Radatouille - Jean-Marie Magro - E-Book

Radatouille E-Book

Jean-Marie Magro

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Beschreibung

Frankreich mon amour Jean-Marie Magro ist Münchner, Provençale und vor allem rasender Reporter: Mit dem Rennrad hat er Frankreich erkundet, auf einer realen Tour de France: von Paris aus zu den Schtis, vom Mont-Saint-Michel über Cognac und Bordeaux ins friedvolle Baskenland. Von den Pyrenäen hoch auf Alpe d'Huez und Mont Ventoux. Wie ein richtiger Bretone Galettes isst und Parodisten sich feinsinnig über die Politik lustig machen, warum Streik Nationalsport ist und Mangas im Land von Asterix die Herzen der Jugend erobern, wieso 56 Atomkraftwerke für Franzosen nicht zu viel sind – und weshalb immer mehr Menschen – vor allem in seiner Provence – so zahlreich Marine Le Pen wählen: All das erzählt Magro liebevoll in seiner bunten ›Radatouille‹.

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Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Jean-Marie Magro ist Münchner, Provençale und vor allem rasender Reporter: Mit dem Rennrad hat er Frankreich erkundet, auf einer realen Tour de France: Angefangen bei der Pariser Bildungselite und den liebevollen Sch’tis hin zum überteuerten Mont-Saint-Michel. Anschließend ein Dopinggetränk in Cognac und von Bordeaux aus ins friedvolle Baskenland, wo die Geier vergeblich auf Aas warten. Von den kräftezehrenden Pyrenäen über die Mariengrotte in Lourdes, wo Bundeswehr und Carabinieri Party machen, in die verlassene, grüne Vulkanlandschaft der Auvergne. Hoch hinaus auf die Alpe d’Huez und schließlich auf den Mont Ventoux.

Wie ein richtiger Bretone Galettes isst und Parodisten sich feinsinnig über die Politik lustig machen, warum Streik Nationalsport ist und Mangas im Land von Asterix die Herzen der Jugend erobern, wieso 56 Atomkraftwerke für Franzosen nicht zu viel sind und immer mehr Menschen – vor allem in seiner Provence – so zahlreich Marine Le Pen wählen: All das erzählt Magro liebevoll in seiner bunten ›Radatouille‹.

Jean-Marie Magro

Radatouille

Meine Tour de France zu Burgund, Baguette und Banlieues

Prolog in den Vogesen

Es fühlt sich an, als flöge ich die Rechtskurve hinauf zum Petit Ballon. »Allez Thibaut«, ruft mir ein junges Ehepaar vom Straßenrand aus zu. In allen möglichen Farben ist der Name des Kletterers aus den Vogesen auf den Asphalt geschrieben. Nach ihm, Thibaut Pinot, wurde sie benannt, diese Rechtskurve, die »Virage Pinot«.

April 2024, noch gut einen Monat ist es hin bis zum Grand Départ meiner eigenen Tour de France. Wie unschwer an meinem Vornamen zu erkennen ist, wurde mir mein Interesse an Frankreich in die Wiege gelegt. Geboren und zweisprachig aufgewachsen bin ich zwar in München. Meine Mutter aber ist frankophil, weil drei Jahre lang in Istres zur Schule gegangen, wo ihr Vater an Flugzeugen schraubte und Entwürfe skizzierte. Mein Vater kommt aus der Provence, wuchs in Nizza und einem Dorf nahe den Schluchten des Verdon auf, in Aups. Dort, bei meinen Großeltern, verbrachte ich die Sommerferien. Seither forme ich mein Mosaik, meine Vorstellung vom Wesen Frankreichs, wie es Charles de Gaulle einst in seinen Memoiren ausdrückte. Deutschland und Frankreich sind Nachbarn, werden als Freunde, Motor der Europäischen Union und Tandem beschrieben. Die meisten Deutschen sehen in Frankreich einen, wenn nicht den vertrauenswürdigen Partner der Bundesrepublik. Und doch weiß man noch immer zu wenig voneinander, was sich auch daran zeigt, wie vor allem politische Entscheidungsträger, Wirtschaftsleute und Intellektuelle Vorurteile streuen. Oft höre ich in Bekanntenkreisen, wie schön Frankreich doch sei, wie schmackhaft die Küche, wie famos das Kulturangebot. Doch dann schieben sie schnell die Frage nach, warum meine zweite Heimat so rechts sei.

Meist stellt sich heraus, dass diese Leute außer Paris – vielleicht noch der Bretagne oder der Provence – Frankreich überhaupt nicht kennen. Was schade ist. Frankreich ist so vielseitig, dass es kaum zwischen zwei Buchdeckel passt. Weder gibt es die französische Küche noch die Franzosen. Der Sch’ti hat mit dem Béarnais ungefähr so viel zu tun wie der Unterfranke mit dem Ostfriesen. Doch wie bringt man das dem deutschen Publikum bei? Da kam sie mir, die Idee.

Seit meiner Kindheit fahre ich Rennrad und verfolge den professionellen Radsport, über den ich in unregelmäßigem Abstand für die Süddeutsche Zeitung schreibe. Der Höhepunkt meines Jahres ist, wie könnte es anders sein, die Tour de France. Das größte aller Radrennen. Die beste Tourismuswerbung, die sich dieses Land wohl hat einfallen lassen. Sportlicher Wettbewerb auf der einen, spektakuläre Landschaften und Kulturerbe auf der anderen Seite. Was könnte entstehen, wenn ich versuchte, das Land vom Fahrrad aus zu entdecken und zu erzählen?

Jahrelang habe ich meinem Fahrradmechaniker Peter von dieser Idee vorgeschwärmt. Er antwortete immer, dass er mich auf dieser Reise begleiten würde, sollte ich jemals Nägel mit Köpfen machen. So kam es dann auch. Dieses Buch ist der Versuch, die Französinnen und Franzosen zu verstehen. 3000 Kilometer bin ich durch Frankreich auf dem Rad gefahren, habe mit 100 Experten, Unternehmern und Freunden über Eliteschulen und Einwanderung, Laïcité und Atombomben, Humor und Küche und viele, viele andere Themen gesprochen. Themen, die die Franzosen beschäftigen und Frankreich ausmachen.

Monatelang habe ich mich auf diese sowohl sportliche als auch journalistisch anspruchsvolle Herausforderung vorbereitet. In der marokkanischen Hauptstadt Rabat, wo ich für die ARD berichtete, sonderte mein Körper abends eimerweise Schweiß aus, als ich im Spinningraum von »Fitnesspark« Intervalle trainierte. »Ein Buch über Frankreich?«, fragte einer der Studiogänger rhetorisch, ehe er auf Englisch hinzufügte: »Honestly, I don’t like France. You know, because of colonialism …« Weder möchte ich ein Buch schreiben, in dem ich dieses Land hochleben lasse noch seinen Untergang prophezeie.

 

Um Frankreich zu verstehen, springen wir zurück, in den Osten des Landes. Dort, wo viele Entwicklungen, die das Land beschäftigen, wie unter einer Lupe zu sehen sind. Also noch mal auf Anfang, zu Thibaut Pinot und den Vogesen, zum letzten Romantiker und wunderbaren Verlierer. Zu einer Person, die wie aus der Zeit gefallen scheint und vielleicht gerade deshalb so viele leidenschaftliche Anhänger am Petit Ballon versammelte.

