Radio Girls - Sarah-Jane Stratford - E-Book
SONDERANGEBOT

Radio Girls E-Book

Sarah-Jane Stratford

0,0
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine unvergessliche Reise in Londons Roaring Twenties

London, 1926, der Krieg ist vorbei, die aufregende Energie der Veränderung flirrt durch die Luft. Die junge Amerikanerin Maisie hat einen Job bei dem gerade erst gegründeten Rundfunksender BBC ergattert. Sie ist elektrisiert vom hektischen Tempo, den jungen klugen Mitarbeitern und einschüchternden Chefs. Sie entdeckt ihre Leidenschaft für das Radio und trifft auf die außergewöhnliche Hilda Matheson, die Gründerin des beliebten Talk-Programms, die ihr zur Mentorin wird. Als die beiden jedoch eine schockierende Verschwörung aufdecken, müssen sie sich entscheiden: Wie weit gehen zwei engagierte Journalistinnen für die Wahrheit?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 602

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

London, 1926, der Krieg ist vorbei, die aufregende Energie der Veränderung flirrt durch die Luft. Die junge Amerikanerin Maisie hat einen Job bei dem gerade erst gegründeten Rundfunksender BBC ergattert. Sie ist elektrisiert vom hektische Tempo, den jungen klugen Mitarbeitern und einschüchternden Chefs. Sie entdeckt ihre Leidenschaft für das Radio und trifft auf die außergewöhnliche Hilda Matheson, die Gründerin des beliebten Talk-Programms, die ihr zur Mentorin wird. Als die beiden jedoch eine schockierende Verschwörung aufdecken, müssen sie sich entscheiden: Wie weit gehen zwei engagierte Journalistinnen für die Wahrheit?

Zur Autorin

SARAH-JANE STRATFORDist Autorin und Essayistin und schreibt unter anderem für den Guardian, den Boston Globe, die Los Angeles Review of Books, Slate, Salon und Guernica. Sie ist darüber hinaus Mitglied von WAM! – Women, Action and the Media.

SARAH-JANE STRATFORD

RADIO GIRLS

ROMAN

Aus dem amerikanischen Englisch von Beate Brammertz

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Radio Girls« bei New American Library, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeiftung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe April 2020

by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright der Originalausgabe © 2016 by Sarah-Jane Stratford

Covergestaltung: semper smile München

Umschlagmotiv: © Shutterstock/LoveDesignShop; BrAt82; Olga Ekaterincheva

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mr · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-22027-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

»Wenn wir vernünftig genug sind, [dem Rundfunk] die nötige Freiheit und eine intelligente Ausrichtung zu geben, wenn wir ihn vor der Ausbeutung durch persönliche Interessen des Geldes oder der Macht schützen, könnte sein Einfluss gar das Gleichgewicht hin zum Individuum zurückverschieben.«

Hilda Matheson, Broadcasting (1933)

London, 1930

Im Laufschritt schlängelte sie sich zwischen den verdutzten Fußgängern hindurch, doch ihr Verfolger war ihr immer noch dicht auf den Fersen.

All ihre sorgfältige Planung, all die Arbeit, um das Netz zu spinnen und die Fliege zu fangen, hatten diese Wendung nicht einkalkuliert, die Möglichkeit, dass die Papiere in ihrer Tasche so wertvoll waren, dass jemand sie jagen würde, um die Unterlagen zurückzubekommen.

Sie mit einer Waffe jagen würde.

Sie hörte es, hörte das Klicken, selbst im Lärm der Passanten, des Verkehrs und ihres pochenden Herzens, dem steten Schritt des Mannes hinter ihr.

Ihr Verfolger wusste allerdings nicht, dass sie nicht allein war. Ein schwacher Trost, während sie über zwei Yorkshireterrier sprang und an ihrer in Zobel gehüllten Besitzerin vorbeihetzte, um die Gasse hinabzusprinten, aber sie krallte sich an jeden Hoffnungsschimmer fest, der sich ihr bot.

Und er hatte keine Ahnung, was sie gleich tun würde. Keine Ahnung von der Macht, die sie wirklich besaß. Er war wie all die brutalen Kinder, die sie als Mädchen gejagt hatten, in der Hoffnung, ihr Angst zu machen. Den Jungen damals war es gelungen. Ihr Verfolger würde es nicht schaffen.

Sie rannte schneller, die Knie angezogen, anmutig und trittsicher wie eine Gazelle, nur dass Gazellen keine glänzenden Schuhe mit modischen Riemchen trugen.

Dem Himmel sei Dank für kurze Röcke. Vor zehn Jahren wäre ich längst tot.

Sie musste es nur bis zum Auto schaffen. Doch ihr Verfolger holte auf. Entschlossen beschleunigte sie das Tempo.

Würde es helfen, wenn sie schrie? Nein, schreien half nie. Außerdem sollte er nicht die Genugtuung bekommen zu merken, wie verängstigt sie war, ebenso wie er nicht die Genugtuung bekommen sollte, die Papiere an sich zu reißen, in deren Besitz er unbedingt gelangen wollte.

Sie verstärkte den Griff um ihre Handtasche, die rutschig vor Schweiß war, und rannte noch schneller.

Erstes Kapitel

November 1926

Obwohl jeder in der Pension den Brief gesehen und Maisie gegenüber beteuert hatte, dass er echt war, faltete sie ihn immer wieder auf und las ihn durch, bis die getippten Worte an den Falzmarken fast nicht mehr zu entziffern waren, und das nur fünf Tage nachdem sie ihn erhalten hatte.

»Du solltest ihn pfleglicher behandeln«, riet Lola von ihrem Platz auf dem Schlafzimmerstuhl mit der geraden Rückenlehne, wo sie ihre Nägel polierte. »Bald ist er völlig zerfetzt, und du musst ihn bei deinem Vorstellungsgespräch gewiss vorzeigen, oder?«

Das Vorstellungsgespräch. Nach Monaten der Erwerbslosigkeit, nur gelegentlich unterbrochen von zwei oder drei Tagen Arbeit, bei der alle sicher waren, es würde etwas Festeres daraus erwachsen und dieses Versprechen nie eingelöst wurde, war Maisie schließlich zu einem Vorstellungsgespräch für eine Anstellung in Vollzeit eingeladen worden. Als Sekretärin bei der BBC.

»Ich hoffe so sehr, dass du für den arbeiten musst, der die Hörspiele und dieses Zeug betreut«, sagte Lola mindestens einmal am Tag in unterschiedlichem Wortlaut. Maisie versprach hoch und heilig, dass sie, falls es sich tatsächlich um diese Stelle handeln und sie sie bekommen sollte, alles in ihrer Macht Stehende tun würde, damit Lola zum Radio käme. Insgeheim hoffte sie jedoch, dass die Stelle so weit von den »Hörspielen und diesem Zeug« entfernt wäre, wie die BBC-Büros in Savoy Hill es nur irgendwie erlaubten.

Sie las den Brief ein weiteres Mal durch. Der Briefkopf war von schlichter, moderner Eleganz und listete die Adresse und die Angaben für die Telefonvermittlung (Temple Bar 8400) und für Telegramme (Ethanuze, London) auf. Der Text war in dem knappen, förmlichen Stil gehalten, den sie mit so viel Liebe mit Großbritannien in Verbindung brachte, und forderte sie auf, am Donnerstag, den fünfundzwanzigsten November um fünfzehn Uhr zum Vorstellungsgespräch zu erscheinen und nach Miss Shields zu fragen. Sie solle »angemessene Empfehlungen« mitbringen.

»Ich wünschte nur, ich wüsste, was sie mit ›angemessen‹ meinen«, sagte Maisie, während ihr Finger an ihrem spitzen Kinn auf und ab wanderte. Sie hatte ein Schreiben von Schwester Bennister, der Mutter Oberin des Brighton Soldiers’ Hospital, das Maisie als fleißige und umsichtige Krankenschwester beschrieb – wohlwollend, wenn man bedachte, dass Maisie kaum mehr als eine Hilfskrankenschwester gewesen war. Das Abschlusszeugnis von Miss Jenkins’ Sekretärinnenkolleg war von größerer Bedeutung, allerdings weniger eindrucksvoll, da es aus dem Jahr 1924 stammte, noch dazu aus New York, und sie keinen plausiblen Grund liefern konnte, warum sie nichts weiter vorzuweisen hatte.

»Oh, zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, riet Lola. »Sie müssen so etwas schreiben, nicht wahr? Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Empfehlungsschreiben eine große Rolle spielen. Es geht allein um den ersten Eindruck, den du auf sie machst.«

Je länger Maisie sich in dem trüben Spiegel auf ihrem Frisiertisch betrachtete, desto weniger vielversprechend erschien ihr diese Aussicht.

Beide, Lola und ihre Hauswirtin Mrs Crewe, waren seit dem zeremoniellen Aufschlitzen des Briefumschlags ein Quell niemals versiegender Ratschläge gewesen. Selbst die anderen Untermieterinnen, Frauen, denen Maisies Gegenwart bisher höchst selten aufgefallen war, stimmten in ihre Vorfreude ein. Der Radioapparat war ein heikles Thema in Mrs Crewes Haus, da diese eigensinnige Dame der Meinung war, das gesamte Prinzip des Zuhörens wäre eine »unsinnige, vorübergehende Laune«, weshalb sie sich weigerte, ihr hartverdientes Geld für einen so überaus unnützen und, wie sie stets gerne betonte, unnatürlichen Firlefanz wie ein Radio auszugeben.

