Radflimmern – Mit dem Fahrrad unterwegs in Afrika - Souleimman Wenk - E-Book

Radflimmern – Mit dem Fahrrad unterwegs in Afrika E-Book

Souleimman Wenk

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Beschreibung

Unterwegs in Afrika 18000 Kilometer und 17 Länder voller Eindrücke hat Souleimman Semo in 400 Tagen auf dem Fahrrad von Wolfsburg nach Kapstadt erlebt. Staubige Pisten, surrende Reifen. Den Fahrtwind, der einem um die Nase weht, spürt man förmlich. Abenteuer und Gänsehautstimmung. Endlose Savannen mit einer riesigen Tiervielfalt, wunderschöne Wüsten, die den nächtlichen Sternenhimmel nie mehr vergessen lassen, alte Hochkulturen, Naturvölker und Menschen, die trotz oder gerade wegen ihrer Armut eine Fröhlichkeit ausstrahlen, die mitreißt. Doch die Reise ist auch mit Hunger, Durst, Überfällen, geschundenen Knochen und endlosen Strapazen gespickt... Kommen Sie mit auf die große Tour!

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Souleimman Semo

Radflimmern

Mit dem Fahrrad unterwegs in Afrika

Bibliografische Information durch Die Deutsche Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

www.radflimmern.de

Copyright (2012) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

www.engelsdorfer-verlag.de

eISBN: 978-3-86901-273-5

Träume sind wie Tore zu großen Abenteuern ...

Für Julia

Inhalt

PROLOG

Zu den Anfängen

Ägypten

Ankunft in der „Mutter aller Städte

Die zweite Chance

Das Schicksalsvisum

Ärger mit der Polizei in der Oase Al Fayyūm

Im Polizeikonvoi nach Süden

Sudan

Heiligabend auf dem NasserStausee

Wadi Halfa: Am Tor zur Wüste

Grenzerfahrungen

Nubien

Sylvester in der Wüste

Bei den Stromschnellen des dritten Kataraktes

Viel Mist vor Dongola

Sand, Sand, Sand …

Havarie in der Bayudawüste

Das Geheimnis der Schwarzen Pyramiden

Blauer Nil, Weißer Nil

Im Osten des Sudan

Äthiopien

Im Land der Mönche und fliegenden Steine

Urwaldfeeling

Der Beginn einer aufreibenden Odyssee

Blue Nile Falls

Abgrundtief

Wiedersehen mit Hiro

Rangelei im Slumviertel und Behördensumpf

Raubüberfall im Paradies

Auf Verbrecherjagd

Sportfest und Jubelfeiern in Yabēlo

Abschied vom Land der tausend Strapazen

Kenia

Im Konvoi durch den banditenverseuchten Norden Kenias

Die Überquerung des Äquators

Aufstieg in eine fantastische Welt

Nächtlicher Überfall und eine rettende Dose

Die Elephant Nursery von Daphne Sheldrik

Tansania

Am schneebedeckten Kilimanjaro

Kalt erwischt …

Am Indischen Ozean

Im nebligen Virunga Nationalpark

Ein Toter zuviel

Per Drahtesel durch den Mikumi National Park

Das Krankenrevier von Kitandililo

Malawi

Der Jesustyp aus Berlin

Entlang dem Malawisee

BeinahKollision mit einem Hippo

Auf den Spuren eines Raubmordes

Ich sitze fest

Abenteuer in den Mulanji Mounts

In der Wildnis am Shire

Mosambik

Durch den Tete Korridor

In der Talsohle über die Sambesi Bridge

Simbabwe

Luxus pur im Schlaraffenland

Nächtlicher Hammerangriff

Die geheimnisvollen Ruinen von Great Simbabwe

Tropische Gewitter

Im Norden Simbabwes zu den Victoria Fällen

Irrfahrt durch den Busch

Auge um Auge mit den grauen Kolossen

Botswana

Straußenrallye

In den Sümpfen des Okavango Delta

Die endlosen Weiten der Kalahari

Namibia

Die Riesendünen der Wüste Namib

Beates Ankunft

Im Tal der Verzweiflung

Südafrika

Explodierender Frühling

Zum Greifen nahe

Am Ziel meiner Träume

Epilog

PROLOG

… Sackgasse! Ohne meine Eintrittskarte für den Sudan bin ich einfach aufgeschmissen. Die Botschaft verweigert mir hartnäckig den Visumsstempel. Ich hänge fest in Amman, der Hauptsstadt Jordaniens. Mittlerweile schon über einen Monat, seit dem 6. Oktober 2001.

Das Hotelzimmer ist eine Zumutung. Es ist dreckig, heruntergekommen und düster. Doch es ist das billigste, was ich bekommen konnte. Das Bett: flohverseucht. Die nächtlichen Raubzüge dieser Parasiten hinterlassen Spuren. Morgens wache ich mit Stichen auf, der Körper über und über mit heftig juckenden Quaddeln überzogen. Ich kann es nicht lassen, diese aufzukratzen. Es ist zum Verzweifeln.

Bin daher heilfroh, wenn ich das Visum habe und Amman endlich den Rücken kehren kann.

Tja, nach fast drei Monaten und über viertausend Radkilometern quer durch Europa sitze ich scheinbar fest. Ich komme mir langsam vor wie in einem verdammten Gefängnis aus dem es kein Entkommen gibt. Ich sitze in der Patsche und mein Geld wird immer weniger. Die Reiseplanung ist gehörig durcheinandergeraten.

Endstation sollte eigentlich Kapstadt sein. Nicht Amman. Mein größtes Abenteuer wollte ich in der einsamen Wüste des Sudan und nicht in einem Flieger nach Äthiopien erleben. Denn diese Kröte müsste ich im Notfall wohl oder übel schlucken.

Warum bin ich so scharf darauf, dieses riesige Wüstenreich zu bereisen? Der Sudan ist das geheimnisvollste und touristisch unerschlossenste Land auf meiner Route, die mich von Deutschland bis ans Kap von Afrika bringen soll. Ich will es um keinen Preis auslassen. Habe die meiste Vorbereitungszeit dafür gebraucht. Viele Dinge habe ich von anderen Radreisenden über dieses Land gehört. Vieles gelesen oder in Fernsehreportagen gesehen. Durchweg Positives, was das Reisen dort anbelangt. Auch wenn spektakuläre Urlaubshöhepunkte, so wie sie in Katalogen angepriesen werden, hier fehlen: Der Sudan muss ein Erlebnis wert sein. Denn gerade dieses Fehlen prospektreifer Reiseziele schreckt die meisten Touristen ab. Außerdem braucht man hier Zeit, Zeit, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, Zeit, um die gewaltige Wüste zu begreifen. Das Land ist extrem dünn besiedelt. Straßen gibt es kaum. Ein Vorankommen ist oft nur in zu Bussen umgebauten Lorrys möglich. Strapazen sind da vorprogrammiert und dieser großen Herausforderung will ich mich stellen. Zeit braucht man auch, um die für ihre große Gastfreundlichkeit bekannten Menschen und deren Kultur kennen zu lernen. Radlerkollegen, die mehrere Tage allein in der Wüste unterwegs waren, kamen aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. Mit glänzenden Augen erzählte mir der Schweizer Urs, der auch im Sudan unterwegs war, dass es das schönste Erlebnis seiner Reise war, drei Tage in der Einsamkeit der Wüste unterwegs gewesen zu sein. Ich muss dieses Visum also unbedingt haben. Ich liebe die Einsamkeit und die Weiten der Wüste. Ich will es hautnah erleben und meine Grenzen testen.

Es fing alles mit einem hoffnungsvollen Besuch der Botschaft der Republik Sudan an. Das war am 8. Oktober 2001. Voller Hoffnung ging ich zum Busbahnhof. Schon lag die erste schwere Hürde vor mir. Hier herrschte das reine Chaos. Endlose Reihen mit Minibussen. Die Menschen rannten hektisch zwischen ihnen herum. Ein buntes Durcheinander. Wie zur Hölle sollte ich mich hier zurechtfinden?

Zum Glück spreche ich arabisch. Nach ewigem Suchen und Durchfragen geriet ich schließlich an den richtigen Bus und stieg glücklich ein.

„Du musst am siebten Straßenkreisel aussteigen und dich durchfragen!“, rief mir ein freundlicher Jordanier zu.

Nach rund dreißig Minuten war die Botschaft erreicht, ein kleines, schönes Gebäude im besseren Viertel, dem Botschaftsviertel. Alles drum herum grünte und blühte. Sehr idyllisch. Im Warteraum hingen anregende Fotos aus dem Sudan, die mich schon mal auf dieses Land einstimmten. Die vergilbten Fotos schienen schon älter zu sein. Die Farben leicht verblasst. Eines der Bilder zeigte eine Nubafrau im Südsudan, die gerade Baumwolle erntet. Auf dem anderen Foto sah man eine arabische Frau in typisch nordsudanesischer Wüstenlandschaft. Ich bekam eine Gänsehaut.

Die zwei sudanesischen Männer am Schalter sahen sehr Vertrauen erweckend aus und überreichten mir ein Formular, das ich sofort ausfüllte. So gab ich ihnen auch einen Zeitungsartikel aus Beirut, der über meine Tour berichtet. Gleich hinterher ein Empfehlungsschreiben eines sudanesischen Freundes aus Deutschland. „Okay, no problem“, sagte Mohamed, der Jüngere und Freundlichere der beiden. „Du musst nur noch deinen Pass übersetzen lassen!“

Gut, ich fuhr also zurück in die Stadt und erledigte dies. Bearbeitungszeit: eine Stunde. Dann wieder der lange Weg zur Botschaft, wo man mir mitteilte, dass die Abfertigung meiner Visumsangelegenheit fünfzehn bis fünfundzwanzig Tage dauern kann. Es müsse erst ein Fax in den Sudan geschickt werden. Erst nachdem das Hauptquartier grünes Licht gegeben hätte, könne ich mein Visum bekommen. Das darf doch nicht wahr sein. Ich wies nochmal auf das Empfehlungsschreiben meines sudanesischen Freundes hin, der mich zu sich nach Khartum eingeladen hat.