Ob Sie die Bilder gesehen haben oder nicht, Sie sollten es unbedingt (noch) einmal tun. Wie dieser Thibaut Pinot 2023 in seinen Vogesen angreift und das Rennen am Petit Ballon von vorne bestreitet. Wie Hunderttausende am Straßenrand stehen und seinen Namen singen. Wie er in diese Rechtskurve einbiegt und die Menge tobt, als gäbe es bis in alle Ewigkeit Freibier.

Zwischen der Tour de France und der Französischen Republik gibt es manche Parallelen. Die Tour lockt die besten Athleten an, ist weltweit anerkannt und ein Exportschlager. Andere Länder zahlen den Tourorganisatoren Millionen von Euro, um den Grand Départ, die erste Etappe, bei ihnen auszurichten. Yorkshire, Bilbao, Florenz … in Deutschland startete sie bereits in Köln, Frankfurt, Westberlin und zuletzt in Düsseldorf. Die Tourorganisatoren finden das großartig, wollen sie doch das Rennen als globale Marke etablieren. Viele Franzosen aber sähen lieber, die Tour de France bliebe ein französisches Rennen. Durch einige Regionen fuhr das Peloton schon seit Jahren nicht mehr. Die Auswirkungen der Globalisierung des Rennens machen nicht bei Etappenstarts und -ankünften Halt. Seit 1985 hat kein Einheimischer mehr die Tour gewonnen. Das Fahrerfeld wurde internationaler. 1986 jubelte mit Greg LeMond der erste Amerikaner. Sieger kamen aus Dänemark, Großbritannien, Deutschland, Spanien, Italien, ja zuletzt sogar Slowenien. Die Gastgeber jedoch warten vergebens.

Thibaut Pinot war eines der größten Radsporttalente seiner Generation und wohl der erste Franzose seit Bernard Hinault und dem mit Epo und Bluttransfusionen gezüchteten Rennpferd Richard Virenque, der die körperlichen Voraussetzungen mitbrachte, das größte Rennen der Welt für sich zu entscheiden und sich mit dem Gelben Trikot vor dem Triumphbogen in Paris feiern zu lassen. Mehrfach flog er auf die Nase, ob im übertragenen oder wortwörtlichen Sinne – und kam doch immer zurück. 2013 verlor er in den Pyrenäen vier Minuten in der Abfahrt, weil er sich vor der Geschwindigkeit fürchtete. Im Winter darauf kurvte Pinot im Rallye-Auto verschneite Berge hinunter und besiegte die Angst. Im Zeitfahren verbesserte sich das Fliegengewicht so sehr, dass er Landesmeister wurde. 2015 wurden seine Hoffnungen auf den Gesamtsieg auf dem nordfranzösischen Kopfsteinpflaster beerdigt. 2018 lag er beim Giro d’Italia am Tag vor der Ankunft in Rom auf Podiumskurs, am Abend dann mit einer Lungenentzündung im Spital. Pinot aber kehrte immer zurück, gewann prestigeträchtige Etappen und Rennen wie die Lombardei-Rundfahrt in denkwürdiger Manier.

2019 sollte die Karriere dieses Ausnahmetalents, das sich immer wieder selbst im Weg stand, gekrönt werden. Er war in den Bergen der stärkste Fahrer, stand kurz davor, das Gelbe Trikot zu erobern. Pinot siegte auf dem Tourmalet, am Tag darauf fraßen seine Gegner am Prat d’Albis seinen Staub. »La victoire lui tendait les bras«, der Sieg streckte Pinot seine Arme aus. Doch er ergriff sie nicht. Wieder einmal. Zwei Tage vor Schluss stieg er mit einer Muskelverletzung aus. Gerade noch war er Favorit, Erlöser der Franzosen, Stunden später saß er weinend auf dem Bett im Hotelzimmer. »Ich höre auf. Ich will nicht mehr«, sagte er seinem Teammanager Marc Madiot.

Natürlich hörte Pinot nicht einfach auf und das Publikum hielt trotz der vielen Enttäuschungen weiterhin zu ihm. Der Traum vom Triumph bei der Tour hatte sich aber erledigt. Eine neue Generation an Fahrern trat an. Der Radsport transformierte sich und ließ Romantikern wie Pinot, denen man die Anstrengung auf dem Rad von Weitem ansah, kaum mehr Platz. Statt ihnen setzten sich die Maschinen des niederländischen Teams Visma/Lease a Bike oder des Golfstaatenkonzerns UAE Team Emirates an die Spitze des Pelotons. Mannschaften, die Dutzende Analysten beschäftigen, um das perfekt auf den Fahrer ausgerichtete Training zu gestalten. Der moderne Radfahrer sitzt stundenlang im Windkanal und optimiert seine Position, lässt sich alle paar Minuten ins Ohr pieksen, um die Laktatschwellen zu messen, und fährt schon in der Jugend mit Powermeter am Pedal, um genau zu wissen, wie viel Watt er tritt.

Mit diesem Radsport wusste Thibaut Pinot nichts anzufangen. Ständig trainierte er in den Vogesen zu viel, weil er sich nicht an den Plan seines Bruders halten wollte. Jahrelang weigerte er sich, eine Sauna in sein Haus bauen zu lassen. Lieber kümmerte er sich bei Mélisey um seine Zicklein und Esel, angelte am See oder spielte eine Partie Pétanque. Pinot ist Fußballfan, PSG-Ultra, stellt sich im Parc des Princes in die Kurve, hält Transparente und Fahnen hoch und wundert sich, wenn er erkannt wird. Hatte er Zeit, fuhr er übers Wochenende nach Dortmund, um die Gelbe Wand zu bestaunen, oder zum Mailänder Stadtderby ins San Siro. Wenn er mal keine Rennen fuhr, kickte er in einer Freizeitliga auf einem Kartoffelacker gegen die Feuerwehrleute aus dem Nachbarort. Radsport, so schien es, genoss nicht immer die oberste Priorität. Ohne sich zu verbiegen, bestritt er über ein Jahrzehnt lang eine erfolgreiche Karriere. Pinot ist ein Auslaufmodell. Der Schriftsteller Jean-François Supié überschrieb seine Biografie über den Bergspezialisten aus den Vogesen »Le dernier des romantiques«, der Letzte unter den Romantikern. Obwohl Pinot die Tour nie gewann, löste er bei vielen starke Gefühle aus.

Bei Didier Roustan zum Beispiel. Eine französische Sportreporterlegende. Roustan war ebenfalls Romantiker. 1957 in Brazzaville geboren, der Vater arbeitete für den Internationalen Währungsfonds, die Mutter als Journalistin. Später zog die Familie nach Cannes, wo der kleine Didier Roustan das Fußballspielen lernte, sich in den Sport verliebte und ihm sein Leben widmete. Mit 18 machte er ein Praktikum bei TF1 und blieb dort 13 Jahre lang. Er kommentierte die Europameisterschaft 1984, die Platini und Co. gewannen. Legendär waren seine Reportagen und Interviews. Er setzte einen Babypanther auf den Schoß des großen Pélé, Éric Cantona ans Steuer eines Taxis in Manchester und einen richtigen Wolf in die Kabine von Olympique de Marseille. Roustan legte unter seine kinotauglich gedrehten Bilder gefühlige Musik, der Text, den er mit seiner tiefen Stimme sprach, war pure Poesie. Verspielt, aber kein Wort zu viel.

