Raketenmänner - Frank Goosen - E-Book

Raketenmänner E-Book

Frank Goosen

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Beschreibung

Bist du der geworden, der du sein wolltest? Frank Goosen erzählt in seinem neuen Buch von den Männern unserer Gegenwart. Von solchen, die ausbrechen wollen, und von jenen, die Halt suchen. Von Musik und alter Freundschaft. Von der Erinnerung an die erste große Liebe. Von Verlassenen und Suchenden, von Ängstlichen und Mutigen. Alle wären sie gern Raketenmänner und müssen sich doch mit sich selbst begnügen.Frohnberg schließt vor einer wichtigen Konferenz Facebook-Freundschaft mit einer Katze und realisiert wenig später, wie viel man im Leben falsch machen kann. Sein Mitarbeiter Ritter ahnt, dass Frohnberg ihn entlassen wird, und gibt seinem Leben kurzerhand eine neue Wendung. Zwei alte Schulfreunde, die zusammen in einer Band waren: Der eine unbegabt und schüchtern, der andere stets im Mittelpunkt; jetzt reiben sie sich an verlorenen Träumen und dem Alter und halten trotzdem zueinander. Wenzel kauft einen heruntergekommenen Plattenladen und wünscht sich goldene Zeiten und ein Ziel. Overbeck will endlich Antworten von seiner ersten großen Liebe. Und Turbo Krupke, der alte Fußballplatzwart und beinahe FC-Bayern-Spieler, bekommt einen mysteriösen Anruf und macht seinen Frieden mit dem Tod. Sabbo hat seinen Vater erst ein Mal im Leben gesehen. Vierzig Jahre ist das her. Jetzt kommt er nach Deutschland, um Songs vom Album »Raketenmänner« neu aufzunehmen. Sie teilen einen besonderen Moment, der für ein ganzes Leben reichen muss. Lakonisch, fein, witzig und warmherzig: Frank Goosens unvergessliche Geschichten spielen im Hier und Jetzt. Sie spüren auf kleinem Raum den großen Lebensthemen nach und bringen uns auf wundersame Weise zu uns selbst.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 270

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Frank Goosen

Raketenmänner

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Frank Goosen

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Das BesondereBewegliche ZieleEin Haus am MeerPlayWas jetzt?Die Rose von HamburgFrohnberg megabadTurbo KrupkeDie endlosen Weiten der PrärieC 90Zeit und MüheAußer der Adler!Frohnbergs ZeitOverbeck fragt nachMänner im NebelWolffs LiebeDankQuellen
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Das Besondere

Kamerke seufzte. Es musste ihm doch gelingen, wenigstens einmal im Leben eine Frau zu betrügen. Und der richtige Zeitpunkt war genau jetzt. Immerhin hatte die, mit der er verheiratet war, vorgelegt.

Er beugte sich vor und schüttelte die Kissen in seinem Rücken auf. In Hotels bekam man einfach keine ordentlichen Kopfkissen. Immer waren sie zu dünn, und man musste das Ersatzkissen aus dem Schrank dazunehmen. Wenn überhaupt eines da war. Unter den Decken war es immer zu warm. Sowieso waren Hotels überheizt. An den Kissen wurde gespart, damit sie mehr Geld fürs Heizen hatten, oder was?

Im Fernsehen lief eine Talkshow. Kamerke hatte keine Ahnung, worüber da geredet wurde. Der Fernseher lief nur, damit es im Zimmer nicht so still war. Und dieses ganze Gerede führte doch zu nichts.

Er schaltete ein Programm weiter, wo gerade ein Kriminalfilm begann. Ein Mann lag in einer Koje und ging in Flammen auf, fuhr hoch, schrie und fiel nach vorne. Eine Viertelstunde später schoss mit leichtem Blubbern eine Leiche an die Oberfläche eines Flusses, eine verkohlte Hand emporgereckt. Was dazwischen passiert war, hatte Kamerke nicht mitbekommen. Und überhaupt: Trieben Wasserleichen nicht eher langsam nach oben? Er blieb nur deshalb an dem Film hängen, weil da eine blonde Polizistin beteiligt war, die er nicht unattraktiv fand.

Was ihn zu seinem Thema zurückbrachte.

Er war sechsundfünfzig Jahre alt und den Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, immer treu gewesen. Welcher Mann konnte das schon von sich behaupten? Jetzt war er seit fünfzehn Jahren verheiratet, hatte vielleicht nur noch weitere fünfzehn Jahre vor sich und fand, es sei an der Zeit, eine neue Erfahrung zu machen.

Kurz vor Mitternacht, nachdem es noch zwei verkohlte Leichen gegeben hatte, vibrierte Kamerkes Mobiltelefon und vollführte einen zuckenden, wenig eleganten Tanz auf Madame Bovary, dem Buch, das er bei seinem überstürzten Aufbruch von zu Hause eher zufällig mitgenommen hatte, weil es nun mal gerade auf dem Beistelltisch neben seinem Lesesessel gelegen hatte.

Es war Dahms.

»Schläfst du nie?«, fragte Kamerke statt einer Begrüßung.