»Warum in aller Welt sollte irgendjemand körperlosen Stimmen zuhören wollen? Das klingt ketzerisch, wenn nicht gar gefährlich. Wer weiß, was sie sonst noch tun können, wenn sie durch eine Maschine mit dir reden können? Erst das Kino, jetzt das. Das ist nicht richtig.«

Womöglich war es nicht richtig, aber Mrs Crewe war eine entschiedene Fürsprecherin »ihrer Mädchen«, wie sie ihre Untermieterinnen nannte, und durchaus gewillt, einen Teil ihres Unmuts abzulegen, sollte Maisie tatsächlich eine Festanstellung ergattern.

»Und sobald du dort arbeitest und dir nicht zwei Köpfe wachsen oder sonst irgendwas, wird sie sich eingestehen müssen, dass nichts Schlimmes dran ist, und uns einen Radioapparat kaufen!«, krächzte Lola. »Nun ja«, fuhr sie gedankenverloren fort, die gezupften Brauen zusammengezogen, »wahrscheinlich sind wir dann längst in etwas Schickeres umgezogen, glaubst du nicht?«

Maisie stimmte ihr zu, wenn auch nur, weil Mrs Crewe ihrer Ansicht nach nie und nimmer ein Radio kaufen würde, egal was geschähe.

Lola und die anderen Untermieterinnen hatten allesamt Freundinnen, die »Radiopartys« veranstalteten, bei denen sie sich trafen und etwas von der BBC anhörten, normalerweise ein Hörspiel oder Musik, aber seit neuestem auch Vorträge. Maisie hatte dieses Glück nicht, was einer von vielen Gründen war, warum sie ein solches Interesse am Radio hatte. Insgeheim stimmte sie Mrs Crewe zu, dass körperlosen Stimmen etwas Unheimliches anhaftete, und es war sonderbar, dass sie aus einem anderen Teil Londons stammten und dennoch so klar klangen, als würde jemand am anderen Tischende sitzen. Viele Menschen fürchteten sich vor dem Rundfunk, in der Gewissheit, all diese neuen Technologien wären ein Vorbote böser Geister oder ein Instrument, um eine Brücke zur Unterwelt zu schlagen. Maisie war nicht sicher, was sie glauben sollte.

Was sie hingegen mit unwiderlegbarer Sicherheit wusste, war, dass ihr Vermögen auf ein Pfund, dreizehn Schilling und neun Pence geschrumpft war. Trotz ihrer unvergleichlichen Erfahrung auf dem Gebiet der Sparsamkeit war dieser kleine Haufen Münzen der Gegenwert von einer Woche Kost und Logis. Ihre Familie, klein wie sie war, lebte in New York und Toronto, und keiner von ihnen würde wohlwollend – oder höflich – auf die Bitte um Unterstützung reagieren. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie musste diese Stelle bekommen.

»Lass mich dich ein bisschen schminken. All diese BBC-Mädchen tragen Make-up, da bin ich sicher«, beharrte Lola. Maisie war unschlüssig. Sie wollte nicht riskieren, dass die unbekannte Miss Shields sie für schamlos hielt.

Oder für so dumm, dass ich annehme, mit Make-up ließe sich etwas aus mir machen. Maisie seufzte und betrachtete ihre Nase, die von Menschen als »römisch« bezeichnet wurde, wenn sie nett sein und ihrem hageren Gesicht zumindest einen bemerkenswerten Zug zusprechen wollten. Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, zumindest kein Furunkel zu haben.

Sie sparte sich ihre Dankbarkeit für die große Beliebtheit des Bobs auf. Er war ein echtes Geschenk für Frauen wie sie, die mit feinen, strähnigen Haaren gestraft waren, und sie liebte ihn von ganzem Herzen. Ihre Haare mochten langweilig und straßenköterbraun sein, doch in ihrem kurzen, glatten Zustand waren sie weniger abstoßend, und der strenge Pony tat sein Bestes, um ihrem Gesicht etwas zu verleihen, das einer Form gleichkam. Sie wünschte inständig, sie besäße eine anständige Cloche, eine mit Glasperlenverzierungen am Ohr oder vielleicht einer kleinen Feder. Ihr einfallsloser schwarzer Wollhut war so nichtssagend und offensichtlich billig. Aber er war sauber, und behutsames Ausbürsten kaschierte die schlimmsten geflickten Stellen.

Das gestelzte Englisch ihrer in Toronto geborenen und dort aufgewachsenen Großmutter hallte in Maisies Ohren wider, als sie ihre Strümpfe bis über die Oberschenkel hochrollte und sie mit einem Strumpfband befestigte. »Nun? Willst du mir nicht danken?« Und Maisie war dankbar, dass die Leidenschaft dieser Frau für Sparsamkeit und elegante Dinge ihr die Fähigkeit vermittelt hatte, ihre schwarzen Wollstrümpfe so gut zu flicken. Moderne Frauen trugen beige- oder pastellfarbene Strümpfe – teilweise aus Seide! –, aber schwarz war immer noch annehmbar, und ihr Exemplar war nicht einmal besonders schlimm, solange man es sich nicht aus der Nähe besah.

Dann mal viel Glück. Stirnrunzelnd betrachtete sie ihre dürren, formlosen Beine und wünschte, sie hätte die langen Röcke mehr zu schätzen gewusst, als sie noch in Mode gewesen waren.

Was ihre Schuhe anbelangte, so müsste sie sie einfach fest auf den Boden pressen, um die Löcher zu kaschieren. Die billigen Oxford-Halbschuhe hatten in den vergangenen fünf Jahren stark gelitten, aber selbst wenn sie sich noch ein weiteres Mal reparieren ließen, würde sie es nicht ertragen. Jedes Mal, wenn sie in diese Schuhe schlüpfte, würde sie am liebsten in Tränen ausbrechen.

Während sie die Schnürsenkel zuband, erinnerte sie sich an einen der wenigen Ratschläge, die ihre Mutter Georgina ihr gegeben hatte: »Wenn es hart auf hart kommt, ist es besser, weniger zu besitzen, solange alles, was man trägt, von guter Qualität ist.«

Wunderbare Worte von einer Frau, die als aufstrebende, junge Schauspielerin bodenlange Röcke getragen hatte und nun erfolgreich genug war, um ständig von, wie sie es nannte, »Mäzenen« umgeben zu sein, die sie mit so vielen Seidenstrümpfen versorgten, wie sie nur wollte.

Maisie stand auf und zog den Mantel an.

»Du meine Güte, Maisie, warum hast du dir nichts von mir ausgeliehen?«, lautete Lolas Reaktion, als Maisie sich ihr präsentierte.

»Deine Kleidung passt mir nicht«, sagte Maisie, was nichts als die Wahrheit war. Lola war kleiner als Maisie, und obwohl sie mit eifriger Beflissenheit von Bandagen Gebrauch machte, um ihre üppige Figur – wie es die Mode verlangte – knabenhafter aussehen zu lassen, trug sie ihre Kleider so tief ausgeschnitten, wie es sich tagsüber gerade noch ziemte. Hätte sich Maisie etwas von ihr geborgt, hätte sie wie eine billige Revuetänzerin ausgesehen.

»Nun ja, wahrscheinlich kümmert es sowieso niemanden, wie man im Radio aussieht«, sagte Lola in ihrem tröstlichsten Tonfall. »Fahr zumindest mit dem Taxi hin. Nein, das solltest du wirklich. Du kämst dir unglaublich vornehm vor. Hier, ich leihe dir das Geld.«

Die Münzen glitzerten in Lolas Handfläche, eine schimmernde Verlockung. Maisie hatte noch nie einen Fuß in ein Taxi gesetzt und konnte sich einen solch verschwenderischen Luxus nicht vorstellen, aber das Bild einer Stoffrose, die sie sich an ihren Hut stecken könnte, stieg unvermittelt in ihr auf. Auf dem Boulevard The Strand könnte sie eine Modistin aufsuchen. Ihre Hand schwebte über der von Lola, sank jedoch nicht herab. Sie würde niemals hübsch oder chic sein, doch so, wie sie war, sah sie zumindest verlässlich und vernünftig aus. Jemand musste diese Eigenschaften bei einer Sekretärin zu schätzen wissen. Außerdem hasste sie es, Schulden zu machen, wenn es sich vermeiden ließ. Sie hatte nicht den blassesten Schimmer, was die nächste Woche mit sich bringen würde.

»Das ist schrecklich lieb von dir, aber nein danke. Es ist erst zwei Uhr. Mit der Straßenbahn bin ich im Handumdrehen dort«, versicherte Maisie ihr.

»Nun, dann viel Glück«, sagte Lola grinsend. »Sie werden dich nehmen. Ganz sicher.«

Während Maisie sich für die Fahrkarte von einem ihrer kostbaren Pennys trennen musste, hoffte sie inständig, dass Lola recht behalten würde. Seit langem hatte niemand sie mehr gewollt, und diejenigen, die sie eingestellt hatten, hatten sie nicht länger behalten als Richard der Dritte Anne Neville in Shakespeares schöpferischer Fantasie.

Georgina behauptete immer, Maisie gehöre nicht nach London.

Sie darf einfach nicht recht behalten.

Vor dem imposanten Backsteingebäude mit dem Messingschild neben der Tür, auf dem BRITISHBROADCASTINGCOMPANY stand, traf Maisie die niederschmetternde Erkenntnis, dass Georgina wusste, wovon sie sprach, obwohl sie London nur von Bühnenbildern kannte. Maisie legte die Finger auf die dunkle Holztür und spürte den Sog dieses vor Leben pulsierenden Ortes. Gewaltsam befahl sie ihrer Hand, nicht zu zittern und sich daran zu erinnern, wie ein Türgriff funktionierte.

Die Tür führte in eine riesige Empfangshalle, die unerhört modern war, mit einem auf Hochglanz polierten Marmorfußboden, der den Gefahren einer Eislaufbahn in nichts nachstand, und einer mit Tropenbäumen bedruckten Tapete. Zwei in Fuchsfell gehüllte Frauen redeten in einer Ecke aufeinander ein, während sie in einem steten Rhythmus die Asche von ihren Zigaretten in einen glänzenden Messingaschenbecher klopften.

