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Lara Cardella

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Beschreibung

Eine junge Frau rebelliert gegen die Atmosphäre von Falschheit und Lügen, in der ihre Familie, ihre Freunde leben. Mit einem Trick verschafft sie sich die Narrenfreiheit, allen die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Ein fatales Spiel, dessen Opfer sie selbst wird. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Lara Cardella

Ragazza

Roman

Aus dem Italienischen von Christa Efkemann

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Junior [...]Lieg nicht so regungslos [...]Deianira ist ein Mädchen [...]Oh, wäre Deianira doch [...]Und morgen ist heute, [...]Der Sonntag beginnt für [...]Giovanni hätte diesmal über [...]Es ist Montag. Die [...]Sie wacht sehr spät [...]Um acht Uhr ist [...]Am nächsten Morgen wacht [...]Der Hochzeitstag ihrer Eltern [...]Der Morgen des siebenundzwanzigsten [...]Ganz ungewöhnlich für sie, [...]Am nächsten Morgen wacht [...]Am nächsten Morgen ist [...]Sie schläft sehr lange, [...]Der nächste Tag war [...]Alle waren bewegt, weinten, [...]

Für Junior

und mit einem Dankesgruß

an Sergio Perrone

Lieg nicht so regungslos da, Deianira! Hör auf, diese schreckliche Decke anzustarren, diese blaue Lampe, direkt über deinem Kopf … Deianira, beweg dich!

Du kannst nicht den ganzen Tag lang nur rauchen, zwischen tausend Fragen, auf die dir keiner eine Antwort geben kann, und dieser Leere in deinem Kopf. Deianira, steh auf! Du hast nicht das Recht, deine Zeit zu vergeuden, um auf das große Ereignis zu warten, das niemals kommen wird. Du weißt ganz genau, nichts wird sich ereignen, wenn du nicht lebst. Also, Deianira, lebe! Verwandele deinen Zorn gegen diese Leere in eine lebendige Kraft! Du glaubst, du schaffst es nicht. Warum hörst du nicht einfach auf damit, dich zu verstellen, warum wirst du nicht endlich wahr, wirklich, spontan, ehrlich, lebendig, so, wie du sein möchtest?

Doch du bleibst weiter auf deinem Bett liegen, starrst die Decke an, bläst Rauchringe in die Luft und fragst dich, für was du eigentlich existierst, starrst ins Leere, lebst nicht.

Deianira ist ein Mädchen wie viele. So jedenfalls wird sie von anderen gesehen: genauso hübsch wie andere Mädchen, genauso sympathisch, unverklemmt, eben normal. Aber was ist normal? Normal ist das, was im Rahmen bleibt, nie übertrieben und meistens angepaßt. Deianira gibt nie unhöfliche Antworten, weil sie keinem weh tun will, oder, was noch viel wahrscheinlicher ist, weil sie Angst hat. Angst davor, nicht normal zu sein, nicht akzeptiert zu werden, nicht geliebt zu werden. Also macht sie allen etwas vor.

Ihren Eltern gegenüber spielt sie die Rolle der lieben Tochter, mit kurzen, sehr kurzen, hysterischen Anfällen, denen jedoch keiner mehr Beachtung schenkt. Ihren Freundinnen gegenüber ist sie die beste Vertraute, die geduldige Ratgeberin, ausgeglichen, freundlich und unaufrichtig. Und für Giovanni und ihre ehemaligen Liebhaber verwandelt sie sich in die Sanfte und Nachgiebige, die nicht eben heißblütige, dafür aber fügsame und anspruchslose Geliebte. Wenn sie mit sich alleine ist, tut sie so, als ob sie ehrlich zu sich wäre, um gleich darauf wieder, aus Angst und um ihre Ruhe zu haben, zu jedem Kompromiß bereit zu sein.

Sie gefällt euch nicht, diese Deianira? Kein Wunder, denn sie mag sich selbst nicht. Oder, besser gesagt, sie würde sich schon mögen, sie wäre sogar stolz auf sich, wenn sie es nur einmal schaffen würde, jemandem auf den Kopf zu ihre eigene Meinung zu sagen. Das aber gelingt ihr nicht, und deshalb ist sie sich selbst zuwider.

Ein paarmal, um bei der Wahrheit zu bleiben, hat sie es versucht. Nichts Besonderes: Angela hatte ein unmögliches Kleid an, und Deianira versuchte ihren Kommentar dazu abzugeben, nicht verletzend, um Gottes willen, aber immerhin ehrlich. Trotzdem … Es fehlten ihr die Worte. Es gelang ihr einfach nicht, ihre Gedanken in Worte zu fassen; es kam nur ein: »Wie hübsch du heute abend aussiehst, Angela!« dabei heraus, das die Freundin mit Freude erfüllte. Deianira fühlte sich aber nur noch nutzloser und niedergeschlagener als zuvor.

Im übrigen ist Deianira sechsundzwanzig Jahre alt, und wenn man sechsundzwanzig Jahre damit verbracht hat, eine bestimmte Rolle zu spielen, ist es gar nicht leicht, sich davon zu befreien. Für ihre Eltern wäre das, gelinde gesagt, ein Schock.

Da ist Deianiras Mutter, eine freundliche und gute Frau. Sie gehört zu dieser Art von Müttern, die Kuchen für die Freundinnen ihrer Töchter backen und denen die Freudentränen in den Augen stehen, wenn die einzige, angebetete Tochter zum ersten Mal einen Büstenhalter anzieht, natürlich weiß und mit Spitzen verziert; natürlich schon vor ewigen Zeiten gekauft und für diese Gelegenheit bereitgehalten. Genau dieser Typ von Frau ist Deianiras Mutter.

Sie hat sehr jung, und selbstverständlich aus Liebe, einen autoritären Mann geheiratet, der sie in jeder Hinsicht dominiert. Aber das macht ihr nichts aus. Sie mag es, beschützt zu werden, zu wissen, da ist jemand, der stärker ist als sie und besser in der Lage, sich um das Wohl der geliebten Familie zu kümmern. Denn die Sorge um die Familie ist ihre einzige immerwährende Beschäftigung. Sicher, da gibt es auch die eine oder andere Bekannte, aber wenn sich das Gespräch nicht gerade um das Rezept für einen neu ausprobierten Nachtisch dreht, dann mit Sicherheit um die, immer ganz und gar aufregenden, Erlebnisse der Tochter. Es hat nicht den Anschein, daß die Mutter sich in der Lage, in der sie sich nun einmal befindet, nicht wohl fühlt. Manchmal, ganz selten, versucht sie, ihre Meinung zu sagen. Dann hebt sie ein wenig, nur ein wenig, die Stimme. Doch kaum hat sie bemerkt, daß die Familienmitglieder sie überrascht oder sogar leicht besorgt anschauen, zieht sie sich in ihr bequemes Schweigen zurück und wird wieder diese allen wohlvertraute, liebe kleine Frau.

Versteckt auch sie sich hinter einer Maske? Sicher, zweifellos, aber, die Glückliche!, entweder bemerkt sie es nicht, oder es ist ihr egal. Jedenfalls ist sie mit sich zufrieden. Was kann das Leben einer solchen Frau aus der Bahn werfen? Wie kann Deianira ihr, morgen früh, ohne Umschweife ins Gesicht sagen, daß sie es nicht mehr ertragen kann, sie allen anderen gegenüber so gefügig zu sehen, so unterwürfig, so verdammt gut? Sie geht jedem Streit aus dem Weg, sie findet immer eine Rechtfertigung für das miese Benehmen anderer, selbst für die hinterhältigsten und gemeinsten Leute. So ist sie nun mal. Als sie mit Deianira schwanger war, hat sie nicht ein einziges Mal unter Übelkeit gelitten, hat sich bis zum letzten Tag um den Haushalt gekümmert, sich noch im Kreißsaal um den Ehemann gesorgt und während der Geburt keinen Laut von sich gegeben, um nur ja keinem zur Last zu fallen. Man müßte geradezu gefühllos sein, um ihr weh zu tun, und Deianira ist alles andere als gefühllos.