»Hör mal«, überging Dahms diese Bemerkung, sparte sich auch sonst jeden Small Talk, »ich hatte vorhin deine Frau an der Strippe, und die sagte, du bist seit drei Wochen nicht zu Hause gewesen.«

»Ich habe zu tun.«

»Also, ich schicke dich nicht die ganze Zeit in der Weltgeschichte rum. Da war die Geschichte in München über diesen Bauunternehmer und danach das mit dem Tänzer in Heidelberg. Hast du andere Herren neben mir?«

»Ich bin Polytheist«, sagte Kamerke. »Ich wechsele meine Götter stundenweise. Genau wie die Ressorts, für die ich schreibe.«

»Wenn du Stress zu Hause hast, geht mich das nichts an«, fuhr Dahms fort. »Ich habe nur keine Lust, als der Idiot dazustehen, der dafür verantwortlich ist. Wo bist du gerade?«

»In Berlin.«

»Ein lauer Mittwochabend in Berlin. Ich beneide dich. Na ja, am Montag bist du in Hamburg. Kleine Sache für die Wochenendbeilage. Ich mail’ dir alles rüber. Geht das klar?«

»Sicher.«

»Und danach fährst du nach Hause. Deine Frau macht sich Sorgen. Nur mal so als Tipp.«

Kamerke legte auf. Dahms war fast zwanzig Jahre jünger als er, spielte sich aber auf wie ein väterlicher Freund. Dabei war Kamerke als Freier nicht mal Dahms’ Untergebener. Kamerke schrieb für jeden, der es brauchte. Am Dienstag hatte er was in Bochum, für ein Fußballmagazin. Kamerke konnte alles und machte alles, dafür war er bekannt. Zuverlässig, schnell und sauber.

Mehr aber auch nicht.

»Dir fehlt der Punch«, hatte Dahms ihm mal nach anderthalb Flaschen Wein gesagt, »das Besondere. Deshalb bist du über einen bestimmten Punkt nie hinausgekommen!«

Kamerke stand auf und trat ans Fenster. Da draußen war nichts, beziehungsweise noch weniger als nichts, denn ein Innenhof ist nicht mal ein Nichts. Erstaunlich viele Fenster waren noch erleuchtet. Das hier war ein typisches Tagungshotel, und tatsächlich lief gerade die Konferenz einer Firma aus der Energiebranche, deren Mitarbeiter Kamerke schon heute Mittag in der Lobby hatte ertragen müssen, als sie angereist waren. Viele Männer in Anzügen, die zu laut redeten, wenige Frauen in Kostümen, die sich sichtlich bemühten, über die schlechten Witze ihrer Kollegen zu lachen. Was man so hörte aus der Welt der abhängig Beschäftigten war doch, dass sie es bei Gelegenheiten wie diesen richtig krachen ließen. Oder dachte der Stern sich das alles aus? Wo und wann sollte er einen außerehelichen One-Night-Stand finden, wenn nicht hier und heute?

Kamerke ließ den Fernseher laufen, während er ins Bad ging, um zu duschen. Es dauerte ewig, bis das Wasser die richtige Temperatur hatte. Er betrachtete sich im Spiegel, und begegnete sich selbst als Vorwurf: der Bauch, der Hintern, die Haare an den falschen Stellen, all die Weißheit des Mittelalters. Hockte in der Hotelbar wirklich eine Geschäftsfrau Mitte dreißig in einem eleganten Twinset, die genau auf einen wie ihn wartete?

Wahrscheinlich nicht.

Anderseits …

Unter der Dusche beklagte Kamerke mit einem Seufzer das Fehlen eines Vorhangs. Es gab hier nur eine halbe, fest installierte Glaswand, die beim Versuch, das Duschwasser daran zu hindern, das Badezimmer unter Wasser zu setzen, kläglich scheiterte.

Mit jedem Kleidungsstück, das er anlegte, besserte sich seine Laune. Es gab kaum etwas Schöneres, als frisch geduscht in frische Unterwäsche und ein frisches Hemd zu schlüpfen. Sein harter Bauch wölbte sich über der Gürtelschnalle der ausgebeulten Jeans. Die Gürtelschnalle war ein sogenannter Buckle, kupferfarben, reich ornamentiert, mit acht größeren blauen und vielen kleinen weißen und roten Steinen besetzt. Als Kind hatte er einen Freund gehabt, Wenzel, dessen Vater Filmvorführer in einem alten Kino gewesen war und eine Schwäche für Western gehabt hatte. Der Vater hatte die Kinder umsonst hereingelassen, sie hatten auf den besten Plätzen gesessen und sich die ganzen Klassiker angesehen. 12 Uhr mittags, Fluss ohne Wiederkehr, Die vier Söhne der Katie Elder. Da war was hängen geblieben.

Er zog die Karte aus dem Schlitz neben der Tür. Mit einem Schlag erloschen die Lichter im Zimmer, und der Fernseher verstummte.

Sechsundfünfzig, dachte Kamerke, während er den Flur entlangging. Ein komisches Alter. Er wusste, er sah älter aus, ein bisschen verlebt. Nur das schlohweiße, noch immer volle Haar sicherte ihm eine gewisse Restattraktivität.

Als er bei den Fahrstühlen ankam, glitten die Türen des mittleren gerade auseinander. Kamerke dachte noch darüber nach, dass das ein Zeichen sein musste, sodass er völlig vergaß, den Knopf mit dem L für Lobby zu drücken. Deshalb fuhr der Fahrstuhl jetzt nach oben, statt nach unten, und hielt erst im obersten Stockwerk. Einem Plakat an der Wand des Fahrstuhls entnahm er, dass sich dort eine Dachterrasse befand. Auch gut, dachte er.