Ein Getrappel, das drohende Zerstörung ankündigte – das Erdbeben von San Francisco schien London erreicht zu haben –, nötigte Maisie, die Arme schützend um sich zu schlingen, als zwei Männer mit vor Entschlossenheit glühenden Gesichtern die Treppe hinunterstürzten, die Hüte tief in die Stirn gezogen, die Krawatten gerade gerückt. Sie schossen auf beiden Seiten an Maisie vorbei, nah genug, um sie wie eine Billardkugel auf einem Tisch hin und her zu stoßen, und sprangen dann aus der Tür, ohne sie auch nur bemerkt zu haben.

Maisie strich ihren Mantel glatt, während sie sich insgeheim beglückwünschte, nicht zu Boden gegangen zu sein. Dann pirschte sie sich an den Kirschholztisch heran, wo sich die perfekt frisierte Empfangsdame von ihrem Telefon abwandte und Maisie einen abschätzenden Blick zuwarf.

»Haben Sie einen Termin?«, fragte die Empfangsdame mit tiefer Stimme, die gleichzeitig angenehm und Respekt einflößend klang.

»Nun, ich … ich soll mich um fünfzehn Uhr bei Miss Shields melden«, flüsterte Maisie und faltete den kostbaren Brief auf, der als Beweis für ihre Worte dienen sollte.

»Hm«, kam die Antwort. Eine Glocke musste geläutet haben, denn wenige Sekunden später erschien ein rundlicher Junge mit rotem Haarschopf. Er konnte nicht älter als zwölf sein und hatte die herrische Art eines Höflings an sich.

»Ah, Rusty«, grüßte ihn die Empfangsdame. »Dies ist …« Ein weiterer Blick auf den Brief. »Miss Musgrave, für Miss Shields, und das bitte unverzüglich.«

»Ja, Miss! Bitte hier entlang, Miss.« Mit einer theatralischen Armbewegung wurde Maisie in das Innere der BBC gebeten.

»Wollen Sie den Aufzug nehmen, Miss, oder lieber die Treppe? Sie müssen wissen, es ist ganz oben.«

Sie wusste, sie sollte so gut es ging mit ihren Kräften haushalten, denn das Abendessen war noch Stunden entfernt, aber ein aufgeregtes Durcheinander drang von all den Etagen über ihr herab, und sie wollte so viel davon sehen wie nur irgend möglich.

»Mir macht die Treppe nichts aus«, versicherte sie Rusty und wurde mit einem wohlwollenden Grinsen belohnt.

Die BBC existierte erst seit vier Jahren, weshalb Maisie nicht die Art schwerfälligen Prunk erwartet hatte, der alteingesessenen Institutionen vorbehalten war, Orten, die sie mit Ehrfurcht, Erstaunen und Sehnsucht erfüllten. Die Sorte Ort, von dem sie geträumt hatte, ihre Tage und auch Nächte dort zu verbringen. Savoy Hill war wie eine Droge. Die hell leuchtende, pulsierende Energie des Neuen, mit Mitarbeitern, die von einem technologischen Wunder umgeben waren, einem Wagnis, das sich gegen sie wenden und morgen verschwunden sein könnte – obwohl sie alle kämpfen würden, als befänden sie sich in der Schlacht von Azincourt, um eine Niederlage abzuwenden. Hinter einigen dieser Türen saßen gewiss Menschen in schallisolierten Räumen und sprachen zur Nation. Doch in den Korridoren hallte ein Lärmen von donnernden Schritten und raschelndem Papier und hastigen Gesprächen.

»Schon gehört? Die Matheson hat Anthony Asquith an Land gezogen!«

»Pah! Ich warte nur drauf, dass Tallulah Bankhead für ein Interview vorbeikommt.«

»Dann würdest du wahrscheinlich tot umfallen!«

»Wäre die Sache wert, wobei es natürlich drauf ankommt, auf wen ich falle.«

Der Dialog schwirrte sirrend in Maisies Kopf umher, schwerer als Parfüm und ebenso betörend.

»Hat jemand Lust auf die American heute Abend?«

Maisie taumelte.

Die Bar, du Idiotin. Er meint die Bar im Savoy. War das die Sorte Nachtclub, in den diese Leute nach der Arbeit gingen? Ihr eigenes Erscheinen auf dem Bürgersteig davor würde dem Türsteher ein müdes Lächeln entlocken, bevor er sie zurück auf die Straße scheuchen würde.

Die Stimme fuhr fort: »Sie haben einen neuen Barkeeper, direkt aus dem 300 Club in New York!«

»Jeder Vollidiot kann einen Cocktail mixen. Gib mir Bescheid, wenn diese Texas Guinan und ihre Mädchen auftreten!«

Er sprach es »Gwynen« aus.

Fast unwillkürlich blieb Maisie stehen und redete in das lärmende Durcheinander.

»Guy-nan. Ihr Name wird Guy-nan ausgesprochen. Und sie ist keine der … äh, Tänzerinnen. Ihr gehört der Club.«

Und war angeblich eine Freundin von Georgina, auch wenn Maisies Lebenserfahrung sie gelehrt hatte, jeglicher Aussage, die über die Lippen ihrer Mutter kam, mit dem nötigen Zweifel zu begegnen. Laut Georgina war Texas Guinan »weder eine Schauspielerin noch eine Schönheit, aber sie besitzt eine überschäumende Persönlichkeit, mein Kind (was Maisie immer noch sein musste, da Georgina nicht alterte). Lohnenswert, eine Freundschaft zu ihr zu kultivieren« (denn was waren Menschen anderes als Salatköpfe aus dem Gewächshaus?).

Durch den Schleier ihrer wachsenden Scham spürte Maisie, wie mehrere Umstehende sie mit amüsiertem Interesse anstarrten, und in ihr stieg eine jähe Zuneigung für ihre eigene, sorgsam gepflegte Maske des »Unsichtbaren Mädchens« auf, den Feind, den sie sich zum Freund gemacht hatte und der sich als äußerst nützlich erwies, wenn er sie wie ein Tarnmantel verhüllte. Selbst Rusty hatte seine heilige Pflicht vergessen und blickte seinen Schützling erstaunt an.

Ein junger Mann sprang in großen Sätzen auf sie zu, ein strahlendes Grinsen und freche Sommersprossen im Gesicht. Seine Haare fielen ihm in zerzausten braunen Locken in die Stirn, und er trug eine modisch geschnittene weite Hose und Krawatte, die Maisie an eine Schuluniform erinnerte.

»Sie sind Amerikanerin?«, fragte er im feinsten Oxford-Englisch. »Sind Sie aus New York? Das sind Sie, nicht wahr?«

Nur mit Mühe gelang es Maisie, das Atmen nicht zu vergessen. Dieses Grinsen. Diese Sommersprossen.

»Nun, ich … im Grunde … ich meine, ich habe in New York gelebt … bin dort aufgewachsen, aber …«

Rusty, der aus seiner Schockstarre erwacht war, mischte sich nun ein. »Tut mir schrecklich leid, Mr Underwood, Sir, aber ich muss diese Miss wegen eines Vorstellungsgesprächs zu Miss Shields bringen.«

»Oh!« Der junge Mann wirkte erstaunt. »Ich hätte sie eher für einen Neuzugang von Matheson gehalten.«

»Wohl kaum«, sagte jemand kichernd. Ein Chor aus gedämpftem Flüstern schwoll an.

»Nun denn, viel Spaß bei Miss Shields«, sprach Mr Underwood ihr Mut zu. Seine lächelnden saphirblauen Augen wirkten auf sie wie ein Schlangenbeschwörer auf seine Schlange, doch sein Tonfall legte nahe, dass jeglicher Spaß ausgeschlossen war.

Maisie wünschte, dass die Schamesröte, die in ihrem Gesicht und an ihrem Hals brannte, heiß genug wäre, um den Boden zum Schmelzen zu bringen und sie zu verschlingen. Mechanisch trottete sie Rusty hinterher, ohne auf die Anzahl an Treppenstufen zu achten, und erwachte erst aus ihrer Trance, als sie einen ruhigen Korridor erreichten, glänzender und feierlicher als die unteren Stockwerke, in dem jede Tür geschlossen war.

Rusty schritt zu einer der Türen, klopfte respektvoll an und schob sie dann einen Spalt auf.

»Miss Shields, Miss Musgrave für Sie, Miss«, verkündete er in seiner besten Nachahmung von Kultiviertheit.

»Vielen Dank, Rusty«, ertönte eine eindringliche Stimme. Maisie zwang sich in das Büro und hoffte inständig, ihre Schamesröte sei verflogen. Miss Shields blickte Maisie von oben herab an, ihre schönen Gesichtszüge frei von allem Frivolem wie etwa einem Lächeln. Sie trug ein braunes Tweedkostüm, dessen gerader Schnitt der Inbegriff guten Geschmacks war. Eine goldene Uhr war an ihr Revers geheftet und erinnerte Maisie an die Nonnen im Krankenhaus, außer dass deren Uhren kein Muster aus winzigen Rubinen und einem Diamanten geschmückt hatte.

»Setzen Sie sich, bitte, Miss Musgrave«, kam die doch recht höfliche Einladung. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«

Maisie zögerte. Aus Prinzip schlug sie niemals eine Erfrischung aus, und sämtliche Kälte, die der November aufzubieten hatte, war durch ihre abgetretenen Schuhe gesickert. Andererseits zitterte sie so stark, dass sie fürchtete, den Tee über ihre Oberschenkel zu verschütten. Doch dies war die Sorte Frau, die keinen Widerspruch duldete, weshalb Maisie lächelnd nickte.