„Na gut“, sagte Mohamed. Ich solle ihn oder seine Eltern anrufen. Seine Mutter möge doch bitte zur Militärpolizei gehen und meinen Namen nennen. Dann gibt es das Visum sofort. Pech war nur, dass ich Wail nicht erreichte und seine Mutter im Sudan mich nicht verstand, als ich sie anrief. Sie brabbelte ständig nur unverständliches Zeug ins Telefon. Ich wurde immer ungeduldiger.

Am nächsten Tag stand ich schon um sieben Uhr auf und fuhr zur Botschaft, wo ich direkt den Konsul verlangte. Nach einer Stunde Warten wurde ich zu ihm vorgelassen. Sein Büro war wirklich riesig und sehr modern eingerichtet. Der Konsul selbst sah Vertrauen erweckend aus, ein großer, stämmiger Mann, doch sehr schweigsam. Ich belaberte ihn so lange auf Englisch und Arabisch, bis er mir einen Deutsch sprechenden Diplomaten, Mr. Zaroug, holte. Dieser sehr gut gekleidete Mann war sechs Jahre in Bonn und hat sechs Jahre in Wien Jura studiert. Er schaute sich meine Unterlagen an und hörte geduldig meiner Story zu.

Wir führten einen netten Smalltalk. Er beschrieb mir sogar einige Strecken im Sudan, welche per Rad zu befahren sind. Nur ganz beiläufig fragte er mich, ob ich in den Südsudan will. Eine verdächtige Frage. Er schien mir nicht ganz zu trauen. Ich glaubte, ihn zu durchschauen, hoffte aber, mich zu irren. Ich verneinte. Der islamische Norden des Sudan ist seit 1956 mit dem Süden verfeindet, da dieser sich vom Norden abspalten will. Beide liefern sich einen erbitterten Krieg mit vielen Toten. Dazu kommen die Hungerkatastrophen im Süden. Was hätte ich dort zu suchen?

Dann jedoch versprach er, dass er alle Hebel in Bewegung setzen will, damit ich mein Visum bekomme. Als erstes rief er die Mutter von Wail im Sudan an und redete mit ihr. Sie sagte ihm, ich solle bei ihr anrufen, wenn ich in Khartum bin. Sie würde mich dann abholen. Allerdings wollte sie nicht zur Militärpolizei gehen, um mich anzumelden. Dies solle ihr Sohn machen. Mr. Zaroug bat mich, ein Empfehlungsschreiben von der deutschen Botschaft einzuholen, was die Sache erheblich erleichtern würde. Also fuhr ich mit einem Taxi zur deutschen Botschaft und beantragte das Papier.

Am nächsten Tag holte ich dann den Wisch ab und überbrachte ihn dem sudanesischen Diplomaten. Der kündigte an, das Schreiben sofort nach Khartum faxen zu wollen. Außerdem werde er persönlich das Hauptquartier anrufen. Das Visum könne ich, wenn alles gut geht, am nächsten oder übernächsten Tag haben. „Inscha’allah!“ Warten wir’s ab.

Tja, so sieht ein Behördentag also aus, wenn man ein Sudanvisum will. Ich bin völlig entnervt. Die ständigen Fahrten in überfüllten Bussen bei der Hitze und immer den Verdacht im Nacken, dass sie einem das Visum nicht wirklich geben wollen.

Das Letzte, was ich von dem Diplomaten der sudanesischen Botschaft hörte, war Folgendes: Er hat mir am Telefon gesagt, dass er mit seinem Kollegen in Khartum telefoniert hat. Dieser hat ihm die Erlaubnis gegeben, mir ein Visum auszustellen. Jedoch kann ich es erst am Samstag abholen. Kein Problem. Auf die paar Tage kommt es auch nicht mehr an. Das lief ja wie am Schnürchen. Beziehungen muss man haben.

Dann die Ernüchterung. Ich Kamel, da habe ich mich mal wieder zu früh gefreut. Es war wohl bloß ein Traum, am Samstag den Stempel in den Pass zu bekommen. Der Diplomat ist einfach nicht mehr zu greifen. Ich versuche vergeblich, ihn zu erreichen. Wenn ich anrufe, werde ich in lange Warteschleifen mit entsetzlicher Musik gesetzt, um mir dann anhören zu dürfen, dass er nicht da ist. Er lässt sich einfach verleugnen und irgendwann wird auch den Botschaftsleuten mein nerviges Nachfragen zu bunt.

„Mr. Zaroug ist krank und liegt im Krankenhaus.“

„Kann ich dann wenigstens den Konsul sprechen, bitte?“

„Tut uns leid, aber der Konsul ist auch im Krankenhaus und besucht den Herrn Zaroug!“

No chance. Die wollen einfach nicht mehr und stellen sich stur. Aber aus welchem Grund? Ich sollte es am nächsten Tag nochmal versuchen und muss wohl oder übel meine Zeit mit Tee trinken überbrücken. Langsam wird es langweilig in Amman. Tag für Tag werde ich am Telefon hingehalten und auf den nächsten Tag vertröstet. Inscha’allah, bukra! – So Gott will, morgen. Ich drehe mich im Kreis.

Dann die niederschmetternde Nachricht aus der sudanesischen Botschaft. Neununddreißig Tage hoffnungsvollen Wartens enden mit der definitiven Ablehnung meines Visumsantrages. Ich bin am Boden zerstört.

„Und darf ich bitte fragen warum?“

„No reasons given“, sagt der Botschaftsangehörige.

Na toll, das ist nicht die feine Art. Aber was bleibt mir übrig? Den Sudan kann ich nun getrost rechts liegen lassen. Ich sehe mich schon im Flieger nach Äthiopien sitzen. Meine Träume und Planungen sind ein einziger Scherbenhaufen. Ich habe jedenfalls keine Lust, auch nur einen Tag länger in Amman zu bleiben.

„Verfluchte Stadt, ich werde dich so schnell ich nur kann verlassen.“

Am darauffolgenden Tag fliehe ich förmlich aus der Stadt. Schon um sechs Uhr in der Frühe geht es los. Der Autoverkehr ist noch spärlich. Ich schreie meine grenzenlose Wut in den Wind. Es dauert lange, bis sie endlich abklingt. Nach einer Woche erreiche ich den südlichsten Zipfel Jordaniens. Akaba. Von hier aus nehme ich die Fähre nach Ägypten und wage den Sprung ins erste afrikanische Land. In Kairo gibt es ja auch noch eine sudanesische Botschaft. Meine letzte Hoffnung, doch noch ein Visum zu ergattern. Neues Land, neues Glück …

ZU DEN ANFÄNGEN

Drei Jahre zuvor. Ich sitze im Hörsaal der Zahnklinik in Marburg. Die Vorlesung langweilt mich. Im Saal ist es warm und stickig, es ist Sommer. Sechs endlose Semester liegen noch vor mir, um dann ins Berufsleben zu starten!? Irgendwie kann das dann ja noch nicht alles gewesen sein.

Vor einiger Zeit schenkte mir meine Freundin Julia ein Buch, das eine Radreise beschreibt. Der Protagonist des Buches ist ein junger Mann, der sich auf sein Rad gesetzt hat, um den afrikanischen Kontinent zu durchqueren. „Bike-Abenteuer Afrika“ von Hartmut Fiebig hat mich unglaublich gefesselt. Den Wunsch, irgendwann mal mit einem Fahrrad weit, weit weg zu fahren, hatte ich schon sehr lange. Nun war ich von diesem Gedanken geradezu infiziert. Ich fing an, weitere Bücher über Radabenteuer zu lesen, und beschäftigte mich intensiv mit Afrika. Die Idee bekam langsam Konturen und irgendwann war ich emotional so tief in der Sache drin, dass ich einen Entschluss fasste. Nach dem Studium sollte es losgehen. Ich wollte diesen großen Schritt wagen.

Nach und nach plante ich zusammen mit Julia die Reiseroute und nahm Kontakt zu anderen Globetrottern auf, die mir beim Planen halfen. Ich legte mir einen großen Afrikaordner an, wo ich alle Informationen über die zu bereisenden Länder sammelte. Welche Impfungen sind nötig? Für welche Länder brauche ich ein Visum? Wann ist wo die beste Reisezeit? Wie umgehe ich Regenzeiten? Es schien mir unmöglich, das alles zu organisieren. Meinen Eltern sagte ich zunächst einmal nichts, wollte ich sie doch nicht zu früh schockieren.

Ich träumte immer häufiger von der Tour. Saß nächtelang in meinem imaginären Sattel und durchstreifte die afrikanische Wildnis. Doch noch lag ein hartes Studium vor mir, das mir kaum Zeit zum Planen lies. Die Abende nutzte ich, um Informationen aus Büchern und dem Internet zu sammeln. Der Ordner wurde immer dicker. Ich stellte eine Materialliste zusammen und kaufte mir nach und nach eine Ausrüstung.