Deianiras Vater ist ganz anders als die Mutter. Er ist autoritär, auch ein wenig arrogant, aber nur in seinen eigenen vier Wänden. Im Büro ist er wie umgewandelt. Als ein Löwe verläßt er sein Zuhause und betritt im Schafpelz das Büro seines Direktors. Nein, ein Speichellecker ist er nicht, das nicht, aber auch ihm gelingt es nicht, sich gegen bestimmte Übergriffe aufzulehnen, gegen ein bestimmtes Verhalten, das ihn zutiefst erniedrigt. Zu Hause weiß jeder, daß der hochverehrte Doktor Fattore den Vater fast wie einen Sklaven behandelt, doch sie tun so, als hätten sie keine Ahnung davon und glaubten an sein heldenhaftes Geprahle.

Nur zu gerne würde Deianira ihren Vater verteidigen, ihn aus dieser Knechtschaft befreien. Aber wie, wenn der Vater als erster bereit ist einzuräumen, zwar selten, aber immerhin räumt er es ein, daß die Not einen Menschen zum Wurm machen kann? Denn dieser Doktor Fattore kann es sich erlauben, zu den unmöglichsten Zeiten unangemeldet zu ihnen nach Hause zu kommen, um ihrem Vater zu befehlen, auch nachts zu arbeiten. Und die ganze Familie, anstatt ihn mit einem Fußtritt hinauszubefördern, fängt an, ihm für diesen so höchst erfreulichen und unerwarteten Besuch auch noch zu danken: ›Warum kommen Sie nicht öfter vorbei?‹, ›Was dürfen wir Ihnen anbieten?‹, ›Bleiben Sie doch zum Abendessen.‹

Warum, Deianira? Es wäre doch so einfach, ihn zum Teufel zu schicken. Aber das kann und darf man nicht, denn diesmal geht es ums Geld, und von der Freiheit alleine ist noch keiner satt geworden.

Sich gegen den Vater auflehnen … Er, der so genau und übertrieben penibel ist, der die Ordnung liebt, seine Arbeitspläne, und schon jetzt genau weiß, was in drei Monaten um drei Uhr nachmittags passieren wird. Vielleicht langweilt er sich sogar ein wenig, weil seine Tage immer alle so gleich sind und so grau. Aber warum solltest ausgerechnet du es sein, Deianira, die sein Leben verändert?

Weil du ihn liebst, Deianira, deshalb! Denn er ist im Grunde ein liebenswerter Mann, intelligent und sogar großzügig, und er hat es nicht verdient, so behandelt zu werden! Aber kannst du dir diesen Mann von fünfundfünfzig Jahren auf Arbeitssuche vorstellen? Es wäre sein Ende. Er würde sich überflüssig vorkommen, und seine ganze Selbstsicherheit würde sich in Luft auflösen. Und die ganzen Opfer, die er für euch gebracht hat, wären umsonst gewesen. Diese Wohnung hat er für euch gekauft, hat wie ein Verrückter gearbeitet, auch für dich, um dir die Ausbildung zu bezahlen, um es dir an nichts fehlen zu lassen, um dir ein angenehmes Leben zu garantieren. Was ist schon dagegen zu sagen, Deianira?

Und nun zu deinen Freunden. Beginnen wir mit Angela, die sich immer nur dann bei dir meldet, wenn sie mit Piero gestritten hat. Deine Aufgabe ist es dann, tausend Entschuldigungsgründe für ihn zu erfinden und sie, die längst schon selbst überzeugt ist, noch einmal davon zu überzeugen, zu ihm zu gehen, um ihn um Verzeihung zu bitten, obwohl auch er es verdient hätte, zur Hölle zu fahren.

Jeder weiß über Piero Bescheid, alle wissen es, und vor allem du, Deianira. Denn es ist noch keine drei Monate her, daß er es auch bei dir probiert hat. Seine amourösen Abenteuer, bei denen er Angela betrügt, sind in aller Munde, aber keiner bringt den Mut auf, es der mitzuteilen, die es am meisten betrifft.

Du meinst, sie würde es nicht verkraften, die Ärmste, sie ist ja so verliebt in ihn. Aber welche Zukunft bescherst du ihr, wenn du schweigst, ihn deckst, dich zu seiner Komplizin machst? Sicher, es stimmt, sie verschließt die Augen vor der Wahrheit, und du hast auf jede Art und Weise versucht, es ihr zu verstehen zu geben. Aber warum sagst du es ihr nicht ein einziges Mal klar und deutlich? Schrei ihr den Ekel ins Gesicht, den du an jenem Abend empfunden hast, als du wieder einmal, wie üblich, als Ratgeberin und Friedensstifterin zu ihm gegangen bist, um ihn davon zu überzeugen, zu Angela zurückzukehren.

Er hatte dich gebeten, im Auto darüber zu sprechen, war mit dir zu dieser etwas abgelegenen, schummrigen Stelle gefahren, weil ihr dort angeblich mehr Ruhe hättet, und du hattest nicht gleich verstanden. Du hast dich sogar noch gefreut, weil es so schien, als ob er bereit wäre, dir zuzuhören. Fünf Minuten lang hat er dich über Angela reden lassen, um dann über dich herzufallen und dich mit seinen gierigen, schlüpfrigen Händen zu betatschen, bis du davongerannt bist. Du hast dich alleine und von allen verraten gefühlt. Aber vor allem tat es dir um Angela leid, und trotzdem hattest du sogar noch Schuldgefühle. Die ganze Nacht über hast du dich herumgequält, weil du nicht wußtest, was du tun solltest, wie du es ihr beibringen solltest, ohne ihr zu weh zu tun.

Natürlich hast du ihr am Ende gar nichts gesagt, und sie war dir außerordentlich dankbar dafür, denn genau einen Tag später hat er sich wieder bei ihr gemeldet, um sie zu bitten, sich wieder mit ihm zu versöhnen. Erinnerst du dich noch? Sie wollte von dir wissen, was du ihm denn so Überzeugendes gesagt hattest, das ihn umgestimmt hat.

Sag ihr, was für einer dieser Piero wirklich ist! Sie wird von allen, bei denen er es auch probiert hat, nichts anderes als die volle Bestätigung für seine Umtriebe erhalten. Aber das wirst du nicht tun. Denn Angela ist verliebt in ihn, seit einer Ewigkeit ist sie schon mit ihm zusammen, und ein solcher Schlag würde sie umbringen.

Und was ist mit Anna? Warum sagst du ihr nicht ein für allemal, daß du es endgültig leid bist, sie über ihren Andrea reden zu hören, der nichts von ihr wissen will, der sich sogar hinter ihrem Rücken bei seinen Freunden über sie lustig macht?

Anna redet, redet und redet und erzählt dir tausend Belanglosigkeiten über ihre angeblichen Verabredungen mit Andrea, die du inzwischen schon alle auswendig kennst, weil es immer dieselben sind. Für vier, fünf Tage hatte er ein Verhältnis mit ihr, und dann ging sie ihm auf die Nerven, weil Anna allen auf die Nerven geht. Jetzt versucht er, ihr aus dem Weg zu gehen. Er meidet sie wie die Pest und grüßt sie nicht einmal mehr. Wie schafft sie es bloß, sich immer noch Illusionen zu machen?