»Ja bitte, danke. Sehr gerne.«

Miss Shields gab den Auftrag an Rusty weiter. Maisie wartete betreten ab und spürte den Raum mehr, als dass sie ihn gesehen hätte, während heiße, kleine Nadelstiche der Aufregung über ihre Arme tänzelten und sich Schweißflecken unter ihren Achseln bildeten. Es war beeindruckend, dass diese Frau einem wichtigen Mann auf einem wichtigen Posten zuarbeitete, ganz allein in einem Büro. Miss Shields’ Stuhl hatte geschwungene Armlehnen und ließ sich drehen. Maisie sehnte sich nach all dem hier und fragte sich, wie schnell man in dem Stuhl herumwirbeln könnte.

»Möchten Sie Milch? Zucker?«, fragte Miss Shields.

»Ja bitte, beides, danke«, sagte Maisie und wünschte, das Angebot würde ein Stück Kuchen oder auch nur einen Keks beinhalten (oder »Gebäck«, wie sie sich zu sagen angewöhnt hatte). Sie konnte sich nicht erinnern, wie es sich anfühlte, in den langen Stunden vor dem Abendessen nicht hungrig zu sein.

»Ja, Amerikaner mögen ihren Tee süß«, bemerkte Miss Shields, stolz auf ihr Wissen, während sie Maisie ihre Tasse und Untertasse reichte, an deren Rand Eisvögel flogen.

»Oh, ich bin Kanadierin«, stammelte Maisie und setzte zu einer entschuldigenden Rede an. »Halb britisch, da mein Vater Brite war. Meine Mutter ist Kanadierin, und ich bin dort geboren. Dann sind meine Mutter und ich nach New York gezogen, wo sie als Schau … wo sie Arbeit fand. Ich habe hauptsächlich dort gelebt und die Sommer in Toronto verbracht, bis ich mich 1916 für das Voluntary Aid Detachment gemeldet habe und dem Krankenhaus in Brighton zugewiesen wurde.«

Sie verstummte. Ihre Biografie, so wenig beeindruckend wie sie war, war ein heilloses Durcheinander. Sie reichte Miss Shields ihre beiden Empfehlungsschreiben und konnte gerade einmal einen Schluck Tee trinken, bevor sie gelesen und beiseitegelegt worden waren.

»Wo ist Ihr Vater geboren?«

»Oh. Das … Das weiß ich …« Sie verstand nicht, welche Relevanz diese Frage hatte, doch ihr Blick senkte sich auf ihre Schuhe, bevor sie ihren Satz mit dem Wort »Oxford« beendete, da es so vollkommen respektabel klang. Das Gegenteil von Georgina.

»Ich gehe recht in der Annahme, dass sein Name Musgrave war.«

»Edwin Musgrave«, erklärte Maisie, was, soviel sie wusste, der Wahrheit entsprach. Der vertraute Stich bohrte sich in ihr Brustbein, und sie unterdrückte ein Seufzen. Der Vater, dem sie angeblich – und zu ihrem Leidwesen – wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sie hoffte immer noch, ihn eines Tages zu finden. Hatte er einen Blick auf seine neugeborene Tochter geworfen und war davongelaufen, oder hatte sie Erinnerungen an ihn, irgendwo tief verschüttet in ihrem Gedächtnis, wenn sie nur wüsste, wo sie suchen müsste?

»Und wissen Sie, auf welche Schule er gegangen ist?«

»Auf welche Schule …? Nein, das tut mir … leid … Das weiß ich … nicht.« Sie zwang sich, der Frau in die kalten Augen zu sehen.

»Ich verstehe. Nun, wir haben im Moment viel zu tun, und ich brauche jemanden, der mich tatkräftig unterstützt, wenn die Schreibarbeit überhandnimmt. Ich bin die persönliche Sekretärin von Mr Reith.«

Sie betonte seinen Namen mit der Art Inbrunst, die Lola für Rudolph Valentino vorbehielt.

»Dem Generaldirektor, ja«, warf Maisie in dem Versuch ein zu beweisen, dass sie nicht völlig uninformiert war.

»Mr Reith erwartet, dass alles akkurat und pünktlich erledigt wird und dass seine Angestellten gründlich und engagiert arbeiten. Wir wachsen, nehmen an Bedeutung zu. Alles, was wir tun, muss dies reflektieren und verstärken. Ich benötige eine Assistentin, die gleichzeitig unterschiedliche Aufgaben erledigen kann und im Zweifelsfall gewillt ist, sich noch mehr einzubringen. Sie waren Krankenschwester, wenn ich …«

Sie sah Maisie aus verengten Augen an.

»Sie müssen sehr jung gewesen sein, als Sie sich freiwillig gemeldet haben.«

Maisie wusste nie genau, wie sie auf diese Feststellung reagieren sollte. Gewiss musste jemand ihren Patriotismus und ihre Eigeninitiative zu schätzen wissen – oder zumindest ihr Bedürfnis zu fliehen –, nachdem sie sich eine gefälschte Geburtsurkunde beschafft hatte, um damals bei ihrer Ankunft in England achtzehn zu sein, anstatt noch nicht einmal ganze vierzehn Jahre. Doch sie hatte nie jemanden getroffen, bei dem sie gewagt hätte, diesen Umstand zu erwähnen.

»Ein Großteil meiner Schwesternausbildung fand nach dem Krieg statt«, erklärte Maisie wahrheitsgemäß. »Ich bin aus dem Dienst ausgeschieden, da wir genügend Männer entlassen konnten und ich nicht länger gebraucht wurde.«

»Und Sie haben sich keine Arbeit in einem anderen Krankenhaus gesucht?«

»Ich …« Wollte mir kein Blut mehr von den Händen waschen. Wollte Teil der Welt der Lebenden sein. »Ich wollte zur Abwechslung etwas anderes tun.« Außerdem war sie sowieso nie eine richtige Krankenschwester gewesen.

»Also haben Sie eine Sekretärinnenschule besucht.« Miss Shields nickte kurz in Richtung des Zeugnisses. »Und das in New York, wie es scheint.«

»Ja. Ich, äh, ich … bin für eine Weile zurückgekehrt.«

Ich war mittellos, meine Großeltern wollten nichts mit mir zu tun haben, und Georgina wollte ihrem neuesten Mäzen ihren Großmut beweisen. Sie ist immer so glücklich, wenn ich im Leben scheitere. Auch wenn Georgina sie als ihre Nichte, nicht als ihre Tochter bezeichnet hatte, und es das Geld ihres Gönners gewesen war, das die Ausbildung finanziert hatte.

»Ich verstehe«, sagte Miss Shields. »Und wo haben Sie gearbeitet, nachdem Sie Ihren Kurs beendet hatten?«

»In einer Vielzahl von Büros, aber es waren leider nur befristete Stellen.«

Alle wollten glamouröse und quirlige und moderne Sekretärinnen.

»Wann sind Sie nach England zurückgekommen?«

»Vergangenes Jahr. Meine Mutter, äh, wusste, dass ich hier glücklicher bin.« Und sie und Georgina waren beide glücklicher, wenn ein Ozean zwischen ihnen lag. »Ich bin tatsächlich sehr glücklich in London und hoffe, hier bleiben zu können, vorausgesetzt, ich finde eine gute Arbeit.« Maisies Stimme war tonlos.

»Hm«, lautete die einzige Reaktion auf ihre Worte. »Und abgesehen von Ihrer Ausbildung zur Krankenschwester und Sekretärin, wo sind Sie zur Schule gegangen?«

Und schon sind wir bei dieser Frage gelandet.

Es war eine Frage, die auch in amerikanischen Vorstellungsgesprächen gestellt wurde, aber nur der Form halber. Maisies einziger Kritikpunkt an den Briten war der, dass sie regelrecht besessen von Bildung waren, selbst bei Mädchen. Oder zumindest bei Mädchen, die sich für die Art von Stelle bewarben, die sie haben wollte.

Oh, tisch ihr einfach eine Lüge auf!, schalt sie sich. Eine mehr ist nicht schlimm. Denk dir einen Namen aus. Sie werden nicht nach Übersee schreiben, um die Angaben zu überprüfen. Es ist so leicht. Miss Morland’s Free School for Girls. St. Agatha’s Girls High. Gramercy Girls Academy. Sie wird niemals erfahren, dass alles frei erfunden ist. Sag einfach irgendetwas!

»Äh, ich …«

»Ja?« Miss Shields’ Augenbrauen tanzten den Tanz, den Maisie nur zu gut kannte.

»Es ist so, wir sind sehr viel umgezogen, weshalb ich nicht lange auf ein und derselben Schule war.«

»Aber Sie haben eine Schule besucht?« Trotz des Tonfalls war es eher eine Aussage als eine Frage, eine, die nichts als Zustimmung erwartete.

Die Schule der Skandale. Die Schule für Ehefrauen. Die harte Schule des Lebens. Die Schule der sträflich ungebildeten Einfaltspinsel.

»Ich wurde hauptsächlich zu Hause unterrichtet«, erwiderte Maisie in der Hoffnung, steif und förmlich zu klingen, als wäre sie von Gouvernanten erzogen worden.

»War es eine breitgefächerte Allgemeinbildung, oder gab es einen besonderen Schwerpunkt?«

Maisie war nicht sicher, was die Frau meinte. Alles, was ihr einfiel, war Georginas Rat, niemals gleichzeitig zwei Schattierungen von Rot zu tragen.

»Eher breitgefächert. Ich, äh, ich mochte Geschichte. Ich habe immer gern gelesen. Habe alles, wirklich alles gelesen.«

»Hm. Nun ja, ich habe natürlich nicht das Äquivalent von Cheltenham erwartet«, bemerkte Miss Shields und machte sich eine Notiz.