Auf dem Weg nach draußen kam ihm ein Mann entgegen, der sehr müde aussah. Er trug einen Anzug und Ränder unter den Augen. Die Sorge um den Standort Deutschland schien ihn fertigzumachen.

Die Dachterrasse konnte sich sehen lassen. Da war ein kleiner Pool, rundherum Liegestühle und Tische, an denen einige Männer und Frauen saßen. Anzüge und Twinsets. So soll es sein, dachte Kamerke.

Er setzte sich an die Bar. Zwei Hocker weiter starrte ein junger Mann in seinen Cocktail. Der Barmann kam herüber und stellte sich vor.

»Barney«, sagte er.

»Ernsthaft?«, entfuhr es Kamerke. »Barney, der Barmann?«

Barney schien nicht zu wissen, was daran witzig sein sollte. Er mochte um die dreißig sein, trug eine schwarze Weste über einem weißen Hemd und ließ sich das leicht stachelige, dunkle Haar von irgendeinem Gel in Form halten.

»Was darf ich Ihnen bringen?«

Kamerke deutete auf das Glas des anderen. »Ich nehme, was er hat.«

»Einen Daiquiri, sehr wohl.«

Der junge Mann blickte auf. Auch er trug einen Anzug, auch er sah müde aus.

»Sie sind nicht von unserer Firma«, stellte er fest.

»Ja«, antwortete Kamerke.

Der andere runzelte die Stirn. »Also doch?«

»Nein.«

Der junge Mann dachte nach und sagte schließlich: »Aha.«

Barney brachte den Daiquiri, und weil er offenbar viele schlechte Filme gesehen hatte, nahm er sich ein weißes Handtuch und fing an, Gläser zu wienern.

»Ritter«, sagte der junge Mann, rückte einen Hocker auf und reichte Kamerke die Hand. »Aber ohne schimmernde Rüstung«, fügte er noch hinzu.

Das lief nicht so, wie Kamerke es geplant hatte. Da er nicht unhöflich sein wollte, nannte er trotzdem seinen Namen.

»Was machen Sie?«, fragte Ritter.

»Eigentlich bin ich hergekommen, um meine Frau zu betrügen.«

Und wieder legte dieser Ritter die Stirn in Falten. »Warum?« Der Mann war angetrunken und hatte die Welt wahrscheinlich schon nicht mehr verstanden, bevor Kamerke aufgetaucht war. Jetzt näherte er sich der Fassungslosigkeit. Kamerke hatte keine Antwort für Ritter, und der schien auch nicht ernsthaft eine zu erwarten.

»Wissen Sie, was ich gerne hätte?«, fragte Ritter. »Eine Frau. So ganz allgemein. Nicht zum Betrügen. Also praktisch zum Ehrlich-zu-ihr-Sein. Komisch, was? Nächste Woche werde ich nicht mal mehr einen Job haben. Keinen Job, keine Frau, und mein Auto ist auch kaputt.«

Das wollte Kamerke alles nicht hören.

An einem der Tische am Pool wurde laut gelacht.

»Das sind Blumberg und Reif«, sagte Ritter. »Die wissen, wie es geht.«

Kamerke drehte sich um. Blumberg und Reif waren zwei grotesk attraktive Alphas mit der militant guten Laune echter Frauenfischer. Vielleicht sollte ich mich an die halten, dachte Kamerke. Die haben jede Menge Punch, und ganz viel von dem Besonderen.

»Sind Sie so ein Alt-Achtundsechziger?«, wollte Ritter jetzt wissen.

»Achtundsechzig war ich elf«, antwortete Kamerke.

»Ich meine, das mit der freien Liebe und jeden Tag eine andere, das ist doch alles … Ich weiß nicht … Ach, was weiß ich schon.« Ritter bedeutete Barney, ihm noch einen Daiquiri zu mixen. Barney unterbrach das Wienern und machte sich an die Arbeit.

Blumberg, Reif und die anderen standen auf und kamen an der Bar vorbei. Entweder Reif oder Blumberg machte eine Bemerkung, und es wurde wieder laut gelacht. Am Ende der kleinen Prozession ging eine Frau, die vielleicht Anfang vierzig war. Ritter hielt sie am Arm fest.

»Gaby, das ist Herr Kamerke, er ist hier, um seine Frau zu betrügen. Was sagst du dazu?«

Gaby blickte von Ritter zu Kamerke und zog eine Augenbraue hoch.

»Interessant«, sagte sie.

Kamerke hob sein Glas und prostete ihr zu. Blumberg, Reif und die anderen kümmerten sich nicht um Gaby und verschwanden in Richtung Fahrstuhl. Sie sah ihnen nach und setzte sich auf den Hocker neben Ritter.

»Einen Tequila Sunrise«, sagte sie zu Barney, der Ritter gerade den Daiquiri hinstellte.

»Er hat wenigstens eine Frau«, sagte Ritter und versuchte, den Strohhalm seines Cocktails zu erwischen. »Ich habe nächste Woche nicht mal mehr einen Job.«

»Nun übertreib’ nicht!«, sagte Gaby.

»Frohnberg will mich loswerden, das steht fest. Und Stolte gibt ihm Rückendeckung.«

»Du bist noch jung«, sagte Gaby.