Mein ideales Reiserad, den „Worldtraveller“ von Koga Myata, leistete ich mir kurz nach meinem Examen. Im Dezember beendete ich das Studium und nutzte dann die Zeit, um Geld zu verdienen. So schlug ich mir im Marburger Krankenhaus die Nächte um die Ohren. Als Nachtwache und Stationshilfe. Während ich auf frisch operierte Patienten aufpasste, las ich in Reiseführern und informierte mich über die einzelnen afrikanischen Länder. Und gleichzeitig füllte sich die Reisekasse.

Meine Eltern waren von der Idee ganz und gar nicht begeistert und versuchten, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Doch irgendwann mussten sie einsehen, dass ich es ernst meinte, und so akzeptierten sie es schließlich …

Am 24. Juli 2001 ging es endlich los. Der Abschied von Freunden, Eltern und meiner Freundin waren das Schwerste an der ganzen Geschichte. Ein einziges Drama. Zunächst fuhr ich über die Alpen, durchradelte den italienischen Stiefel bis Bari, wo ich mit einem Schiff nach Griechenland übersetzte. Fuhr in die Türkei und von da aus nach Syrien, Libanon und Jordanien. Hier war der Sprung nach Afrika nicht mehr groß …

ÄGYPTEN

Ankunft in der „Mutter aller Städte“

Mitten in der Nacht in Kairo angekommen, bahne ich mir durch eine Horde von Leuten den Weg zu einem nächstgelegenen Bazar. Dieser liegt in der Souk Eltawfikeya Street.

„What’s your name?“ „How much is your Bike?“ „Welcome, welcome!“ Und das nach allen Strapazen.

Im Bazar frage ich einen Händler nach dem Safari Hotel und habe Glück. Es ist gleich nebenan. Der Typ, zufällig ein junger Sudanese, bietet mir an, mit ihm einen Tee zu trinken. So sitze ich nun mit ihm im Souk (Bazar) und erzähle ihm von meinem Visumproblem. Er will mir gerne helfen und verspricht, sich für mich einzusetzen. Gesetzt den Fall, dass ich Probleme bekommen sollte. Angeblich hat er Freunde in der Botschaft!

Ich verabschiede mich und mache mich auf den Weg zum Hotel nebenan. Das SafariHotel scheint eine bei Japanern sehr beliebte Absteige zu sein. Zwei von ihnen helfen mir, das Gepäck und das Rad in den vierten Stock zu tragen.

Ich kann meinen Augen kaum trauen. In jeder Ecke Japaner. Sie hängen einfach nur ab, lesen oder rauchen irgendein Zeug. Ich scheine der einzige Nichtjapaner zu sein. Es gibt nur Gemeinschaftszimmer, doch ich kann ein leeres, dreckiges Dreibettzimmer ergattern. Nach einer heißen Dusche gehe ich schlafen.

Die Mutter aller Städte pulsiert nur so vor Leben. Offiziell zählt man in der größten Stadt Afrikas fünfzehn Millionen Menschen. Tatsächlich werden es aber noch viel mehr sein. Kaum zu glauben, dass ihre Infrastruktur ursprünglich für zwei Millionen Menschen ausgelegt war. Die Straßen sind voll mit Menschen und noch mehr Autos. Riesige Blechlawinen wälzen sich in den Verkehrsadern rauf und runter. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn sich auch mal der eine oder andere Eselskarren in den Verkehr reiht. Will man die Straße überqueren, muss man um sein Leben rennen und in der Stadt ist man irgendwie immer im Dauerlauf unterwegs. Die Luft ist schwer und stickig. Die unzähligen Minarette der Gebetshäuser schrauben sich in den ägyptischen Himmel. Männer sitzen gemütlich in Cafés und rauchen Wasserpfeife. Die Menschen drängen sich durch die verqualmten Bazare, in denen es nahezu alles zu kaufen gibt, was man für den Alltag braucht. Wenn man hier einige Zeit verbracht hat, macht diese Stadt durchaus süchtig. Sie lässt einen nicht mehr los.

Die Menschen in Kairo sind gerade im Ramadan. In dieser einmonatigen Fastenzeit ist das öffentliche Leben insgesamt langsamer. Von Sonnenauf bis Sonnenuntergang wird gefastet. Nach der Dämmerung läuft dann praktisch nichts mehr, da der Iftar, der Fastenbruch beginnt und die Leute lieber zu Hause bleiben. Für sie ist das ein großes Fest. Die Straßen sind wie leergefegt und man kann gefahrlos auf ihnen laufen, ohne überfahren zu werden. Aus den unzähligen Lautsprechern tönt der Muezzin, der Vorbeter.

In den meisten Gassen und Bazaren werden jeden Abend etliche Tische aufgestellt und mit Speisen gedeckt. Eine Art gute Geste der reichen Bevölkerung für die einfachen Leute.

Der Iftar wird mit einem lauten Kanonendonner vom Band über Lautsprecher eingeleitet. Dann erst geht das „große Fressen“ los. Die meterlangen Tafeln in den Bazaren und Gassen sind voller Menschen. Einige sitzen ganz unruhig und können es kaum erwarten, ihren Hunger zu stillen. Andere wirken ruhig, sind geduldig und beten. Es ist ein buntes Durcheinander. Man hat ein Gefühl von tiefstem Orient. Weihrauch vermischt mit Essensduft steigt einem in die Nase.

Sobald aufgegessen wurde, sind die Tische wie leergefegt. Zurück bleibt ein Berg von Geschirr und Speiseresten. Einige alte Frauen und Männer holen sich die Reste und stecken sie hastig in Plastiktüten, womit die hungrigen Mäuler zu Hause gestopft werden sollen. Auch ich habe hier fast einen Monat lang gefastet und es tat mir gut. Der Ramadan ist eine der fünf Säulen des Islam.

Das Glaubensbekenntnis (die Shahada)

Fünfmal am Tag beten mit vorausgehender ritueller Waschung

Die Fastenzeit im Ramadan, im neunten Monat des Islam, einhalten

Almosen an Bedürftige verteilen, soweit es die wirtschaftliche Situation zulässt

Die Hadj absolvieren (Pilgerfahrt nach Mekka), sofern man die Kraft und die Mittel hat

Die zweite Chance

Es ist soweit. Ich trete den Gang zur sudanesischen Botschaft an. Mit dem Rad wage ich mich mutig (oder eher wagemutig?) in den dichten Verkehr Kairos und finde Spaß daran. Auch wenn es tatsächlich lebensgefährlich ist. Einmal berührt mich ein Taxi am Bein und drängt mich zur Seite. Ich habe Glück und kann einen Sturz vermeiden. Plötzliches Ausscheren, Stoppen, Bremsen, Beschleunigen im Sekundentakt. Ich radle Richtung Midan Tahir, dem großen chaotischen „Platz der Befreiung“, und erreiche dann endlich den verkehrsberuhigten Bereich im Botschaftsviertel.

Mein Herz schlägt mir bis zur Kehle. Ich bin aufgeregt. Die Stunde meiner letzten Chance hat geschlagen, nun doch die Erlaubnis zur Einreise in den riesigen Wüstenstaat zu erhalten. Das Gebäude ist sehr schlicht und kaum zu vergleichen mit dem in Amman.

Die Schalterhalle wirkt ziemlich unspektakulär und spartanisch. Ich greife mir als erstes ein Antragsformular und beginne, es auszufüllen. Doch diesmal erwähne ich lieber nicht, dass ich mit dem Rad unterwegs bin und eine Weltreise mache. Auch den Zeitungsartikel halte ich zurück und kein Wort von meinem sudanesischen Kumpel Wail. Einreisegrund ist schlicht und ergreifend Tourist und anstatt Zahnarzt gebe ich lieber Student als Beruf an.

Man soll die Leute bloß nicht zum Nachdenken anregen, denn ein Visumsantrag, der zum Nachdenken einlädt, landet sowieso in der Tonne. Zusammen mit meinem Reisepass gebe ich das Formular ab und nach vier Tagen schon soll ich mein Visum bekommen. Am Donnerstag um vierzehn Uhr also. Na, mal sehen. Ich habe jedenfalls diesmal ein äußerst gutes Gefühl.

Vier Tage später. Ich liege im Bett und kann nicht schlafen. Fast die ganze Nacht bin ich wach. Am nächsten Morgen will ich zu den Pyramiden radeln. Doch das ist nicht der Grund der schlaflosen Nacht, vielmehr die Entscheidung: Visum oder nicht. Ein echter Schicksalstag steht mir bevor.

Noch vor Sonnenaufgang stürze ich mich in Kairos Verkehr und stelle fest: Die Ägypter sind Langschläfer. Kaum was los in den Straßen.

Nach fast zwanzig Kilometern erreiche ich Giseh und plötzlich tauchen aus dem Morgendunst die Silhouetten der Pyramiden auf. Der Anblick ist beeindruckend und wird atemberaubend, als ich mich ihnen nähere. Der Sphinx erhebt sich vor mir höher und höher. Ich trete stärker in die Pedalen.

Die Stadt ist in den letzten Jahren rasant angewachsen. Mittlerweile reicht sie direkt bis an das Gelände der Pyramiden heran.

Sofort werde ich von Souvenirverkäufern umringt. Die Jungs sind ziemlich aufdringlich und wirken schon fast aggressiv, wenn man nichts kaufen will. Sie bieten Papyrusrollen, Ketten, kleine Statuen – natürlich „echt antik“ – und sämtliche Touren mit Kamelen, Eseln und Pferden.

Doch ich brauche all diesen Schnickschnack nicht und fahre aufs Gelände für umgerechnet 2,50 Euro Eintritt. Lächerlich wenn man bedenkt, vor einem Weltwunder zu stehen.