Aber du, Deianira, wie könntest du sie mit den Tatsachen konfrontieren? Wie könntest du ihren großen Traum zerstören, obwohl du doch weißt, daß sie nur für ihn lebt? Nein, das kannst du unmöglich tun.

Und damit kommen wir zu Stefania, die einzige deiner Freundinnen, die verheiratet ist. Ständig beschwert sie sich über die unbegründete Eifersucht von Franco, ihrem Mann, der sie nicht mal mehr alleine aus dem Haus gehen läßt und ihr dauernd ihre kleinen Liebesgeschichten vorwirft, selbst die noch aus den Zeiten, als sie fünfzehn war und ihn noch gar nicht kannte, noch nicht einmal wußte, daß es ihn überhaupt gab.

Doch nicht zuletzt liebt sie Franco auch wegen seiner krankhaften Eifersucht. Ein dreifaches Band aus Haß, Liebe und heftiger sexueller Leidenschaft bindet sie an ihn. Wer bist du, daß du ihr sagen könntest, es sei nicht richtig, sich so unterdrücken zu lassen? Wer bist du, daß du das Recht hättest, dich zwischen diese beiden zu stellen?

Und dann Tiziana. Ihr müßtest du wirklich helfen. Anzeigen müßtest du diese widerliche Familie, die ihr keinen Raum zu leben läßt. Du kennst ihre Kindheit, du weißt, wie unmißverständlich sie ihr Vater als Achtjährige mit der Demonstration an ihrem eigenen Körper aufgeklärt hat. Du weißt, daß ihre Mutter es weiß, und weißt auch, daß der Vater sie immer weiter mißbraucht, weißt, daß sie nicht den Mut hat, sich dagegen aufzulehnen, und was machst du?

Du tust gar nichts, du hilfst ihr nicht. Was würde wohl mit ihr geschehen, wenn du etwas dagegen unternehmen würdest? Du meinst, sie stünde ganz alleine da, ihre Familie würde sie fallenlassen, sie müßte von hier weggehen, und keiner würde ihr beistehen? Das kannst du wirklich nicht tun, nein, das kannst du nicht tun.

Und warum sollten wir nicht über Silvano reden, deinen einzigen wirklichen Freund? Diesen großartigen jungen Mann von sechsundzwanzig Jahren, den du jeden Tag ein bißchen mehr sterben siehst, weil er Drogen nimmt, weil er über Joints zum Kokain gekommen und nun beim Heroin gelandet ist.

Jeden Tag siehst du ihn fahler werden, nur noch ein Schatten seiner selbst, der Schatten des Silvano, der er einmal war. Ja, da ist seine Familie, seine Mutter, die im ganzen Ort als eine Frau bekannt ist, die ihren Mann steht. Eine Frau, die es geschafft hat, ihre drei kleinen Kinder alleine großzuziehen, weil ihr Mann sie wegen einer anderen verlassen hat. Silvanos Brüder sind Zwillinge und nur zwei Jahre jünger als er, aber keiner von ihnen scheint zu bemerken, was da mit ihm vor sich geht.

In diesem Fall hast du wirklich versucht, etwas zu unternehmen. Du hast mit einem der beiden Brüder gesprochen und ihm die Situation erklärt, aber er hat dich gebeten, Stillschweigen darüber zu bewahren, damit Silvano seinen Arbeitsplatz nicht verliert, aber vor allem, damit die Ehre der Familie gewahrt bleibt.

Er stirbt, und sie scheren sich einen Teufel darum, und du fühlst dich so klein und so dumm. Du weißt nicht, was du tun sollst, um ihm zu helfen, denn du hast ihn gern. Für dich ist es völlig egal, ob er seine Arbeit verliert, und auf die Ehre der Familie pfeifst du. Dich interessiert nur er, Silvano, der sich selbst überlassen ist. Am liebsten würdest du hinter ihm herlaufen und dir einen nach dem anderen diese Bastarde greifen, die ihn vor deinen Augen langsam umbringen, sie mit deinen eigenen Händen erwürgen, denn sie anzuzeigen würde nichts nützen, erwürgen müßte man sie.

Aber dann, Deianira, fällt dir wieder ein, daß selbst seine Familienangehörigen ihre Hände in Unschuld waschen. Du hast mit ihm geredet, und er hat dir tausendmal versprochen, damit aufzuhören. Dann siehst du ihn nach einiger Zeit wieder, und du begreifst: Er hat wieder damit angefangen. Was kannst du schon machen, Deianira, gegen diese beschissene Stadt, gegen diese beschissenen Leute, du, alleine gegen alle? Also heuchelst du auch ihm gegenüber, auch Silvano gegenüber.

Doch nun wollen wir über Giovanni reden, deinen Giovanni, diesen nichtssagenden Giovanni, mit dem du jetzt seit zwei Monaten zusammen bist. Du tust so, als ob er ein toller Hecht wäre, obwohl du ganz genau weißt, daß er eine Null ist, eine Mischung aus Dummheit, Oberflächlichkeit und Ignoranz in einem ganz passablen Körper.

Dieser Giovanni ist in allem banal, sozusagen die leibhaftig gewordene Banalität. Braune Haare, nicht glatt, nicht gelockt, Einheitsschnitt. Braune Augen, nicht klein, nicht groß, ohne besondere Ausdruckskraft, die Lippen weder schmal noch üppig, vielleicht eher schmal als üppig, und die Nase, natürlich, weder klein noch groß. Alles in seinem Gesicht scheint nur aus Zufall an den richtigen Platz geraten zu sein, und das schönste daran ist: In all dieser Banalität gibt es nicht einen einzigen Funken Harmonie. Seine Augen könnten genausogut grün, blau, grau oder gelb sein, nichts würde sich ändern.

Häßlich allerdings ist er nicht, leider! Denn die Häßlichkeit ist schon ein Unterscheidungsmerkmal. Er aber ist einfach nur banal, und so ist auch die Art, wie er sich kleidet. Alles Markenware, wohlgemerkt. Einer wie er, ohne eigene Persönlichkeit, glaubt das nötig zu haben, ein Nichts und ein Niemand bleibt er aber deshalb trotzdem. Es liegt auch nicht an den Farben, die er trägt, sicher ohne eine bestimmte Vorliebe, er ist es, er ganz allein, der auch den schönsten und originellsten Kopf farblos erscheinen läßt.

Es mag daran liegen, wie er läuft, einen Fuß dem anderen folgen läßt, der seinerseits wieder dem Fuß irgendeines anderen folgt, unentschlossen selbst noch in der Entscheidung, wohin er gehen soll. Es mag an diesen Armen liegen, die an seinem Körper herunterbaumeln und nicht wissen, wie sie sich nützlich machen sollen, oder an seiner völligen Humorlosigkeit.

Aber an was bloß mag es gelegen haben, daß Deianira sich in einen solchen Niemand verliebt hat?

Es lag an der Phantasie. Nein, nicht an der von Giovanni, denn auch darin ist er eine absolute Null. Es lag an Deianiras Phantasie, denn sie besitzt diese angeborene Bereitschaft, sich in die unscheinbarsten Wesen auf dieser Welt zu vernarren, weil sie zärtliche Gefühle in ihr wecken. Sie hält sie für unverstanden und erhebt sie in einem Maße zu einem Mythos, daß man wirklich glauben könnte, das achte, neunte oder zehnte Weltwunder vor sich zu haben. Deshalb hat Deianira mit ihren sechsundzwanzig Jahren auch schon eine ganze Kollektion von solchen Typen. Alle gleich, alle identisch, nur die Namen verändern sich. Doch auch Deianiras Überzeugung, den einzigen und wahren gefunden zu haben, bleibt immer dieselbe, unerschütterlich so lange, bis sie der Sache schließlich überdrüssig wird.

