Rache im Alentejo - Catrin Ponciano - E-Book

Rache im Alentejo E-Book

Catrin Ponciano

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Beschreibung

Eine Geschichte von Liebe, Mord und kollektiver Schuld. Der Sommer im portugiesischen Küstenort Carrasqueira ist perfekt, bis eines Nachts ein Toter in der einsamen Korkeiche hängt – dreißig Jahre nachdem dort ein Fischer angeblich Selbstmord beging. Dessen Sohn glaubte jedoch nie an Suizid. Als ihm nun unterstellt wird, seinen Vater gerächt zu haben, bittet er seine Jugendfreundin Dora Monteiro um Hilfe. Die ehemalige Inspetora zögert nicht und stürzt sich in verdeckte Ermittlungen. Doch auf dem Dorf lastet eine alte Schuld, und Dora muss alles daransetzen, das Schweigen der Bewohner endlich zu brechen.

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Catrin Ponciano wagte in Portugal 1999 ein neues Leben. Die frühere Küchenchefin legte das Messer 2006 aus der Hand und nennt seither einen Stift ihr Werkzeug. Sie veröffentlicht Reiseliteratur, Essays und Kriminalromane sowie kulturjournalistische Artikel über ihre Wahlheimat. Als Schreibende begegnet sie Menschen, die ihr bereitwillig ihre Geschichten anvertrauen. Sie organisiert Tagestouren, Krimiwochenenden sowie Literaturreisen nach Maß und hält Vorträge über portugiesische Literatur. Ponciano lebt mit ihrem Mann in Portimão. Ihr Debüt »Leiser Tod in Lissabon« wurde mit dem Stuttgarter-Kriminächte-Debütpreis 2021 ausgezeichnet.

www.catringeorge.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Joao/stock.adobe.com,shutterstock.com/Honza Krej

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

E-Book-Produktion: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-74081-574-5

Originalausgabe

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Für die Fischer im Land ohne Grund

Wer nie eingesperrt gewesen ist,erkennt Freiheit nicht.

Tagebücher des Miguel Torga, »Diário V«

1

Herdade Carvalho, Freitag, 13. Juni

Keine Nacht ohne Wind. Immerzu toste er. Sobald es dämmerte, wirbelten Staubderwische umher, pusteten feine Sandkristalle aus der Dünenmarsch durch Fensterritzen und Türspalten. Im Winter blies Ostwind kalt aus Spanien durch den Alentejo. Im Sommer wehte Zephir aus Westen vom Atlantik heran. Trocken heiß piesackte er Mensch und Vieh. Auch an diesem Juniabend fegte er um das Herrenhaus der Familie Carvalho, das von Feldern und Wäldern umgeben war, die sich bis zum Meerbusen an der Mündung des Sado bei Tróia am Atlantik und weit gen Süden erstreckten.

Das Familienoberhaupt Américo Carvalho saß im Speisezimmer auf seinem angestammten Platz am Kopf der Tafel. Hinter ihm hing ein ausgestopfter Wolfskopf an der Wand. Das Tier hatte Carvalho vor vielen Jahren zur Strecke gebracht, als in den Wäldern und Hochebenen seiner von ihm verehrten Heimat Portugal noch Wölfe gelebt hatten. Zu seiner Rechten platziert Gustavo, sein einziger Sohn, zu seiner Linken Carlos, sein Enkel. Seine Schwiegertochter Lourdes fehlte. Sie aß auswärts mit Freunden. In Lissabon. Lourdes aß oft auswärts. Sie amüsiere sich lieber in der Metropole, sagte sie, als ihre Abende in einem mit Fensterläden verrammelten Landgut zu verbringen, kilometerweit entfernt von der Zivilisation, mitten in der Pampa, wo nachts einzig der Wind heulte und der angekettete Hofhund jaulte.

Américo fehlte Lourdes sicher nicht. Er schlürfte löffelweise Bohnensuppe, trank einen Schluck Wein und beobachtete Gustavo und Carlos aus dem Augenwinkel. Sie hüllten sich in Schweigen. Aber die Anspannung zwischen den beiden spürte er trotzdem. Daran war das gemischte Blut schuld, wusste er.

Gustavo war wie er selbst, Américo, und wie es sein Vater gewesen war: hart wie portugiesisches Eichenholz. Gustavo und er verdienten den Namen Carvalho, »Eiche«. Sie waren Herrscher. Sie wussten, was sie ihrer Familie und ihrem Land schuldig waren. Carlos hingegen wusste nichts von alldem. Er war ein verweichlichter, stets kränklicher und weinerlicher Bengel, der die Familie und den Besitz der Carvalhos als Joch der Unterdrückung betitelte. Scheußlich. Diese Verwahrlosung der Jugend.

Das hatte Portugal nun davon. Eine ganze Generation Weicheier hatte die dritte Republik hervorgebracht. Anstatt sich gemäß seinem Stand durchzusetzen, suchte Américos Enkel immerzu nach Kompromissen, wollte Künstler und nicht Herr über die Herdade werden. Deswegen kam es ständig zu Zwist zwischen Gustavo und Carlos, und Américo wusste, es würde auch heute Abend nicht mehr lange dauern, bis die zwei aneinandergerieten. Schon jetzt rutschte Carlos unruhig auf seinem Stuhl hin und her, während Gustavo die Bohnen im Teller zu hypnotisieren schien.

Américo war es leid. Er klopfte dreimal mit dem Löffel auf die Tischplatte neben seinem Teller. Sofort blinzelten ihn Gustavo und Carlos an. Aus dem Gesicht geschnitten waren sie ihm alle beide. Krause blonde Locken, markante Wangen, spitzes Kinn, dazu hellblaue Augen.

»Wollt ihr es ausbrüten?«, krächzte Américo.

Es dauerte eine Weile, bis Gustavo als Erster das Wort ergriff. Er erzählte vom Zusammenprall mit seinem Erzfeind Tomás Maia in der Dorfkneipe »Espelunca mágica« in Comporta und echauffierte sich darüber, dass Maia es gewagt hatte, in den Alentejo zurückzukehren.

Américo hörte sehr genau zu. Auch ihm war Tomás Maia ein Dorn im Auge. Die Fehde zwischen Gustavo und Tomás schwelte, seit beide noch Kinder gewesen waren, das Zerwürfnis zwischen ihm selbst und Tomás’ Vater Guilherme hingegen hatte vor über fünfzig Jahren begonnen. Guilhermes Tod hatte dann den Abgrund zwischen den Familien nochmals vertieft. Selbst schuld. Fußvolk sollte sich nicht in Angelegenheiten einmischen, von denen es nichts verstand. Guilhermes Sohn hatte das begriffen, nachdem Américo nachgeholfen hatte. Tomás war fortgegangen. Aber jetzt war er wieder da. Das war nicht gut. Gar nicht gut. Tomás machte Ärger. Immer.

Américo schöpfte den Rest Brühe aus seinem Teller und fasste einen Entschluss: Um Tomás würden sich Francisco Ramirez und seine drei Stammesbrüder kümmern. Dafür waren sie schließlich da. Um die Gegend zu säubern. Von Aufwieglern, Ausländern und von anderen, die niemand hierhaben wollte. Es wäre ja gelacht, wenn es Américo nicht ein weiteres Mal gelingen würde, Tomás zu verjagen. Damit wieder Ruhe einkehrte. In Comporta. In Grândola. Auf seiner Herdade.