Roustan übersetzte seine Leidenschaft in die Postmoderne, wöchentlich produzierte er mit seiner Lebensgefährtin den Podcast »Roustan Foot«. Eine Stunde, manchmal zwei, monologisierte er über seinen Fußball, den es so nicht mehr gibt. »Heute Folge 66, also widmen wir uns der Saison 1966 und damit dem Finale in Wembley. Oh, là, là, Kaiser Franz.« Roustan führte Landesmeister auf, Pokalsieger, Weltmeister, Weltfußballer … Stundenlang konnte man sich mit ihm über die 70er unterhalten, das Brasilien von Pélé, das England von Gordon Banks, das Ajax Amsterdam von Johan Cruyff. Scherzhaft sagte er immer wieder, mit wem er alles eine »soirée pasta« erleben durfte. Didier dichtete, imitierte und sang. Roustan wurde wegen seines Aussehens und seiner kapitalismuskritischen Einstellung mit Che Guevara verglichen. »L’argent va à l’argent«, das Geld gehe zu denen, die es ohnehin schon haben. Das treffe auf den Fußball zu, aber auch auf unsere Gesellschaft, war er überzeugt.

Nicht allzu weit von den Vogesen entfernt liegt Sochaux, das früher einen respektablen Erstligaklub besaß. Der Verein wurde 1928 von der Firma Peugeot gegründet, die hier Autos baute. Zweimal im Jahr besuchten die Profis das Werk, gingen mit den Arbeitern in der Kantine essen. Die Region identifizierte sich mit dem Club. In den vergangenen Jahrzehnten aber gingen in der französischen Automobilbranche Millionen Jobs verloren. Peugeot trennte sich von Mitarbeitern und dem Fußball, der nicht mehr zur Firmenpolitik passte. Der FC Sochaux wurde von einer chinesischen Investmentgruppe aufgekauft, ertrank in Schulden und stieg in die Regionalliga ab. Um die Pleite zu verhindern, scharte einer der Peugeot-Erben Investoren um sich und sammelte zwölf Millionen Euro.

Beispiele wie Sochaux gibt es im Osten Frankreichs zuhauf. Ehemalige Industrien weichen, multinationale Konzerne, die lange nicht dieselbe Identifikationskraft ausstrahlen, machen sich breit. In Vittel oder Contrexéville pumpt der Nestlé-Konzern Milliarden Liter Wasser aus den Quellen ab. Andererseits schließen alte Minen und Maschinenbauer wie auch Fußballvereine. Frankreich ist im Wandel. Das gefällt nicht jedem.

Didier Roustan hatte im neuen Zeitalter auch Chancen gesehen. Auf seinem X-Account folgten ihm knapp 300000 Nutzerinnen und Nutzer. Eine Karriere wie die seine ist heute wohl nicht mehr denkbar. Das Internet bietet viele Möglichkeiten für Sportpassionierte. Und doch hatte ihn die Zeit seiner Jugend mehr fasziniert als das Jetzt. »Wir wissen oft besser Bescheid über das, was sich Tausende Kilometer entfernt abspielt, als 100 Meter vor unserer Haustür«, sagte er, den dunklen Bart kratzend. Roustan übte seine Berufung mit einer festen Überzeugung aus: »Der Stahlarbeiter in der Bar kann mir wahrscheinlich spannendere Dinge beibringen als der Rechtsprofessor im Hörsaal.« Früher, beschreibt er, habe es diese Magie, die Vorfreude auf ein Spiel gegeben. Heute müsse man nur den Fernseher einschalten und irgendwo rolle der Ball schon. »Früher war Fußball erotisch, heute ist er pornografisch«, meinte er.

Der Sport, speziell der Fußball ist omnipräsent. Präsident Emmanuel Macron schaltete sich ein, um Kylian Mbappé zu überreden, bei Paris Saint-Germain zu bleiben oder eine Einigung bei der Frage der TV-Rechte für die erste Liga herbeizuführen. Hyperspektakularisierung trifft auf Hyperpräsidentialisierung.

Vive la nostalgie!

Auf dem schönen Anwesen von Michelle, dem »Magnolia« in Sainte-Croix-aux-Mines, schlage ich mein Trainingslager auf. Im elsässischen Städtchen reihen sich die Fachwerkhäuser aneinander, es gibt Flammkuchen-Kneipen, Supermarktketten und stillgelegte Silberminen. Beim spärlich besuchten Bar-Tabac liegen die Dernières Nouvelles d’Alsace aus.

Michelle bereitet mir jeden Morgen ein famoses Frühstück zu. Knuspriges Brot steht auf dem Tisch zusammen mit sechs unterschiedlichen Käsesorten sowie Marmelade und Honig, gekochten Eiern, Müsli, Joghurt, frischem Kaffee und dem Highlight: ein Fruchtsaft, neben dem sie Bananenscheiben, Blutorangen- und Orangenfleischstücke liebevoll nebeneinandergereiht hat.

Wer den Tank mit so vielen Köstlichkeiten füllen kann, für den stellen Petit Ballon, Platzerwasel und Grand Ballon keine Probleme dar. Das Erklimmen der Gipfel wird mit Blaubeertarte, Café au lait, und einer grandiosen Aussicht versüßt, die bis zum Schwarzwald und in die Alpen reicht.

Es steht ein großer Umbruch in dieser Region an, das ist klar, als ich mit dem Rad durch Elsass und Vogesen fahre und den Einwohnern begegne. Noch werden im Mittelgebirge Skistationen betrieben, obwohl die Schneetage auf 1000 Metern Höhe immer weniger werden. Statt weißem Pulver liegt da braune Sülze. Die Landwirte klagen ihr Weh über die »Brüsseler Bürokraten«. Manche Kleinstädte wirken wie ausgestorben, junge Leute sind kaum zu sehen. In Fessenheim wurde das erste der 57 Atomkraftwerke vom Netz genommen, worüber viele Franzosen nicht erleichtert, sondern eher irritiert, manche gar erzürnt sind. Im elsässischen Ort selbst sammeln die Anwohner Unterschriften, weil eine deutsch-französische Kindergartengruppe geschlossen werden soll. Immer weniger lernen hier die Sprache von Goethe und Jan Ullrich.

In den fast zwei Wochen im April strample ich über Dutzende Berge. Col de la Schlucht, Ballon d’Alsace, die Planche des Belles Filles … Komme ich wieder im Magnolia an, schmeißt Michelle für mich netterweise Nudeln oder Reis in den Kochtopf. Im zweiten Stock des Hauses sehe ich, wie die Sonne langsam hinter den Bergen verschwindet. Dazu schalte ich das Radio ein. Der voreingestellte Sender meiner Gastgeberin: Nostalgie.

Womöglich ist dieser Blues das Geheimnis der Beliebtheit eines Thibaut Pinot, der das Publikum in eine frühere Zeit, in der die Welt authentischer, unkomplizierter, beherrschbarer und auch glücklicher schien, zurückversetzt. Um den Gesamtsieg bei dessen letzter Tour im Jahr 2023 stritten sich zwar der Däne Jonas Vingegaard und der Slowene Tadej Pogačar, die von manchen bewundert, von manchen gefürchtet und von anderen verdächtigt werden. Innig lieben aber möchte das Publikum nur den Romantiker Thibaut Pinot, der nur wenige Monate nach seinem Soloritt am Petit Ballon seine Karriere beendete.