Cheltenham! Das war eine der vornehmsten Privatschulen für Mädchen in ganz Großbritannien. War Savoy Hill voller Frauen, die dort zur Schule gegangen waren? Hatte Miss Shields sie besucht?

»Wir brauchen Menschen mit einem scharfen Verstand, die gut organisiert sind, Miss Musgrave. Für diese Arbeit ist Ihr schulischer Werdegang weniger bedeutsam als Ihre tatsächlichen Fähigkeiten. Nun, der Posten verlangt ebenfalls, dass Sie dem neuen Programmdirektor der Vortragsabteilung zur Hand gehen …« Maisie war überzeugt, dass Miss Shields sich ein spöttisches Lächeln verkniff, »aber Ihr Hauptaugenmerk gilt mir, also Mr Reith. Ich hoffe, dies versteht sich von selbst?«

»Ja, Miss Shields«, beteuerte Maisie mit einem Kopfnicken.

»Denn wir brauchen niemanden, der nur mit halbem Ohr zuhört.«

»Nein, Miss Shields.«

»Es ist natürlich von Nutzen, insbesondere bei der Vortragsabteilung, wenn Sie viel über bedeutende Persönlichkeiten und das Zeitgeschehen wissen. Lesen Sie die Tageszeitungen?«

Maisie hatte es früher getan, aber die langen Zeiten ungeregelter Beschäftigung hatten es ihr unmöglich gemacht, sich auf mehr als die Seiten mit den »Stellenanzeigen« zu konzentrieren. Sie hatte jedoch ein Talent dafür, gelesene Zeitungen aus weggeworfenen Stapeln zu ziehen und Einlagen für ihre Schuhe herauszuschneiden. Zumindest hielten sie ihre Füße warm. Maisie fragte sich, auf welchen Geschichten sie hierher spaziert war.

»Ich sehe sie mir natürlich an, Miss Shields.«

»Ich verstehe.«

Miss Shields machte den Anschein, als hätte sie alles gesagt, was es zu sagen gab, und Maisie trank ihren Tee aus, in dem drängenden Bewusstsein, dass sie eine Frage stellen sollte.

»Würde ich, ich meine, würde die Person, die Sie einstellen, in diesem Zimmer bei Ihnen arbeiten?« Angesichts der Größe des Raums schien es unwahrscheinlich, aber sie wollte gewappnet sein, sollte sie den halben Tag diesem strengen Blick ausgesetzt sein.

»In meinem Zimmer? Gewiss nicht. Wir werden in dem Kabuff etwas Platz schaffen.«

Maisie blickte zur Tür zu ihrer Linken.

»Nein«, wies Miss Shields sie zurecht. »Das ist Mr Reiths Zimmer.«

Maisies Herz machte einen Satz. War er dort drinnen? Hatte er ihnen zugehört? Was, wenn er die Tür öffnete?

»Das ist der Raum, den wir auserkoren haben«, sagte Miss Shields und zeigte auf die Tür zu ihrer Rechten. »Dort gibt es genug Platz für eine Schreibmaschine, und das sollte reichen. Es wird sowieso viel Zeit für das Sortieren von Akten und Dokumenten anfallen. Energie, Miss Musgrave, ich brauche jemanden mit Energie.«

»Ich habe Energie«, versicherte ihr Maisie und wünschte, es gäbe einen Weg, es ihr zu beweisen. Ein Jammer, dass ich kein Rad schlagen kann.

Miss Shields stellte ihre Tasse samt Untertasse ab, dann warf sie wieder einen Blick auf Maisies Empfehlungsschreiben.

»Was ich nicht verstehe, Miss Musgrave, ist, warum Sie sich nicht erneut an Ihre Familie in Toronto oder New York gewendet haben, wenn Sie solche Schwierigkeiten hatten, eine Festanstellung zu finden.«

Hinter der Impertinenz spürte Maisie, dass die Frau sie am liebsten sofort vor die Tür gesetzt hätte, um die Stelle all jenen anzubieten, die sie verdienten, insbesondere da so viele Männer arbeitslos waren. Es war ein gutes Argument, obwohl natürlich kein Mann für diesen Posten in Frage käme. Und im Grunde hatte Maisie trotz der Verlockungen des Büros vor, in dem Moment zu kündigen, sobald ihr sehnlichst herbeigesehnter Ehemann eine Gewissheit war und sie der liebenden Familie näher brachte, die sie sich von ganzem Herzen wünschte, seit sie wusste, dass es so etwas gab.

Sie zwang sich, die Schultern zu straffen und gleichmäßig zu atmen.

»Miss Shields, ich mag in der, wie man immer noch sagt, Neuen Welt geboren und aufgewachsen sein, aber mein Herz gehört der Alten Welt. Es gibt nichts, was mich glücklicher macht, als in den Straßen von London spazieren zu gehen. Alles hier atmet Geschichte aus. So viel hat hier begonnen, so viel ist hier geschehen. Dies ist immer noch der Mittelpunkt des Universums, und es gibt hier … gesellschaftliche Konventionen. Ich bin in der Hoffnung hergekommen, meinen Teil für Großbritannien zu tun, und das Land zu verlassen war so töricht, so feige. Ich habe es zurückgeschafft, und ich muss bleiben. Das ist alles, was ich will. Das hier ist mein Zuhause. Ich hoffe …« Ihre Stimme verhallte – die Röte, die ihr ins Gesicht kroch, war schmerzhaft.

Doch es war die Wahrheit. Sie brauchte diese Arbeit, brauchte dieses Zimmer mit dem Schreibtisch, diesen Drehstuhl, die mit Vögeln verzierte Teetasse. Sie brauchte selbst die Angst einflößende Miss Shields. Und den unsichtbaren Mr Reith. Auch wenn das gänzlich unverblümt Neue der BBC an Maisies Hang zur spröden Steifheit und Sicherheit von Tradition und Opulenz nagte, war sie gleichzeitig von dem Glanz und dem geschäftigen Treiben verzaubert. Sie durfte nicht abgewiesen werden. Das durfte einfach nicht passieren.

»Sehr nett, gewiss, Miss Musgrave«, sagte Miss Shields trocken. »Vielen Dank für Ihr Kommen.« Miss Shields drückte auf einen Knopf neben der Tür und streckte ihr die Hand entgegen. »Sie werden zu gegebener Zeit einen Brief erhalten, in dem wir Sie über unsere Entscheidung in Kenntnis setzen. Rusty wird Sie hinausbegleiten.«

Rustys Kopf tauchte wie der eines Murmeltiers auf und drehte sich abwartend hin und her, während Maisie Miss Shields die Hand schüttelte und ihr, wie sie hoffte, nicht mit zu übertriebener Aufrichtigkeit dankte. Sie trottete Rusty hinterher und spürte, wie ihr das Herz durch die Löcher in den Schuhen rutschte. Das Wichtigste war nun, von hier zu verschwinden, bevor die Tränen kamen.

»Hey, New York!«

Genau in dem Moment, als Maisie die Empfangshalle erreichte, rief der Schulkrawatten-und-Oxford-Hosen-Mister-Underwood ihr hinterher, während er im Laufschritt die Treppen herabjagte. Immer noch grinsend. Immer noch mit Sommersprossen im Gesicht. Die Augen immer noch blau – so einladend, dass sie sich am liebsten in ihnen verloren hätte. War sie jemals zuvor von einem derart gut aussehenden Mann angelächelt worden?

»Waren Sie schon mal in einer Flüsterkneipe? Wie ist es da? Ist der Broadway nachts wirklich so hell wie am Tag? Ich würde so gern einmal eine Woche dort verbringen. Muss ein solcher Spaß sein – nicht dass unser London nicht das beste Fleckchen Erde wäre, natürlich, und wir bekommen hier zumindest ganz legal Alkohol, aber vielleicht ist es lustiger, wenn es verboten ist? Ich würde alles geben, um den Cotton Club zu sehen. Oder lassen sie da Weiße überhaupt rein?«

Es war, als würde man von einem Maschinengewehr durchlöchert werden. Das Artilleriefeuer seines Verhörs war einschüchternder als das von Miss Shields und die Fragen noch schwerer zu beantworten. Doch er sah Maisie mit echtem Interesse an, was mehr war, als Miss Shields ihr entgegengebracht hatte, eine erstaunliche Eigenschaft für einen Mann. Dankbar, dass er sie von ihrem Kummer ablenkte, gab Maisie ihm die eine Antwort, die sie zustande brachte.

»Nun ja, der ›Broadway‹ an sich ist eine Straße, aber wahrscheinlich meinen Sie den Theaterbezirk. Er ist … ziemlich … nun ja, beeindruckend, wirklich. All diese Theater, eines neben dem anderen, sämtliche Schirmdächer hell erleuchtet. Ich wage allerdings zu bezweifeln, dass man dort lesen könnte, auch wenn ich nicht glaube, dass man es überhaupt wollen würde.«

Zu ihrer Bestürzung wirkte er enttäuscht.

»Sie reden nicht wie ein Amerikaner, nicht wie einige der anderen, die hier waren, oder wie in den Romanen.«

»Oh. Nun ja, ich …« Am liebsten hätte sie so viele amerikanische Slangausdrücke wie möglich in ihre Erklärung eingeflochten, doch diese Augen und Sommersprossen machten es ihr schier unmöglich, Worte zu formen.

»Hey, Underwood!«, rief jemand vom oberen Treppenabsatz. »Was zum Teufel tust du da, noch eine Teepause? Komm hoch, bevor der Alte dir den Kopf abreißt und ihn als Fußball benutzt.«

»Ich sollte wohl lieber los«, bemerkte ihr neugieriges Gegenüber gelassen. »Sie kommen wieder, oder? Ich will mehr hören!«

»Äh … ich … ich glaube nicht«, murmelte sie, doch er sprang bereits die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. »Aber danke!«, rief sie ihm nach, während er verschwand.