»Lass nur, Gustavo. Ramirez wird sich Tomás vorknöpfen. Er ist Polizist. Er hat andere Möglichkeiten als du. Du hältst dich da raus. Verstanden?«

Gustavos Kiefer malmten, aber er schwieg. Américo erwartete auch gar keine Antwort von ihm, denn er wusste, Raushalten passte Gustavo keineswegs. Solange aber er als o patrão und Familienoberhaupt das Sagen im Haus hatte, musste sein Sohn ihm gehorchen.

»Verstanden?«, wiederholte er, diesmal eine Klangstufe schärfer.

Mit einem Ruck scharrten Stuhlbeine über die Fliesen. Carlos sprang auf. »Ich halte euch nicht mehr länger aus.«

Américo nahm ihn streng ins Visier. Gustavo gleichfalls.

Just in dem Moment betrat die Hauswirtschafterin das Speisezimmer. Sie ging zum Tisch, sagte: »Gestatten, bitte«, räumte die leeren Suppenteller ab und trug eine Platte mit Wildbraten, eine Schüssel Salat und einen Korb mit frischem Brot auf. Mit Guten-Appetit-Wünschen zog sie sich zurück und schloss die Tür hinter sich.

»Setz dich wieder hin und iss«, befahl Gustavo.

Carlos dachte gar nicht daran. »Könnt ihr nicht aufhören?«, rief er. »Nach all den Jahren. Nach all den Lügen.«

»Du hast deinem Zögling wirklich gar keine Manieren beigebracht«, stellte Américo fest und nahm sich Fleisch und Salat.

»Manieren?«, erwiderte Carlos fassungslos. »Ihr beiden habt keine. Ihr spielt euch auf wie Kaiser und König im rosaroten Königreich, ihr entscheidet, was hier geschieht. Wer kommt und wer bleiben darf und wer nicht. Dinge gehen vor sich. Leute werden weggejagt. Weil sie euch nicht passen. Maulkörbe verteilt ihr an diejenigen, die etwas beobachten, gar wissen. Wüste Drohungen außerdem. Und die verdammte Polizei mit Ramirez als Aufwiegler spielt auch noch mit bei der Burleske!« Er geriet immer mehr in Rage, seine Stimme überschlug sich. »Damit nicht genug! Mein Vater belügt seine eigenen Kinder. Zusammen mit Mutter, die gar nicht unsere biologische Mutter ist! Seit über zwanzig Jahren gaukelt ihr Liliana und mir eine heile Welt vor, dabei ist in diesem Haus längst alles kaputt.«

Gustavo stand auf, ging um den Tisch herum und verpasste seinem Sohn eine schallende Ohrfeige. Danach drehte er sich wortlos um, ließ den Teller mit Braten stehen und stapfte mit vor Zorn gerötetem Gesicht aus dem Speisezimmer.

»Bist du nun zufrieden, Bastardkind?« Américos Stimme klang erbost und dennoch müde. Müde von all den ähnlichen Szenen, die sich seit über zehn Jahren vor dem Kamin wiederholten.

Carlos schluckte und presste eine Hand auf die geschlagene Wange. »Ach. Du weißt es also auch. Und du lügst kräftig mit.« Er beugte sich vor, stützte sich auf dem Tisch ab und blickte seinem Großvater tief in die Augen. »Ihr seid wahnsinnig. Alle beide.« Dann ließ er Américo sitzen, stürmte durchs Foyer in den Hof zu seinem Auto und stieg ein.

Carlos’ Worte ließen Américo unberührt. Sein Enkel lebte in einer Scheinwelt, erschaffen von Gustavo und Lourdes. Das Vermögen der Familie vergiftete seinen Enkel, weil er nicht dafür zu arbeiten brauchte.

In Ruhe aß Américo Fleisch und Salat, trank einen Roten dazu und telefonierte anschließend mit seinem Verbündeten bei der Polizei von Grândola, dem Dienststellenleiter Francisco Ramirez, um das Problem Tomás zu erörtern. Das Problem mit Carlos konnte er nicht so einfach lösen, dafür war Gustavo zuständig. Aber der hatte auf ganzer Linie versagt.

***

Gustavo schloss die Tür seines Büros hinter sich, das Licht ließ er aus. Unwirsch schritt er vor dem hohen Bücherregal auf und ab. Wieder einmal hatte Carlos es geschafft, ihn aus der Fassung zu bringen. Seine rechte Hand brannte. Dass er seinen über zwanzigjährigen Sohn geohrfeigt hatte, konnte er kaum glauben, doch es war das einzige Argument, das ihn zur Räson brachte. Américo hatte ihn seinerzeit genauso erzogen. Bei ihm hatte es gewirkt. Sein Vater war und blieb o patrão – der Boss. Carlos hingegen schien jeder Schlag nur noch mehr aufzuwiegeln. Er gehorchte ihm nicht. Nie hatte er ihm gehorcht.

Gustavo spürte unbändigen Zorn in sich aufwallen und wusste nicht mehr, wohin mit sich. Dagegen half bloß eines: ausreiten. Er zückte sein Mobiltelefon und rief seinen Gutsverwalter Ricardo Mendes an, der im Gesindehaus gleich neben dem Herrenhaus wohnte.

»Satteln Sie den Hengst, ich reite aus!«, bellte Gustavo ins Telefon, ging den Korridor entlang bis ans Ende in sein Ankleidezimmer, zog sich um und begab sich in den Pferdestall, wo Ricardo schon mit dem Lusitano auf ihn wartete.

Der prächtige Braune stand gesattelt und gezäumt bereit. Er schnaubte laut und scharrte ungeduldig mit den Hufen. Ricardo führte ihn am Zügel aus dem Stall in den Hof.

»Es wird gleich Nacht, Senhor Gustavo. Wollen Sie wirklich noch ausreiten? Der Braune ist unruhig.«

Gustavo stieg auf, nahm mit herrischer Geste die Riemen in die Hand und galoppierte ohne ein weiteres Wort hinaus Richtung Dünenmarsch, als wäre der Teufel hinter ihm her.

Was bildete sich Ricardo ein, seine Meinung kundzutun? Er arbeitete für ihn. Nicht mehr und nicht weniger.

Gustavo gab dem Hengst die Sporen. Nach kurzer Strecke erreichten sie den Dammweg, der direkt an der Düne entlangführte. Dort ließ er dem Pferd freien Zügel.

Erst im gestreckten Galopp löste sich der Knoten in Gustavos Brust. Tief holte er Luft und scheuchte die Geister der Vergangenheit mit jedem Sprung ein Stück weiter fort aus dem einsamen Ort in seiner Seele, der Gewissen hieß. Schuld daran, dass er sich wie ein Gefangener fühlte, waren die anderen. Seine Frau. Sein Sohn. Und vor allem sein Vater.

Weiter kam er in seinen Gedanken nicht. Etwas prallte mit voller Wucht gegen seine Brust. Er verlor das Gleichgewicht, stürzte in den Sand und sah den Hengst wie von Monstern gejagt davonrennen.

Gustavo rollte sich auf den Rücken, glaubte an einen Infarkt und schnappte panisch nach Luft, bevor sich im fahlen Mondlicht jemand über ihn beugte. »Ach, du bist das.« Er lächelte.

2

Lissabon, Mitternacht

»Viva Portugal, viva Lisboa, viva Santo António!«, rief die Menschenmenge vor der Domkirche Sé de Lisboa. Mit geröteten Wangen standen die Leute dicht zusammengedrängt Spalier und warteten auf den Prozessionszug.