Beim Taltempel des Chepren steht der Sphinx, der Kopf des Pharao Chephren auf dem Körper eines Löwen. Der Sphinx von Giseh ist aus dem Fels gehauen, dreiundsiebzigeinhalb Meter lang und zwanzig Meter hoch. Er ist die erste Kolossalstatue des pharaonischen Ägypten und thront über der Nekropole von Giseh. Wenn man den Sphinx genau betrachtet, bekommt man das Gefühl, er würde in die Unendlichkeit schauen.

Bei den Pyramiden von Giseh

Ich kurble mich von Pyramide zu Pyramide und gerate immer mehr in Erstaunen. Aus der Nähe erscheinen diese riesigen Bauwerke noch gigantischer.

Das einzige existierende Weltwunder der Antike, das mich heute noch in Bann schlagen kann, sind die viertausendfünfhundert Jahre alten ägyptischen Pyramiden. Rund siebzig solcher Bauwerke gibt es am Ufer des Nils. Die höchste ist die große Pyramide Cheops’. Die mittlere Pyramide gehört dem Pharao Chephren und ist nur geringfügig kleiner. In der Kleinsten befindet sich das Grab des Mykerinos. Die riesige Cheopspyramide hat eine Grundfläche von gigantischen dreiundfünfzigtausend Quadratmetern, Basislänge 230 Meter und ist 146 Meter hoch. Zwei Millionen Kalksteinblöcke à 2,5 Tonnen wurden in zwanzig bis dreißig Jahren von einhunderttausend Arbeitern verbaut. Während dieser Zeit waren etwa viertausend Steinhauer und Baumeister ununterbrochen an der Arbeit. Ich bin beeindruckt. Es ist einfach ein unbegreifliches Gefühl, das einem dieser Ort vermittelt.

Das Schicksalsvisum

Die Entscheidung naht. Ich fahre zurück nach Kairo, diesmal in dichtem Verkehr. Ich mache mich mit einem mulmigen Gefühl auf den Weg zur Botschaft. Sie ist noch geschlossen und die Menschenmenge davor wird immer größer. Eine letzte Galgenfrist wird mir also noch gewährt. Doch dann ist es endlich vierzehn Uhr und der Einlass beginnt. Ich bin einer der Ersten und komme relativ schnell dran.

„Mein Name ist Souleimman Semo. Können Sie nach dem deutschen Pass schauen, bitte?“ Der Pass liegt schon vor dem Mann auf dem Tisch. Er lächelt freundlich und gibt mir einen Zettel. Ich soll aus dem Gebäude heraus gehen, beim Seiteneingang um Einlass bitten. Dort bekomme ich von einem anderen Mitarbeiter die Rechnung fürs Visum. Ungläubig höre ich ihn sagen, dass ich sie im ersten Stockwerk zu begleichen habe. Also gehe ich hinauf und werde von einer traditionell gekleideten, sudanesischen Frau empfangen.

Sie kassiert die 55 USDollar und ich eile ins Erdgeschoss. Dann geschieht es: Ich halte wahrhaftig das langersehnte Visum in meinen Händen. Schnell verlasse ich die Botschaft und bringe meine Beute nach draußen in Sicherheit, bevor sie es sich anders überlegen. Überglücklich küsse ich diese wertvolle Seite im Pass, die sogar mit einem tollen Hologramm versehen ist. Das wäre geschafft. Mir steht nun ein großes Abenteuer in der sudanesischen Wüste bevor. Ich kann es kaum fassen.

Nun habe ich nur noch ein Problem. Meine hintere Felge hat es in Jordanien total zerrissen. „Mavic 517 AluKeramik“ scheint wohl für eine solche Tour nicht geschaffen zu sein. Ein Riss im Felgenbett, in der Viertellänge des Reifens, der mich doch etwas schockiert hat. Der Reifen lief zuletzt alles andere als rund. Durch den Riss wurde die Felge ausgebeult und auf den letzten paar hundert Kilometern hoppelte ich wie blöde gen Süden. Die Hinterbremse musste ich aushaken. Da in Kairo trotz langer Suche keine hochwertige Felge aufzutreiben war, kontaktierte ich einen Kumpel in Deutschland, der sich bereit erklärte, mir ein neues Laufrad nach Assuan zu schicken. Es müsste hoffentlich in zehn bis 14 Tagen da sein. Die defekte Felge muss also bitte noch bis Assuan halten. „Inscha’allah“.

Bei aller Schönheit Kairos, es gibt hier wirklich zu viele schlechte Betrüger und vermeintliche Geschäftsmänner, die nur das Geld aus den Taschen der Touristen interessiert. Ich erlebte hier schon die tollsten Betrugsversuche. Die meisten waren eher lustig als gefährlich. Ein besonders witziger Fall ereignete sich in einem Bazar. Ich ging dort mit Stefanie, einer australischen Weltreisenden, die ich in Amman das erste Mal getroffen habe und die vom Venezia Hotel nach oben ins Safari umgezogen ist, spazieren. Der Hotelier des Venezia ist stinksauer und hat mich übel beschimpft. Ich würde mit dem Safari Hotel gemeinsame Sache machen und ihm die Gäste abluchsen. Ein lächerlicher Vorwurf.

Ein Mann spricht Stef und mich an und fragt, ob wir den Fastenmonat Ramadan kennen. Zum Spaß gehen wir darauf ein und geben uns ahnungslos. Wir lassen uns überreden, in ein Café zu gehen, und lauschen amüsiert seiner Geschichte. Nachdem wir über seine Familienverhältnisse gut unterrichtet sind und wir ihm unsererseits mitteilen, frisch verlobt in den Sudan reisen zu wollen, blinken die Dollarzeichen in seinen Augen und er kommt zur Sache. Seine Tochter sei Kunststudentin und interessiere sich für die Bilder, welche auf amerikanischen Dollarscheinen aufgedruckt sind. Daher hätte er gerne einen Dollar von mir, um sich genau aufzuschreiben, was auf der Banknote zu sehen ist. Wir können unser Lachen kaum verbergen, doch ich spiele das Spiel weiterhin mit. Danach will er eine andere Banknote. Diesmal fünf Dollar, danach zwanzig. Dann will er mehr … aber mir wird das zu dumm. Wir beenden das Spiel mit Unterhaltungswert. Daraufhin startet er einen letzten Verzweiflungsangriff und fragt zaghaft, ob er sich die Dollars kurz mal im Nachbargeschäft kopieren könnte. Nein, sagen wir. Das sei nämlich verboten und ich als Rechtsanwalt (!) kann so etwas nicht unterstützen. Ob ich nicht wenigstens bei seinen Freunden sudanesisches Geld kaufen will, bettelt er.

„Nein!“

Okay, aber vielleicht wolle ich ihm sechs Dollar verkaufen.

„NEIN …!“

Uns wird es zu bunt. Wir zahlen den Tee und gehen.

Meine Zeit in Kairo neigt sich dem Ende entgegen. Das Schiff in Richtung Sudan legt am 24. Dezember in Assuan ab. Ich freue mich schon sehr darauf und hoffe, dass alles glatt geht, da ich auch mein Paket mit der Felge aus Assuan abholen und die Ausreiseformalitäten erledigen muss. Die einmonatige Erlaubnis, in den Sudan einzureisen, gerechnet ab Visumsausstellung, endet am 29. Dezember. Wird schon klappen.

Momentan habe ich das Gefühl, dass der Muezzin mich auch loswerden will. An der Außenmauer meines Hotels ist ein Megaphon angebracht. Und da gerade Ramadan ist, brüllt er jeden morgen um halb fünf seinen Gebetsruf, damit die Leute vor Sonnenaufgang noch mal essen können, um dann das Fasten erträglicher zu machen. Doch es ist so erbärmlich laut und von so quälend schlechter Tonqualität, dass man fast mit einem „schweren Schock“ aus dem Bett fällt. Den Straßenhunden scheint das auch nicht gerade zu bekommen. Sie heulen und jaulen, dass mir eiskalte Schauer über den Rücken laufen. Fürchterlich!

Natürlich gab es auch schöne Erlebnisse in Kairo. Die Besichtigung des Mokattam Hügels ist eines davon. Nach einem langen Fußmarsch in Richtung „Khan El Chalili“, dem größten und berühmtesten Bazar Kairos, erreichen und besteigen Stef und ich die Erhebung. Vor uns breitet sich das riesige Lichtermeer Kairos aus. Wir bleiben die ganze Nacht wach und genießen bei einem kleinen Lagerfeuer den Ausblick. Ein zart schimmerndes Band schlängelt sich vor unseren Augen durch das Land: der Nil. Auf ihm leuchten die Lampen der Schiffe und Boote und über uns funkeln die Sterne.

Irgendwo da draußen sind die Pyramiden, die wir dann bei Sonnenaufgang erblicken. Ein gigantisches Erlebnis. Am Rande des Häusermeers liegen sie, von der Sonne angestrahlt, wie Spielzeug aus einem Bausteinkasten. Unglaublich schön und beinahe unwirklich. Nun kann man auch ganz deutlich sehen, wie Kairo in den letzten Jahren angewachsen ist. Eine Trennlinie oder Pufferzone zwischen den Pyramiden und der sich dahinter erstreckenden Wüste und dem Häusermeer gibt es nicht mehr.

Ärger mit der Polizei in der Oase Al Fayyūm

Einer der Höhepunkte meines Kairobesuchs ist die Fahrt in die Oase Al Fayyūm, die angeblich eine Hochburg islamistischer Fundamentalisten sein soll. Im Reiseführer von 1995 steht noch, dass man am Eingang vor einigen Orten in Fayum gewarnt oder gleich gebeten wird, nach Kairo zurückzukehren. So fahren die Australierin und ich morgens mit dem Bus dorthin. Die Fahrt ist schon toll. Sie geht mitten durch die Wüste. Einzig die lauten Gebetsgesänge aus den Lautsprechern nerven. Dann tauchen plötzlich die riesigen Oasengärten Fayums auf, die üppigsten Gärten Ägyptens. In der Stadt beginnt die Irrfahrt dann erst richtig.