Ihr Blick glitt zur Empfangsdame, und sie fragte sich, ob sie sich abmelden sollte. Die Empfangsdame wies gleichzeitig einem Mann mit einem Paket den Weg, bat jemanden am Telefon, sich einen Moment zu gedulden, und schrieb mit einem Bleistift auf einen Notizblock.

Maisie schloss die Eingangstür hinter sich und ließ die aufgemalten Bäume und das prächtige Schimmern und den Glanz zurück. Ungeduldig wischte sie sich über die Augen, zog die Schultern gegen die Kälte hoch und trottete die den Umständen angemessene dunkle Straße hinab.

»Miss! Miss!«

Rusty sprintete auf sie zu, eine kleine, feurige olympische Fackel.

»Was für ein Glück, dass Sie noch hier sind, Miss. Hatte nich’ geglaubt, Sie noch einzuholen, aber ich hab’s trotzdem versucht. Miss Shields, Miss, sie hat mir gesagt, ich soll Sie suchen, und ob Sie bitte noch ’nen Moment zurückkommen könnten?«

Er rannte zur BBC zurück und war so schnell fort, dass Maisie nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob sie halluzinierte.

Doch Rusty war definitiv aus Fleisch und Blut, wie er dort im Licht stand, das sich aus der offenen Tür ergoss, sie mit der erbitterten Ungeduld des männlichen Geschlechts herbeiwinkte, und sich erst zufriedengab, als Maisie schließlich auf ihn zutrottete. Ihr Herz gebärdete sich auf die sonderbarste Art, als hielte es den Atem an und fragte sich, ob es völlig in sich zusammensacken oder einen hoffnungsvollen Satz machen sollte.

Da kam Miss Shields die Treppe in die Empfangshalle hinunter. Sie hatte einen resignierten Gesichtsausdruck, in dem sich ein Hauch von Wut spiegelte, und ihre Worte klangen einstudiert.

»Ah, Miss Musgrave, wie praktisch. Es wurde entschieden, dass Ihnen die Stelle angeboten wird. Sie können am Montag anfangen. Kommen Sie pünktlich um neun.«

Maisie wusste, dass sie den Mund schließen oder etwas sagen sollte, aber ihr gelang rein gar nichts davon.

»Sind Sie an der Stelle interessiert?«, fauchte Miss Shields.

»Ich … ja, ich meine, ja, also … Danke!«

»Ich gestehe Ihnen zu, dass Sie von Begeisterung überwältigt sind, aber ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Mr Reith in seiner Gegenwart allzeit eine klar formulierte Ausdrucksweise und tadelloses Auftreten erwartet. Was Ihre …« Sie schürzte die Lippen und schien dann ihre Meinung zu ändern. »Wir bezahlen drei Pfund, fünf Schilling die Woche und wir sind es nicht gewohnt zu verhandeln. Verstanden?«

Es wäre Maisie niemals in den Sinn gekommen zu verhandeln. Diese Frau hatte ihr gerade ein neues Leben angeboten. Maisie hoffte nur, dass sie nicht doch halluzinierte.

»Vielen Dank. Vielen, vielen Dank. Wenn Sie wollen, kann ich morgen anfangen!«

»Montag, Miss Musgrave. Sie werden sich unverzüglich bei mir melden, und wir können beginnen. Ich erwarte, dass Sie perfekt vorbereitet sind.«

»Ja, Miss Shields.« Maisie nickte fieberhaft. Sie hatte das ungute Gefühl, dass »perfekt vorbereitet« bessere Kleidung bedeutete. Es war eine verlockende Aussicht, sogleich in eine Straßenbahn zur Oxford Street zu springen. Doch sie war nicht die Sorte Mensch, die in Geschäften anschreiben lassen konnte. Schuhe und Kleidung würden warten müssen. Sie würde einfach darauf vorbereitet sein, gute Arbeit zu leisten.

Ein Kreischen entschlüpfte ihr, als sie zurück auf die Straße sprang, die mit einem Mal viel heller wirkte. Was hatte das Blatt zu ihren Gunsten gewendet? Miss Shields hatte nicht den Eindruck erweckt, sie sonderlich zu mögen. Vielleicht war sie einer dieser Menschen, die nur schwer zu durchschauen waren? Viele Menschen waren so. Maisie hoffte, irgendwann einmal zu ihnen zu gehören.

Ihr Charleston tanzendes Herz erinnerte sie daran, dass sie auch Mr Underwood wiedersehen würde. Diese Augen, dieses Lächeln … Gleich morgen früh gehe ich in die Bibliothek und lese sämtliche Zeitungen. Auch die aus New York, falls es welche gibt. Ich will auf jeden Fall etwas Neues über New York zu sagen haben.

Zweites Kapitel

Am Montagmorgen taumelte Maisie aus wilden Träumen in das beunruhigende Dunkel der frühmorgendlichen Dämmerung. Beklommenheit kroch an ihren Armen und Schulterblättern hinab und nagelte sie an dem schmiedeeisernen Bettgestell fest. Die kurzen, verzweifelten Atemzüge, die sie in ihre Lunge presste, hämmerten in ihren Ohren und kamen ihr so laut vor, als müssten sie die anderen Untermieterinnen aus dem Schlaf reißen. Mit Ausnahme von Lola, die nicht einmal aufwachen würde, sollte ein Doppeldeckerflugzeug ins Haus krachen.

Maisie krabbelte aus dem Bett und wünschte sich nichts sehnlicher, als Pantoffeln und einen Morgenmantel zu besitzen. Stattdessen schlang sie sich die dünne, ausgefranste Bettdecke wie ein römischer Senator um den Körper und schlich auf Zehenspitzen über den ebenso dünnen Flickenteppich zum Fenster. Alles in Mrs Crewes Haus war verschlissen und dünn, wenn auch makellos sauber. Einschließlich Maisie.

Der Ausblick war zu dieser Tageszeit vorteilhafter, da alles in Schatten gehüllt war. Dieser Teil Londons beharrte darauf, dass er die Heimat der ehrbaren, arbeitenden Armen war, kein Slum, doch die Reihen an identischen, schmuddeligen viktorianischen Wohnhäusern, an die sich die Menschen mit allem, was sie hatten, festkrallten, waren nicht der Stoff für Postkartenmotive.

Sie waren eher etwas für den Einband eines Groschenromans.

Maisie zog die Knie an die Brust und beobachtete, wie der Himmel sich langsam verfärbte, während sie wartete und sich fragte, was der Tag wohl für sie bereithielt.

Im Krankenhaus hatte Maisie bei Männern, deren Augenlicht von Giftgas zerstört worden war, Verbände gewechselt. Sie hatte Wunden an Armstümpfen verbunden, die in keine Hände mehr übergingen. Sie war mit Blut, Erbrochenem und Tränen besudelt worden. Und nichts von alledem hatte sie auch nur im Geringsten auf die Strenge der BBC vorbereitet.

Miss Shields bedachte sie mit einem einzigen kritischen Blick, offensichtlich ungehalten, dass sie immer noch wie eine Gefährtin von Oliver Twist aussah, winkte sie jedoch zu ihrem Arbeitsplatz, einem beengten Kabuff mit einer Schreibmaschine und einem Haken für ihren Mantel und Hut. Es gab keinen Drehstuhl, nur ein grauenvolles Etwas mit spindeldürren Beinen und gerader Rückenlehne, aber gesessen wurde ohnehin nicht. Rusty wurde herbeizitiert, um mit ihr einen »Rundgang« durch das Gebäude zu machen. Er kam seiner Aufgabe im Laufschritt nach, und Maisie folgte seinem feuerroten Kopf, während sie versuchte, etwas von ihrer Umgebung in sich aufzunehmen.

»Das is’ der Schulfunk, Miss. Die senden speziell für Klassenzimmer. Und dort drüben is’ der Hörfunk und die Musikabteilung, da machen sie Hörspiele. Einige von denen sind auch ganz lustig, Miss, wirklich, manchmal. Es gibt einen Regieraum im Kellergeschoss. Da sind unglaubliche Maschinen drinnen, aber die Ingenieure und Mr Eckersley, der dort das Sagen hat, die mögen es nich’, wenn jemand bei ihnen die Nase reinsteckt oder Fragen stellt.«

Weiter und immer weiter führte sie sein lebhaftes Geschnatter durch L-förmige Korridore, so schnell, dass ein Ort, sobald er genannt war, gleich schon wieder in einem Durcheinander aus Silben verloren ging. Das Wartezimmer der Künstler, der Tonraum, das Büro von diesem Mann und jenem, die Dingsda-Abteilung, das Büro von Wem-auch-Immer, das Schreibbüro, der Raum, wo Sprecher ihre Abendanzüge aufbewahrten, die sie trugen, wenn sie auf Sendung waren – das Tempo wurde gerade einmal so weit gedrosselt, dass Maisie vor Entzücken wie verzaubert war –, dann ging es auch schon wieder weiter. Das labyrinthartige Gebäude schien im Innern viel größer zu sein, als es von der Straße aus den Anschein erweckt hatte. Das einzige Zimmer, dessen Lage sie sich sogleich einprägte, war die Cafeteria, von der ein verlockender Geruch nach gebuttertem Toast ausging.

Überall in Savoy Hill war dieser herrliche – erschreckende – Lärm und diese Hektik und das Durcheinander und die Menschen, die sich gewiss in ihrer Bedeutsamkeit und ihrem Ruhm sonnten. Alles war von einer berauschenden Wolke umgeben. Die Akzente, die Gespräche, die Geschwindigkeit. Trotz der unterschiedlichen Altersstufen haftete jedem Einzelnen das Glühen der Jugend an, das Maisie selbst mit ihren dreiundzwanzig Jahren nicht vergönnt war.

