ausprobiert. Es gab aber Schiffe, die selbst in vertrauten Gewässern strandeten. Im letzten Winter hatte er sich gefühlt wie ein altes, schrottreifes Boot, das einen Fang loswerden musste, den es weder zu salzen noch zu trocknen lohnte. Auch das Meer kennt seine Besuchszeiten und weiß genau, wann die Stunde der Rache geschlagen hat. Ein immer schwächer werdender Sonnenstrahl zwängte sich vorsichtig durch die Latten hinein, als wollte er ihm einen allerletzten Gruß senden. Und plötzlich war sie da und suchte seine Nähe. Eine große Schmeißfliege. Er schlug mit seinen Armen nach ihr, doch dann fiel ihm etwas ein. Sie hatte sicher vor, sich ein Nest zu bauen. Aber Fleisch und Grindwalstreifen waren schon so hart geworden, dass sie nirgends einen geeigneten Ort finden würde, ihre Eier zu legen. Sollte doch auch sie am eigenen Körper spüren, dass die Zeit reif war. Dass hier etwas passieren musste. Dass sie aufeinander angewiesen waren. So war es schon immer gewesen. Menschen, Tiere und Insekten. Er ließ noch einmal den Strick durch seine mächtigen Hände gleiten. Betrachtete den sorgfältig angelegten Knoten, während er einmal mehr an seinen Vater dachte. Den sich stets abrackernden Seemann, der so viele Gefahren überstanden hatte. Und an dessen armseliges Leben, das oft an einem seidenen Faden gehangen hatte. Schon bald würde am dicken Strickende eine Landratte tot von der Decke herunterhängen.

Er setzte sich auf eine der Tonnen und bekam Lust, sich in frühere Zeiten zurück zu träumen. Noch einmal der unschuldige, spielende Junge zu sein, zu dem alle nett waren. Doch dann schnappte er verwirrt nach Luft und schaffte es nicht, an diesem Gedanken festzuhalten. Er wollte nur noch im Meer der Zeit versinken. Als unbeholfener erwachsener Mann fühlte er sich ganz allein auf der Welt.

Er stand auf und machte ein paar Schritte durch den schummrig beleuchteten Raum. Unbewusst war sein Blick an etwas haften geblieben. Hinter der Eingangstür stand ein Benzinkanister. Warum nur war ihm dieser Gedanke nicht schon früher gekommen? Das Feuer würde alle Spuren auslöschen. Und dafür sorgen, dass der Mann verkohlte und in der Hölle landete.

DAS HAUS WAR nahe der Schule schön an einem breiten Bach gelegen, der das alte Dorf in zwei etwa gleichgroße Hälften teilte. In eine Mulde gebaut verfügte es über zwei Stockwerke, war weiß gestrichen und hatte ein grünes Dach mit einer dem Meer zugewandten Gaube. Den Schlüssel hatte Anita von der Touristeninformation in Norðvík ausgehändigt bekommen. Sie, Maria und Lina betraten gespannt den kleinen Eingangsflur, von dem aus Türen sowohl in die Küche als auch ins Wohnzimmer führten und sich eine kleine Wendeltreppe mit geöltem Geländer hinauf in das geräumige Obergeschoss schwang, in dem sich das Bad und vier Schlafzimmer befanden. Das Haus wirkte sauber und aufgeräumt und schien den sechs Strickclubdamen für das gemeinsame Wochenende reichlich Platz zu bieten.

Während Maria und Lina das Gepäck nach oben trugen und sich daranmachten, die besten Betten auszusuchen sowie Laken und Bettbezüge für die Matratzen zu finden, warf Anita einen Blick in die beiden Wohnräume, die sicherlich Geschichten aus längst vergangenen Zeiten erzählen konnten. Alte Sofamöbel, eine Kommode, ein Esstisch mit Stühlen, ein vierarmiger Kronleuchter und ein Harmonium, an den Wänden diverser Schmuck und Schwarzweißbilder. Früher war es das Heim einer Großfamilie gewesen. Anita hatte herausgefunden, dass das Gebäude in den 30er Jahren errichtet worden war. Der Hausherr war Fischer gewesen und hatte etwas Land besessen. Die Aufgabe seiner Frau hatte darin bestanden zu kochen, im Keller die Kühe zu versorgen, zu nähen und Kleider für ihre vielen Kinder zu stricken. Sie hatte sicher alle Hände voll zu tun gehabt. Obendrein hatte sie in einem alten Kohleofen Brot und Drýlur4 gebacken, geputzt, mit kaltem Wasser gewaschen und die Wäsche zum Trocknen an die Leine gehangen. Jeden Morgen, sobald die Hühner krähten, war sie aufgestanden, hatte ihren Kindern das Frühstück gemacht und sie zur Schule geschickt. Sie hatte dabei ein reines Gewissen gehabt, denn die Lehrer waren dafür bekannt gewesen, ihrer Berufung vorbildlich nachzukommen. Und dementsprechend waren die Kinder gründlich unterrichtet worden, oft hatten die Kirchenlieder noch weit über den Fluss hinaus geschallt.