Auch Didier Roustan stand damals am Straßenrand. Viele Französinnen und Franzosen wuchsen mit seiner Stimme und seiner Begeisterung für den Fußball auf. Womöglich sah er in Thibaut Pinot ein Phänomen, das es nicht mehr so häufig zu bestaunen gibt. Während meiner Tour telefonierte ich mit dem Reporter. Dabei saß er vor dem Fernseher. Es lief das Relegationsspiel zwischen Saint-Étienne und Rodez. Meist den Blick auf den Bildschirm gerichtet, selten auf den Videoanruf. »Oh put …«, rief er, wenn Saint-Étienne eine Chance verpasste. Mit welcher Person er heute eine soirée pasta verbringen wollte, wenn er wählen dürfte? Lange dachte er nach und gab schließlich auf. »Ich schreib dir, wenn mir jemand in den Sinn kommt«, versprach er. Etwas mehr als zwei Monate später war sein Profilbild auf der Titelseite der Sportzeitung L’Équipe: »Nach kurzer, schwerer Krankheit ist unser Ehrenpräsident Didier Roustan gestorben.«

Auf meiner Tour de France wird es nicht nur um nostalgische Gefühle gehen. Ich hoffe, diejenigen, die Frankreich gut kennen, werden sich in diesem Buch wiederfinden und vielleicht sogar neue Seiten dieses faszinierenden Landes und seiner Einwohner kennenlernen. Diejenigen, die dieses Buch des Radsports wegen gekauft haben, kommen bestimmt auf ihre Kosten. Und alle die, die noch gar nicht viel mit Frankreich anfangen können, wollen es hoffentlich nach diesen Seiten entdecken und verstehen. Willkommen auf unserer Tour de France.

I.Grand Départ: Ici, c’est Paris

21 Etappen, gut 3000 Kilometer und 40000 Höhenmeter. So viel haben Peter und ich vor uns, als wir in Paris ankommen, genauer gesagt in Asnières-sur-Seine. Der Vorort liegt nördlich des Stadtflusses, vor Argenteuil, einige Kilometer vom Zentrum der Metropole entfernt. Hohe graue Häuser reihen sich aneinander. Ein Radweg, schmal wie eine halbe Autotür, verläuft neben dem Boulevard Voltaire.

Unter dem trüben Himmel sorgt ein großer, einsamer Baumarkt allein durch seinen Anblick für Depressionen. Doch unter grauweiße Plattenbausiedlungen mischen sich modernere Gebäude mit Garagen, deren Tore über Funk rauf- und wieder herunterfahren. Vor einem solchen Garagentor wartet mein Freund und Kollege Ben, Mitte 40, schwarzes, lockiges Haar, kleine, gemütliche Statur. Zusammen arbeiteten wir an zwei Dokumentarfilmen. Das Gesicht des Filmproduzenten paraphrasiert jeden seiner Gedanken. Ben kann man so leicht lesen wie ein Stoppschild.

Bevor ich meine Tour auf dem Fahrrad starte, haben wir uns vorgenommen, drei Tage in Paris zu bleiben, um noch Interviews zu führen und Eindrücke in der Hauptstadt zu sammeln. In dieser Zeit brauchen wir einen Parkplatz für das Auto, aber das ist in Paris eine teure Angelegenheit. 100 bis 150 Euro für drei Tage. Ben hatte deshalb angeboten, den Wagen bei ihm abzustellen. Alles ändert sich, als er das Neunsitzer-Ungetüm sieht. Gewissheit weicht Zweifel: »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob der reinpasst.« Ben fährt das Garagentor hoch. Nach einer kurzen Abfahrt offenbart sich das Problem: Die Decke ist nur knappe zwei Meter hoch. Peter, der während seines Zivildiensts im Rettungswagen durch die Münchner Innenstadt raste, rollt sachte Zentimeter für Zentimeter vorwärts und tastet sich heran. Dann rufen Ben und ich auch schon laut »Stopp«. Das Dach des Wagens ist an einer Leuchtstoffröhre hängen geblieben. Zum Glück ist kein Kratzer zu sehen.

Während Ben auf seinem Handy nach alternativen Parkhäusern in der Nähe schaut, versuchen Peter und ich, uns dem Problem pragmatisch zu nähern. Sollten wir das Auto draußen stehen lassen? Ben winkt ab. Das Risiko zu hoch. Erst recht mit Karbonrennrädern im Kofferraum. Die Luft aus den Reifen lassen? Ben schaut ungläubig. Aber vielleicht liegt die Lösung näher als gedacht. »Hast du ein Maßband?«, frage ich. Peter und ich wandern von der rechten äußeren Seite der Wand zur linken. Wir erkennen, die eine Seite ist zwei Zentimeter höher als die andere. Genau der Abstand, den wir brauchen. Im Schneckentempo startet Peter einen neuen Versuch. Der Tourneo meidet hauchdünn die Deckenrasur. Ben applaudiert: »Präzise deutsche Ingenieure.« Sein Lachen hallt durch die weite, niedrige Garagenhalle. »Bon, maintenant la bouffe.« Auf geht’s zum Essen, sagt Ben und weist uns den Weg zum Aufzug.

Drei Schlafzimmer, eines für das Ehepaar, jeweils eines für die Kinder. Bad, Küche und ein großes Wohnzimmer, in dem der große Schatz der Familie steht, ein um die Ecke laufendes Bücherregal. In der Pariser Innenstadt müssten Menschen wie Ben, die zur Mittelschicht gehören, entweder sehr viel geerbt haben oder eine Niere verkaufen, um in einem Apartment mit so viel Platz zu wohnen.

Die vielfältigen Vorstädte

Was die Pariser Banlieues auszeichnet, ist zuerst einmal, dass sie außerhalb der modernen Stadtmauer liegen, des Boulevards Périphérique, dem Autobahnring um Paris. In der deutschen, sogar der französischen Berichterstattung werden die Banlieues häufig auf heruntergekommene Hochhaussiedlungen reduziert. Die gibt es, aber eben nicht nur. Verlässt man etwa die RER-Station Les Ardoines im Süden von Paris Richtung Cité Gabriel Péri, schließen sich mehrere graue Plattenbauten aneinander. Vor schmalen Fenstern sind Satellitenschüsseln angebracht, andere sind schwarz vor Ruß.

Vor der Siedlung stehen einige Männer in Boubous, hinter ihr liegt ein Sportkomplex mit zwei großen Feldern. Rugbystangen ragen in die Höhe. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße unterhalten rund zwei Dutzend schwarze Männer Verkaufsstände. Frische Limonen und Melonen, Kosmetikartikel, sogar ein Drehstuhl ist aufgestellt: Wer will, kann sich die Haare schneiden lassen. Immer wieder ist ein lautes »Pam« zu hören. Ein junger Mann zerteilt mit einem Messer Hähnchen. Matratzen, Paletten und große Müllsäcke liegen kreuz und quer.