Rusty spuckte sie bei Miss Shields wieder aus, die einen Mount-Everest-hohen Stapel Unterlagen auf Maisies Schreibtisch ablud – »abtippen und abheften und sich mit den Abläufen vertraut machen« – und ihr befahl, das Wochenprogramm des Senders und Mr Reiths randvollen Terminkalender zu lesen und auswendig zu lernen, in einem Tonfall, der nahelegte, dass sie im Anschluss unter Androhung drakonischer Strafen abgefragt werden würde.

Maisie begann zu lesen, und ihre Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Fast ihre gesamte Kindheit hatte sie lesend in fensterlosen Ecken verbracht. Jetzt würde sie dafür sogar bezahlt werden.

»Miss Musgrave!«

Das Grinsen schwand aus ihrem Gesicht, und Maisie hastete zu ihrer Vorgesetzten. Mit einem Bleistift zeigte Miss Shields auf einen Stuhl und begann, ein Memo zu diktieren. Es verstand sich von selbst, dass Maisie ihren eigenen Stenoblock und Stift zückte.

Miss Shields machte in ihrem erbarmungslosen Diktat keine einzige Pause, nicht einmal, als ein dürrer, pickliger junger Mann mit einem schiefen Grinsen einen Korb hereinrollte, der unter der Last von Briefumschlägen zusammenzubrechen drohte. Er platzierte einen schwankenden Turm Briefe im drahtgeflochtenen Ablagefach auf Miss Shields’ Schreibtisch, nickte ihr dann höflich zu und drehte sich um, ohne sich auch nur im Geringsten daran zu stören, keinerlei Beachtung erfahren zu haben. Bei Maisies Anblick jedoch sah er fragend zu Miss Shields, die sich räuspernd an ihn wandte: »Gibt es etwas, Alfred?«

»Nein, Miss, das wäre alles fürs Erste«, sagte er. »Viel Glück«, flüsterte er Maisie zu, während er den Korb nach draußen manövrierte.

»Und das geht an alle Mitarbeiter der technischen Abteilung«, endete Miss Shields mit einem Fingerschnipsen. »Lesen Sie den letzten Satz bitte noch einmal vor.«

Maisies Blick huschte von den glitzernden Augen zu ihrer Kurzschrift.

»›Ich erwarte, dass Ihnen in Zukunft dank dieser Investition nicht mehr so viele technische Fehler unterlaufen werden und ich dies dem Rundfunkrat zusichern kann.‹«

»Ja.« Miss Shields nickte, während sich ein leicht enttäuschtes Runzeln auf ihrer Stirn bildete. Maisie fragte sich, um welche technischen Fehler es sich wohl handelte – der Rundfunk war so neu, wie konnte es da Fehler geben? Oder vielleicht war es genau anders herum und es strotzte nur so vor Problemen?

Miss Shields winkte Maisie zum Ablagefach für die Post.

»Wir nehmen es sehr genau, was unsere Korrespondenz betrifft. Alles wird abgestempelt und ordentlich datiert.« Sie drückte Maisie einen großen Stempel in die Hand. Das Wort »EINGEGANGEN« war dort in hübschen Großbuchstaben zu lesen, und darunter gab es winzige Rädchen, um das Datum einzustellen. »Dieser ist für Ihren Schreibtisch.« Als wäre er ein Preis. »Geben Sie jeden Morgen unverzüglich nach Ihrer Ankunft das richtige Datum ein.« Ihr Tonfall deutete an, dass ein Versäumnis ihrerseits in einer Apokalypse enden würde, die selbst den Untergang von Pompeji in den Schatten stellte.

Unter Miss Shields’ Blicken drehte Maisie behutsam die Rädchen auf den »29. Nov. 1926‹«. Ein bedeutsamer Tag.

Miss Shields fuhr mit ihrer Belehrung fort.

»Wenn Sie sicher sind, dass ein Brief gelesen worden ist, ziehen Sie eine Bleistiftlinie am Rand. Und das sehr ordentlich.« Eine gehobene Augenbraue schien Maisies Fähigkeit zur Ordentlichkeit anzuzweifeln. »Nun, dann legen Sie mal los und kümmern sich darum, dass das Memo unverzüglich getippt wird.«

Maisie nahm die Post und trug sie zu ihrem kleinen Schreibtisch. Sie war nicht sicher, was sie als Erstes tun sollte, auch wenn die Schreibmaschine, eine funkelnde schwarze Underwood mit eleganten abgerundeten Tasten, eine verführerische Verlockung darstellte. Es ist, wie Miss Jenkins im Sekretärinnenkolleg gesagt hatte. Frag niemanden nach seiner Meinung oder bitte jemanden um Hilfe.Finde einfach einen Weg, alles sofort zu erledigen.

Am späten Vormittag, als sie in eine kurze Teepause geschickt wurde, war Maisie bereits erschöpft. Vielleicht hatten all jene, die fürchteten, das Radio könnte die Menschheit in Roboter verwandeln, nicht ganz unrecht – die Mitarbeiter der BBC schienen geradezu an die Übertragungskabel angeschlossen zu sein und genauso heiß zu laufen, ohne auch nur ein einziges Mal Atem zu holen.

»Aber hallo, New York!«

Maisies Wirbelsäule drückte sich durch, und eine unheilvolle Röte kroch ihr über Hals und Wangen. Höchstwahrscheinlich war es das Privileg der Oberschicht, dachte Maisie, die Gesichtsfarbe kontrollieren zu können. Zumindest schien ihnen nie etwas peinlich zu sein.

Mr Underwood (Augen, Grinsen, Sommersprossen) schwang ein Bein über einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber.

»Die alte Streitaxt hat Sie eingestellt? Sehr schön. Sie müssen gut sein. Vielleicht probieren sie auch nur eine gewisse Pluralisierung?«

Er schien zu scherzen, und Maisie riskierte ein Lächeln.

»Cyril Underwood«, verkündete er und streckte die Hand auf eine Art aus, wie es nur Menschen können, die eine solche Geste schon mit der Muttermilch aufgesogen haben. »Ja, wie die Schreibmaschine, aber nicht unser Zweig der Familie.«

Cyril. Das passte wie die Faust aufs Auge.

»Maisie Musgrave«, sagte sie und wünschte, ihre Stimme klänge weniger zittrig.

»Wie geht’s, wie steht’s? Also! Sie stammen aus New York?«

»Nein, nicht … äh, ich bin dort aufgewachsen, größtenteils.«

»Was meinen Sie mit ›größtenteils‹?«

»Äh, also, geboren wurde ich in Toronto … Das ist in Kanada.«

»So weit gehen meine Geografiekenntnisse gerade noch«, versicherte er ihr.

Wenn ich noch mehr erröte, könnten meine Haare Feuer fangen.

Cyril lachte über seine eigenen Worte und fuhr fort: »Aber New York, das ist schon etwas, wenn man den Geschichten Glauben schenken darf. Ich will Ihnen gewiss nicht zu nahetreten, aber Sie wirken nicht wie die Sorte New Yorker, die dort beschrieben werden.«

Maisie hätte ihm am liebsten entgegengeschleudert, dass dies womöglich auch der Grund war, weshalb sie stattdessen in London wohnte. Diese Art Gedanken schossen ihr ständig ungebeten durch den Kopf und durften keinesfalls laut geäußert werden. Männer mochten keine sarkastischen Frauen. Das war die einhellige Meinung in allen Hochglanzmagazinen.

»Nun, vielleicht liegt es am Einfluss von Toronto? Aber mir … mir gefällt es hier besser.«

»Dann sind Sie ein kluges Mädchen. Der Flurfunk war ein bisschen unklar – Sie sind bei der großen Shields und den Schreibkräften, nicht wahr?«

»Nein, ich assistiere Mr Reith. Ich meine Miss Shields, aber ich helfe ihr mit Mr Reith. Und gelegentlich gehe ich auch dem Programmdirektor der Vortragsabteilung zur Hand, aber ich habe ihn noch nicht getroffen.«

Cyrils Augen funkelten. Er öffnete den Mund, dann schluckte er den Gedanken mit dem eindeutig verschmitzten Grinsen eines Schuljungen hinunter. Er erhob sich und tippte sich zum Abschied formvollendet die Hand an die Schläfe, eine Geste, von der sie hoffte, sie sei freundschaftlich gemeint, obwohl sie eher ironisch wirkte.

»Viel Glück, Miss Musgrave, und willkommen im Irrenhaus. Ich hoffe, Sie genießen es!«

»Gewiss, wenn es hier solche Menschen gibt«, antwortete sie, aber im leisen Flüsterton und sicheren Abstand zu seinem Rücken.

Fünf Minuten später hatte sie vergessen, dass sie überhaupt jemals gesessen hatte. Kein Olympionike hatte jemals härter trainiert als sie unter Miss Shields’ strengem Auge. Genauso wenig gab es irgendjemanden in Savoy Hill, der sich langsamer als im leichten Galopp bewegte, als wollten sie die Zukunft unbedingt schneller erreichen und sicherstellen, dass sie nicht bereits vergangen war, wenn sie ankamen.

Maisie bemerkte die üblichen Blicke, die ihr verstohlen zugeworfen wurden, den üblichen Anflug eines Lächelns. Und natürlich das unterdrückte Kichern. Ihre Kleidung, ihre Nase, ihre Nichtigkeit, es war immer das Gleiche, änderte sich nie. Doch es spielte keine Rolle. Das unsichtbare Mädchen würde wieder die Oberhand gewinnen. Sie konzentrierte sich darauf, den Kopf gesenkt zu halten, während sie, regelrecht an die Wand geschmiegt, durch die Flure hastete und das uralte Echo der Torontoer Kinderbande ausblendete, die sie immer gejagt hatte: Maisie-Maus! Maisie-Maus! Lauf ruhig weg, es gibt kein Versteck!