Lissabon vibrierte. Wie jedes Jahr am 13. Juni pulsierte die historische Altstadt Alfama im Feiertaumel. Marschmusik erfüllte große und kleine Plätze. Mit Pauken und Trompeten stolzierten Blaskapellen umher. In jedem Viertel tönte das Konzert anders und überall leidenschaftlich laut. Mädchen und Frauen in Trachten tanzten wilde Polkas. In den Gassen des früheren arabischen Quartiers unterhalb der Festung Castelo de São Jorge lag der Duft von über Holzkohle gegrillten Sardinen.

Portugals Hauptstadt huldigte ihrem Stadtvater Santo António, der, als Fernando de Bulhões in Lissabon geboren, Mönch geworden war und eine Zeit lang in Italien gelebt hatte, der Legende nach gar Fische zur Predigt ans Ufer gerufen haben sollte und als Antonius von Padua heiliggesprochen worden war. Wie jedes Jahr verstummte das Konzert in dem Moment, in dem die Heiligenikone, geschultert von einem Dutzend Männern in Messdienergewändern, auf einer mit weißen Lilien geschmückten Sänfte ihre Kirche verließ. Der Menschenstrom setzte sich schweigend in Bewegung. Die Leute trugen Fackeln, deren Flammen tanzende Schatten an die jahrhundertealten Fassaden der schmalen, wie Würfel übereinandergestapelten Häuser rund um den Dom warfen.

Inmitten der wogenden Menge fühlte sich Dora Monteiro deplatziert. Eine Voyeurin war sie. Eine Zuschauerin am Rand des Geschehens. Zufällig nach einem genossenen Kammerkonzert in den mitternächtlichen Fackelzug geraten. Mehr nicht. Sie versuchte, begeistert zu sein. Über die Musik, über die Kostüme. Es gelang ihr nicht. Das alljährliche Heiratsspektakel in der Domkirche Sé de Lisboa am Todestag des Santo António verwirrte sie.

Sie drängte sich durch den Gläubigenstrom die Straße entlang von der Kathedrale abwärts bis zum Bischof an der Spitze des Zuges und überholte ihn. Weihrauch hüllte sie ein. Der Geruch ließ sie schwindeln. Zügig lief sie weiter durch die Rua da Conceição und bog wenige hundert Meter später rechts in die Rua Augusta ab.

Auf der Prachtstraße am Triumphbogen war es etwas ruhiger, dennoch herrschte auch hier reges Treiben. Die Esplanaden waren selbst um diese Uhrzeit noch immer voll besetzt. Lissabons Besucher genossen die laue Sommerluft.

Erst jetzt verlangsamte Dora ihre Schritte. Das Unwohlsein war verflogen. Die Luft roch nicht mehr nach Weihrauch, auch nicht nach Sardinen, dafür nach Gewürzen aus aller Welt. Nach Curry, Oregano und Knoblauch. Doras Magen knurrte. Sie witterte den Duft frisch zubereiteter Fischkroketten. Die hatte sie lange nicht mehr gegessen.

Kurz entschlossen stellte sie sich in der Warteschlange vor dem Restaurant »A Casa do Bacalhau« an. »Zweimal mit Käse, zweimal mit Kräutern, zweimal mit Tomate«, bestellte sie, als sie an die Reihe kam, und bezahlte zwölf Euro für ein halbes Dutzend Stockfischkroketten.

Mit ihrem Take-away-Päckchen in der Hand lief sie weiter und wich einer angeheiterten Gruppe von Angelsachsen aus, bevor sie den großen Platz Rossio im Herzen Lissabons erreichte, wo Studenten das Ende des Semesters wie üblich am Fuße des Aufklärerkönigs Dom Pedro IV mit einer feuchtfröhlichen Sause feierten.

Rasch überquerte Dora den Fußgängerüberweg vor dem Rossio-Bahnhof – bei Rot, so wie es alle Lissabonner machten – und ließ das emblematische Hotel »Avenida Palace« neben dem Bahnhof hinter sich. Sie verschwand über die Stufen in der Metro-Haltestelle Restauradores und wartete auf die blaue Linie Richtung Reboleira.

Bis die U-Bahn einrollte, dachte sie über Glauben und Nichtglauben nach. Viele Jahre lang hatte sie die Worte ihres Großvaters nicht verstanden. »Es kommt nicht darauf an, an was du glaubst, Kind. Hauptsache, du weißt, was es ist«, hatte er immer dann zu ihr gesagt, wenn sie mit sich und der Welt, mit Senhora Todin, »a morte«, und Senhor Bösewicht, »o mau«, gehadert hatte.

Erst bei ihrem letzten Fall als Kriminalhauptkommissarin hatte sie seine Botschaft verstanden. Sie hatte auf ihren Bauch gehört, anstatt der Fährte der Indizien zu folgen. Danach wäre sie außerstande gewesen, weiter als Chefermittlerin in der Mordkommission nach Dienstvorschrift zu arbeiten. Hinter ihrer jahrelang aufgesetzten Senhora-Unnahbar-Maske glaubte sie nämlich insgeheim an eine bessere Welt und daran, dass jeder etwas dazu beitragen konnte, das Zusammenleben ein Stück weit besser zu gestalten. Gerechter. Gleichberechtigter. Humaner.

Doch ihre innere Überzeugung war immer öfter mit ihrer Arbeit kollidiert. Zu oft war sie Machtmenschen im Staatsapparat begegnet, denen es eher daran gelegen war, Verbrechen zu kaschieren, allem voran dann, wenn Leute aus dem öffentlichen Leben in einen Fall involviert gewesen waren. Das hatte Dora mürbe gemacht, und sie hatte eine Entscheidung getroffen. Um ihr Leben zu ändern, hatte sie vor zwei Jahren den Dienst quittiert. Seither arbeitete sie als Künstlerin. Dennoch glaubte sie weiterhin an Gerechtigkeit und daran, dass diese möglich war, obwohl ihr klar war, wie idealistisch sich das anhörte.

Mitten in ihren Grübeleien stieg sie an der Haltestelle Parque aus, erreichte nach kurzem Fußmarsch die Patriziervilla, in der sie wohnte, und nach vierstöckigem Treppenaufstieg ihre Wohnung. Dora schloss die Tür auf, trat ein, stellte ihr Leckerpäckchen im halbdunklen Wohnzimmer auf dem Tisch ab, schaltete die Stehlampe ein und traute ihren Augen nicht. »Afonso-Henriques!«

Ihr Maskottchen, der nach dem ersten König Portugals benannte Kolkrabe, saß auf der Fensterbank am geöffneten Fenster vor einer echten Postkartenkulisse mit Vollmond über den Dächern von Lissabon und drehte den Kopf zu ihr. »Dorrra«, krächzte er keck zur Begrüßung.

Zu Doras Entrüstung war er aber nicht allein. Ein anderer Rabe besuchte ihn und hockte obenauf.

»Afonso-Henriques!«, rief sie erneut, diesmal empörter, und schickte sich an, den fremden Vogel zu vertreiben, als ihr Mobiltelefon vibrierte.

Ein Anruf mitten in der Nacht? Noch dazu mit unterdrückter Nummer? Wer konnte das sein?