Geht man aber auf die andere Seite des Sportkomplexes, weiter in den Westen von Vitry-sur-Seine, so mischen sich auch hübschere Einfamilienhäuser in das Bild. An der Maison Petit, einer renommierten Boulangerie in dem Viertel, stehen ein Dutzend Menschen Schlange. Eine weiße Frau mit blonden Haaren, die einen Kinderwagen schiebt, ein großer, glatzköpfiger schwarzer Mann im blauen Trikot der französischen Nationalmannschaft und eine Kopftuch tragende Frau wollen ihre Bestellung aufgeben. Ich komme mit Michel ins Gespräch. Ein weißer Herr mit schwarzer Jacke, grauem Halstuch und Dreitagebart. Der frühere Lehrer und Judotrainer ging vor Jahren in Pension. Seine Baguette klemmt er auf den Gepäckträger seines Stadtrads. »Ich würde niemals die Extreme wählen, egal ob links oder rechts«, sagt Michel. »Vom Judo weiß ich, wenn ich zu viel Gewicht auf einen Fuß verlagere, bin ich im Ungleichgewicht – und dann habe ich schon verloren.«

Allerdings, sagt er, fühle er sich in seiner Gemeinde unwohl. Der Staat habe sich aus vielem zurückgezogen, in manchen Vierteln dem Waffen- und Drogenhandel freien Lauf gelassen. Seinen Kindern habe er, bevor sie erwachsen wurden, verboten, in der Nacht den RER zu nehmen. Lieber holte er sie selbst mit dem Auto ab. »Ich habe wirklich nichts gegen Menschen, die eine andere Herkunft haben als ich. Für mich als Lehrer sind alle Kinder der Republik«, sagt Michel. Aber genau hier liege das Problem. Seit Jahren sei der Eindruck entstanden, dass für einige nicht dieselben Regeln, dieselben Voraussetzungen gelten wie für andere, meint Michael.

Banlieue ist nicht gleich Banlieue. Es gibt sehr arme Viertel, aber auch sehr reiche. Das einst erfolgreiche Comedy-Trio »Les Inconnus« entwarf einst den Rapsong Auteuil Neuilly Passy, der es sogar in meinen Französischunterricht geschafft hatte. Darin heißt es, mit fünfeinhalb habe Hubert Valéry Patrick Stanislas schon einen Ferrari geschenkt bekommen, den er leider noch nicht fahren durfte, weil er zu klein war.

Das Gegenbeispiel ist Seine-Saint-Denis, Frankreichs ärmstes Département, wenn man die Überseegebiete ausklammert. Die Heimat des größten Stadions des Landes, das Stade de France, in dem Frankreich 1998 sein Sommermärchen schrieb: als »Les Bleus« Brasilien mit 3:0 schlugen und der Nation ihren ersten Fußballweltmeistertitel schenkten. Die bedankte sich mit Jubelschreien für die Équipe Black-Blanc-Beur (Schwarz-Weiß-Araber). Knapp die Hälfte der heutigen französischen Nationalmannschaft stammt aus der Region Île de France, also aus Paris und seiner Umgebung. Seine-Saint-Denis, das »Neuf-Trois« (93), brachte den Ex-Frankfurt-Angreifer Randal Kolo Muani und Weltstar Kylian Mbappé hervor.

Dem Département und speziell der Stadt Saint-Denis würde man aber nicht gerecht werden, würde man sie nur auf Fußballer reduzieren. Es gibt eine Universität und für die Olympischen Spiele wurde hier eine riesige Schwimmhalle errichtet, in der der neue Nationalheld Léon Marchand vier Gold- und eine Bronzemedaille gewann und dabei schwamm wie der Sohn des Meeresgottes Poseidon. Die Spiele sollten Geld in die ärmeren Vororte spülen und sie entwickeln. Überall werden Metro- und RER-Linien gebaut. Der Ballungsraum Paris soll näher zusammenwachsen.

Das Département Seine-Saint-Denis hatte einst eine starke Industrie und Arbeiterschaft. Lange regierten hier die Kommunisten. Doch ab den 1970ern entließen die Firmen viele Mitarbeiter, allen voran Citroën. Schon Ende der 1980er wandte sich ein bedeutender Teil der ehemaligen französischen Arbeiterschaft dem Front National zu. Was damals für diese Region galt, weitete sich inzwischen auf das ganze Land aus. Bei der Präsidentschaftswahl 2022 gaben in der ersten Runde rund 50 Prozent der Arbeiter Marine Le Pen die Stimme.

Viele Grautöne in den Banlieues

Mehrmals habe ich in den vergangenen Jahren die Metro-Linie 13 aus der Pariser Innenstadt nach Saint-Denis genommen. Es ist auffällig, wie mit jeder U-Bahn-Haltestelle Richtung Norden der Anteil der schwarzen Bevölkerung zunimmt. Einige Männer tragen Jogginghose und Hoodie, andere Anzug. Steigt man an der Kathedrale von Saint-Denis aus, wartet oberhalb des Bahnhofs ein großer Carrefour, der zwar nicht wirklich einladend aussieht, aber alles anbietet, was der Haushalt brauchen kann.

Neben dem Supermarkt reiht sich Sozialwohnkomplex an Sozialwohnkomplex. Unterhalb der tragenden Bögen steht ein etabliertes japanisches Restaurant namens »Osaka«. Gegenüber das frühere Redaktionsgebäude von »L’humanité«, das eine neue Glasfassade erhalten hat. Auch eine Straßenbahn, wovon es in Paris eher wenige gibt, tingelt durch den Vorort. Bis 2029 soll Saint-Denis richtig rausgeputzt werden. Nach den Olympischen Spielen investieren hier auch immer mehr Geschäftsleute und Pariser, die etwas komfortabler leben wollen. Paris mag zwar eine der schönsten Metropolen auf der ganzen Welt sein, doch das Leben ist dort nicht unbedingt angenehm: die Wohnung zu klein, die Miete zu hoch, die Stadt zu verstopft. Schon jetzt stehen gegenüber den Cités von Saint-Denis Neubauten mit zweigeschossigen Wohnungen und Lofts, in die frühere Pariser Familien eingezogen sind. Eine Entwicklung, die in vielen Vororten zu beobachten ist. Co-Working-Spaces, italienische Trattorien, Künstlerateliers, gar Biergärten sind in der Pariser Banlieue keine Seltenheit mehr. In Berlin mögen es die Hipster sein, in Frankreich machen sich die »Bobos« (Wortspiel aus Bourgeoisie und Bohème) breit und verändern manche Banlieue von Grund auf. Was natürlich die Preise nach oben schießen lässt.

Philosophieren bei Hähnchen und Reis

Zurück ins Wohnzimmer von Bens Familie in Asnières-sur-Seine. In seiner Jugend verbrachte der Filmproduzent viel Zeit in den USA und Ägypten. Häufig besucht er die Türkei, wo die Familie seiner Frau lebt. Ihr Vater war französischer Diplomat. Gerade dreht eines von Bens Autorenteams in Israel. Obwohl waschechter Kosmopolit, strahlt die Französische Republik für Ben eine besondere Kraft aus. Ein berühmtes Zitat des Widerstandskämpfers Romain Gary lautet: »Patriotismus ist die Liebe zu den Seinen, Nationalismus der Hass auf die anderen.« Ben deutet auf sein Bücherregal: Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist prominent platziert, Blaise Pascal … »Descartes, sein Werk ist gigantisch. Als ich ihn las, habe ich meine Liebe für dieses Frankreich entdeckt!«

Ben erzählt mir jedes Mal, wenn wir uns treffen, die Geschichte seiner Eltern und wie diese aus Ägypten nach Frankreich kamen. Sein Vater war elf Jahre alt und hatte nicht mehr als einen Koffer mit Klamotten bei sich. Doch dieses Land habe es ihm ermöglicht, zur Schule zu gehen und ein Leben in Wohlstand zu führen. »Dafür werde ich Frankreich für immer dankbar sein«, sagt Ben. Er betont, dies sei für seinen Vater nur möglich gewesen, weil er die Regeln dieses Staates akzeptiert hatte.