»Ich weiß gar nicht mehr, der wievielte Job das ist, seitdem ich mit dem Studium fertig bin. Guck dir ihn an«, sagte Ritter und zeigte auf Kamerke. »Die alten Leute haben mit fünfzehn oder zwanzig oder was weiß ich einen Beruf angefangen und behalten den, bis sie fünfundsechzig sind. Dazu die ganzen Frauen und das Rumvögeln. Will denn niemand mehr Goldene Hochzeit feiern?«

»Ein bisschen Rumvögeln hat noch keine Goldene Hochzeit verhindert«, sagte Gaby.

Ritter sah sie an. »Wann seid ihr eigentlich so abgezockt geworden?«, fragte er. Beim zweiten Versuch erwischte er den Strohhalm doch noch und zog den Drink fast komplett leer. »Ich habe genug«, fügte er hinzu. Er stand auf und ging Richtung Fahrstuhl, wobei er, wie Kamerke bemerkte, nicht mal schwankte, obwohl er ordentlich getankt hatte. Vielleicht hatte auch dieser Ritter das Besondere und wusste nur nichts davon.

Der Hocker zwischen Kamerke und Gaby war jetzt leer. Sie machte keine Anstalten, zu ihm rüberzurutschen. Kamerke mochte solche Frauen.

»Sie sind also auf der Suche nach Abenteuern«, sagte sie, und betonte es nicht als Frage, sondern als Feststellung, sah Kamerke dabei auch nicht an, sondern rührte mit dem Strohhalm in ihrem Drink.

»Es wird kühl«, sagte Kamerke und blickte nach oben, wo keine Sterne zu sehen waren.

»Da wollen wir uns mal nicht so anstellen«, sagte Gaby und fuhr fort: »Sie gehören nicht zur Firma.«

»Ja.«

»Also doch?«

»Ich meine: Nein, ich gehöre nicht zur Firma.«

»Jedenfalls nicht zu dieser.«

»Zu keiner.«

»Beamter? Freiberufler?«

»Letzteres.«

»Toll, diese Freiheit, was?«

»Wahnsinn.«

»Was macht Ihre Frau?«

»Schreibt Kinderbücher. Und Ihr Mann?«

»Er macht das, was Sie heute gerne tun würden.«

»Hauptberuflich?«

»Manchmal kommt es mir so vor.« Sie griff sich die halbe Orangenscheibe, die am Glasrand steckte, und saugte sie aus. »Andererseits«, sagte sie, »kann ich mir nicht vorstellen, dass ihm eine Geld dafür gibt. Es sei denn, er zeigt da Fähigkeiten, die er zu Hause unter Verschluss hält.«

»Kinder?«

»Erwachsen.«

»Früh angefangen.«

»Danke für die Blumen. Und selbst?«

»Keine«, sagte Kamerke. »Es geht nicht.«

»Eine Kinderbuchautorin, die keine Kinder hat?«

»Wenn es Gott gibt, teilt er sich den Humor mit Woody Allen.«

Sie schwiegen ein paar Sekunden, ohne dass es unangenehm wurde.

»Und sonst?«, fragte Kamerke.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich liebe Cocktails in lauen Sommernächten, und ich hasse Hotels. Vor allem die Badezimmer.«

»Die Aufkleber mit dem Umwelthinweis.«

»Die kleinen Fläschchen mit der Seife.«

»Die dünnen Kopfkissen.«

»Und es ist immer zu heiß.«

Jetzt zeigte sie genau den richtigen Anflug der Ahnung eines Lächelns.

»Herr Kamerke«, sagte sie. »Was soll das noch geben mit uns?«

»Ich glaube, Barney will Feierabend machen.«

Kamerke nannte seine Zimmernummer, Barney brachte die Rechnung, Kamerke unterschrieb.

Vor dem Fahrstuhl sagte Gaby: »Sie haben kein Trinkgeld gegeben.«

»Er hat gesagt, sein Name sei Barney.«

»Auch wieder wahr.«

Auf seinem Zimmer öffnete er die kleine Flasche Rotwein, die Mit Empfehlungen des Hauses auf dem Schreibtisch gestanden hatte, und entschuldigte sich dafür, dass er das Bett nicht gemacht hatte. Gaby sagte, für einen Mann, der hier richtig was erleben wolle, sei er nicht gut vorbereitet. Im gleichen Atemzug fragte sie ihn, was genau er beruflich mache, und er erzählte es ihr. Sie nickte nur.

»Soll nicht leicht sein, als Freischaffender.«

»Es läuft. Auch wenn mir der Punch fehlt, das Besondere.«

»Willkommen im Club«, sagte Gaby, streifte die Schuhe ab, setzte sich in den Sessel, zog die Beine an und zupfte ihren Rock über die Knie. Ihr Blick fiel auf Madame Bovary. Sie nahm es in die Hand und las den Klappentext. »Ich habe den Film gesehen.« Sie reichte ihm das Buch. »Lies mir daraus vor! Die Stelle mit der Kutschfahrt.«

Und Kamerke tat wie ihm geheißen.

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Bewegliche Ziele

Wenzel ärgerte sich. Seine Zukunft schien den Bach runterzugehen, noch bevor sie richtig angefangen hatte. Wo blieb dieser Günther?