Dann allerdings fangen die Probleme an, denn Deianira ist nicht die Art von Mensch, die rundheraus sagt: »Mir reicht’s.« Sie nicht. Sie dreht den Spieß um, versucht unausstehlich zu sein, versucht alles, um verlassen zu werden, auf eine Weise, daß ihrem jeweiligen Liebhaber zumindest die Genugtuung bleibt, sagen zu können, er sei es gewesen, der sich von ihr getrennt hat, weil er sie satt hatte.

Das ist auch der Grund, warum sie nicht nur den Ruf genießt, von allen verlassen zu werden, sondern überdies auch noch für eine Art gefühlloses Monster gehalten wird, weil sie ihren, ach, so tragisch zu Ende gegangenen Liebschaften keine Träne hinterherweint.

Ein Beispiel: Da begann ihr Dasein als große Liebende mit vierzehn, als sie ihr Herz und nicht wenige Unterrichtsstunden wegen eines achtzehnjährigen Giovanni-Modells verlor. Großes Herzklopfen, dicht beschriebene Tagebuchseiten, die der ersten Verabredung, dem ersten Wortwechsel gewidmet sind, und schon gleich darauf das erste Problem: Deianira weiß nicht, wie man küßt und gesteht es auch treuherzig ein.

Vielleicht hat ihr Trauma der Ehrlichkeit gegenüber hier seinen Ursprung, denn der Junge antwortete ihr, er habe keine Lust, bestimmte Dinge zu erklären. Hals über Kopf verließ Deianira jedenfalls den romantischen Ort dieses ersten Stelldicheins, um untröstlich weitere Seiten ihres Tagebuches zu füllen.

Doch nach ein paar Tagen hatte sich der Typ plötzlich auf seine große Berufung als Lehrmeister besonnen. Deianira war darüber natürlich überglücklich, aber war es etwa ihre Schuld, wenn sie schon nach einer Woche des Unterrichts überdrüssig war?

Wie aber sollte sie ihm das beibringen? Sie dachte, es würde ihn vielleicht entmutigen, wenn sie bei seinen Annäherungsversuchen zu Eis erstarrte. Die Marmorstatue zu spielen, fiel ihr wirklich nicht schwer, doch das erhoffte Resultat blieb aus. Ihre Kälte wurde mit Nachgiebigkeit verwechselt, und ihr Verehrer profitierte so lange davon, bis die Statue schließlich Einhalt gebot.

Unter dem Vorwand, lernen zu müssen, wegen des Nachholbedarfs in der Schule, wegen der Vorwürfe der Eltern und Lehrer, sagte sie immer öfter die Verabredungen ab und ließ sich schließlich eine ganze Woche lang nicht mehr sehen. Und diesmal hatte sie mehr Glück. Ihr Verehrer hatte inzwischen eine Klassenkameradin gefunden, die entgegenkommender war als sie.

Sofort zog Deianira ihre Schlüsse aus dieser ersten Erfahrung. Vor allem begriff sie, daß man, um einem Jungen zu gefallen, alles ihm überlassen muß, und, was noch wichtiger ist, wenn man ihn loswerden will, nichts anderes tun darf, als darauf zu warten, daß er der Sache überdrüssig wird und sich schnellstens einen Ersatz sucht.

Alles funktionierte bestens mit diesem Glückssurrogat, das sie da für sich erfunden hatte, bis sie schließlich ihre ersten wirklichen sexuellen Erfahrungen machte.

Deianira war, weiß Gott, nicht liebestoll, aber irgendeinen gesunden sexuellen Instinkt mußte selbst sie mitbekommen haben. So begann sie sich nach den jeweiligen Treffen mit ihren wenig berauschenden Verehrern selbst zu befriedigen, und stellte dabei zu ihrer größten Überraschung und zu ihrem Leidwesen fest, daß sie mit sich selbst in der Lage war, Lust zu empfinden, mit den Jungens aber so gut wie nichts empfand.

Sicher, hin und wieder verspürte sie den Wunsch, selbst die Initiative zu ergreifen, aber ihre Erfahrungen und die ausgezeichneten Resultate in Sachen Zufriedenstellung des anderen hielten sie davon ab, sich auf Neuland vorzuwagen. Um es kurz zu machen, Deianira verbrachte auch ihr zwanzigstes Lebensjahr noch als Jungfrau, mal abgesehen von den onanistischen Praktiken, die sie sich, mit großen Gewissensbissen, nachts gönnte, heimlich in ihrem Zimmer, im Schutz der Dunkelheit, unter einem Berg von Decken im Winter und nur einem Bettuch im Sommer, und mit einem immer wachen Ohr auf die plötzlichen Schritte der Eltern, die hin und wieder nachts aufstanden.

Mit einundzwanzig dann die große Wende. Das Fallen des letzten Tabus mit Bruno, dem üblichen Giovanni-Modell, ausgestattet mit demselben Mangel an Sensibilität und derselben Gleichgültigkeit ihren Bedürfnissen gegenüber. Die Szenerie: Schmutzige, unaufgeräumte, völlig verwahrloste, miefige Wohnung, von einem Freund Bruno überlassen. Fleckiges Bettzeug, total verdreckt, kein Licht, weil die Lampe kaputt war, dafür ein laufender Fernsehapparat, um wer weiß was für eine Atmosphäre zu erzeugen.

Zwischen einem Schmerzensschrei (ehrlich) und einem freudigen ›Ah‹ (geheuchelt) von Deianira und tausend lustvollen ›Aahs‹ (ehrlich) von diesem Bruno, vollzog sich das unvergeßliche, phantastische, einzigartige ›erste Mal‹ Deianiras. Kaum Zeit, um die Blutflecken aus dem Bettuch auszuwaschen (dem Freund wäre es wahrscheinlich egal gewesen, aber Deianira fühlte sich so verlegen und schmutzig, daß sie am liebsten gleich die ganze Wohnung saubergemacht hätte), eine Zigarette, und dann nichts wie weg.

Keine gefüllten Tagebuchseiten mehr, dafür aber tausend Träumereien und Gedanken, um diesen Alptraum in ein zauberhaftes Erlebnis zu verwandeln. Kein einfaches Unterfangen, aber Deianira gelang es, und es gelang ihr so gut, daß sie fast glücklich war, ja, glücklich, ihrem Freund dabei zuzusehen, wie er sich vergnügte, während sie Glücksschauer heuchelte, um ihn nicht zu enttäuschen. Aber wie lange konnte eine solche Geschichte dauern, die sich ausschließlich innerhalb der vier Wände einer schmutzigen Wohnung abspielte?

Sie dauerte drei Monate lang. Dann, inzwischen immer mehr darin bewandert, wie man es anstellt, verlassen zu werden, hörte Deianira damit auf, Genuß zu heucheln, und Bruno war binnen kurzem davon überzeugt, eine Frigide im Bett zu haben. Nicht, daß ihm das besonders viel ausgemacht hätte, aber auch er fand schnell etwas Besseres und befreite sich von Deianira. Vor allem aber befreite er Deianira von sich. Sechs Monate Pause für unsere liebe Freundin, und siehe da, Fabio taucht auf, der einzige intelligente Mann, den Deianira jemals hatte. Ja, tatsächlich, zwischen all diesen Idioten ist es Deianira, wahrscheinlich aus Versehen, zumindest einmal gelungen, einen intelligenten Mann zu ergattern. Eine Beziehung von zwei Wochen. Dann war der Intelligente es leid, einen Eisklotz unter sich zu haben, der sich vergeblich abzappelte, und teilte ihr mit, daß er unter einer Beziehung etwas anderes verstand.