Einige Jugendliche machen sich einen Spaß aus unserer Ahnungslosigkeit und versuchen, uns erst mal in die Irre zu führen. Die City ist nur einige hundert Meter entfernt, doch sie wollen uns in die entgegengesetzte Richtung schicken. Zum Glück gibt es Reiseführer. Dann die Suche nach einer Bleibe. Das erste Hotel ist zu teuer, also auf zum nächsten. Der Typ meint: „Ausgebucht.“ Wir sind stinksauer und vermuten, der Manager vom vorigen Hotel könnte vor uns hier gewesen sein, um uns Steine in den Weg zu legen. Jedenfalls haben wir uns das Gebäude angeschaut und fünf leere Räume entdeckt. Also zurück zu dem zwielichtigen Manager vom vorigen Hotel. Der streitet natürlich ab, Einfluss ausgeübt zu haben, und erklärt, dass sein Kollege keine Ausländer aufnimmt. Er hat sicher Angst vor Attacken der Terroristen. Schließlich bekommen wir doch eine billige Absteige. Dann begehen wir jedoch einen schweren Fehler. Ich gebe meinen Pass ab und Stef sagt, sie hätte ihren in Kairo vergessen. Wir denken, ein Pass müsste genügen. Später kommt der Typ noch mal zu uns und hat eine nette Überraschung dabei.

Er hat bei der Polizei angerufen, und die sagten ihm, es sei verboten, Touristen ohne Pass im Hotel schlafen zu lassen. Wir müssen zurück nach Kairo. Gut, denken wir uns, sagen wir halt, dass wir nach Kairo zurückfahren. So könnten wir dann in der Oase Zeit totschlagen und den Pass auf wundersame Weise auftauchen lassen. Doch dieser Plan misslingt. Zwei Polizisten kommen zu uns ins Hotel und wollen uns zum Bus nach Kairo begeleiten. Was tun? Wir protestieren und wollen den Chef sprechen.

Also geht’s zunächst auf die Wache. Der Chef ist sehr nett und sagt, dass die Vorschriften befolgt werden müssen. Wir sollen nach Kairo. Okay, dann eben nach Kairo, sagen wir.

Mit Polizeibegleitung gehen wir ins Hotel und packen unsere Sachen. Und siehe da, welch ein Wunder! Stef hatte ihren Pass in einem Buch versteckt und es vergessen. Wir zeigen dem Beamten den Pass und alle sind glücklich und zufrieden. Das Problem hat sich somit in Luft aufgelöst. Denken wir zumindest.

Wir dürfen uns in Fayum nur mit Begeleitung eines Soldaten fortbewegen, was wir wieder mit Protest quittieren. Und wieder der Gang zum Chef auf die Wache. „Wir haben ja sonst nichts besseres zu tun!“ Es ist nichts zu machen. Wir müssen immer genau angeben, wo wir hinwollen, und außerdem etliche Fragen in Bezug auf den Aufenthalt in Kairo und den Zweck des Besuchs beantworten. Dann geht es mit unserem Aufpasser in die Stadt. Wir wollen etwas essen. Doch es ist Ramadan. Schwer, etwas Essbares zu finden. Man muss schon ins Restaurant gehen, um die Leute in den Straßen nicht zu verärgern.

Der Soldat zeigt uns einen kleinen Imbiss, wo wir das Nationalgericht der Ägypter bekommen: Foul. Eine durchaus leckere Pampe aus zerstampften Favabohnen. Nicht sehr sauber, aber gehaltvoll.

Eigentlich wollen wir den Lake Qarun besuchen, haben aber an diesem Tag keine Lust mehr. Nicht mit ihm. Er ist hartnäckig.

„Los, besucht den See, los!“

„Wir wollen nicht!“

„Los, besucht doch wenigstens die Quellen von Fayum, los!“

„Nö, keine Lust!“

Er muss uns aber irgendwo hin begleiten. Denn er hat es seinem Chef versprochen. Sonst sei sein Kopf ab, meint er im übertragenen Sinn. Die Situation scheint recht prekär für ihn.

Gut, schließlich willigen wir ein, sein Dorf Beni Suey zu besuchen. Ein Freund von ihm fährt uns mit dem Auto hin. Unterwegs dann eine sehr unschöne Szene: Ein Pick Up ist voll in einen Eselskarren gerast. Die Ladung ist überall verstreut. Der Esel liegt qualvoll zappelnd vor dem Karren. Eine Menschenmenge und mitten drin das Kind mit schmerzverzerrtem Gesicht. In mir zieht sich alles zusammen. Wir wollen helfen, doch der Fahrer fährt einfach weiter. Angeblich ruft er später den Krankenwagen. Nur wann? Doch irgendwie scheint mir nach einigen Kilometern, als hätte er es vergessen. Ich frage, ob er nicht mal anrufen will.

„Siehst du hier ein Telefon?“, bekomme ich als Antwort. Na toll.

Unser Zielort entpuppt sich als ein wunderschönes, sehr orientalisches Dorf mit vielen labyrinthischen Gängen und spielenden Kindern. Die Hauptattraktion sind die zahlreichen riesigen Taubenburgen in dem Dorf, der eigentliche Anlass unseres Besuchs.

Auf der Rückfahrt genießen wir die weite Oasenlandschaft und den Sonnenuntergang. Die Palmenhaine am Straßenrand lassen einige Ausblicke zu. Wir wollen raus. Wir wollen Bilder machen. Der Fahrer lässt uns nicht raus. Unsere Herzen bluten. Angeblich gibt es hier zu viele Wölfe und Füchse. Na ja, Wölfe wären ja noch okay, aber Füchse … Denen möchte ich nicht im Dunkeln begegnen. Er setzt uns am Hotel ab und meint, wir sollen erst in einer Stunde rausgehen, dann inoffiziell und ohne Begleitung. So haben wir einen freien Abend. Doch als wir nachts zurückkommen, liegt schon der nächste Soldat vor unserer Tür und pennt. Er hat den Auftrag, uns zu bewachen und am nächsten Tag wie ein Schatten zu folgen. Und so haben wir in der Oase auf Schritt und Tritt einen Begleiter am Hals. Am Ende sind wir heilfroh, wieder nach Kairo zurück zu fahren.

Im Polizeikonvoi nach Süden

Am 13. Dezember 2001 sind meine Tage in Kairo endgültig gezählt. Ich werde meine Reise ins Ungewisse fortsetzen. Am Abend vor meiner Abreise aus dieser Megastadt mache ich die letzten Besorgungen. Brauche genug Reiseproviant. Die Kette muss ich ölen. Und meine im ganzen Zimmer verstreuten Sachen zusammenpacken. Ich kann es kaum erwarten. Freue mich, wieder „on the road“ zu sein und mir den Wind um die Nase wehen zu lassen.

Um fünf Uhr dreißig springe ich voller Elan aus dem Bett und nehme eine letzte Dusche. Um halb acht bin ich bereits auf den Straßen von Kairo. Der Verkehr ist zum Glück noch nicht so dicht. So schlängele ich mich durch sämtliche Seitenstraßen zum Nilufer, um an seiner Ostseite die Richtung nach Süden einzuschlagen. Es ist erhebend, an diesem Fluss entlang zu radeln. Mein Klippkompass an meiner Lenkstange zeigt nach Süden. Süden wird von nun an meine Hauptfahrtrichtung sein.

Bis zur sudanesischen Hauptstadt werde ich den Nil als ständigen Begleiter in meiner Nähe haben. Über sechstausendfünfhundert Kilometer erstreckt sich der längste Fluss der Erde, der aus dem Blauen Nil, vom äthiopischen Hochland, und dem Weißen Nil, im Südsudan, entsteht und ins Mittelmeer mündet.

Nach dem Glauben der alten Ägypter entsprang der Nil aus dem „Nun“, dem Urgewässer, aus dem die Welt entsprungen ist und das die gesamte Erde umschließt. In einem ewigen Kreislauf fließt der Nil in das Urgewässer und kommt wieder hervor. Der Strom teilt das Land in zwei Abschnitte, das Delta in Unterägypten und das Niltal in Oberägypten.

Das Ziel meines ersten Radeltages in Ägypten wird das etwa 140 Kilometer entfernte Beni Suef sein. Die Fahrt durch das Fruchtland ist prächtig. Sattgrüne, üppige Felder links und rechts des Nils, die Ufer von Palmen gesäumt. Beladene Eselskarren rattern an mir vorbei. Ich komme mir vor wie in einer Bilderbuchoase. Kinder setzen sich während ich raste am Straßenrand zu mir und bestaunen mein Rad. Die Menschen in den ländlichen Gebieten Ägyptens sind sehr freundlich. Es sind zumeist Fellachen, die auf den Feldern ihre Arbeit verrichten.

Zu meiner Verwunderung werden keine Steine nach mir geworfen und kein einziger Stock findet seinen Weg in meine Speichen. Üble Horrorgeschichten habe ich über die Kinder im Niltal gehört. Besonders schlimm soll es sein, wenn man ihnen nach der Schule begegnet. Um ihren Schulfrust abzureagieren, machen sie einem dann das Leben zur Hölle.