Obwohl er offen über seinen jüdischen Glauben spricht, ist der Filmproduzent ein Paradebeispiel für einen laizistischen Linken. Der Staat hat sich gegenüber der Religion neutral zu verhalten, meint er. In der Schule gibt es keine Christen, Jüdinnen oder Muslime, sondern nur Kinder der Republik. Auf diesem Fundament baut Frankreich auf. Und doch meldete Ben sowohl Tochter als auch Sohn von der staatlichen Schule ab und schickte sie ausgerechnet auf eine katholische Privatschule: »Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Kinder eines Tages den Katholiken anvertrauen würde«, sagt er kopfschüttelnd.

Bens Tochter machte inzwischen ihr Abitur und besucht nun eine der begehrten Classes Préparatoires, eine Besonderheit des französischen Bildungssystems. Wer an einer der berühmten Grandes Écoles, also einer der elitären spezialisierten Hochschulen wie Sciences Po, HEC oder Polytechnique studieren möchte, muss vorher zwei Jahre lang in einer »Vorbereitungsklasse« für die Aufnahmeprüfung büffeln.

Seine Tochter lerne gerade »wie eine Verrückte«, sagt Ben halb besorgt, halb stolz. Sie wolle eine diplomatische Karriere einschlagen, Frankreich und seine Werte im Ausland vertreten, wie schon ihr Großvater. Ben stellt einen hohen Kochtopf auf den Esstisch im Wohnzimmer. Schon vor Stunden hatte er ein Hühnchen mariniert und es schmoren lassen.

Warum nimmt ein Verfechter der Republik wie er seine Kinder aus der öffentlichen Schule? »Leider ist der Unterricht am staatlichen Gymnasium hier in Asnières eine Katastrophe«, antwortet er nüchtern. Aber er fügt noch einen weiteren Grund an: »Es geht auch um ihre Sicherheit.« Wegen ihres jüdischen Namens könnten seine Kinder in der Pariser Banlieue angefeindet werden, fürchtet Ben: »Was wir seit dem 7. Oktober erleben, ist wirklich eine Schande.«

Seit dem Terrorangriff der Hamas in Israel ist auch die Zahl der Angriffe, die sich gegen Juden in Frankreich richtet, stark gestiegen. Eine große Verantwortung schiebt Ben dabei den Linkspopulisten von La France insoumise (LFI) rund um deren Anführer Jean-Luc Mélenchon zu. Weil Mélenchon und dessen Jünger muslimische Wählerinnen und Wähler in den Banlieues mobilisieren wollen, würden sie antisemitische Ressentiments bedienen, meint Ben, legt Messer und Gabel neben den Teller: »Es kann doch nicht sein, dass wir all diese Attentate hatten und als Linke nicht offen sagen können, dass wir ein Problem in Frankreich mit dem Islam haben.«

Ben ist nicht der Einzige, der Vorwürfe gegen Mélenchon erhebt, der sich weigert, die Hamas als »Terrororganisation« zu bezeichnen und den Antisemitismus herunterspielt. Den »Marsch gegen den Antisemitismus« vom 12. November 2023, bei dem sich im ganzen Land fast 200000 Menschen versammelten, boykottierten die Unbeugsamen. Deren mehrfacher Präsidentschaftskandidat Mélenchon ging sogar so weit, auf X/Twitter zu schreiben: »Die Freunde der bedingungslosen Unterstützung des Massakers halten ihr Treffen ab.« Statt Mélenchon liefen Marine Le Pen, Jordan Bardella und weitere Vertreter des Rassemblement National (RN) mit. Nur zur Erinnerung: Das Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender des Front National Jean-Marie Le Pen nannte die deutschen Gaskammern »ein Detail der Geschichte«. Es geht hier wohl um die bemerkenswerteste Wandlung der französischen Politik, die vor 15 Jahren wohl niemand so vorhersah. Selbst nicht Nonna Mayer.

Die Politikwissenschaftlerin, die an der Hochschule Sciences Po arbeitet, ist eine anerkannte Extremismusexpertin. Genüsslich trinkt sie ihre Zwiebelsuppe in der Brasserie Rita im 18. Arrondissement. Wir sitzen auf der Terrasse unter der rot-weißen Markise. Mayer hat eine Decke über ihren Schoß gelegt. Es ist kalt und regnet. »Angefangen hat sie damit, dass sie den Antisemitismus versucht hat zu verbannen.« Sie, damit ist Marine Le Pen gemeint. In Frankreich leben fast 450000 Jüdinnen und Juden, knapp viermal so viele wie in Deutschland und mehr als in jedem anderen Land Europas. Viele davon sind nicht mit dem Vorgehen der israelischen Politik einverstanden. Der inzwischen verstorbene Alfred Grosser kritisierte zum Beispiel die Besatzungspolitik im Westjordanland. Nicht wenige dieser Kritiker fühlten sich der Linken zugehörig. Der Front National war ein Schreckgespenst. Umfragen zufolge wählte ihn fast niemand, der jüdischen Glaubens war.

»Aber in den vergangenen Jahren hat sich das geändert. Schon bei der Präsidentschaftswahl 2012, also noch bevor sie ihren Vater rausgeschmissen hat, holte sie ein zweistelliges Ergebnis in der jüdischen Gemeinde«, sagt Mayer. Inzwischen bescheinigt niemand anderes der extremen Rechten, sie habe sich gemäßigt, als der vielleicht bekannteste französische Nazijäger Serge Klarsfeld. Gemeinsam mit seiner Frau Beate spürte er NS-Verbrecher auf, darunter den »Schlächter von Lyon« Klaus Barbie.

Vom Ex-Lebensgefährten Marine Le Pens und RN-Bürgermeister Louis Aliot wurde Klarsfeld die Ehrenmedaille der Stadt Perpignan verliehen. Vor laufenden Kameras schüttelten sie sich die Hände. Der RN sei inzwischen ein »Verbündeter«, sagte Klarsfeld. Nachdem Emmanuel Macron Anfang Juni 2024 das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgerufen hatte, wandte sich der Anwalt erneut an die Öffentlichkeit: Sollte es in seinem Wahlkreis zu einem Duell zwischen einem Kandidaten des RN und einem aus dem linken Lager kommen, so würde er seine Stimme der extremen Rechten geben.

Fast verschluckt sich Ben: »Es ist unglaublich. Diese Typen von LFI haben es geschafft, dass nicht mehr die vom RN die Antisemiten sind, sondern die Linken.« Fassungslos schlägt er die Hände vors Gesicht.

Die Kinder der Republik

Obwohl unter der Bürgermeisterin Anne Hidalgo sehr viele Radwege eröffnet, dafür Autospuren und Parkplätze geschlossen wurden, steige ich am nächsten Morgen noch nicht aufs Rad. Peter und ich erkunden die Stadt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß. Wenn ich die auf den Fußgängerwegen verbeulten Fahrräder mit verbogenen Felgen sehe, denke ich, die Entscheidung war richtig.