Für mindestens weitere vier Monate war Deianira geschockt. Das heißt, so lange, bis sie auf ein weiteres Giovanni-Modell traf, welches ihr wieder die Überzeugung zurückgab, daß ihre vorherigen Erfahrungen doch ein ausgezeichnetes Konzept abgegeben hatten, das es lohnte, weiterverfolgt zu werden.

Die Beziehung mit diesem Jungen zog sich dank seiner Zähigkeit sehr lange, fast drei Jahre lang, hin. Er ließ sich nicht von Deianiras Kälte entmutigen, fand keine andere, mit der er sie hätte ersetzen können, und, wer weiß, vielleicht war er sogar ein wenig in sie verliebt. Aber Deianira fielen hin und wieder die Worte von Fabio, dem Intelligenten, ein. Sie dachte über sein Verhalten nach, fragte sich, was sie eigentlich wirklich vom Leben erwartete, und vor allem langweilte sie sich. O Gott, wie sehr sie sich langweilte!

Es war nicht nur die Beziehung alleine, nein, es war wirklich das Leben selbst, die Art, wie sie ihr Leben führte, die sie langweilte. Dazu kam der Ruf, den sie sich geschaffen hatte: Deianira war eine, die jeder haben konnte, die sich mit jedem einließ, eine, die bestimmt niemals heiraten würde. Vielleicht war sogar etwas Wahres dran, aber mal abgesehen davon, wen hätte sie auch heiraten sollen, wenn alle sie nur langweilten?

Was tat sie nicht alles, um ihre Liebesgeschichten aufregender zu machen. Sie selbst spielte ihre Rolle perfekt, es waren ihre Partner, die ihr nie ebenbürtig waren.

Nachdem es ihr nun endlich gelungen war, den Jungen loszuwerden, indem sie ihm erzählte, sich in einen anderen verliebt zu haben, und sich dafür von seiner Seite einige Unfreundlichkeiten hatte anhören müssen, beschloß sie, sich eine längere Denkpause zu gönnen. Nicht, daß sie über irgend etwas Spezielles nachgedacht hätte, das nicht, sie befand sich nur auf der Suche nach einem neuen Lebensziel. Deianira hatte immer nur für andere gelebt. Sie hatte sich verliebt, sie hatte sich heftig verlieben wollen, um nicht diese erschreckende Leere in sich und um sich herum zu spüren. Jetzt, wo sie alleine war, ganz alleine mit sich, mußte sie wieder ein Zentrum finden, denn ihr Leben war wie ein Kreis, in dessen Mitte sich irgend jemand oder irgend etwas befinden mußte, das für sie eine Bedeutung hatte. Wenn dort nichts war, dann mußte sie es auf der Stelle selbst erfinden. Aber da gab es nur die Freundinnen mit ihren Problemen, die Arbeitsstelle, die sie nicht fand, die fast zu ruhige und zurückgezogene Familie. Was also konnte und sollte ihr neues Zentrum sein? Für wen oder was sollte sie leben?

So begann ein Jahr mit schlimmen Depressionen, mit einer Deianira, die sich einmal im Monat ins Bad einschloß und damit drohte, sich umzubringen. Beim ersten Mal war die einzige Person, die wirklich fast gestorben wäre, ihre Mutter. Sie weinte und schrie sogar und wäre vor Freude fast in Ohnmacht gefallen, als Deianira sich endlich dazu entschloß, die Tür zu öffnen und munter wie ein Fisch im Wasser wieder herauszukommen.

Nach den Vorwürfen des Vaters, den Tränen der Mutter und den wenig überzeugenden Erklärungen der Tochter (»Es ist nur, weil ich keine Arbeit finde«) kehrte alles wieder zur Normalität zurück, bis zum zweiten, zum dritten, dann zum vierten Versuch, bis der Sache schließlich keiner mehr Beachtung schenkte. Zu Hause und unter den Freundinnen wurde inzwischen über diese gescheiterten Selbstmordversuche wie über eine verschrobene Angewohnheit geredet, eine kleine Abwechslung, die für einen Augenblick die Monotonie des Alltags unterbricht.

So kam schließlich der große Tag heran. Deianira, immer demotivierter, verbrachte ihre Tage mit einer Zeitung und dem Durchblättern der Stellenanzeigen im Park. Sie war inzwischen schon so weit, sich mit jeder Arbeit zufriedenzugeben, und sei es auch nur, um auf irgendeine Art und Weise diese endlosen Tage herumzubringen.

Als sie auf den Ausgang des Parks zuging, folgte ihr ein junger Mann. Sie bemerkte ihn zwar, tat aber so, als hätte sie ihn nicht gesehen, denn sie ist an diese ständige, beinahe rituelle Anmache irgendwelcher Typen gewöhnt. Aber dieser Typ näherte sich ihr nicht, er folgte ihr nur.

Deianira ging zu ihrem ersten Vorstellungsgespräch, als Sekretärin für ein paar lächerliche Lire im Monat, kam unverrichteter Dinge zurück und sah sich wieder diesem jungen Mann aus dem Park gegenüber, der gut eine halbe Stunde lang auf sie gewartet hat. Sie setzte sich in eine Bar und bestellte einen Kaffee, der junge Mann folgte ihr und tat das gleiche.

Natürlich war Deianira nun sehr neugierig geworden und schon verliebt in diesen Jungen, der so merkwürdig war, so schüchtern, so anders. Sie hat ihren Kaffee ausgetrunken und weiß nicht, was sie machen soll. Hat Deianira etwa jemals unbesonnen gehandelt? Nein, das hat sie nicht. Gefolgt von dem Jungen, der sie scheinbar nicht ansprechen will, verließ sie die Bar. Szenenwechsel! Der junge Mann hat sich entschieden, und zwischen Gestammel und ein paar angedeuteten Komplimenten gelang es ihm, ihr eine Verabredung noch für denselben Abend abzuschwatzen.

Dieser junge Mann ist Giovanni, und Deianira ist nun seit zwei Monaten mit ihm zusammen und schon bei der üblichen Ermüdungsphase angekommen. Da ist ein Teil von ihr, der sich weiter etwas vormachen möchte, sich zwingen möchte, Giovanni zu lieben. Aber wie kann es einem gelingen, selbst mit dem allerbesten Willen, aus diesem Giovanni das Zentrum seines Lebens zu machen? Mal ganz abgesehen davon, daß es ihm auf sexuellem Gebiet anscheinend völlig ausreicht, sich mit seiner Marmorstatue zu vergnügen, ohne sich je zu beschweren, ist Giovanni auch die Scheinheiligkeit in Person.

Deianira mag ja bisweilen ihre guten Gründe haben, dann und wann nicht die Wahrheit zu sagen, ihre Wahrheit. Aber Giovanni ist scheinheilig von Natur aus. Er ist mit einer Clique von Freunden zusammen, von denen einige, seltsam, aber wahr, wirklich sympathisch sind, und fast könnte man meinen, er betete sie geradezu an. Er hat sie Deianira vorgestellt, als wären sie für ihn wie Brüder. Doch kaum ist er mit ihr alleine, lästert er ständig über sie, und sei es aus den nichtigsten Gründen heraus, wegen eines bestimmten Benehmens, eines Wortes oder eines Kleidungsstücks. Ansonsten kritisiert er sie ohne Unterlaß, natürlich jeweils ihrem sozialen Status entsprechend.