Sie fluchte und wollte den Anruf wegdrücken, doch ihre Neugier und ihr Finger waren schneller. »Wer spricht?«

Zuerst vernahm sie nur schweres Atmen, dann ein metallisches Geräusch. Während sie angestrengt lauschte, fixierte sie das Rabenpaar, das sich weiterhin ungeniert auf ihrer Fensterbank vergnügte. Uh! Sie hätte schwören können, Afonso-Henriques zwinkerte ihr zu. Oder war er gar kein Henriques, sondern eine Henriqua? Eine Rabenhenne? Dann würde sie jetzt wohl bald – meu Deus – Mutter.

»Wer spricht?«, wiederholte Dora bissig.

»Dora. Bist du das?«

Sie zog die Stirn kraus. Das war doch … Das konnte nicht wahr sein!

»Hier spricht Tomás.«

Ja, wer sonst?, wollte sie schnippisch in den Hörer zischen.

Der Rabe fing an, mit dem Schnabel zu klappern, der andere knabberte ihm am Ohr beziehungsweise dort, wo Dora das Ohr vermutete. Beide gaben vogelfremde Laute von sich. Der Begattende bellte heiser wie ein Hirtenhund, die Begattete wie ein Zwergpudel.

»Entschuldige, du bist nicht allein.«

Tomás Maias Worte erreichten Dora zwar, aber seine Anspielung auf einen möglichen Besucher überhörte sie schlichtweg. »Mein Rabe feiert Hochzeit. Ich werde Rabenmutti.«

»Rabenmutti?«

Natürlich klang das absurd. Die gesamte Situation war vollkommen absurd. Die Peepshow auf der Fensterbank. Das Telefonat. Die Uhrzeit. Tomás Maia. Nicht zu fassen. Die Schimäre ihrer jugendlichen Verliebtheit leibhaftig am Telefon. »Tomás Maia aus Carrasqueira.«

Sein Seufzer verriet Erleichterung. »Du weißt noch.«

»Ja.« Doras Unmut wuchs.

Nach jahrelanger sogenannter Blutsbrüderschaft war ihr einst bester Freund nämlich verschwunden. Husch und weg. Wie im Zauberstückchen das Karnickel im Zylinder. Seither hatte sie nichts von ihm gehört, nichts gesehen, nichts erfahren. War er in den Himalaja, an den Amazonas oder zum Kap Hoorn ausgewandert? Zu ihm gepasst hätte alles davon. Unerhört! Der ganze Kerl war unerhört!

»Eines muss ich dir lassen, amigo, du hast Chuzpe. Wir waren compadres. Vertraute«, fauchte Dora in den Hörer. »Deine Geheimnisse hast du bei mir abgeladen, mir den Himmel auf Erden versprochen. Du hast gesagt, du würdest mich niemals alleinlassen.« Sie holte Luft. »Und dann hast du mich sitzen gelassen.«

»Mamã ist tot.«

Doras Wut löste sich auf. Emília? Tot? »Rufst du deswegen an? Lädst du mich zu ihrer Beerdigung ein?« Das klang genauso traurig, wie sie sich fühlte.

»Nein. Sie ist schon vor einem halben Jahr gestorben.« Tomás sagte eine Weile nichts. »Ich konnte vor zwanzig Jahren nicht bleiben«, sagte er schließlich.

Dora wusste, was er meinte. Die Sache mit seinem Vater. Das hatten weder er noch seine Mutter verkraftet, und Emília war an der Ungerechtigkeit des Mordes an ihrem Mann, der von der Familie Carvalho und seitens der Polizei als Selbstmord deklariert worden war, zerbrochen. Als Dora und Tomás sich kennengelernt hatten, war er bereits siebzehn gewesen. Er war erst zwölf gewesen, als er seinen Vater verloren hatte. In den fünf Jahren dazwischen hatte Tomás darum gekämpft, dass dessen Tod aufgeklärt wurde. Umsonst. Niemand hatte ihm als Kind geglaubt. Tomás’ Trauer hatte sich in blinde Wut verwandelt, der er in Sabotageakten gegen die Carvalhos Luft gemacht hatte. Dora hatte ihm drei Sommer lang beigestanden, obwohl sie sich aus seinen Aktionen herausgehalten hatte. Doch deswegen rief Tomás sie sicher nicht an.

»Hast du deinen Traum wahr gemacht?«, fragte sie.

Er lachte, doch es hörte sich bitter an. »Habe ich. Ich habe auf einem Handelsschiff als Leichtmatrose angeheuert, bin nach Brasilien gefahren, habe mich durchgeschlagen und in São Paulo Meeresbiologie studiert. Seit einigen Monaten bin ich wieder in Carrasqueira. Jetzt arbeite ich in Setúbal im Institut für Meeresforschung, engagiere mich im Wasserschutzgebiet am Sado und an der Costa Azul. Für die Tümmler. Die Aale. Ich habe geerbt. Das Fischerhaus in Carrasqueira. Das Grundstück. Es gehört jetzt mir.«

Dora spürte, dass er ihr noch nicht alles erzählt hatte, und wartete ab.

»Die Vergangenheit holt mich ein, Dora. Sie klopft jeden Tag an meine Tür. Jede Nacht träume ich von papá. Wie er an der Korkeiche hängt. Ich träume von Américo und von Gustavo und davon, wie sie mich jahrelang ausgelacht haben. Es passiert einfach. Obwohl ich es gar nicht will.«

Dora rieb sich die Stirn. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich Tomás trotz allem innig verbunden fühlte. Er war der Bruder, den sie nie gehabt hatte. Der einzige wahre Freund in ihrem Leben, der ihre Ängste, ihre Träume, ihre Zweifel gekannt hatte. Die kleine Narbe an ihrem Unterarm erinnerte sie an ihren Schwur, für immer Freunde zu bleiben, und an die Blutstropfen, die sie dafür vergossen hatte.

Sie waren beide Einzelkinder. Immer auf sich gestellt gewesen. Bis sie sich eines Tages in den Schulferien beim Schnorcheln am Strand von Comporta kennengelernt hatten. Von da an waren sie zu zweit gewesen. Drei ausgelassene, lebenslustige Sommer lang. Sie waren aufmüpfig gewesen, hatten die Natur geliebt, Freud und Leid geteilt. Bis Tomás verschwunden war.

»Hast du etwas angestellt?«

»Nein, habe ich nicht, aber sie behaupten es. Dora, du musst mir glauben.«

Ihm glauben sollte sie. Das fiel ihr verdammt schwer. Nach ihm hatte sie niemandem mehr vertraut. Die Innigkeit zwischen ihnen hatte Tomás mitgenommen.

»Mamã hat deine Nummer aufbewahrt, in ihrem roten Notizbüchlein, du weißt, welches. Das auf dem Kaminsims. Und nun brauche ich deine Hilfe.« Seine Stimme klang jetzt anders. Nicht mehr nach einsamem Wolf, nein, sie klang ängstlich. »Dora.«

»Ich bin hier.« Sie lauschte seinem flachen Atem.