Paris ist eine Stadt, mit der sich viele in der französischen Provinz nicht anfreunden können. Mehr als 20000 Einwohner leben hier pro Quadratkilometer. In Deutschland ist die am dichtesten besiedelte Gemeinde meine Heimatstadt München – mit etwa 4800 Menschen auf derselben Fläche.

Auf Paris läuft alles zu. Es ist das politische, ökonomische und mediale Herz der Republik und übt eine enorme Anziehungskraft speziell auf junge Menschen aus. Rund 45 Prozent derjenigen, die einen Masterabschluss machen, finden ihren ersten Job in der Region Île-de-France. Ganz gleich, wo sie studiert haben. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es einige Beispiele dafür. Meist sind die Gründe, warum sie sich dazu entschlossen haben, nach Paris zu ziehen, die gleichen: Ob Start-ups, Großkonzerne oder Medienunternehmen, die spannendsten und kapitalstärksten, die mit den zukunftsversprechenden Businessplänen sitzen nun mal in der Hauptstadt oder direkt hinter dem Autobahnring. Viele von ihnen leben in Wohngemeinschaften oder noch bei ihren Eltern. Die Komödie Tanguy, bei der ein 28-Jähriger noch mit Mama und Papa zu Hause frühstückt und sich nachts mit einer Bekanntschaft im Bett vergnügt, ist kein Witz mehr, sondern oft Realität.

Der Hort der Pariser Elite

Mein persönliches Bild von Paris ist stark vom 5. Arrondissement geprägt. Dem Trauzeugen meiner Mutter, Manfred, gehört hier eine kleine Dachgeschosswohnung, in der ich immer wieder unterkomme. 110 Treppenstufen muss der 90-Jährige jeden Tag bewältigen, um den fünften Stock zu erklimmen. Manfred erinnert mit seinem weißen, verstruwwelten Haar an Albert Einstein. Im Übrigen ist 90 aus seiner Sicht kein besonderes Alter. »Was soll ich mit einem runden Geburtstag anfangen?«, fragt er. Viel schöner sei der 81. Geburtstag gewesen, drei hoch vier. Der Ingenieur baute Kampfflugzeuge, deshalb lernte er meinen deutschen Großvater kennen. Manfred lebt seit den 1990ern in Paris. Trotz des ganzen Rummels hat er nie daran gedacht, der Stadt den Rücken zu kehren. Die vielen Ausstellungen, die Konzerte, sein Croque Monsieur im Comptoir du Panthéon um die Ecke … Er fühlt sich als Pariser. Seine Wegbeschreibungen treffen oft genauer zu als die von Google Maps. Denn Manfred besitzt den richtigen Riecher, um zu erahnen, wann Busfahrer in den Streik treten oder eine Mittagspause einlegen.

Der Rentner wohnt in einem der reicheren Viertel von Paris. Fünf Minuten Fußweg ist der Jardin du Luxembourg entfernt, der eine der wenigen Pariser Möglichkeiten für eine Auszeit im Grünen zwischen Boulodrome, Spielplätzen und Springbrunnen bietet. Viele kleine Restaurants, Buchhandlungen und Cafés schmücken die schmalen Gassen und Boulevards in der Umgebung. Die Place de la Contrescarpe, auf der Ernest Hemingway viel Zeit verbrachte, ist eine kleine Attraktion. Und natürlich das Panthéon, wo sich die Särge des Physiker-Ehepaars Marie und Pierre Curie, der Holocaust-Überlebenden und Präsidentin des Europäischen Parlaments Simone Weil sowie der Schriftsteller Victor Hugo, Alexandre Dumas und Jean-Paul Sartre befinden.

Eine ausgezeichnete Bäckerei steht in der Rue des Fossés Saint-Jacques, die Boulangerie Rabineau. Schon an den Fenstern sind die Ehrungen der vergangenen Jahre übergroß aufgeklebt. Rabineau liegt bei vielen Kategorien weit vorne in der Region Île de France. Die Bäcker schaffen beim Croissant den Spagat zwischen knuspriger Kruste und zartem, fast noch teigigem Inneren.

Die wahre Attraktion jedoch ist der Flan in dieser unscheinbaren Bäckerei, deren Fassade mit Graffiti verschönert wurde. Sowohl Flan mit Vanille- als auch mit Pistaziengeschmack schmelzen auf der Zunge dahin wie die Beliebtheitswerte französischer Präsidenten. Einer von ihnen verdankt dem Flan, besser gesagt dem industriell im Becher abgefertigten Pudding mit Markennamen »Flamby« sogar seinen Spitznamen. Wegen seiner Unentschiedenheit wurde der Sozialist François Hollande von seinem eigenen Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg so getauft.

Nach einem solchen Frühstück mache ich mich auf zur anderen Seite des Panthéons. In der Rue Clovis steht ein barockes, geschichtsträchtiges Gebäude mit heller Fassade. Über dem vier Meter hohen roten Tor wehen eine französische und eine europäische Flagge: Lycée Henri IV steht darüber in ellenlangen Lettern. Die Eliteschule, die viele bekannte Französinnen und Franzosen besuchten. Der vorhin angesprochene Sartre, aber auch der aktuelle Präsident Emmanuel Macron sowie der deutsche Regisseur Volker Schländorff.

Nach und nach treten Schülerinnen und Schüler vor das Tor und tippen den Code an der Sicherheitsanlage ein, die jedes Mal aufs Neue zu surren beginnt. Rund 3000 Jugendliche besuchen diese Schule. Es gibt eine Mittelstufe, das Collège, von der 6. bis zur 9. Klasse. Die Oberstufe, das Lycée, von der 10. bis zur 12. Klasse. Und dann noch die Classes Préparatoires, die auf die Aufnahmeprüfungen der Grandes Écoles vorbereiten. Früher konnten Eliteschulen wie Louis-le-Grand und Henri IV im ganzen Land und sogar im Ausland Schülerinnen und Schüler anwerben, inzwischen nehmen sie in der Mittel- und Oberstufe nur noch diejenigen auf, die in Paris leben. Die Hoffnungen: mehr soziale Durchmischung, mehr Zeit für die Entwicklung der Kinder.

In den vergangenen Jahren nahm der Anteil der Kinder, die die Schule mit dem BAC, dem französischen Abitur, verließen, deutlich zu. So auch die Zahl derjenigen, die mit »sehr gut« (im Durchschnitt 16 von 20 Punkten oder besser) abschließen. 1997 schaffte so ein exzellentes Abitur nur jeder Hundertste, 2023 jeder siebte Abiturient. Klingt famos, aber wie gut die Kinder abschließen, hängt vor allem davon ab, wo sie zur Schule gehen. Der Figaro veröffentlicht jedes Jahr eine Rangliste der Bildungseinrichtungen für ganz Frankreich. Unter den besten 20 Schulen des Landes stehen 14 in Paris oder einem seiner Vororte wie Neuilly, Vitry oder Saint-Denis. Einige dieser Schulen sind private Einrichtungen. Auf den vordersten Plätzen landen jedoch die großen Aushängeschilder der École Publique Française, das Lycée Louis-le-Grand und eben das Lycée Henri IV. Auf diesen Schulen gehört so ein »sehr gutes« Abitur fast schon zum guten Ton. 82 Prozent auf Louis-le-Grand und 67 Prozent am Henri IV schlossen mit dieser Note ab.