Nicht, daß er dabei ungerecht wäre, nein, durchaus nicht, er ist allen gegenüber gleich mies. Nur sein jeweiliger Kommentar ist unterschiedlich, und richtet sich vor allem danach, wieviel Geld einer hat. Ist einer reich, oder zumindest wohlhabend, kritisiert er dessen Auftreten, wie eingebildet der seiner Meinung nach ist und wie wichtig er sich tut. Ist einer arm, klassifiziert er ihn als einen Dummkopf ab, als einen armen Schlucker und Ignoranten und so weiter. Wie kann sich Deianira nur immer noch Illusionen über ihn machen? Aber vor allem, wie kann sie es jemals schaffen, von ihm verlassen zu werden?

Oh, wäre Deianira doch nur imstande, die Wahrheit zu sagen.

Vor allem in diesem Moment ist die Versuchung groß, riesengroß, fast unwiderstehlich. Wie jeden Nachmittag, ist die Signora Marceda gekommen, um ihre Mutter zu besuchen, und was könnte wohl, zwischen dem einen Schwätzchen und dem anderen, ein besseres Thema sein als das nun schon bedenklich fortgeschrittene Alter von Deianira und der Umstand, daß sie immer noch nicht den großen Fang gemacht und einen jungen Mann aus guter Familie gefunden hat, der sie heiratet?

»…Denn, wissen Sie, bei meiner Floriana ist es jetzt nur noch eine Frage von ein paar Wochen, und dann … Ach, es sind ja noch so viele Vorbereitungen zu treffen, ich bin schon ganz aufgeregt. Das Kleid muß ausgesucht werden, die Aussteuer, und was für eine Aussteuer! Sie wird nur das Feinste vom Feinen haben. Ja, so ist das, wenn sich die einzige Tochter verheiratet. Aber mit ein bißchen Glück werden auch Sie das eines Tages erleben, denn ich glaube fest an die göttliche Vorsehung, Sie doch bestimmt auch, oder etwa nicht? …«

Und Deianiras Mutter senkt den Kopf, denn sicher glaubt auch sie an die göttliche Vorsehung, aber sie hat es nie für ein großes Drama gehalten, eine sechsundzwanzigjährige Tochter im Haus zu haben. Eine alte Jungfer … Für eine alte Jungfer hat sie ihre Tochter nie gehalten. Sicher, sie hat sich eine gute Ehe für sie erträumt, einen netten jungen Mann, gut situiert, der sie liebt, aber sie hat sich nie Gedanken darüber gemacht, daß man ihre Tochter für eine alte Jungfer halten könnte.

Die Signora Marceda versucht, sie zu beruhigen, es fehlt nicht mehr viel, und sie schlägt ihr eine Reise nach Lourdes vor. Doch die Mutter ist nun untröstlich und Deianira kurz davor herauszuplatzen.

Sie ist zwar kurz davor, aber sie tut es nicht. Denn die Signora Marceda ist eine Nachbarin und eine gute Bekannte der Mutter, und sie gehört dieser Kategorie von Personen an, mit denen man Umgang pflegen und es sich nicht verderben sollte. Also flüchtet Deianira in ihr Zimmer und zieht sich in ihre eigene Welt zurück. Sie wirft sich aufs Bett, zündet sich eine Zigarette an, bläst Rauchringe in die Luft und sucht nach einem Traum, an den sie sich klammern könnte.

Giovanni kommt ihr in den Sinn. War es nicht doch ein großes Glück, ihn getroffen zu haben, mit ihm zusammen zu sein, so verliebt in ihn zu sein? Und im Traum gibt es keinen Widerwillen mehr, keine Mittelmäßigkeit, keine Banalität. Im Traum ist auch sie eine andere, eine Frau, die sich vollkommen ihrer selbst bewußt ist, ehrlich bis zur Brutalität, selbstsicher bis zur Arroganz, und Giovanni ist genauso wie sie. Ihr stillschweigendes gegenseitiges Einverständnis ist perfekt, denn auch er sagt nur deshalb nicht das, was er denkt, weil er niemanden verletzen will. Aber eines Tages, und dieser Tag ist nicht mehr fern, dann … Dann werden sie aufbegehren, sie beide zusammen. Ohne jegliche Vorwarnung, von einem Moment auf den anderen, werden sie verrückt spielen und ganz ehrlich sein können.

Oh, so verrückt zu sein! Die Freiheit, alles sagen zu können, und alle stehen da und senken betreten den Kopf. Aber es ist völlig egal, was sie denken, denn wichtig ist nur eines, frei reden zu können, ohne Angst, ohne Gewissensbisse und ohne Rücksichtnahme.

Das Läuten des Telefons unterbricht Deianiras Träumereien. Es ist Angela, und Deianira spielt wieder ihre Rolle: »Ciao, Angela. Nein, du störst mich überhaupt nicht, ich habe gerade gelesen. Was ist denn los? … Bitte, Angela, hör zu weinen auf, sonst kann ich dich ja gar nicht verstehen. Versuch dich zu beruhigen. Hast du etwa Streit mit deinen Eltern?«

Hofft sie damit etwa, einer weiteren Diskussion über Piero aus dem Weg gehen zu können? Aber Angela läßt sich nicht beruhigen: »Nein, was gehen mich meine Eltern an? Es geht um ihn, um Piero. Oh, wenn du wüßtest …«

Man hat es ihr also endlich erzählt! Jemand hat den Mut aufgebracht, es ihr zu sagen.

»Was ist passiert, Angela? Was hat man dir erzählt?«

»Nichts. Was hätte man mir denn erzählen sollen? Warum? Was hat Piero getan?«

Man hat es ihr also nicht gesagt. Macht nichts, eine gute Gelegenheit. Vorwärts, Deianira, sag du es ihr, los.

»Na ja … Ach, nichts. Ich hab das nur so dahingesagt. Aber was ist denn nun eigentlich passiert?«

»Nein, so nicht, Deianira. Jetzt mußt du es mir auch sagen.«

Sie fragt dich ausdrücklich danach! Rede!

»Angela, du weißt doch selbst, wie die Leute sind. Ich hörte dich weinen und dachte, jemand hat dir irgendwelche Gemeinheiten erzählt, du weißt schon, diese üblichen Lügengeschichten.«

»Ach, deswegen. Nein, es ist nur, weil ich mit diesem Mistkerl schon wieder gestritten habe!«

Gut, noch besser. Das ist genau der richtige Moment, ihr alles zu erzählen.

»Ihr habt also wieder gestritten? Und warum?«

»Weil er mich nicht heiraten will, deshalb! Er hat es mir klipp und klar gesagt. Er fühlt sich noch nicht dazu bereit, angeblich kennen wir uns noch nicht lange genug.«

»So ganz unrecht hat er da nicht.«

»Jetzt verteidigst du diesen Kerl auch noch, der mich nicht liebt und nur sein Vergnügen mit mir haben will?«

»Nein, ich meine nur, es könnte ja sein, daß es da das eine oder andere gibt, was dir bisher verborgen geblieben ist.«

Na endlich! Los, jetzt schaffst du es, ihr alles zu sagen.