Eine bittere Szene widerfährt mir schon am frühen Morgen. Ein frisch geschlachteter Esel liegt am Straßenrand. Zappelnd ersäuft er förmlich in seiner eigenen Blutlache. Einige junge Männer stehen um ihn herum und warten, bis er endlich sein Leben ausgehaucht hat, um ihn auszunehmen.

Nach einem schönen, aber auch anstrengenden Tag, fahre ich bei Sonnenuntergang in Beni Suef ein, einer schicken Stadt mit einer tollen Niluferpromenade. Nach langem Suchen muss ich jedoch feststellen, dass wegen des Ramadans alle Hotels, die ich auf der Liste habe, ausgebucht sind. So frage ich an einer Kreuzung einen Verkehrspolizisten nach einer Jugendherberge. Schnell bin ich von anderen Polizisten umringt. Ein Streifenwagen wird gerufen, um mich dann hinzulotsen.

Ich soll es mir am Straßenrand auf einem Stuhl bequem machen. Man bietet mir eine Cola an. Mittlerweile ist es stockdunkel geworden. Ich bin todmüde und um mich herum brabbelnde Menschen, die nur mein Bestes wollen. Will nur noch ein warmes Bett und meine Ruhe.

Endlich kommen meine Begleiter. Sie eskortieren mich zu einer Jugendherberge für Sportler, die auf einem Stadiongelände gelegen, mit fünfzehn Pfund jedoch zu teuer ist. Die Männer in dem Büro der Herberge sind sehr nett. Unter ihnen ist zufällig ein berühmter Exfußballspieler aus der ersten Bundesliga, der nun Trainer ist. Er besteht darauf, mir fünf Pfund drauf zu zahlen. So kann ich es mir dann doch leisten. Angeblich zu meinem Schutz sitzt unten am Eingang ein bewaffneter Soldat. Er will dort die ganze Nacht verbringen. Es sollte der Auftakt zu einer nervenaufreibenden Odyssee werden.

Am frühen Morgen geht der Stress mit dem Militär los. Zunächst werde ich von einem Militärjeep aus der Stadt eskortiert. Außerhalb Beni Suefs warten wir auf die Ablösung. Mit Militäreskorte im Rücken geht es Richtung Al Minyā.

Im Rückspiegel sehe ich im Jeep hinter mir die gelangweilten Gesichter. Wenn Gegenverkehr kommt, fahren sie schnell an meine Seite, um mich zu schützen. Alle paar Kilometer erfolgt ein Wechsel meiner Begleitung. An Pausen ist gar nicht zu denken. Es stresst mich zunehmend. Doch irgendwann geht es nicht anders. Ich brauche eine Verschnaufpause. Wir halten an. Hektisch würge ich ein paar Brote in mich hinein. Dann der Streit mit einem etwas Ranghöheren. Ein Stinkstiefel, der keine Lust hat, mir mit zwanzig Kilometer pro Stunde hinterher zu kriechen. Eigentlich verständlich. Aber ich hab ihn ja nicht dazu gezwungen. Er will mich unbedingt aufladen. Dagegen wehre ich mich heftig. Ich fahre einfach wortlos weiter. Er hat wohl keine andere Wahl, folgt mir weiter. Dicke Luft bahnt sich an. Später versucht er es wieder. Ich kann mich nochmals durchsetzen. Es artet zu einem kleinen Machtkampf zwischen uns aus. Während einer weiteren Essenspause, die ihm gar nicht schmeckt, haben sich die anderen zu mir gesetzt. Sie sind netter. Ich erzähle ihnen von meiner Tour und schwups, sind sie auf meiner Seite. Sie setzen eine längere Pause für mich durch. Der Stinkstiefel ist nun richtig sauer. Wenn Blicke töten könnten …

Beim nächsten Wachwechsel kommt ein Polizist mit noch höherem Rang. Der fackelt nicht lange. Mit dicker Sonnenbrille und sehr cool aussehend befiehlt er mir einzusteigen. Mit dem ist sicher nicht zu spaßen. Doch für mein Rad samt Gepäck ist der Raum im Wagen zu klein. Es würde Schaden nehmen, fürchte ich. Weigere mich hartnäckig und deute auf die Miniladefläche. Aber Ägypter sind erfinderisch. Er stellt sich an den Straßenrand und winkt einen mit Möbeln überladenen Pick Up heran. Der Fahrer scheint nicht gerade glücklich über seine neue Aufgabe zu sein und erfüllt nur widerwillig die ihm auferlegte Bürgerpflicht. Also wird Stück für Stück meines Gepäcks aufgeladen. Oben drauf das Rad und irgendwo sitze ich auf dem Haufen. Also, auf zum nächsten Checkpoint. Ich sitze mit Rad und Gepäck auf einem wackeligen Berg von Möbelstücken und gebe mir die allergrößte Mühe, alles zusammenzuhalten und nicht herunter zu fallen. Der kalte Fahrtwind jagt durch meine Knochen. Ich friere wie ein Hund. Klasse …

In Al Minyā kann ich die Nacht verbringen und meine Nerven regenerieren. Eine tolle und sehr saubere Stadt. Wegen der Terrorgefahr traut sich kaum ein Tourist hierher. Aber ich bin mitten drin. Begegnungen mit netten Menschen bleiben nicht aus, die Bazare sind orientalisch und unverfälscht. Es ist kaum zu vergleichen mit den Bazaren in Kairo. Die nächtlichen Gassen sind voller Menschen. Das Leben pulsiert.

Nach ein paar Radelkilometern am nächsten Tag geht der Stress wieder los. Morgens kann ich ja noch selber die Pedalen schwingen. Und es ist schön, wunderbar, ein Genuss. Die Sonne scheint und ich bin glücklich. Doch dann sollen Rad und Mann wieder auf die Ladefläche eines Jeeps. Weiter vorne gab es einen schweren Unfall mit Toten. Angeblich ein grauenhafter Anblick. Ich wehre mich aber so hartnäckig, dass ich doch selber fahren darf. Punktsieg! Nach einigen Kilometern passieren wir die Unfallstelle.

Uns bietet sich ein Bild des Grauens. Chaos und Zerstörung. Einige ausgebrannte LKWs sind ineinander verkeilt, die Fahrerkabinen völlig in sich zusammengefallen. Ich möchte nicht wissen, was aus den Menschen darin geworden ist. Solche Unfälle ereignen sich in Ägypten aber täglich. Die Leute rasen ohne Rücksicht. Und nicht selten kommen Menschen dabei um.

Vor Asyūt, einer Hochburg für Terroristen, wird es noch einmal spannend. Man will mich unter keinen Umständen dort durchfahren lassen. Ich werde bis kurz vor die Stadt begleitet. Dort kann ich meinen Augen nicht trauen. Das kann nicht wahr sein. Sicher ein Irrtum. Anderseits, ich bin ja in Ägypten. Da ist alles möglich. Vor mir steht ein Panzer. Einer meiner Begleiter zeigt grinsend auf das Gefährt und ich schüttle den Kopf.

Meine persönliche Polizeieskorte durchs Niltal

„Ist der für mich?“, frage ich.

„Jepp“, sagt der Mann. Das Rad muss dort rauf. Eigentlich finde ich es recht spannend und hieve den Drahtesel mit den anderen aufs Dach des Panzers, wo ich es mit meinen Gurten befestige. Die Taschen werden durch die Luke in den Innenraum geladen. Dabei schlage ich mir den Kopf am Rand an. Dann geht es los. Der schwere Motor wird angeschmissen. Einzig unsere Köpfe ragen aus der Luke. Der Wind weht uns um die Nase.

Es kommt mir vor wie eine nette Spazierfahrt durchs Niltal. In einem Panzer. Wer hätte das gedacht? Auf Nachfrage darf ich ein Foto von der „Landschaft“ machen. Wenn die wüssten, was ich für einen tollen Weitwinkel habe. Der ermöglicht mir die Aufnahme von Landschaft und Panzerrücken auf ein und demselben Foto.

Bis Sohâg kann ich wieder einige Kilometer auf dem Rad erbetteln. Ich genieße das unbeschwerte Radeln. Die Reifen surren auf dem Asphalt. Die Gangschaltung klackert. Ich schalte in immer größere Gänge. Die Leute im Wagen neben mir staunen, wie schnell so ein Rad sein kann. Wohlgemerkt, mit vollem Gepäck.

In Sohâg angekommen, versuchen sie mir auf Biegen und Brechen ein billiges Hotel ausfindig zu machen. Nach einer Stunde Sucherei klappt es dann auch endlich. 1,25 USDollar pro Nacht. So ziemlich das dreckigste, was ich je gesehen habe … bis dahin. In den Souk darf ich abends nur in Begleitung zweier bewaffneter Polizisten, die sich aber als ganz umgänglich erweisen. Sie zeigen mir einige Handwerksläden und laden mich sogar zu Zuckerrohrsaft ein. Auch die Preise für das Essen in einer der vielen Garküchen sind plötzlich traumhaft niedrig.

„Mach ihm eine saubere, extra große Portion.“

Möchte mal wissen, was ich sonst für eine Portion bekommen hätte. Im Hotel ergattere ich wieder einen Privatwächter. Nachts halb eins weckt mich ein Soldat, weil er unbedingt wissen muss, wann ich morgen losfahren will. Mann, bin ich sauer. Derselbe Unbelehrbare klopft mich dann wieder um halb sechs aus dem Schlaf. Wann ich denn ganz genau fahren will.

„Sieben Uhr vierzig!“

„Okay, kann ich noch die Rahmennummer des Rades haben?“

„Nein, nicht um fünf Uhr dreißig!“ Bin kurz vorm Ausflippen.