Beide Schulen liegen im fünften Arrondissement von Paris. Sie bieten ebenfalls die beste Vorbereitung auf die begehrten Grandes Écoles. Die École Polytechnique, die École normale supérieure, Sciences Po Paris oder die Sorbonne sind nur einen kurzen Fußmarsch entfernt. Frankreich ist überaus stark darin, seine Eliten zu reproduzieren. Das sagt niemand anderes als die Schulleiterin des Lycée Henri IV selbst, Stéphanie Motta-Garcia. Die Marseillerin ist eine energiegeladene Frau, die überaus höflich und anerkennend gegenüber anderen Menschen auftritt. Immer wieder, erzählt sie, kämen zu ihr Familien, die einen Platz für ihre Kinder an ihrer Schule ergattern wollen und so oder so ähnlich in das Bewerbungsgespräch einsteigen: »Frau Direktorin, wissen Sie, ich selbst war hier Schülerin, mein Vater war es und mein Großvater ebenfalls. Später besuchten wir alle die Grandes Écoles.«

Motta-Garcia klappt ihre braune Hornbrille zusammen, legt sie auf den massiven, langen Nussbaumtisch, der in ihrem Büro steht, und nickt: »Es gibt diese Reproduktion, sie existiert in Frankreich. Es stimmt, dass es uns manchmal schwerfällt, sie zu überwinden, aber wir arbeiten daran. Denn eine Gesellschaft, die nur ihre Eliten reproduziert, ist eine Gesellschaft, die zerbricht oder sogar stirbt.«

Motta-Garcia ist seit mehr als drei Jahren Rektorin des Lycée Henri IV. Ihr Weg an eine der besten Schulen verlief über bekannte Pariser Problemviertel wie Les Mureaux und Nanterre. Sie arbeitete mit Schülerinnen und Schülern, deren Eltern kaum Geld hatten und in riesigen Sozialblocks lebten. Eltern, die nicht selten die Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben hatten.

Motta-Garcia streicht ihr langes blondes Haar hinter die Ohren. Der Kampf um die Republik werde in der Schule ausgefochten. Unglaublich wichtig sei es, in den Kindern Ambitionen zu wecken und glaubhaft zu vermitteln, dass sie Ziele, wenn sie sich anstrengen, auch erreichen können. Sie lehnt sich in ihren Stuhl zurück und erinnert sich an eine äußerst talentierte Schülerin, die vor einigen Jahren kurz vor den Abiturprüfungen ein Perspektivgespräch mit ihr führte. Motta-Garcia fragte das Mädchen, was sie vorhabe, wenn die Prüfungen hinter ihr sind. »Krankenschwester«, antwortete die Schülerin. »Nur Krankenschwester? Bei diesen guten Noten?«, Motta-Garcia wurde stutzig. Sie betont, dass sie das nicht abwertend meine. Ihr eigener Sohn sei Krankenpfleger und sie habe einen riesigen Respekt vor dieser Arbeit. Die Schülerin aber versicherte, das sei schon in Ordnung. Ihre Mutter sei Hilfsschwester gewesen, da sei Schwester schon ein Aufstieg. Die gläserne Decke. »Nein. Versuchen Sie ein Medizinstudium. Geben Sie sich diese Chance!«, forderte die Schulleiterin. An ihrer neuen Wirkstätte sei das Problem eher ein anderes: »Manche kommen hier an, gehen in die sechste Klasse und sagen: Ich werde später Präsident, Chirurg oder Neurologe. Da sind sie gerade mal zehn Jahre alt.«

Das Lycée Henri IV pflegt den Austausch mit Berliner Schulen, Kevin Kühnert nahm sogar zweimal teil. In der fünften und der achten Klasse. Als ich ihn im Bundestag treffe, kann er noch immer aus dem Schulbuch zitieren. Kühnert hat Augenringe, ist erschöpft von den Verhandlungen über den Haushalt mit den Koalitionspartnern. Es ist Juli 2024. Trotz seines gut funktionierenden Gedächtnisses kann er sich nicht mehr genau an seine Zeit in Henri IV erinnern. Ihm war damals noch gar nicht bewusst, dass diese Schule ein Symbol für den Bildungselitismus Frankreichs ist. Doch ihm ist noch die Zielstrebigkeit der Kinder und vor allem der Eltern in Erinnerung. »Wenn wir im Unterricht saßen, war das sehr diszipliniert. Mit Ratschen oder ewig in der Tasche nach Büchern suchen war da nichts«, erzählt er. Das Englisch der Franzosen habe ihn trotzdem nicht ganz überzeugt, sagt er grinsend.

Kühnerts Beobachtungen kann Stéphanie Motta-Garcia nur unterstreichen: Was eine Eliteschule von einer Schule in einem Problemviertel wie Les Mureaux unterscheidet, sei vor allem das Umfeld. An ihren früheren Wirkstätten habe sie Kinder erlebt, die sie von der Schule verweisen musste, weil sie »ingérables«, also nicht zu bändigen gewesen seien. Unvorstellbar hier am Lycée Henri IV.

In der Mittagspause spielen einige Kinder auf dem Pausenhof Fußball, Basketball und Volleyball. Die Jungen tragen oft Jogginghose und Hoodie, die Mädchen Jeans und Jacke. Henri IV ist eine staatliche Schule. Das Motto: »Domus omnibus una«, »ein Haus für alle«. Der Slogan aber bedeute nicht, dass man Abstriche bei der Qualität mache. Die neuen Eliten des Landes hießen nicht mehr nur Dupond oder Durand. Das läge nicht daran, dass von oben oktroyiert werde, die Schulen müssten durchmischter sein. Das einzige Kriterium dürfe die Leistung sein. Da ist sie, die französische Vision der Meritokratie, der Herrschaft der Verdienstvollen: »Wir müssen junge Leute ausbilden, die in der Lage sind zu denken, die ein Land steuern können.« Frankreich braucht Eliten, ist Motta-Garcia überzeugt.

Die Schulleiterin verschränkt die Arme. Wenn sie ein Argument verdeutlichen möchte, wiederholt sie das letzte Wort des Satzes: »Il y a des talents partout, partout!« Überall gebe es Talente. Überall. Tief in ihr drin verankert ist die Überzeugung, dass Bildung der Schlüssel zum gesellschaftlichen Aufstieg ist. Sie selbst befreite sich durch Bildung von Armut. Motta-Garcia wuchs in einer Sozialwohnung in Marseille auf. Manchmal, erzählt sie, kämen Kinder zu ihr und beklagten sich. Sie sagten, sie seien müde von den Strapazen, von den täglichen langen Fahrten im Regionalzug hierher. Der Klassenkamerad hätte es viel leichter, der wohne in einer großen Wohnung um die Ecke. Sie höre sich das alles ruhig an. Dann erzähle sie ihre Geschichte und frage rhetorisch: »Was war meine Wahl? Mich zu beschweren?« Kunstpause. »Es gab nur die Schule«, sage sie. Schließlich beende sie ihr Plädoyer immer mit denselben Worten: »Battez-vous! Battez-vous!« Kämpft.

Gleichheit – ein nie zu erreichender Traum?