Die Motivation der jungen Generation, die kein Schuleschwänzen kannte, sondern gehorsam war und alle Hausaufgaben sorgfältig erledigte, hatte aber auch eine Schattenseite. Die meisten intelligenten und tüchtigen Schüler hatten natürlich weiterkommen wollen. Und so verließen etliche Bewohner dieses kultivierte und blühende Dorf, um sich in Zentren mit weiterführenden Schulen und höheren Ausbildungsmöglichkeiten niederzulassen. Die jungen Leute, auf die man in Sachen Fischerei und Landwirtschaft gebaut hatte, saßen plötzlich an weit entfernten Orten, vertieft in dicke Bücher, in denen sie Antworten auf die bedeutendsten Fragen des Lebens zu finden suchten. Wissen zu erlangen bedeutete, physisch gesehen, keinen großen Kraftaufwand, aber die Zahl der starken, helfenden Hände, die daheim für den mühevollen Überlebenskampf benötigt wurden und die die kleine, zusammengeschweißte Dorfgemeinschaft einmal ausgemacht hatten, nahm immer weiter ab.

Das abgelegene Bauern- und Fischerdorf hatte nach und nach eine Vielzahl an gut ausgebildeten Lehrern, Sprachwissenschaftlern, Schriftstellern, Literaten, Rechtsanwälten, Forschern, Idealisten, Politikern, ja, sogar Führungskräfte innerhalb der färöischen Kirche hervorgebracht. Arbeit bot der kleine Ort mit der großartigen Felsschlucht seinen hochqualifizierten Kindern allerdings nicht. Immer mehr zogen in die Städte, vor allem nach Tórshavn oder ins Ausland. Überall dorthin, wo große Nachfrage an geschultem Büro- und Verwaltungspersonal bestand, das zur Führung einer fortschrittlichen Fischereination, in der sich das Erwerbsleben mehr und mehr auf Banken, Büros und Lehranstalten verlagert hatte, unumgänglich war.

Zudem lockten die Städte mit Leben und Freizeitmöglichkeiten. Tanz und Popmusik waren mittlerweile harte Konkurrenz für die alten, epischen Lieder, dem „Gesangsbuch des färöischen Volkes“ und dem Kirchenliederbuch geworden. Selbst die traditionelle Wolle konnte nicht mehr als färöisches Gold bezeichnet werden. Und Vogelfangstange, Angelroute und Kartoffelfelder wurden langsam abgelöst von Einkaufszentren, die frisch ins Land gekommenes Obst und Gemüse verkauften, in ihren Kühltheken moderne Käsesorten, verzehrfertiges Fleisch anboten und über eigene Abteilungen verfügten, in denen importierte Modekleidung in allen Größen stapelweise die Regale füllte oder an den Kleiderbügeln hing.

Die Färinger, die früher als Selbstversorger gelebt hatten und ohne Geld zurechtgekommen waren, hatten ihre Lebensart in vielerlei Hinsicht geändert. Heute ging man zur Bank und nahm einen Kredit auf, um ein vollständig eingerichtetes Fertighaus inklusive Waschmaschine und Tiefkühltruhe im Keller zu erwerben. Man benötigte keine Ersparnisse mehr, um sich zu etablieren. Wer einer anständigen Arbeit nachging und so aussah, seine Schulden zurückzahlen zu können, galt als vertrauenswürdig. Während die Großeltern mit leeren Händen in ihren Heimatdörfern zurückblieben, gingen neben den Männern nunmehr auch die Frauen einer Arbeit nach, was wiederum zur Folge hatte, dass die vielen Kinder, die tagsüber draußen spielten, nur noch unzureichend von Erwachsenen beaufsichtigt wurden. Die Gemeinden waren gut beraten, Tageseinrichtungen und Heime zu schaffen, in denen Erzieher und Krankenpfleger neue Arbeitsplätze fanden. Mittlerweile war es dringend erforderlich, dass die Politik die Zeichen der Zeit erkannte und die Verantwortung für die Alten und Hilflosen übernahm. Der Bedarf an zusätzlichen Lehrern, Pädagogen, Krankenpflegern und Bürofachleuten war plötzlich groß.