Um sieben kommt dann ein höheres Tier, einzig um die Rahmennummer zu holen. Diesmal gebe ich sie ihm meiner lieben Ruhe willen. Was für ein beschissenes Spiel!

Punkt sieben Uhr dreißig beginnt der Stress von neuem. Ich werde von einem Typen abgeholt, mit dem ich zu einem Checkpoint radle. Dort wartet meine motorisierte Eskorte bereits sehnsüchtig auf mich. Meine Kondition hat sich schon um einiges verbessert, so ziehe ich ordentlich an. Irgendwann ein Wechsel. Mal wieder unfreundliche Begleitung, die es nicht wahrhaben will, dass ich selber fahren möchte. Nach einigen Kilometern Stopp für Energie. Ich habe schlicht und ergreifend Hunger. Mein Magen knurrt.

„Nur eine Banane“, bitte ich die Herren. Also kann ich anhalten. Ich esse noch eine Zweite. Einer regt sich darüber auf. Nach der dritten platzt ihm dann der Kragen. Ich höre, wie sie mich einen Dreckskerl nennen. Sie wissen nicht, dass ich arabisch verstehe. Später bekommen sie es aber mit und schämen sich sehr. Auf den Straßen gehen viele sehr bunt gekleidete Kinder. Jungen mit Anzügen und Mädels mit Blumenkleidern. Die Männer trinken am frühen Morgen Tee und rauchen Wasserpfeife. Der Ramadan ist vorbei und es folgen die drei Tage des IdFestes.

In einem Souk voller Menschen streite ich wieder mal mit einem neuen, übereifrigen Polizeibeamten ums Selberradeln. Wir werden umringt von einer großen Menschentraube und überall sind Hände am Rad. Ich verliere diesmal den Kampf, weil der Vorgesetzte per Funk durchgibt, dass ich aufladen soll.

Vor der Stadt Qena im Sandwich zwischen Panzer und Militärjeep werde ich ständig von hinten und von der Seite vollgequatscht, ob ich nicht aufsteigen wolle. Knaller gehen hinter mir hoch und dauernd dieses Gehupe, um mich zu zermürben. Meine Nerven liegen blank. ‚Jetzt erst recht’, denke ich und kurbele gemütlich die Kilometer runter. Ich schere mich nicht um die Schikanen. Ich weiß ja, dass sie nach Hause wollen, um ihr IdFest zu feiern. Ich bleibe trotzdem hartnäckig. Nach Qena darf ich ohne Begleitung einfahren. Selbst im Hotel bin ich ohne Bewachung. Ein merkwürdiges Gefühl. Habe ich es geschafft? Die ganze Stadt ist festlich geschmückt. Die Menschen sind auf den Straßen. Ein großer Trubel. Die große Vorbereitung auf ein bevorstehendes Fest. Ich wäre gern dabei, doch ich will früh ins Bett. Bin zu erschöpft.

Die fast siebzig Kilometer bis Luxor fahre ich auf eigene Faust. Ein angenehmes Gefühl. Ich fühle mich frei wie ein Vogel. Keine nervigen Militärs an meiner Seite, keine Schikanen mehr. Endlich kann ich mir wieder die tolle Landschaft anschauen. Das Gefühl vom Freisein ist zurückgekehrt. In der Ferne sehe ich den Nil.

Luxor ist eine reine Touristenstadt. Hier tummeln sich Menschen aus allen möglichen Ländern. Und wo viele Touristen sind, gibt es auch viele fliegende Händler. Nur sind die in Luxor besonders penetrant, fast aggressiv. Sie bieten alles Mögliche an. So gibt es zahllose Touren ins Tal der Könige und das der Königinnen. Man kann mit Bussen dort hinfahren oder auf geknechteten Eselsrücken reiten, auch den dreitausendvierhundert Jahre alten Tempel von Hatschepsut besuchen. Eine Tragödie, die sich hier ereignete, trug dazu bei, dass die Sicherheitsbestimmungen in Ägypten rigoros verschärft wurden. Vor und im HatschepsutTempel feuerten sechs islamische Terroristen mit Maschinenpistolen um sich. Sie töteten achtundfünfzig ausländische Urlauber und verletzten fünfzig weitere. Auch fünf Deutsche und einunddreißig Schweizer wurden getötet. Dies war der bislang blutigste Terroranschlag auf Touristen in Ägypten. Und deshalb darf ich nicht allein durchs Niltal radeln. Die ägyptische Regierung will unter keinen Umständen, dass so etwas noch mal passiert. Der Tourismus ist eine enorm wichtige Einnahmequelle des Landes. Es kann sich nicht leisten, sie versiegen zu lassen.

Am nächsten Tag kann ich noch fünfunddreißig Kilometer bis zum nächsten Checkpoint radeln, an welchem dann auch schon Sense ist. Am Schlagbaum verbietet man mir die Weiterfahrt. Da hilft kein Betteln und Jammern. Ich muss auf den Militärkonvoi warten. Das kann noch zwei volle Stunden dauern. Ich füge mich und setze mich auf einen großen Stein, unterhalte mich mit den Polizisten auf arabisch. Sie sind nett und erklären mir zum wiederholten Mal, warum ein Konvoi nötig ist. Mein Arabisch ist ein Gewinn für mich. Die Leute sind so viel offener und kommen eher auf mich zu.

Um elf Uhr ist es dann soweit. Eine längere Wagenkolonne mit Militärfahrzeugen, Bussen und Jeeps trifft ein. Unter den staunenden Augen der anderen Touristen werden mein Rad und das Gepäck in einen Jeep geladen. Ein schmerzvoller Moment für mich. Nichts darf zu Bruch gehen. Ein besonderes Augenmerk werfe ich auf die Schaltung. Die würde auf Schläge und Stöße empfindlich reagieren.

Dann geht es auch schon los. Wir rasen mit hohem Tempo den letzen Teil meiner Reise im Pharaonenland gen Süden. Wir passieren Isnā und Idfū. Der Ausblick ist grandios: Ein stahlblauer Nil, links und rechts von Grünstreifen umsäumt, die gelbe Wüste im Hintergrund und die weißen Segel der Feluken ergeben eine eindrucksvolle Farbkombination.

Assuan – die Stadt am ersten Katarakt, mein Ziel und Tor zum Sudan. Nach sechs Tagen und fast eintausend Kilometern schaffe ich es trotz meiner gebrochenen Felge, heil anzukommen. Ich freue mich auf richtiges Essen. Bananenbrot habe ich mittlerweile satt. Ich kann es nicht mehr sehen. Damit habe ich mir die letzten Tage zur Genüge den Bauch gefüllt.

Zielsicher fahre ich zum Noorhan Hotel, wo ich vor fünf Jahren schon einmal mit meiner Freundin abgestiegen bin. Zu meiner Überraschung begegne ich dort einigen Travellern, die ich irgendwo auf meiner Reise schon traf. Ich bin überglücklich. Endlich wieder Leute um mich herum.

Vor dem Hotel bildet sich eine große Traube aus Reisenden und abenteuerlichen Fahrzeugen: Wouter, der Belgier mit seinem Jeep, ein deutsches Paar mit Jeep, zwei Holländer auf Motorrädern und noch zwei Holländer mit Jeep. Ich komme mir mit meinem Fahrrad ganz winzig und erbärmlich vor. Doch einer der Holländer meint, ich sei der real hero – eine Anspielung auf die Strapazen, die ich im Sudan noch vor mir habe. Das geht runter wie Öl. Sie alle wollen das nächste Schiff in den Sudan nehmen. Einer von Ihnen erzählt mir, dass sie eine Wagenfähre nehmen werden, also glücklicherweise nicht meine Fähre. Ich atme auf. So hört sich das schon besser an. Das wäre das Letzte, was ich wollte, mit einem Pulk von Travellern in den Sudan einreisen. So richte ich mich für eine Woche ein und sammle neue Kräfte für die Rüttelpisten der Wüste.

Assuan ist doch eine tolle Stadt. Da kann man ruhig eine Woche abhängen. Die warme Dusche hat es mir besonders angetan. Und natürlich auch das warme, weiche, duftende Bett. Ich gehe früh schlafen. Die letzten Tage stecken mir doch mehr in den Knochen als gedacht. Bin froh, endlich wieder ausschlafen zu können.

Nach einem dürftigen Frühstück mit etwas Brot, Marmelade und Kaffee mache ich mich auf den Weg zur Post, wo ich mein Paket aus Deutschland abholen will. Hoffentlich hat alles geklappt und ich erhalte endlich die langersehnte Felge. Ein Postbeamter ist sehr nett und hilft mir, an das Paket zu gelangen. Und tatsächlich, es ist da. Ich freue mich wie ein Kind. Doch dann der Dämpfer. 106 ägyptische Pfund soll ich dafür berappen. Das sind fast fünfundzwanzig Dollar. Aber was soll’s, da hilft kein Widerspruch. Ich muss blechen. Trotzdem glücklich bringe ich die Beute in mein Hotelzimmer und gehe an der Corniche spazieren. Der Blick von dieser Promenade auf den Nil und in die Wüste zeigt, wie stark das Leben in Ägypten an den Fluss gebunden ist. Alles spielt sich an seiner lebensspendenden Ader ab. Dahinter erstreckt sich auf etwa fünftausend Kilometer Luftlinie die Wüste. Erhebend! Die Sahara! Ich muss wieder an den Sudan denken.