»Ich bin in Grândola. Genauer gesagt in der Polizeistation. Die Guarda hat mich verhaftet. Sie sagen, ich sei der Mörder.«

»Calma, was ist passiert?«

»Ich habe schon geschlafen, als sie ins Haus eingedrungen sind. Aus dem Bett haben sie mich gezerrt, ich konnte gerade noch Hose und T-Shirt anziehen, bevor sie mir Handschellen angelegt haben. Stell dir vor, aus meinem Haus ins Polizeiauto gestoßen und hierhergebracht haben sie mich. Ohne mir zu sagen, warum. Jetzt bin ich eingesperrt wie ein Schwerverbrecher. Als sie mir endlich gesagt haben, wer getötet worden ist, musste ich lachen.«

Dora sortierte das Gehörte. »Und? Wer ist das Opfer, das dich zum Lachen gebracht hat?«

Tomás holte tief Luft. »Gustavo Carvalho.«

Dora war baff. »Und wie hast du es gemacht?«

»Schütte ruhig Salz in die Wunde, Dora Monteiro, das konntest du schon immer gut.«

»Das war ironisch gemeint.«

»Er baumelte am Baum. An dem Baum, Dora. An der Korkeiche draußen in der Marsch. An demselben verfluchten Baum, an dem mein Vater damals gehangen hat, bevor die Polizei in Grândola uns glauben machen wollte, er hätte sich selbst aufgehängt.«

Routiniert durch ihre Polizeiarbeit sagte Dora: »Kein Wort über die Korkeiche. Sonst drehen sie den nächsten Strick für dich.« Sie war nun entschlossen, Tomás zu helfen, denn allein hatte er keine Chance. Genau wie damals. Carvalhos Einfluss war zu groß, und die Polizei wurde bestimmt auch heute noch von ihm kontrolliert.

»Dora.« Tomás senkte die Stimme. »Der Bluthund ist immer noch im Dienst.«

Genau das hatte Dora befürchtet. »Dann weiß ich wenigstens, mit wem ich mich anlege.«

»Er ist gefährlich. Das war er damals als Sergeant schon, heute ist er der Chef hier in Grândola. Willst du trotzdem kommen?«

»Ja«, sagte sie, ohne lange zu überlegen. »Gleich nachher mache ich mich auf den Weg.«

Sie legten auf. Das Mobiltelefon in der Hand, verharrte Dora minutenlang regungslos und blickte aus dem Fenster des Wohnzimmers über die Dächer Lissabons gen Süden. In ihren Ohren hallten Tomás’ Worte. Der Bluthund ist immer noch im Dienst.

Ramirez! Der Polizist, dem Tomás und Dora den Spitznamen »Bluthund« verpasst hatten, war damals schon ein schweres Kaliber gewesen. Einer von denen, die ihre Autorität gern heraushängen ließen und meinten, die Uniform legitimiere sie dazu, über andere zu richten. Ja, vor diesem Mann und seinesgleichen musste man sich in Acht nehmen. Sie beugten das Gesetz nach ihrem Belieben. Dora erinnerte sich noch gut an einige haarsträubende Anschuldigungen gegen Tomás. Angetrieben vom patrão, Américo Carvalho, der ihn unbedingt ins Gefängnis hatte bringen wollen. Damit Tomás stillhalten und niemand aus der Mordkommission Lissabon auf die Idee kommen würde, den mysteriösen Todesfall seines Vaters genauer zu untersuchen.

In Doras Bauch rumorte es. Sie lauschte in sich hinein. Ihre Enttäuschung vermischte sich mit Wut und brodelte durch den Kanal des Vergessenwollens hoch bis in ihr Bewusstsein. Tomás hatte ihr wehgetan. Ihr Vertrauen verletzt. Doch jetzt brauchte er sie. Sie und ihre jahrelange Erfahrung bei der Kriminalpolizei, sonst würde Américo Carvalho gemeinsam mit dem Bluthund das Gesetz wie damals zu deren Gunsten beugen.

Sie ging ins Schlafzimmer und packte einen Koffer mit Sommersachen. Außerdem in eine Umhängetasche das Nachtsichtglas, das ihr Jorge geschenkt hatte. Eine Packung Latexhandschuhe. Das Jagdmesser, ein Geschenk ihres Großvaters. Das Alles-Könner-Taschenmesser. Natürlich den Laptop samt Aufladekabel. Und die Glock – es war lange her, dass Dora den antiken Nachttopf aus Porzellan vom Regal genommen und die Waffe daraus hervorgeholt hatte. Sie war ein Fundstück gewesen. Nun ja, nicht ganz. Niemand hatte je explizit nach der Pistole gefragt, die an einem Tatort liegen gelassen worden war und für den Fall keine Relevanz gehabt hatte. Dora hatte sie unbemerkt eingesteckt, und seither gehörte sie ihr. Dass sie keine Polizistin mehr war, verdrängte sie.

Mit dem Rollkoffer und der Tasche ging sie zurück ins Wohnzimmer und ließ beides neben dem Sofa stehen. Auf dem Tisch stand das unberührte Take-away-Gericht. Ihr Bauch erinnerte sie daran, dass sie etwas essen sollte. Und etwas trinken. Zur Beruhigung.

Sie gönnte sich ein Glas eisgekühlten Weißwein und trank es in einem Zug leer. Der fruchtige Wein wärmte ihren Magen. Sie füllte das Glas bis zur Hälfte nach, zog eine Papierserviette aus dem Spender auf der Küchenanrichte und setzte sich im Schneidersitz neben die Raben auf das Sofa. Einen Teil der Kroketten verfütterte sie an das gefiederte Paar, das ihr den fischigen Imbiss gierig aus der Hand pickte.

»Für dich Galan müssen wir noch einen Namen finden, hm? Wie wäre es mit Egas?« Dora kraulte den neuen Raben am Hals. Er ließ es geschehen und gab gutturale Laute von sich, was Dora als Zustimmung interpretierte. »Egas, nach Egas Moniz, Mentor und Fürsprecher des ersten Königs Afonso Henriques, der ihm bei der Loslösung Portugals aus der spanischen Fronherrschaft geholfen und dem Vatikan die Seele seines Landes zum Geschenk gemacht hat.«

Der neue Rabe sah Dora an, als verstünde er jedes Wort. Was natürlich Unsinn war.

»Afonzine-Henriqua und Egas. Ihr seid nun Ehe-Raben.«

Das flaue Gefühl in Doras Bauch ließ nach, das Emotionschaos nach Tomás’ Anruf war mit dem Weißwein besänftigt worden. Selbstverständlich hatte Tomás Gustavo Carvalho nicht umgebracht. Glaubte sie. Doch auf der Herdade Carvalho und in der Polizeistation in Grândola gab es definitiv eine Menge Leute, die anderer Meinung waren und zahlreiche Indizien finden und zusammentragen würden, um Tomás’ angebliche Schuld zu beweisen. Das bedeutete, Dora musste genau das Gegenteil tun und Indizien finden, die seine Unschuld bewiesen.

So weit, so gut. Nur wie sollte sie das anstellen? Schließlich war sie keine Kriminalhauptkommissarin mehr, die andere Polizisten nach ihrer Pfeife tanzen lassen konnte – geschweige denn Zeugen befragen durfte. Wie sollte Ermitteln jetzt funktionieren? Ohne Polizeimarke und Inspetora-Chefe-Titel?

Sie musste improvisieren. Verdeckt arbeiten, wie eine Detektivin. Eine Rolle spielen. Rollen spielen konnte sie schließlich gut. Bluffen noch besser. So lange wie möglich wollte sie den Moment hinauszögern, in dem ihre Kollegen von der Polizei in Grândola sie identifizieren würden. Schließlich hatte ihr letzter Fall als Inspetora-Chefe mehr Staub im Polizeiapparat aufgewirbelt als die U-Boot-Affäre im Parlament. Ihr Konterfei war in Polizeikreisen immer noch bekannter als das eines gestreiften Zwergponys.