Im Laufe weniger Jahrzehnte war auch das Ehepaar im Haus am breiten Bach allein zurückgeblieben. Selbst die Einstellung gegenüber allem Herkömmlichen und Traditionellen hatte sich gedreht. Arbeitsmäßig hatte es sowohl auf dem Meer als auch an Land den großen Durchbruch gegeben. Sogar in den Bergen waren neue und gut befahrbare Straße entstanden. Viele hatten versucht, neue Unternehmen zu gründen. Den alten Leuten auf dem Lande blieb nichts anderes übrig, als mit anzusehen, wie sehr die Gesellschaft im Begriff war, ihre früheren Ideale zu verlieren. Aber sie versuchten so gut wie möglich, zumindest per Brief oder Telefon den Kontakt zu ihren Kindern auf dem europäischen Festland aufrechtzuerhalten. Auf eine gewisse Art war es nachvollziehbar, dass es nur so laufen konnte, denn die Enkelkinder hatten natürlich einen Anspruch auf die Schul- und Freizeitangebote, die ihnen die heutige Zeit zu bieten hatte. Es war immerhin ein Trost, dass es erheblich leichter geworden war, sich fortzubewegen. Heute hatten alle ein Auto und konnten bequem in ihre Heimatorte fahren, wie auch nach Gjógvará, jenseits der hohen Berge im Norden des Landes.

Auch die Geschwister aus dem weißen Haus mit der dem Meer zugewandten Gaube waren häufig für einen Besuch in ihre Heimat zurückgekehrt. Sowohl in den Ferien als auch an den Wochenenden. Es war schön, im Elternhaus willkommen zu sein und im Heimatdorf Familienmitglieder und Freunde zu treffen. Ebenso tat es gut, den eigenen Kindern zu zeigen, wie angenehm und anspruchslos das Leben früher gewesen war, als sie selbst hier in den Gassen gespielt und im Bach Forellen gefangen hatten.

Nachdem die Eltern gestorben waren, hatten drei der Kinder gemeinsam beschlossen, das Haus zu übernehmen. Schon allein für die nachfolgenden Generationen, die hier im Ort ihre Wurzeln hatten, wollten sie das Haus im Familienbesitz halten. Es gab keinen Grund, das, was an Möbeln, Werkzeug und Bildern noch übrig war, unter der großen, weit verstreut lebenden Familie zu verteilen. Beinahe das gesamte Inventar verblieb somit hier am Ort, so dass es den Bewohnern an nichts fehlte. Und so konnte das Haus über große Teile des Jahres auch an Touristen vermietet werden, mit der Folge, dass die Türen dieses Erbstücks noch viele Jahre offengehalten werden konnten. Auf diese Weise würde man den Lebenden und Verstorbenen der Familie Respekt erweisen. Verkaufen konnte man den Familienbesitz später immer noch. Interessenten für ein Ferienhaus in einem so schön gelegenen und geschichtsträchtigen Ort würde es ohne Frage immer geben.

Norðvík, August 1976

ER SCHAUTE AUF den Stundenplan, und sofort quollen auf seiner hohen, rundlichen Stirn kleine Schweißperlen hervor. Jetzt im 5. Schuljahr würde die Klasse gleich mehrere Fächer bei diesem Lehrer haben. Voriges Jahr hatte er sie ab und zu in Vertretungsstunden unterrichtet. Aber das war gleich zu Beginn des Schuljahres gewesen. Er genoss den Ruf, ein guter Lehrer zu sein, der aber auch streng sein konnte. Der sich nichts gefallen ließ. Der von den Kindern forderte, dass sie sich, sobald die Schulglocke geläutet hatte, in einer Reihe aufstellten. Dass sie ruhig und gesittet die Treppen hinaufgingen. Dass sie außerhalb des Klassenzimmers weder drängelten noch schrien. Und so lange an ihren Tischen stehen blieben und warteten, bis er ihnen erlaubte, sich zu setzen. Wenn er nichts anderes sagte, hatten sie eigenständig ihre Bücher auszupacken. Sie würden Hansen in Färöisch, Erdkunde und Geschichte haben. Darüber hinaus hatte man ihn den Jungen auch für die Sportstunden zugeteilt. Er fürchtete Hansen gleich vom ersten Tag an. Der Mann war groß und durchschnittlich gekleidet. Er trug eine braune Polyesterhose, die den gleichen Farbton hatte wie seine Schultasche, dazu ein hellblaues Hemd und einen gestreiften Blazer. In der Regel kam er schon 10 Minuten bevor die Schulglocke läutete. Voller Tatendrang und stets gut gelaunt. Wenn das Wetter gut war, war er in maßgeschneiderten Lederschuhen unterwegs. Entweder zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Bei Regenwetter, Schneeregen oder Schnee erschien er in Gummistiefeln und grünem Parka. An manchen Tagen mit hochrotem und wettergegerbtem Gesicht. Meist nickte er und grüßte mit ernster Miene. Aber nicht immer. Manchmal blickte er morgens nur stur vor sich hin und verweigerte sowohl Lehrern als auch Schülern jede Beachtung.