Am Abend treffe ich im Bazar einen Japaner, den ich im Kairoer Safari Hotel kennen lernte. Er wird von einem Ägypter begleitet, der ihm angeblich helfen will, sich zurecht zu finden. Doch ich weiß genau, dass dieser Kerl dem Asiaten nur das Geld aus den Taschen ziehen will. So ziemlich harsch wimmle ich ihn ab. Der Japaner ist auch sauer auf ihn. Er meint, er habe ihn nur nach einer Bank gefragt und ihn so zwei Stunden lang am Hals gehabt. Unglaublich. Wir sind froh, ihn los zu sein und bummeln durch die Gassen. Der Name des Japaners ist Hiro. Er sollte noch zu meinem besten Freund der Tour werden. Auch er will in den Sudan und wartet auf die Fähre. Ich freue mich. Ein Buddhist und ein Moslem feiern auf einem Schiff in den Sudan Weihnachten. Was für ein seltsamer Gedanke.

Wir haben Hunger und wollen Sandwiches essen. Nachdem wir einen fairen Preis ausgehandelt haben, sehen wir eine Kakerlake auf einem der Brote tanzen.

„Okay Mister, we come in five minutes back. Must call home!“

So machten wir uns flott vom Acker und man sah uns nie wieder an diesem Stand. Also greifen wir doch auf das etwas teurere, aber gesündere Koscherie zurück. Das ist eine besondere Spezialität in Ägypten aus ganz dünnen, kleinen Nudeln, Reis, vielen gerösteten Zwiebeln, Linsen und Tomatensauce. Bestellt man das in einem Restaurant, bekommt man einen übervollen Teller serviert.

Eine Woche Warten aufs Schiff in Assuan hat gut getan. Die anderen Traveller haben schon gestern das Containerschiff in Richtung Wadi Halfa genommen. Nun laufen die letzten Vorbereitungen für meinen Wüstentrip. Das Rad muss gründlich überholt und geölt werden. Ein alter Hotelmitarbeiter ist so freundlich und borgt mir einen tiefen Teller und ein Tuch. Dafür bekommt er mein altes Felgenband geschenkt. Der Teller wird mit Benzin gefüllt. Dann nehme ich die hintere Zahnkranzkassette ab, zerteile sie und lege sie zusammen mit der Kette ins Benzin. So bekomme ich die schwarze Schmiere mit Hilfe einer alten Zahnbürste und dem Tuch komplett ab. Währenddessen höre ich mit meinem Weltempfänger weihnachtliche Lieder auf der „Deutschen Welle“!

Alles wird blitzblank und bekommt eine Farbe, die an Chrom erinnert. Die gebrochene Felge wird abmontiert und durch die neue ersetzt. Darauf finden nun die gereinigte Zahnkranzkassette und die Kette Platz. Ich befreie noch die vorderen Kettenblätter und die hintere Schaltung vom Dreck und putze den Rahmen.

Schließlich ziehe ich die neuen, dickeren Reifendecken auf. Die guten „Schwalbe Marathon XR“ Reifen. Sie werden noch einen guten Dienst leisten. Voilà! Nun bin ich bestens vorbereitet. Mein Tagebuch und einige belichtete Filme habe ich einem Deutschen mitgegeben, der mit seiner Tochter auf der Hotelterrasse saß. Ich gab ihm den vorfrankierten Umschlag mit Adressaufkleber, den er dann in Deutschland in einen Postkasten werfen muss. Eine gute Methode, Filme und andere Dinge sicher nach Hause zu schicken. Es wird auf der ganzen Tour nichts verloren gehen.

SUDAN

Heiligabend auf dem NasserStausee

Heiligabend 2001 mache ich mich auf den Weg zum Bahnhof. Aber vorher besorge ich noch Proviant für die Fährfahrt. Jede Menge Brot und Obst. Auch ein paar Leckereien für unsere kleine Weihnachtsfeier auf dem Schiff dürfen nicht fehlen. Kürbiskerne zum Knabbern und Schokobonbons. Wir sind beide aufgeregt und erwartungsfroh. Aber es wird noch mal spannend. Denn Hiro hat verpennt. Ich sitze auf heißen Kohlen. Wo ist er denn?

Der Zug steht bereits auf dem Gleis und ich bin gezwungen einzusteigen. Hiro scheint es nicht zu schaffen. Das würde bedeuten, dass er noch eine Woche in Assuan ausharren muss. Die Räder setzen sich in Bewegung, als mir plötzlich ein Typ mit roten Haaren aus dem vorderen Waggon entgegenstolpert. Wir fallen uns vor Freude in die Arme. Er hat es geschafft. Gerade noch so.

Kaum sind Hiro und ich mit dem Zug aus Assuan raus, erstrecken sich vor unseren Augen bis zum Horizont nur Steine und Felsen. Eine schroffe Mondlandschaft und gleißendes Sonnenlicht. Es ist heiß. Drückend.

Am Hafen erledigen wir die Ausreiseformalitäten und gehen dann endlich zu einem kleinen, alten und rostbehafteten Schiff, das uns in den Sudan bringen soll. Großes Vertrauen erweckt es nicht. Die Spannung ist hoch. Ein Hauch von Schwarzafrika ist zu spüren. Viele Sudanesen verladen ihre Fracht ins Boot, die nach Wadi Halfa gehen soll. Vor dem Eingang stauen sich die Menschen mit ihrem Vieh und Unmengen von Kisten voller Obst und Gemüse. Mein Rad und mein Gepäck reiche ich dem Japaner über das Geländer hoch, da ich keine Lust habe, in dem Gedränge durchs Schiffsinnere zu gehen. Es wäre sowieso unmöglich.

Wegen dem IdFest sind relativ wenige Passagiere an Bord gegangen. So haben wir viel Platz auf dem Deck und machen uns auch richtig breit. Nun schauen wir uns um: weit und breit steinige Wüste, Kargheit und dann das tiefe Blau des NasserStausees.

Er ist nach dem an der Grenze zwischen Sambia und Simbabwe gelegenen Karibasee, der durch den Sambesi gespeist wird, der zweitgrößte Stausee der Welt. Die Staumauer liegt in der Nähe der Stadt Assuan. Der Staudamm ist fast vier Kilometer lang und 110 Meter hoch. Der Stausee selber erstreckt sich über fünfhundert Kilometer und reicht bis in den Sudan hinein.

Das Schiff schaukelt leicht auf den seichten Wellen. Die Sonne brennt auf unsere Köpfe herab. Die Hitze ist gerade noch erträglich. Ich schaue direkt nach Süden und weiß, dort liegt der Sudan und morgen werde ich ihn erreichen. Es ist unbegreiflich: Vor fünf Jahren, als ich mit Julia in Ägypten Urlaub machte und wir nach Abu Simbel fuhren, stand ich auch am See. Ich schaute nach Süden. Ich fand es aufregend, dass da unten der Sudan angrenzt. Ich wollte unbedingt dorthin und stellte mir vor, wie es wohl wäre. Und nun wird ein Traum wahr. Hiro scheint es ähnlich wie mir zu ergehen. Auf dem Oberdeck sind mittlerweile auch einige Sudanesen eingetroffen. Einzelne von ihnen sind schick gekleidet, andere im traditionellen Kaftan, einem schlichten Gewand der Araber.

Man erzählt uns, das Deck sei sonst so überfüllt, dass man nachts Probleme hat, einen Schlafplatz zu finden. Man kann sich dann nicht mal hinlegen. Dazu dann die Ratten und Kakerlaken. Es muss die Hölle sein.

Einige Männer breiten neben unserem Platz ihre Decken aus und fangen an zu beten. Die Sonne nähert sich langsam dem Horizont. Der Himmel glüht. Dann setzt sich der Rostkahn in Bewegung. Der Fahrtwind streichelt uns im Gesicht und verschafft angenehme Abkühlung. Das Wasser ist ruhig.

Ein junger Schweizer Namens Damien, der mit zwei nubischstämmigen Freunden unterwegs ist – sie leben alle in der Schweiz – machen es sich in unserer Ecke gemütlich. Wir finden ins Gespräch und freuen uns, Gesellschaft zu haben. Sie haben Arak, einen hochprozentigen Schnaps, dabei. Wir haben dafür Kekse, Nüsse und Kürbiskerne. Es scheint also ein sehr gemütlicher Abend an Deck zu werden. Hiro und ich sind ganz Ohr und sie fangen an zu erzählen. Sie produzieren gerade einen Dokumentarfilm über das nubische Volk und über die Versenkung seiner Dörfer im Assuanstausee. Einer der Nubier schaut mit leerem und bekümmertem Blick ins Wasser.

„Du musst sehr traurig sein“, sage ich zu ihm.

„Ja, dort unten ist meine Heimat.“ Ich kann gut verstehen, was in ihm vorgehen muss. 1964 wurden etwa dreiundvierzig Dörfer zwischen Wadi Halfa und Assuan unter Wasser gesetzt, um dem Nil Herr zu werden. Der Bau des Staudamms nahm elf Jahre in Anspruch. Doch warum wurde dieses gigantische Projekt verwirklicht?

Ägypten war abhängig vom Nil. Bei niedrigem Wasserstand oder zu schnellem Abfließen des Hochwassers fiel die Ernte entsprechend gering aus. Stieg der Nil hingegen zu schnell an oder zog er sich nicht früh genug für die Aussaat zurück, kam es zu Schäden an Dörfern und Feldern. Wenn der Strom jedoch für mehrere Jahre nicht seinen gewohnten Bahnen folgte, hatte das weit schlimmere Folgen. Zum einen konnte es passieren, dass bei wiederholt niedrigem Wasser die Schiffe keinen Weg durch den Schlamm fanden. Einige Flussarme verschwanden sogar völlig. Dann litt das Land zudem an schrecklichen Hungersnöten. Seuchen und Aufstände brachen nach vielen schlechten Überschwemmungen aus. Um sich