Außerdem verfluchte Wenzel die Tatsache, dass er nur den dünnen Hoody angezogen hatte. Schon vorhin war abzusehen gewesen, dass es regnen würde, aber nachdem er das Haus verlassen hatte, war er zu faul gewesen, in den vierten Stock zurückzulaufen, um seine Regenjacke zu holen. Als er in der Bahn gesessen hatte, hatte es angefangen, und auf dem Weg von der Haltestelle bis zum Laden war er klatschnass geworden.

Er betrachtete die alten Zeitungsseiten, mit denen das Schaufenster und die Tür ausgeschlagen waren. Jedes zweite Wort in den Schlagzeilen war Krise. Oder es ging um Fußball. Zwischen den einzelnen Seiten war kein Spalt, durch den Wenzel in sein mögliches neues Leben hätte schauen können.

Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

Günther war jetzt schon zwanzig Minuten zu spät. Da er sich am Telefon einfach mit Günther gemeldet hatte, wusste Wenzel nicht mal seinen Nachnamen. Nur, dass er diesen Laden verkaufen wollte.

Den Laden, den Wenzel sich eigentlich nicht leisten konnte.

Sagte Mel.

Mit dem, was er durch seinen Großvater an Eigenkapital würde einbringen können, wäre es kein Problem, einen Kredit über den Restbetrag zu bekommen, aber die Raten machten die Sache schwierig. So ein Laden, meinte Mel, könne sich unmöglich tragen, schon gar nicht an dieser Stelle. Die sei gar nicht so schlecht, hatte Wenzel geantwortet, eine Seitenstraße der Fußgängerzone, der Laden habe sich jahrzehntelang getragen, worauf Mel zurückgab, das seien andere Zeiten gewesen.

Er ging unter dem Vordach vor dem Laden auf und ab, immer drei Schritte zur einen Seite, dann Wende und drei Schritte zur anderen, ein Gefangener in einer sehr kleinen Zelle. Nebenan war eine Kneipe, die auch schon seit Jahren geschlossen war. Die Nässe drang durch den Kapuzenpullover, das Shirt darunter und durch die Haut bis in die Eingeweide. Sein Magen, seine Milz, seine Nieren und sein Herz schwammen in der Gegend umher, und auch der Blinddarm wäre hinterhergeschwommen, wenn er nicht schon vor Jahren das gemeinsame Becken hätte verlassen müssen. Das war ein Mai, der sich wie ein November benahm. Mel hatte gesagt, bisher habe sie nur die deutschen Winter gehasst, aber mittlerweile bringe nicht mal mehr der Frühling die Rettung. Da könne sie ja gleich wieder nach Manchester zurückgehen.

Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

Dass Noel Gallagher und Mel aus derselben Stadt kamen, war kaum zu glauben.

Aus der leeren Kneipe müsste man natürlich eigentlich einen Club machen, dachte Wenzel.

Aber schon der Laden hatte ja keine Chance.

Sagte die wetterfühlige Mel.

Eine halbe Stunde nach der vereinbarten Zeit hielt gegenüber ein Mercedes, der ungefähr aus dem Jahr stammte, in dem Wenzel auf die Welt gekommen war. Ein kleiner Mann mit Kinnbart stieg aus und tat etwas, das Wenzel schon lange nicht mehr gesehen hatte: Er schloss seinen Wagen ab. Normalerweise drückte man nur flüchtig im Weggehen auf den Funkschlüssel.

Es gelang Wenzel, seine Drei-Schritt-Patrouille zu stoppen.

Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

Der Mann trug einen hellen Bogart-Trench, darunter ein marineblaues Sakko mit goldenen Knöpfen und ein blau-weiß kariertes Hemd. Auf seiner etwas klobigen Nase saß eine dickrandige Brille. Die Augen dahinter hatten Halbmast geflaggt, und das offenbar seit Jahren.

»Sie sind früh dran«, sagte er statt einer Begrüßung.

»Ich stehe hier seit einer halben Stunde!«, entgegnete Wenzel.

»Selbst schuld«, brummte Günther und schloss den Laden auf.

Wenzel wurde von einem Geruch empfangen, der ungefähr so muffig war wie Günthers Laune. Es war dunkel, aber das änderte sich, als Günther den Lichtschalter fand. »Mein halbes Leben habe ich hier verbracht«, brummte er, »aber den Lichtschalter muss ich immer noch suchen.«

Wenzel war gleich positiv überrascht. Das schmale, lange Ladenlokal hatte eine klare Ordnung: Rechts und links standen, genau wie in der Mitte, Plattenkisten in zwei Stockwerken. An den Wänden fanden sich je drei Reihen Metallschienen, in denen die Neuheiten eingeschoben werden konnten. In den Ecken hingen unter der Decke vier mattschwarze Lautsprecherboxen. An der Stirnseite des Raumes war ein erhöhter Tresen, mit drei Halterungen für Kopfhörer. Links davon führte eine Treppe nach unten. Die Luft schmeckte nach Staub. Wenzel ging drei Schritte vor, machte die Wende und ging drei Schritte zurück.

»Alles in Ordnung?«, wollte Günther wissen.

Wenzel tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Günther zog die Augenbrauen hoch.

»Das ist nicht so gemeint«, sagte Wenzel. »Das passiert mir immer, wenn ich nervös bin.«

»Du bist nervös?«

»Ich bin eigentlich immer nervös, aber heute und hier und jetzt ganz besonders. Das ist so eine Weggabelung in meinem Leben.«

Günther blickte ihn lange an und sagte schließlich: »CDs sind im Keller.«

Da gehören sie auch hin, dachte Wenzel.