Mitten in ihre Gedanken hinein klopfte es. Das war sicher Cardoso. Ihr früherer Partner und Inspetor, der jetzt ihren Posten in der Mordkommission innehatte und kürzlich bei seinem Lebenspartner Pedro, Doras Nachbarn, eingezogen war. Niemand sonst klopfte um diese unsägliche Uhrzeit bei ihr an.

Dora kannte den Grund. Die Polizei in Grândola hatte den Fund der Leiche bereits der Mordkommission in Lissabon gemeldet. Man hatte unverzüglich Cardoso in Kenntnis gesetzt, der daraufhin die Leitung der Ermittlungen im Mordfall Gustavo Carvalho übernommen hatte. Bestimmt kannte Cardoso auch schon den Namen des mutmaßlichen Täters. Tomás Maia.

Der Name war Cardoso keineswegs neu. Dora selbst hatte ihm eines Nachts in einem nostalgischen Moment von ihrer Jugend und ihren drei Sommern in Carrasqueira erzählt. Und von Tomás Maia. Hin und wieder ereilte sie eben solch ein Nostalgieanfall. Vor allem wenn sie Rotwein trank. Deswegen bevorzugte sie Weißwein. Der stimulierte ihre Sinne, Rotwein hingegen deprimierte sie. Das lag vielleicht am Tannin. Oder an der Farbe. Rot wie Blut.

Dora ging vom Sofa zur Tür und öffnete. »Brauchst du Milch für deinen Nachttee?«

»Spar dir dein Süßholzraspeln«, sagte Cardoso, drängte herein und baute sich in ihrem Flur auf. Er trug einen penibel gebügelten Pyjama, seine nackten Füße steckten in Plüschpuschen mit Bommeln. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, zischte er: »Vor einer halben Stunde hat mich ein Anruf aus dem Alentejo erreicht, von der Polizeistation in Grândola. Ein Mordfall. Auf einem Landgut. Aber nicht auf irgendeinem Landgut. Nein, auf dem der Carvalhos. Auf dem größten Privatbesitz Portugals. Gustavo Carvalho heißt das Opfer. Und stell dir vor, wen die Polizei als Tatverdächtigen verhaftet hat. Tomás Maia.«

»Ach, die Polizei im Alentejo hat Telefone?«

»Ha! Sei ruhig weiter zynisch. So bist du schon gewesen, als du noch meine Chefin warst.«

»Schickt ihr euch im Präsidium neuerdings Höflichkeitsgesuche?«, konterte Dora.

»Manchmal ist es echt schwierig, dich zu mögen.«

»Tu es oder lass es.«

Immer noch standen sie vor der Garderobe, beide die Hände in die Hüften gestemmt.

»Dein Tomás sitzt tief in der Tinte.«

»Weil ihn da jemand hineingetunkt hat.«

»Ist das deine berühmt-berüchtigte Ferndiagnose als nicht mehr ermittelnde Kripobeamtin?«

»Selbstverständlich, Sérgio, den Instinktkompass habe ich doch aus dem Präsidium mitgenommen. Hast du das noch gar nicht bemerkt?«

Cardoso schloss für einen Moment die Augen, dann öffnete er sie wieder. Sein Kinn schob sich vor. »Demnach hat mich meine Ahnung nicht getäuscht. Tomás hat dich angerufen.« Mit dem Zeigefinger deutete er auf Doras gepackten Koffer neben dem Sofa. »War wohl doch mehr als nur ein Jugendfreund.« Er nahm sie ins Visier. Keineswegs freundlich gestimmt. »Die Polícia Judiciária ermittelt, Dora. Und du gehörst nicht mehr zu uns. Punkt. Ich warne dich, misch dich nicht ein.«

Dora ließ sich nicht reizen. Nicht jetzt und nicht hier und schon gar nicht von Cardoso. »Ich gehe zum Wellenreiten.«

»Du? Du steckst nicht einmal deinen großen Zeh ins Meer.«

»Ich habe einen Anfängerkurs gebucht.«

Cardoso wedelte mit der Hand unter Doras Nase herum. »Tomás Maia wurde in der Dünenmarsch auf dem Weg zum Fischerhafen beobachtet. Und eindeutig identifiziert.«

Allmählich reichte es ihr. »Aber sicher. Vom Heiligen Geist höchstpersönlich.«

Cardoso wurde laut. »Dora. Du bist nicht mehr im Polizeidienst. Lass mich den Täter schnappen und halte dich vom Tatort fern.«

»Mit Tomás habe ich doch gar nichts am Hut«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Dorrra, Dorrra«, krächzte das Rabenpaar im Chor.

Cardoso blinzelte. »Da sitzen zwei Raben auf deiner Fensterbank.«

»Blitzhochzeit.«

»Schau, wie süß sie poussieren.«

Für einen herzerwärmenden Moment herrschte wieder die gewohnte Innigkeit zwischen Cardoso und ihr, während sie zusammen die schwarzen Vögel betrachteten. Aber nur bis zum nächsten Atemholen.

»Erwische ich dich an meinem Tatort, lasse ich dich polizeilich entfernen und erwirke eine einstweilige Verfügung.«

»Pass auf, dass dich der Polizeiapparat nicht noch mehr einwickelt, Sérgio. Das wäre echt schade.«

Cardoso wich zurück, als hätte Dora ihn geohrfeigt. Er hob die Hand zum Abschied und verließ ohne ein weiteres Wort ihre Wohnung.

Dora zitterte vor Wut. Der Gedanke, dass Cardoso korrumpiert worden war, war unerträglich. Dass er ihr gedroht hatte, sie vom Tatort abführen zu lassen, war geradezu grotesk. Wenn sogar ihr ehemaliger Inspetor von vornherein an Tomás’ Schuld glaubte, wollte sie diesem erst recht beistehen.

Sie stapfte in die Küche und stellte den frisch vermählten Raben Glasschälchen mit Nüssen, Rosinen und Sonnenblumenkernen auf eine aufgeblätterte Zeitung unter das Fenster, daneben eine Schale mit Wasser. Nach kurzer Überlegung holte sie den nun leeren Nachttopf vom Regalschrank und legte ein weiches wollenes Tuch hinein. Das würde ein prima Nest abgeben.

»Sturmfreie Bude«, sagte sie zu dem Rabenpaar, nahm ihre Handtasche, die Umhängetasche und den Rollkoffer und machte sich auf den Weg zur Tiefgarage.

3

Alentejo, Samstag, 14. Juni, Morgengrauen

Kaum hatte sie die Ponte Vasco da Gama über den Tejo und den Industriehafen von Alcochete am Ufer hinter sich gelassen, verließ Dora den Speckgürtel Lissabons und fuhr mitten durch die Heimat der Korkeichen und Schirmpinien in den Alentejo. Am Autobahnkreuz A 6/A 2 nahm sie die Ausfahrt Richtung Algarve. Die Tachonadel ihres Mustangs zitterte konstant bei hundertachtzig Kilometern pro Stunde. Sie fuhr viel zu schnell, aber sie liebte die Geschwindigkeit und den Kick der Ungewissheit, ob sie von der Verkehrspolizei erwischt werden würde oder nicht.

Sie raste über die A 2 und fädelte sich achtzig Kilometer weiter in die Ausfahrt nach Alcácer do Sal ein. Die maurische Burganlage zeichnete sich im Mondlicht schattenhaft auf dem Hügel ab, die Stadt duckte sich unter der Bastion an den steilen Hang bis zum Fluss. Dora überquerte den Sado über die Gustave-Eiffel-Brücke und folgte der Bundesstraße Richtung Comporta. Es war halb sechs am Morgen. Bald sollte es dämmern.