»Also, hör mal, Deianira! Nach den fünf Jahren, die wir jetzt schon zusammen sind, was solllte mir da über ihn verborgen geblieben sein? Oder weißt du vielleicht etwas über ihn, was ich nicht weiß?«

»Ich? Nein, um Gottes willen. Ich meine nur, du solltest ihn nicht drängen. Ihr seid noch so jung, ihr könnt noch so viele Erfahrungen machen, andere kennenlernen.«

»Soll er sich vielleicht lieber nach einer anderen umschauen? Meinst du, ich bin nicht gut genug für ihn?«

»Aber nein, Angela, ganz im Gegenteil. Ich meinte nur …«

»Schon gut, Deianira, ich hab schon verstanden. Wie immer liegt der Fehler bei mir. Weil ich ihn zu sehr bedränge und mich an ihn klammere, vermassele ich immer alles. Bestimmt ist er jetzt fürchterlich wütend auf mich, ich muß ihn sofort um Verzeihung bitten. Wie erträgt er mich bloß? Glaubst du nicht auch, daß er mich wahnsinnig lieben muß?«

»Was? Ja, sicher.«

»Er ist ein so guter und liebenswerter Mensch. Wo findet man schon so einen wie ihn?«

»Ja, wo findet man schon so einen.«

»Na gut, entschuldige, Deianira, aber ich ruf ihn jetzt gleich an, hoffentlich verzeiht er mir. Diesmal hab ich es wirklich übertrieben, ich hab sogar mitten im Satz den Hörer aufgelegt. Ach, übrigens, wie geht’s mit Giovanni?«

»Ausgezeichnet. Wieso?«

»Nur so. Weißt du, neulich abends in der Diskothek, als du nicht mitkommen wolltest, weil du Kopfschmerzen hattest, hat er den ganzen Abend lang mit einer anderen getanzt. Wie die Kletten haben die beiden aneinandergehangen. Ich dachte, zwischen euch beiden ist es aus. Na gut, wenn nicht, um so besser. Also, ciao, wir hören wieder voneinander.«

Hoch lebe die Ehrlichkeit! So einfach ist das, sich klar und deutlich auszudrücken, und alle sind glücklich: Angela, weil sie überzeugt ist, daß es ihr Fehler war, Piero, der unwissentlich der Gefahr entronnen ist, und Giovanni, der sich nebenbei mit einer anderen amüsiert.

Und was ist mit Deianira? Ihr geht es schlecht, aber nicht aus Eifersucht. Was Giovanni macht, interessiert sie nicht. Sie ist nur die halben Sätze leid, die unausgesprochenen Wahrheiten, vor allem, wenn sie feststellen muß, wie einfach es für andere ist, jemandem die Dinge auf den Kopf zuzusagen, einem weh zu tun. Was, wenn Deianira nun wirklich in Giovanni verliebt gewesen wäre? Aber sie will sich nicht auch noch darüber Gedanken machen, vorerst reicht es ihr, begriffen zu haben, daß sie sich wohl einen anderen Mittelpunkt für ihr Leben wird suchen müssen.

Mit der Hoffnung auf eine Eingebung zur Lösung der existentiellen Probleme in ihrem Leben zündet sie sich eine Zigarette an. Die Signora Marceda ist inzwischen gegangen, es ist kurz vor sechs, und ihr Vater wird bald nach Hause kommen. Die Mutter ruft und bittet sie, ihr beim Abräumen des Kaffeegeschirrs behilflich zu sein.

Warum kann sie nicht mit ihrer Mutter reden? Warum kann sie keinem ihre Gefühle anvertrauen, warum sind die Gespräche in der Familie, mit den Freunden, mit Giovanni immer nur so verdammt oberflächlich? Geht es nur ihr alleine so? Alle um sie herum scheinen normal zu sein. Sicher, auch die anderen haben ihre Probleme, aber die sind immer so unglaublich normal, so banal und alltäglich. Warum fragt nie einer, wie es ihr geht, weil er sich wirklich für ihre Antwort interessiert? Warum kann sie immer nur antworten »Danke, mir geht es gut, und dir?« Warum muß sie das schmutzige Geschirr spülen, das die Signora Marceda hinterlassen hat, und dabei mit ihrer Mutter über nichts anderes reden als über Florianas Hochzeit, über die Gäste und was man ihr schenken könnte, ohne sich zu blamieren? Dabei weiß sie genau, daß auch die Mutter lieber über ein anderes Thema reden würde, daß die Bemerkung, die die Nachbarin hat fallen lassen, sich im Kopf der armen Frau festgesetzt hat. Sie weiß, daß sie sich nun fragt, ob ihre Tochter tatsächlich schon eine alte Jungfer ist.

Aber über ihre Gefühle haben die beiden nie miteinander gesprochen. Deianira bekommt hin und wieder einen Anruf von einem jungen Mann, und davon leiten die Eltern ab, daß ihre Tochter ein ganz normales Gefühlsleben hat. Zu Zeiten der Selbstmordversuche war die Mutter zumindest schon so weit, wenigstens in Betracht zu ziehen, dahinter könnte ein Problem mit einem Mann stecken. Aber sobald diese wahren falschen vorgetäuschten mißlungenen Selbstmordversuche ihr Ende gefunden hatten und Giovanni wieder aufgetaucht war, existierte dieses Problem nicht mehr. Und jetzt?

Die arme Frau, mit wem hätte sie über ihre Befürchtungen reden können? Ihren Mann bekümmerten nur die seltenen Fälle, in denen Deianira eine halbe Stunde über die ausgemachte Zeit hinaus nach Hause kam. Niemals hatten sie auch nur im entferntesten an die Möglichkeit gedacht, ihre Tochter könnte als alte Jungfer enden. Es galt als selbstverständlich, daß Deianira eines Tages einen netten jungen Mann mit nach Hause bringen würde und ihn mit den Worten »Das ist mein Verlobter« vorstellte. Anschließend würden sie die Familie des jungen Mannes kennenlernen, die Hochzeit ausrichten, und dann würden die Enkelkinder kommen.

Bestürzt stellt Deianiras Mutter fest, sich in ihrem Herzen schon lange diesen Augenblick erträumt zu haben, der unweigerlich kommen mußte. Da waren, zum Beispiel, die Telefonate. War es nicht so, daß sie jedesmal, wenn sie ans Telefon gegangen war, gehofft hatte, nicht die übliche Angela oder Anna oder irgendeine andere von Deianiras Freundinnen würde ihr antworten, sondern eine männliche Stimme, die Stimme von ihm, dem zukünftigen Mann von Deianira? Selbst Silvano hatte sie in Verdacht gehabt, und das hatte ihr Kummer bereitet. Auch wenn er ein netter, intelligenter Junge ist und Deianira bestimmt sehr gern hat, so weiß doch jeder, daß er drogenabhängig ist. Nicht, daß sie deshalb ihm gegenüber voreingenommen gewesen wäre, aber trotzdem hatte sie auf einen anderen Mann für ihre Tochter gehofft. Erst als sie schließlich begriffen hatte, daß Silvano wirklich nur ein guter Freund für Deianira war, hatte sie wieder Hoffnung geschöpft. Eine Hoffnung, die an das Telefon geknüpft war.

Wie oft, wenn endlich ein junger Mann nach Deianira fragte, hätte sie gerne ein wenig mit ihm geplaudert. Nichts Besonderes, nur ein kleines, vertrauliches Gespräch, ein wenig über Deianira und ihre gemeinsamen Vorstellungen. Sie war keine, die ihre Nase in Dinge steckte, die sie nichts angingen.