»Und das alles wollen Sie verkaufen?«, fragte er.

»Muss«, sagte Günther und bewegte dabei kaum die Lippen.

»Meine Freundin Mel hält mich für bescheuert«, sagte Wenzel.

Auf Günthers Stirn zeigten sich canyontiefe Hautschluchten. »Mel? War sie bei den Scheißgirls oder was?«

»Nein, aber immerhin kommt sie aus England.« Wenzel tippte sich an die Stirn.

»Hören Sie mal«, sagte Günther, »ich kann dich nicht siezen, du bist doch kaum älter als mein Auto. Ich will dir nichts vormachen. Das hier ist keine Goldgrube mehr. Wenn mir der Laden nicht gehört hätte, also abbezahlt und alles, hätte ich schon viel früher dichtmachen müssen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was einer wie du damit will. Deinesgleichen kauft doch gar keine Platten mehr. Und wo hast du überhaupt das Geld her?«

Wenzel tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

»Von meinem Großvater.«

»Weiß er, was du damit machen willst?«

»Allerdings!«

Günther zog die Nase hoch und schüttelte den Kopf. »Sieh dir erst mal den Keller an«, sagte er und ging zu der Treppe im hinteren Teil des Ladens. Auf dem Weg dorthin blieb er plötzlich stehen, drehte sich um, fragte: »Geht’s? Oder willst du erst noch mal ein paar Schritte zurück?«

»Wenn ich ein klares Ziel habe, geht es.«

Günther nickte. »Wir alle brauchen Ziele.«

An der Treppe war ein Lichtschalter. Günther drückte drauf, und unten gingen flackernd alte Leuchtstoffröhren an.

Bevor er hinunterging, warf Wenzel einen Blick hinter den Tresen. Da stand sogar noch ein alter Dual-Plattenspieler samt Verstärker.

Der Keller war niedrig und noch etwas muffiger als die obere Etage. Die Kunststoff-Ständer für die CDs wirkten, als wollten sie richtige Plattenständer werden, wenn sie erst mal groß waren. Auch hier gab es einen kleinen Tresen mit gerade mal einer einzigen Kopfhörerhalterung. Außerdem stand mitten im Raum ein altes grünes Sofa.

»Auf dem da haben wir unsere Tochter gemacht«, sagte Günther. »In der Mittagspause, als meine Frau noch mitgearbeitet hat. Nur hatten wir oben vergessen abzuschließen, als ein Kunde kam und CDs wollte. Na ja, so Geschichten halt.«

Auf dem Boden standen mehrere Bananenkisten mit Schallplatten. Wenzel hockte sich hin und ging die Platten durch. Das war auch etwas, was mit CDs verloren gegangen war: das Durchflappen von Plattensammlungen. Plastik an Plastik hörte sich nicht schön an. Plattencover jedoch machten leise Flapp oder schmiegten sich lautlos durch ein Luftkissen aneinander.

»Restbestände«, sagte Günther. »Zeug, das am Ende nicht mal mehr einer geschenkt haben wollte.«

Da war viel Schlager aus den Siebzigern und Achtzigern. Mittendrin stutzte Wenzel. Der Mann auf einer Maxi-Single mit dem Titel Ich hole dir die Wolken vom Himmel sah aus wie Günther in jung.

»Ja, ja«, sagte der sofort, »das habe ich auch mal versucht. Ich dachte, die Leute wären ganz wild darauf, so eine Platte vom Sänger direkt zu kaufen. War ein Irrtum. Nicht der einzige. Ich meine, schon der Titel war Blödsinn. Ich bin mit der Nummer auch ein paar Mal aufgetreten, Schützenfeste, Sparkastenleerungen und so, und da hat mal eine Frau hinterher gefragt: Was soll ich denn mit Wolken machen? Wieso nicht Sterne? Darauf ich: Sterne kann jeder. Und sie muss ziemlich lange nachdenken und sagt dann: Also, Wolken sind doof. Na gut, die hatte ordentlich geladen, aber unrecht hatte sie nicht. Der Text war von meinem Schwager, der hat auch sonst keine Ahnung.«

Etwa zehn Exemplare der Maxi hatten überlebt. Wenzel flappte weiter. Mittendrin stieß er auf eine Platte, die er nicht kannte. Das Cover zeigte die Zeichnung eines Mannes in einem Kostüm für Superhelden. Der Mann trug einen aerodynamisch geformten goldenen Helm, der auch sein Gesicht bedeckte. In Augenhöhe eingearbeitete getönte Gläser erlaubten ihm das Sehen, ohne dass man seine Augen erkennen konnte. Von der restlichen Gestalt des Mannes erkannte man nur den Oberkörper, der in einer Art Pagenuniform steckte. Das Ganze sah aus wie in den Zwanzigern ersonnen und erinnerte an Metropolis. Der behelmte Held stieß in einem steilen Winkel in den Himmel. Den Namen des Sängers hatte Wenzel noch nie gehört: Stephan Moses. Der Titel war Raketenmänner.

Wenzel hielt sie hoch und sah Günther fragend an.

»Die? Keine Ahnung. Ich habe sie mir mal angehört. Konnte nichts damit anfangen. Weißt du was? Die schenke ich dir schon mal, egal, was mit dem Laden wird. Und eine von meinen nimmst du auch noch mit! Du hast mir übrigens schon ’ne ganze Zeit keinen Vogel mehr gezeigt.«

Prompt tippte sich Wenzel mit dem Finger an die Stirn.