Im ländlichen Alentejo tickten die Uhren anders als in Lissabon. Der Alltag passte sich den Jahreszeiten an. Zwischen Reisernte und Korkernte. Zwischen Getreidesäen und -ernten. Man versuchte nicht, sich die Zeit untertan zu machen. Nicht so wie in der Stadt, wo einzig Leistung und Geld zählten, um jemand zu sein. In der Provinz südlich des Tejo war angesehen, wer aufrichtig, fleißig, hilfsbereit und integer war. Ob das Haus groß oder klein war, das Auto teuer oder Schrott, spielte hier keine Rolle. Es kam auf Taten an, nicht auf Worte. Eine vielleicht utopische Lebensanschauung, die sich ehern an ihren eigenen Strohhalm klammerte, der jedoch unentwegt dem Mainstream trotzen musste, wie Dora bedauerte, und sie hoffte, der Strohhalm würde auch künftig standhaft genug bleiben.

Der V8-Motor röhrte unter der Haube. Die Straße erstreckte sich überschattet von mächtigen, ausladenden Schirmpinien gen Westen. Dora kurbelte das Seitenfenster hinunter. Morgendliche, feuchtkühle Luft streifte ihre Wangen und hielt sie wach.

An der einzigen Tankstelle weit und breit machte sie halt, trank einen doppelten Espresso und aß zwei Schokoladendonuts. Der Tankwart nutzte die Gelegenheit für Konversation. In dem im Alentejo üblichen breiten Slang und in rasantem Tempo sprach er über die Mückenplage. Jedes Jahr fielen die Mücken über die Gegend her, aber an den Reisfeldern am Sado war es besonders schlimm, erfuhr Dora.

Sie sagte »Pois« und »Ach so«, doch wirklich Gehör schenkte sie dem Mann nicht. Ihre Gedanken weilten bei Ramirez, dem Polizisten, den Tomás und sie Bluthund getauft hatten. Feist, fett und nach rechts gerückt war er. Auf seiner Stirn glänzte eine auffällige Warze. Er hatte hellgraue Augen, die keine innerliche Regung verrieten. Zuletzt hatte Dora ihn gesehen, als er durch den Garten von Tomás’ Mutter Emília gestapft war. Die Sohlen seiner Reitstiefel hatten Wildblumen auf dem Weg zur Tür begraben. Das Barett hatte er pietätlos aufgesetzt gelassen, Emília unhöflich mit Du angesprochen und herablassend verkündet: »Dein Sohn hat sämtliche Reifen an sämtlichen Fahrzeugen auf dem Gutshof Carvalho zerstochen. Jetzt sitzt er ein. Das wird teuer, ihn da rauszuholen. Und der Schaden erst.«

Das gehässige Grinsen hatte Dora nie vergessen. Am liebsten hätte sie ihm damals das Gesicht zerkratzt. Doch stattdessen hatte sie Emília in die Arme genommen und getröstet.

Es war ein stürmisch regnerischer Morgen gewesen, als sie und Emília einige Tage später nach Grândola aufgebrochen waren und bei der Staatsanwaltschaft die Kaution für Tomás hinterlegt hatten.

Eine Woche nach seiner Freilassung war Tomás verschwunden. Ohne eine Erklärung für Dora oder seine Mutter. Kein Wort des Abschieds.

Nach all den Jahren ohne Kontakt sollte Dora nun in den Fischerort Carrasqueira zurückkehren – und Tomás wiedersehen. Das klang völlig surreal. Sie hatte nie wieder nach Carrasqueira an die Blaue Küste kommen wollen, wo der Ozean karibisch türkisfarben an die Dünenstrände brandete. Dorthin, wo Feen lebten und den Menschen Liebe schenkten. So hatte es sich damals als Jugendliche für sie angefühlt.

Doch dann hatte das Paradies Risse bekommen. Tomás hatte immer öfter Unsinn angestellt und war mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, aus Freundschaft für ihn zu lügen, und Ehrlichkeit hatte sich Dora letztendlich fürs Ehrlichsein entschieden. Es war die richtige Entscheidung gewesen. Sonst hätte sie sich eine Vorstrafe eingehandelt und ihre Karriere als Polizistin vergessen können. Das war die erste schmerzhafte Lebenserfahrung gewesen, die sie bis heute nicht vergessen konnte. Es deprimierte sie noch immer, dass sie die Freundschaft, die sie sich gewünscht hatten, nach all den Schwüren und gegenseitigen Versprechen dann doch nicht hatten aufrechterhalten können. Vielleicht schafften sie es dieses Mal besser.

Sie schluckte den letzten Bissen Gebäck herunter, trank den Kaffee aus, bezahlte und setzte ihre Fahrt fort.

Das Meer kommt, das Meer geht, aber es bleibt immer das Meer. Dora wusste, warum ihr diese alte Fischerweisheit ausgerechnet jetzt einfiel. Sie würde wieder genauso handeln wie damals und ehrlich bleiben. Tomás würde stets zuerst an seine Belange denken. Womöglich lag aber gerade in dieser Wahrheit das Eingeständnis für wahre Freundschaft – und für ihre Bedingungslosigkeit.

Die Fischer wussten verdammt noch mal mehr vom Leben, als die meisten Leute ihnen zutrauten. Dora würde ihren Prinzipien treu bleiben und Tomás den seinen.

Nachdem sie das verinnerlicht hatte, löste sich ihre Anspannung. Beherzt gab sie Gas.

Die Nationalstraße hinter Alcácer do Sal verlief parallel zur Mündung des Sado. Noch waren es etliche Kilometer bis Carrasqueira, doch rechts und links dehnten sich schon die Korkeichenwälder, Reisfelder und Pinienhaine der Carvalhos aus. Annähernd dreißigtausend Hektar Land insgesamt.

Schnurgerade zerschnitt der Asphalt die Wälder zu beiden Seiten der Straße. Die Wurzeln der Bäume hatten den Belag an vielen Stellen hochgehoben. Schneller als sechzig zu fahren ging auf keinen Fall. So brauchte Dora für die dreißig Kilometer von Alcácer nach Comporta fast vierzig Minuten.

Nach Tomás’ Verschwinden war sie noch oft nach Carrasqueira und zu Emília gefahren. Bis zu ihrem Examen an der Polizeiakademie jeden Monat mindestens einmal. Danach immer seltener. Irgendwann hatten sich Emílias und ihre Hoffnung auf Tomás’ Wiederkehr wortlos aufgelöst, und eines Tages hatte Emília unvermittelt verkündet: »Du brauchst nicht mehr zu kommen, ich schaffe das allein.«

Das hatte Dora ohne Einspruch akzeptiert, sogar Erleichterung darüber verspürt – und sich dafür gehasst. Emília war für mehrere Sommer eine Art Ersatzmutter für sie gewesen, die sie immer verstanden hatte, die sie stets getröstet und ihre Träume niemals in Frage gestellt hatte. Nicht wie Doras eigene Mutter, die bei jeder Träumerei den Rosenkranz hervorholte und Jesus um Gnade für ihre Tochter bat.

Nun war Emília tot. Doras Mutter lebte, aber ihr Verhältnis zueinander war bis heute distanziert geblieben.