Aber hätte sie überhaupt den Mut aufgebracht, mit diesem jungen Mann zu reden, auch wenn er sich ihr gegenüber noch so gesprächig gezeigt hätte? Nein, niemals. Sie merkte es schon, wenn sie das Telefon abhob. Der Telefonhörer in ihrer Hand schien dann zu glühen, und sie wußte nicht, was sie sagen sollte, ob sie ihn mit »Sie« oder »du« anreden sollte. So sprach sie nur ein hastiges und fast schuldbewußtes »Ja, einen Moment, bitte, ich rufe sie gleich« in den Hörer, immer im Bemühen, ein »Sie« oder »du« tunlichst zu vermeiden, um dann sofort ganz aufgeregt zu Deianira zu laufen. Auch hier brachte sie nur, mit gesenktem Blick, ein schüchternes »Du wirst am Telefon verlangt« heraus, immer in der flehentlichen Hoffnung, ihre Tochter würde nicht weiter nachfragen, weil sie noch nicht einmal den Mut aufgebracht hatte, sich nach dem Namen des Anrufers zu erkundigen.

Doch glücklicherweise stellte Deianira keine Fragen, denn sie wußte, es konnte sich nur um einen Mann handeln. Sie kannte ihre Mutter. Wäre es Angela oder eine andere ihrer Freundinnen gewesen, dann wäre die Mutter nicht in ihr Zimmer gerannt, sie hätte sie direkt vom Korridor aus gerufen, wäre nicht so verlegen gewesen und nicht sofort in der Küche verschwunden, um gleich die Tür hinter sich zuzumachen. Hinter dieser Küchentür hoffte sie dann, bemüht, sich vor sich selbst den Anschein zu geben, als hätte sie wer weiß wie viel zu tun. Lauschen, nein, das hätte sie sich niemals erlaubt, aber zu gerne hätte sie hin und wieder ein Wort aufgeschnappt, ihre Tochter »Liebling« sagen hören oder irgendein anderes Kosewort für diesen jungen Mann.

Natürlich hätte die Mutter es für sich behalten, aber es hätte sie glücklich gemacht. Denn sicher ist Deianira eine gute Tochter, liebevoll, nett und freundlich, aber niemals hat sie an ihr Anzeichen entdeckt, die darauf hindeuteten, daß sie verliebt ist. Dazu kommen nun auch noch diese tragischen Zukunftsperspektiven: keine Aussichten auf eine Hochzeit, kein Stimmchen, das sie »Oma« rufen würde, keine Hoffnung, ihre Tochter glücklich zu sehen. Ist es denn nicht ganz normal, daß ein Mädchen (aber war Deianira mit ihren sechsundzwanzig Jahren nicht eigentlich schon eine Frau?) nur mit einer Familie, einem tüchtigen Mann und einem Heim wirklich glücklich sein kann?

Das ist keine Frage von rückständigen Ansichten. Sicher ist es wichtig, einen Beruf und eine Arbeit zu haben, das steht für sie außer Zweifel, aber was ist mit den Gefühlen? Wie kann jemand von sich behaupten, glücklich zu sein, wenn es ihm an Liebe mangelt? Folglich würde Deianira niemals richtig glücklich sein, und nun ist es weniger die Aussicht, eine alte Jungfer zur Tochter zu haben, die ihr Sorgen macht, sondern vor allem die Konsequenzen aus dieser Tatsache. Sie ist die Mutter, sie muß sofort etwas unternehmen, um zu verhindern, daß ihre Tochter unglücklich wird, herausfinden, was an ihr nicht normal ist. Aber wie?

Heimlich forscht sie in Deianiras Gesicht, um eine winzige Spur dieser Anormalität, dieses Mangels zu finden. Aber Deianira scheint die Ruhe selbst zu sein. Also sucht sie nach irgendeinem Vorwand, um mit ihrer Tochter zu reden.

Im Moment schweigen sie. Die bevorstehende Hochzeit von Floriana hat sich als Gesprächsstoff schnell erschöpft, ohne daß es Deianira auch nur im geringsten aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, obwohl die Vorstellung sie doch eigentlich hätte beunruhigen und nervös machen müssen, daß ein Mädchen (Floriana, ja, die war wirklich noch ein Mädchen) von knapp zwanzig Jahren in Kürze heiraten würde, während sie … Nichts dergleichen. Deianira bereitet den Kaffee vor, es ist halb sieben, und bald wird der Vater nach Hause kommen. Da hat sie eine Idee: das Telefongespräch mit Angela!

»Deianira, wer war das vorhin am Telefon?«

»Das war Angela. Willst du auch einen Kaffee?«

»Ja, aber nur ein Schlückchen. Es war also Angela. Gehst du heute abend aus? Ich meine, gehst du mit ihr zusammen aus?«

»Nein, sie trifft sich mit Piero, wie immer.«

»Du gehst also nicht aus?«

»Doch, natürlich. Wieso? Brauchst du mich?«

»Nein, geh nur. Ich meinte nur so … Können wir nicht miteinander reden?«

»Was tun wir denn gerade? Wieviel Zucker?«

»Einen Löffel, ja, danke. Du gehst also alleine aus?«

»Aber nein, Mama, mit Giovanni. Wieso?«

»Nur so. Ich freue mich, daß du ausgehst. Der Kaffee ist übrigens gut.«

»Aber ich geh doch jeden Tag aus. Also, ich werde mich jetzt zurechtmachen. Um sieben muß ich fort.«

»Holt er dich ab … hier?«

»Ja, sicher, Mama. Weißt du, du benimmst dich wirklich komisch. Was ist los?«

»Ich will mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen, aber ich dachte nur … Ich meinte nur, dieser junge Mann, wie heißt er doch gleich, Giovanni, glaube ich …«

»Ja, er heißt Giovanni.«

»Also, dieser Giovanni, angenommen, er kommt her, um dich abzuholen, und er meldet sich an der Sprechanlage, dann könnte er doch auch …«

»Was, Mama? Sag endlich, was du sagen willst.«

»Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, Deianira. Ein anderes Mal. Es ist auch nicht so wichtig, und du hast es eilig.«

»Nicht besonders, du kannst ruhig reden, wenn du willst.«

»Ein anderes Mal, Deianira, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt, wenn mehr Zeit ist … Siehst du, da ist ja auch schon Papa. Papa ist gekommen. Wir reden ein anderes Mal darüber.«

Ja, Papa ist gekommen, oder besser gesagt, der deus ex machina. Die Mutter hätte sowie nicht geredet, und Deianira wollte es auch gar nicht, oder vielleicht doch, nur wußte sie wirklich nicht, was sie ihr hätte antworten sollen. Giovanni ist eben nur Giovanni, keine Person, die man den Eltern vorstellt, überflüssig, ihnen etwas vorzumachen. Zwischen ihnen ist schon alles zu Ende, schlimmer noch, es hätte gar nicht erst anfangen dürfen.

Trotzdem macht Deianira sich zurecht, denn sie wird mit ihm ausgehen, obwohl ihr alles andere auf der Welt lieber wäre, als mit ihm zusammenzusein. Sie macht sich sogar ihm zuliebe besonders schön, und sie weiß auch, daß sie ihm zuliebe noch ganz andere Dinge tun wird … Zwar ist sie sich selbst dabei zuwider, aber sie schminkt sich weiter und versucht dabei, den Gedanken zu verdrängen, daß es Giovanni ist, den sie gleich treffen wird. Sie versucht sich einzureden, sich nur für sich selbst schön zu machen, und nicht für ihn, versucht, nicht an den Widerwillen zu denken, wenn sie mit ihm zusammen ist, wenn er sie küßt.