»Wenn ich mich auf etwas besonders konzentriere, geht es.«

»Na, dann konzentrier dich mal schön, Junge.«

Sie gingen wieder nach oben. Hinterm Tresen fand Günther noch eine alte Plastiktüte für die beiden Platten.

Wenzel ging durch den Raum und berührte die Kisten und die Schienen an den Wänden. Der Teppichboden musste erneuert werden, und natürlich würde man streichen müssen. Er sah sich hinterm Tresen sitzen und die Neuerscheinungen durchgehen.

»Ich habe in meinem Leben noch nie wirklich was riskiert«, sagte er.

»Du rennst nervös hin und her und zeigst der Welt ständig einen Vogel«, sagte Günther. »Reicht dir das nicht an Problemen? Und ansonsten? Du bist jung, du hast doch noch Käseschmiere hinter den Ohren!«

»Heute kriegt man von morgens bis abends gesagt, dass alles den Bach runtergeht. Ich bin nur interessant im Hinblick auf meine ökonomische Verwertbarkeit.«

»Hört sich schlau an.« Günther sah auf die Uhr.

Wenzel gab Günther die Hand. »Kann ich bis heute Abend nachdenken?«

»Die Interessenten stehen zwar Schlange, aber ich denke, bis heute Abend kann ich warten.« Günther grinste.

»Pass auf«, sagte er, als sie wieder auf dem Bürgersteig standen, »du sollst dich nicht unglücklich machen, aber ich habe auch keine Lust, dass da ein scheiß Drogeriemarkt reinkommt oder so ein Nagelstudio.« Günther hielt inne. »Überhaupt: Wieso gibt es auf einmal so was wie Nagelstudios? An jeder Ecke! Genau wie Matratzenläden! Wenn du mir das erklären kannst, schenke ich dir den Laden! Nee, im Ernst, ich verstehe das alles nicht. Wenn du da wieder einen Plattenladen reinmachen willst, wie du am Telefon gesagt hast, kriege ich Tränen in die Augen, Junge, und ich helfe dir auch, wo ich kann. Aber wie gesagt, eine Goldgrube ist das nicht.«

»Vinyl ist wieder im Kommen.«

»Wenigstens hat der Regen nachgelassen. Ruf mich an.«

Günther ging zu seinem Wagen, drehte sich aber noch mal um und kam zurück.

»Pass mal auf«, sagte er. »Ich habe deinen Namen und deine Nummer und jede Menge Menschenkenntnis, und deshalb gebe ich dir den Schlüssel für den Laden, und du gehst noch mal rein, wenn du Zeit hast, und lässt das Ganze auf dich wirken, ohne dass ich danebenstehe. Was hältst du davon?«

Wenzel tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

»Ich denke mal, das ist deine Art, dich zu freuen«, sagte Günther und gab Wenzel den Schlüssel.

Günther fuhr davon, und Wenzel machte sich auf den Weg zur Haltestelle, erwischte gleich die nächste Bahn und war eine Viertelstunde später zu Hause. Mel räumte gerade Einkäufe in den Kühlschrank.

Als sie sich umdrehte, zuckte sie zusammen. »Du hast mich erschreckt!«, sagte sie und wirkte verärgert.

»Das wollte ich nicht.«

Wenzel tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

Das gefiel Mel nicht. Sie würde sich nie daran gewöhnen. Sie strich sich eine Strähne ihres dunklen Haars hinters Ohr und sagte: »Ich dachte, du kommst erst heute Abend nach Hause.« Sie stopfte die leere Einkaufstüte in den dafür vorgesehenen Bastkorb in der kleinen Speisekammer, die zur Küche gehörte.

»Ich habe mir den Laden angesehen.«

Sie wandte sich ab und schaltete die Kaffeemaschine ein. »Du weißt, was ich davon halte.«

Drei Schritte, Wende, drei zurück. »Der Laden ist ein Traum, die reinste Zeitreise.«

»Nichts gegen Zeitreisen, aber bitte in die Zukunft!«

»Das könnte es sein.«

»Deiner Meinung nach.«

Da sie sich einfach nicht umdrehte und stattdessen mit der Kaffeedose und dem Filterpapier hantierte, obwohl noch gar kein Wasser in der Maschine war, ging Wenzel ins Wohnzimmer und zog Raketenmänner und Ich hole dir die Wolken vom Himmel aus der Plastiktüte. Wenn er größtmöglichen Schaden anrichten wollte, legte er jetzt Günthers Platte auf. Aber so weit war er noch nicht. Also setzte er sich aufs Sofa und sah sich die Hülle von Raketenmänner an. Produziert hatte Moses selbst, zusammen mit dem Pianisten.

Es klingelte. Wenzel betrachtete den Ficus neben dem Sofa. Das Schiffsplankenparkett knarzte, während Mel zur Tür ging. Wenzel vernahm eine zunächst fröhlich klingende Männerstimme, die sofort zu einem Flüstern und Zischen abgesenkt wurde. Auch Mels Stimme war zu hören, und Wenzel hatte den Eindruck, sie rede in ihrer Muttersprache.

Wenzel stand auf, machte drei Schritte, drehte um und machte drei zurück. Zusätzlich, sicher war sicher, tippte er sich mit dem Zeigefinger dreimal an die Stirn.