Die Abzweigung zum Gutshof der Carvalhos tauchte in der Morgendämmerung auf. Dora bog von der Bundesstraße ab und folgte der sandigen Piste durch dicht bewachsenen Pinienwald bis in die Dünen des Sado. Dort gabelte sich der Weg. Dora folgte ihm nach links gen Westen, hielt Ausschau nach einem geeigneten Parkplatz und fand eine Nische zwischen zwei Büschen, in die sie den Mustang hineinrollen ließ. Das Knistern des abgeschalteten Motors konkurrierte mit einem ohrenbetäubenden Froschkonzert in der Lagune, die sich im morgendlich fahlen Licht graublau zwischen moosgrünen Reisfeldern ausdehnte. Ab hier wollte Dora zu Fuß weiter.

Sie nahm den Feldstecher und das Handy mit und machte sich auf den Weg. In flottem Joggingtempo kam sie gut voran. Sie hörte ihren eigenen Atem, der Sand unter ihren Sohlen knirschte, und ein Seeschwalbenpaar keckerte. Ein Adler zog seine Kreise. Im Schilf standen Kraniche. Ein Eichelhäher kündigte ihr Kommen mit seinem typischen Warnschrei an. Vom Häherruf aufgeschreckt, flatterte ein Schwarm Drosseln in die Höhe. Draußen in der Lagune dümpelte ein Fischerboot.

Dora blieb stehen und hob das Fernglas an die Augen. Ein einzelner Fischer in einem Kahn zog Aalkäfige an Bord. Die angestrengte Mimik des Mannes verriet, dass sie gut gefüllt waren. Dora prägte sich den Namen des Bootes ein. »Santa Aukta«. Wie die Reliquie, die Kaiser Maximilian seiner Cousine Eleonore von Portugal zur Einweihung des Klosters Convento da Madre de Deus geschenkt hatte.

Der Fischer, gleichfalls gewarnt vom Ruf des Hähers, sah auf und winkte Dora grüßend zu. Sie winkte zurück. Es war José, Mários und Anas Onkel. Dora nahm sich vor, die beiden bald in ihrer urigen Kneipe »Espelunca mágica« zu besuchen.

Sie lief weiter bis zu einer kleinen Anhöhe, von der aus sie die Korkeiche sah, an der im November 1992 Tomás’ Vater und in der vergangenen Nacht Gustavo Carvalho erhängt worden waren.

Dora rieb sich über die Nasenspitze. Zwei Morde, ein Tatort. Ein Zufall war das ganz sicher nicht – eher ein Zeichen. Nicht nur Tomás wusste um den Mythos des Baumes. Es gab eine Menge Leute, die die Geschichte des mysteriösen Galgentods seines Vaters kannten und die aus verschiedenen Gründen Groll gegen die Carvalhos hegten. Der Schauplatz an sich hinterließ also bereits eine Botschaft. Dora musste sie nur richtig deuten, um den wahren Täter zu entlarven.

Hinter einem Wacholderbusch fand sie Deckung. Die Sonne stieg am östlichen Horizont flammend orange auf und versprach einen brütend heißen Tag. Die Frösche beendeten ihr Konzert. Dafür begann ein Schwarm Flamingos unweit des Ufers sein exotisch klingendes Schwätzchen.

Dora zog die Kapuzenjacke aus. Ihre Lockenpracht bändigte sie mit einem Gummiband und knotete sich die Jacke um die Taille. Die Ellbogen aufgestützt, legte sie sich auf den Boden, das Fernglas in beiden Händen, und linste durch das Sichtglas. Die Leiche lag zum Abtransport in die Pathologie bereit, aber noch nicht im Leichensack. Vermutlich warteten die Beamten noch auf Cardoso. Ein Fotograf beugte sich über den Toten und schoss Bilder. Der Galgenstrick hing nach wie vor am dicksten Ast, der so aussah, als strecke ein Mann seinen Bizeps aus. Sogar daran hatte der Täter gedacht und genau denselben Ast wie damals als Galgen ausgewählt.

Dora robbte ein Stück weiter nach vorne durch das Buschwerk, um den Tatort besser heranzoomen zu können.

Die Beamten der Guarda Nacional Republicana aus Grândola hatten rund um die Korkeiche ein Absperrband gespannt. Die Spurensicherung nahm den Boden, den Weg, den Leichnam und den Strick in Augenschein. Sie trugen keine Schutzkleidung. Dora schnappte empört nach Luft. Das war ganz und gar unprofessionell.

Aus ihrem Versteck heraus, keine fünfzig Meter vom Baum entfernt, betrachtete sie den Toten. Ein Knebel steckte ihm im Mund. Er trug eine Reithose, Reitstiefel und ein grob gewebtes Hemd. War Gustavo etwa im Dunkeln auf einem Ausritt unterwegs gewesen? Krauses blondes Haar fiel ihm ins Gesicht. Die Ähnlichkeit mit Américo war frappant. Gustavo sah aus wie sein Vater vor zwanzig Jahren. Dora kannte beide von früher. Es waren unschöne Begegnungen gewesen. Die Carvalhos hatten sich herablassend verhalten und andere stets wissen lassen, wie vermögend und mächtig sie waren. Typisches imperialistisches Benehmen, Überbleibsel der Diktatur, reflektierte Dora als Erwachsene. Damals als Jugendliche hatte sie sich von den Carvalhos einfach boshaft herabgesetzt gefühlt.

Sie entsann sich, wie Américo ihr einmal sehr deutlich gesagt hatte, dass »Mischlinge« in »seiner Gegend« unerwünscht seien. Das hatte er so betont, als sei er der Alleinherrscher über Grândola.

Dora konzentrierte sich wieder auf den Tatort.

Gustavo hing ein Blatt Papier an der Brust. Doch sie schaffte es nicht, es zu entziffern.

Ein untersetzter Polizist lief in Doras Sichtfeld. Sie erkannte ihn auf Anhieb wieder. Ramirez! Die Warze leuchtete wie ein Horn auf seiner Stirn.

Er war zum Dienststellenleiter der Polizei in Grândola aufgestiegen, hatte Tomás am Telefon erwähnt. Ein Klacks mit Américo Carvalho als Fürsprecher.

»Was sucht ihr denn so lange?«, rief er ungeduldig und stampfte quer durch den Sand.

Der dumme Ziegenbock zertrampelt noch sämtliche Spuren, und niemand aus dem forensischen Team scheucht ihn fort, dachte Dora.

Die alte Leier. O Chefe é que manda … Der Chef befahl und sonst niemand. Als hätte die Revolution erst vor ein paar Tagen stattgefunden und nicht vor fünfzig Jahren. O patrão diktierte. So lief das hier. Damals und heute immer noch.

Der Eichelhäher rief ein zweites Mal, doch Dora schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Sie bemerkte vielmehr eine Staubwolke, die rasch größer wurde. Ein golden lackierter Kleinwagen-Hybrid pflügte durch den Sand.

Cardoso, dachte Dora grinsend. Reichlich verspätet, er hat sich vermutlich im Wald verfahren. Ein Stadtkind eben.

Kaum aus dem Wagen gestiegen, wies der fast zwei Meter hochgewachsene Inspetor-Chefe von der Kriminalpolizei aus Lissabon die Kollegen aus Grândola an, seinen Tatort zu verlassen.

Der Bluthund plusterte sich sogleich auf wie ein Auerhahn. »Sie sollten vorsichtig sein, wem sie hier auf meinem Territorium Befehle erteilen.«