In den Stunden bei Hansen kam es ihm vor, als würden auf den Seiten die Buchstaben tanzen. Dass alles, was er zu sagen versuchte, entweder falsch war oder missverstanden wurde. Dass die anderen in der Klasse über ihn zu lachen begannen und dabei waren, die Geduld mit ihm zu verlieren. Dass er sich niemals sicher fühlen konnte. Oft war es der Lehrer persönlich, der ihn der Lächerlichkeit preisgab. Zum Beispiel, indem er ihn mit Harryson anredete. Nur weil sein Vater Harry genannt wurde. Oder indem er sich mit seinen langen, hoch gekrempelten Armen vor ihm aufbaute, um anzudeuten, dass die Hand zum Schlagen bereit war. So erging es ihm immerzu …

„Nun, Harryson, du, der so viel weiß, sag mir doch, warum hat Bischof Erlendur den Dom in Kirkjubøur5niemals fertigstellen lassen?“ Seine Stimme war erniedrigend. Immer wieder bekam er Fragen über Dinge gestellt, die er nicht beantworten konnte. Und die schwierigsten Abschnitte im Lesebuch musste ausgerechnet er vorlesen.

„War … war … war … das … das …??“

Es war in den Stunden bei Herrn Hansen, als er anfing zu stottern.

ANITA GING IN die Küche. Der alte Kohleherd war vor einigen Jahren durch Kochplatten und einen Backofen ersetzt worden. Die Balken, die Sitzbänke und die Speisekammer dagegen erhielten dem Haus sein eher altmodisches, geschichtsträchtiges Ambiente und sorgten für eine gewisse Gemütlichkeit. Es wirkte so, als führe das Vergangene einen erfolglosen Kampf gegen die Gegenwart und das Moderne. Das Haus verfügte über einen kleinen Kühlschrank, aber die rote Abwaschschüssel, eine Spülbürste und das Abtropfgestell zeugten gleichzeitig davon, dass hier nach den Mahlzeiten wohl auch heute noch eine treusorgende Frauenhand das Besteck und Geschirr selbst zu spülen hatte. Auf dem niedrigen Küchentisch stand eine Kaffeemaschine. Anita öffnete den Schrank über der Spüle und begutachtete die verschiedenen Porzellansets, die in mit Papier ausgelegten Regalen standen.

Der Küchentisch würde groß genug sein, um ihnen allen beim Frühstück Platz zu bieten. Das hatte sie schnell errechnet. An der Wand standen Stühle mit Stahlbeinen und blauen Sitzkissen. Aber noch war keine von ihnen so breit, dass sie auf der selbstgezimmerten Bank, die wohl genauso alt wie das Haus selbst sein mochte, nicht auch zu zweit Platz finden würden.

Die Sonne strahlte durch die Fensterscheiben. Anita stellte fest, wie warm und drückend es in der Küche geworden war. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging hinüber zu dem Fenster, das ihr einen Blick auf den Bach ermöglichte. Der Kippmechanismus erschien ihr nicht funktionstüchtig. Sie bezweifelte, dass es sich überhaupt öffnen ließ. Als sie versuchte, mit ihrem Handballen kräftig gegen den Rahmen zu schlagen, sprang es plötzlich weit auf. Anita erschrak und sah im Geiste, wie das Glas in kleinste Teile zersplitterte und in den Garten hinunter rieselte. Aber zum Glück war die Scheibe heil geblieben. Anita warf erneut einen Blick auf den Rahmen und bekam dabei ein Scharnier zu fassen, dass sie mit Hilfe ihrer beiden Daumen runter in die dafür vorgesehene Vorrichtung drücken konnte. Jetzt war das Fenster so weit geöffnet wie vorgesehen und konnte sich nicht mehr selbständig machen.

Anita atmete auf. Das hätte auch anders enden können. Es wäre alles andere als lustig gewesen, wenn ihre Wochenendtour damit begonnen hätte, im Garten Glasscherben einzusammeln und einen Handwerker darum bitten zu müssen, eine neue Scheibe einzusetzen. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Oma immer „Scherben bringen Glück“ gesagt hatte, wenn früher etwas in die Brüche gegangen war, dabei aber gleichzeitig gehofft hatte, dass für das Gegenteil nicht der Umkehrschluss gelten würde. Nein, aber das hier war noch einmal gut gegangen. Sie hatte das Glück auf ihrer Seite.