Die Tür wurde geschlossen, Mel ging zurück in die Küche. Wenzel wartete ein paar Sekunden und folgte ihr dann.

»Wer war das eben?«, fragte er.

»Was?«

»An der Tür.«

»An der Tür?«

»Ja, es hat doch geklingelt!«

»Ach der! Der wollte nur so ein Abo verkaufen. Ich habe ihn weggeschickt.«

Wenzel tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

»Herrgott«, sagte Mel, »kannst du damit nicht mal aufhören?«

»Du weißt, dass ich das nicht kann.«

»Ja, ja, schon gut, ich komme mir nur immer so vor, als würdest du mich auslachen.«

»Ich grinse dabei nicht mal!«

»Du weißt, was ich meine.«

Wenzel seufzte. »Ich fahre noch zu meinem Großvater.«

Das heiterte Mel auch nicht gerade auf. »Wieso bist du denn überhaupt zwischendurch nach Hause gekommen?«

»Weil ich mit dir über die Sache mit dem Laden sprechen wollte.«

»Was gibt es da noch zu sprechen?«

»Das weiß ich jetzt auch nicht mehr.«

Wenzel ging nach nebenan, schob die beiden Platten wieder in die Tüte und verließ die Wohnung.

Jeder braucht ein Ziel im Leben, dachte er auf dem Weg zur Straßenbahn, nur kriegt man die meisten Ziele nicht richtig scharf gestellt und sie halten nicht still.

Wenzels Großvater, der sich neuerdings der ganz alte Wenzel nannte, weil er sagte, sein Sohn, Wenzels Vater, sei ja nun auch nicht mehr der jüngste, lebte in einem kleinen Haus auf einem großen Grundstück. Sein Sohn wollte ihn dazu überreden, in ein Heim zu ziehen, um das Haus abreißen und auf dem Grundstück drei neue bauen zu lassen, kleine Familienparadiese. Der ganz alte Wenzel hatte aber vor, hier zu sterben, und Wenzel konnte sich seinen Großvater nirgendwo anders als in diesem Haus vorstellen.

Wenzel musste dreimal klingeln, bis sich im Haus etwas regte. Danach dauerte es immer noch recht lange, bis der ganz alte Wenzel die Tür öffnete

»Howdy Junge, wie oft hast du geklingelt?«

»Einmal, wieso?«

»Du bist der Einzige, bei dem ich es beim ersten Mal höre. Dein Vater beschwert sich immer, weil er angeblich vier-, fünfmal draufdrücken muss. Das hat doch bestimmt was zu bedeuten.«

Wenzel folgte seinem Großvater in die Küche, wo sie sich immer aufhielten, wenn Wenzel zu Besuch kam. Der Großvater setzte Kaffeewasser in einem alten Kessel auf, schob eine Filtertüte in den weißen Handfilter aus Porzellan, schaufelte Kaffee hinein und setzte ihn auf eine beigefarbene Kanne, die in einem Retroladen heute der Renner wäre. Das alles tat er stumm und mit der Ruhe des gewissenhaften Handwerkers. Als er fertig war, drehte er sich um und sagte: »Und? Heute schon die Zäune auf der Ostweide kontrolliert?«

»Ich denke darüber nach, eine neue Koppel auf der Westweide einzurichten.«

Der ganz alte Wenzel nickte. »Also wird es ernst mit dem Laden?«

»Ich habe ihn mir heute angesehen.«

»Und?«

»Ein Traum mit einem schmutzigen Teppichboden.«

»Was hast du da in der Tüte?«

»Zwei Platten, die mir dieser Günther geschenkt hat.«

Sein Großvater sah sich die Scheiben an. »Moses? Nie gehört. Ich hoffe, der predigt nicht. Und der andere sieht ja verboten aus.«

»Das ist Günther himself.«

»Wolken vom Himmel holen ist doch totaler Blödsinn, damn it!«

Der Kessel begann zu pfeifen. Der ganz alte Wenzel nahm ihn von der Herdplatte und goss das heiße Wasser in den Filter, wartete, bis einiges durchgelaufen war, und füllte nach. Das machte er so lange, bis er zufrieden war, nahm zwei Blechtassen aus dem Küchenschrank, füllte sie mit Kaffee und stellte sie auf den Tisch. Jetzt war es an Wenzel zu nicken. Der Kaffee war schwarz und stark, wie sich das gehörte.

»Grandpa, ich weiß nicht, ob ich das machen soll«, sagte Wenzel. »Das mit dem Laden. Es ist eine Menge Geld. Ich würde alles da reinstecken, was du mir gegeben hast, und müsste mich immer noch bis über beide Ohren verschulden.«

»Dein Vater hält dich für bescheuert, ein dusseliges Greenhorn.«

»Meine Freundin denkt dasselbe.«

»Hör nicht auf Frauen, die in Saloons arbeiten.«

Wenzel grinste. Als Saloon konnte man so ein Sterne-Restaurant nicht gerade bezeichnen.

»Was habe ich dir früher immer gesagt?«, fragte sein Großvater.

»Dass es im Leben meistens nur darum geht, eine Herde von hier nach da zu treiben.«

»Und was heißt das?«

»Für die Kleingeistigen und die Idioten heißt es, dass man immer nur stupide seinen Job machen soll, aber für die Eingeweihten bedeutet es, dass man machen muss, was man für richtig hält.«