O doch, gibt es schon.

Sie schloss die Tür zu ihrer winzigen Zufluchtsstätte und grinste in sich hinein, als sie sich einem weiteren Berg Tipparbeit zuwandte.

Allzu bald wurde sie zurück in die Korridore geworfen. Es war noch nicht einmal Zeit für die Mittagspause, und Maisie zog bereits in Erwägung, dem Krankenhaus zu schreiben und um etwas Ephedrin zu bitten.

»Hier.« Miss Shields drückte ihr mehrere schwere Aktenmappen in die Arme, aus denen trotz Schnürbindung unzählige Papiere lugten, die nur darauf warteten, befreit zu werden. »Diese gehören in die Vortragsabteilung. Ich weiß nicht, wie sie hier gelandet sein können. Oh, und das.« Sie legte einen großen braunen Umschlag darauf, auf dem die beeindruckenden Worte prangten: »Hauspost-Memo: Dir. Vorträge H. Matheson«, und ließ ein verächtliches Schnauben folgen. »Wahrscheinlich brauchen Sie einen Stenoblock. Sie erinnern sich, wo die Vortragsabteilung ist.«

Da es eine Aussage, keine Frage war, presste Maisie die Zunge an den Gaumen und nickte.

Mal sehen. Sie war auf der vierten Etage, glaube ich, am anderen Ende des Korridors. Oder nein, Augenblick mal, vielleicht war sie auch auf der anderen Seite …

Alles, was Rusty an diesem Morgen heruntergerattert hatte, lag irgendwo tief vergraben in ihrem Gehirn, wie unsortierter Hausrat für einen Flohmarkt. Niemand benutzte den Fahrstuhl – daran zumindest erinnerte sie sich –, außer man transportierte etwas Unhandliches. Es war schneller, die Treppe hinauf- und hinunterzulaufen, was noch einen Extrabonus mit sich brachte, nämlich den beeindruckenden Lärm.

Maisie ging entschlossenen Schrittes, angezogen vom Klappern lauter Schreibmaschinen und noch lauterem Geschnatter. Zu spät erkannte sie, dass sie nur Frauenstimmen gehört hatte, und dies demzufolge das Schreibbüro sein musste. Sie wurde von einer majestätischen Blondine angesprochen, einem Traum aus Rundungen und Locken und kerngesunden rosafarbenen Wangen, die Arbeit in einen Korb mit der Beschriftung »Postausgang« legte.

»Hallo! Gehören Sie zu uns?«

»Äh, nein«, murmelte Maisie. Sie konnte keine der Frauen einzeln ausmachen, aber gemeinsam strahlten sie glamourösen Zauber und Moderne aus, ein Meer aus rotem Lippenstift und klimpernden Wimpern. »Ich arbeite … äh … woanders. Vielen Dank.«

Das Interesse der kurvigen Blondine war geweckt.

»Nein! Sie müssen die Neue bei der Shields sein! Nun, ich … Was wollen Sie dann hier?«

Maisie wollte nicht sämtlichen Schreibkräften, die, falls das Vergangene ein Prolog war, das schlagende Herz von Klatsch und Tratsch in Savoy Hill waren, bereits am ersten Tag auf die Nase binden, dass sie nicht der Inbegriff an Kompetenz war, der sie gerne wäre.

»Nichts«, erwiderte sie. »Entschuldigen Sie bitte.« Sie hastete schnell davon, um einem Kichern zu entkommen.

Ein Stockwerk tiefer und im Laufschritt, um einen sonderbaren Knick im Korridor biegend, knallte Maisie, die Augen fest auf den gebohnerten Boden geheftet, mit einem Mann zusammen, der eine Tuba trug. Einer ihrer überstrapazierten Schuhe rutschte ihr vom Fuß, dann der nächste, und schließlich landete Maisie mit einem lauten »Plumps« auf dem Boden. Die Akten flogen hoch in die Luft – Dutzende an Papieren flatterten aus den Mappen, wehten auf sie herab und begruben sie wie ein Haufen Herbstblätter.

Ein melodiöses Kichern erscholl, und als Maisie aufblickte, sah sie eine Frau, der jedes Studio in Hollywood das Blaue vom Himmel versprochen hätte. Ihre dunkelroten Haare lockten sich in natürlichen Wellen, wie es nur einem Friseur aus Mayfair gelingen konnte. Riesige grüne Augen, Wimpern, die glatt als Hecken durchgegangen wären. Sie neigte den Kopf. Lange Gagatohrringe baumelten fast bis zu ihren Schultern. Selbst von weit unten am Boden und in ihrer maßlosen Demütigung wusste Maisie, dass die Strickjacke und der Rock von Chanel waren. Und ihre Strümpfe waren definitiv aus Seide.

»Brauchen Sie Hilfe?«, meldete sich ein Mann, auch wenn er nicht so weit ging, seine eigene Schachtel voller nicht identifizierbarer Gegenstände abzustellen oder auch nur neben ihr stehen zu bleiben.

Maisie kämpfte sich auf die Knie und fragte sich, ob die geringste Chance bestand, dass niemand die Löcher in ihren Schuhen bemerkt hatte.

»Nein, alles in Ordnung, vielen Dank«, sagte sie zu den Papieren auf dem Boden, während sie sie hastig zu Stapeln zusammenschob.

»Hier muss man auf Zack sein«, erklärte ihr die Chanel-Schönheit in dem aristokratischsten Akzent, den Maisie jemals gehört hatte. »Man darf nicht mal kurz blinzeln.«

»Ja, das … das merke ich auch gerade.«

»Miss Warwick!«, rief einer der Männer in einem respektvollen, wenn auch mahnenden Tonfall.

»Oh, das hier ist ein wunderbarer Ort, um sich zu bilden!«, trällerte sie, ohne auch nur im Geringsten auf ihn zu achten. »Und viel lustiger als in Cheltenham, was ich auch meinen Lehrern dort gesagt habe. Nicht dass Sie mich falsch verstehen, ich bin sicher, sie waren froh, als sie mich nicht mehr sehen mussten.« Ein weiteres melodiöses Kichern.

Maisies Knie waren wie festgefroren auf dem Boden.

»Miss Warwick!«, rief der Mann erneut.

»Sie sehen nicht typisch nach BBC aus«, fuhr sie fort. »Außer natürlich Sie arbeiten in der Cafeteria? O nein, Sie haben Akten dabei. Oh, gehen Sie mit einem Vortrag auf Sendung? Sie sehen nämlich wie ein Blaustrumpf aus. Es muss schrecklich erholsam sein, sich nicht ständig den Kopf zerbrechen zu müssen, was man anzieht. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb Sie die Zeit zum Schreiben finden oder was auch immer Sie tun.«

Noch nie hatte Maisie erlebt, wie eine Beleidigung mit so viel unbeschwerter Höflichkeit vorgebracht worden war.

»Ich … Nein«, sagte Maisie. »Ich wurde gerade von Miss Shields eingestellt.«

»Sie sind Amerikanerin!«, jauchzte die Chanel-Schönheit mit einer Freude, als hätte sie soeben Tutanchamuns Grab entdeckt.

»Kanadierin«, schnaubte Maisie störrisch und sammelte im Aufstehen die letzten Papiere ein. »Ich meine, dort wurde ich geboren.«

»Beanie, hören Sie!«, blaffte der Mann. »Ich kann mir kein Sendeloch erlauben.«

»Schon auf dem Weg!«, zwitscherte sie.

»Warten Sie!«, rief Maisie verzweifelt. »Entschuldigung, können Sie mir, äh, eigentlich suche ich die Vortragsabteilung.« Sie verbannte alles Fragende aus ihrem Ton.

»Zweiter Stock, ganz am Ende des Flurs. Können Sie nicht verfehlen – da geht es zu wie im Taubenschlag. Eine Schande, dass die Sendungen so einschläfernd sind, ich bin eher für Jazz und Hörspiele zu haben. Nicht jeder mag es, wenn immer was los ist, das verstehe ich. Ist doch auch nicht schlimm. Cheerio!«

Die Chanel-Schönheit tänzelte hinter den beiden Männern her. Trotz ihrer Besorgnis, so viel Zeit verloren zu haben, kam Maisie nicht umhin, ihr nachzustarren. Die Frau lief auf Zehenspitzen, mit eleganten kleinen Trippelschritten, um die sie jeder Tänzer des Ballets Russes beneidet hätte. Ihr Rock wippte um ihre Hüften und Knie, zum Gegenbeweis für alle Schwarzmaler, dass die neue Mode unter bestimmten Voraussetzungen die weibliche Figur durchaus in ihr schönstes Licht rücken konnte.

Wie betäubt begab Maisie sich auf den Weg in die Vortragsabteilung und klammerte sich an der verzweifelten Hoffnung fest, sie könnte heimlich die Papiere sortieren, die sie fallen gelassen hatte. Miss Shields war gewiss der Ansicht, dass ein solcher Frevel mit dem Abhacken der Hände bestraft werden müsste, bevor man sie geteert und gefedert auf die Straße warf.

Obwohl die in Chanel gehüllte »Beanie« die Vortragsabteilung als einen Taubenschlag bezeichnet hatte, war es dort still wie in einer Kirche, und Maisie schlich auf Zehenspitzen weiter.

Wie eine Kirchenmaus.

Belohnt wurde sie schließlich mit einem makellos sauberen, polierten Schild an einer Tür, das in seiner Neuheit nur so glänzte: VORTRAGSDIREKTOR – H. MATHESON. Maisie holte tief Atem und ging im Kopf eine Entschuldigung durch, während sie langsam an das Büro herantrat.