Rapunzelturm - Mark Stichler - E-Book

Rapunzelturm E-Book

Mark Stichler

3,7

Beschreibung

Im Ludwigsburger Märchengarten baumelt die Leiche von Nicole Dahm an Rapunzels Zopf. Rocco Marino, Kommissar beim Morddezernat, und seine Kollegin Anna Behr werden zum Tatort gerufen. Bei ihren Befragungen stoßen sie auf schweigsame Angestellte. Auch der Geschäftsführer gibt sich wortkarg. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig. Die üblichen Verdächtigen sind schnell gefunden, doch als ein zweiter Mord geschieht, wird Rocco und Anna klar: Der Mörder läuft noch frei herum.

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Mark Stichler

Rapunzelturm

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Rado-Stilist – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4374-9

Prolog

»Yeah.«

Garcia lag im Gras, die Arme weit ausgebreitet. Im Hintergrund stand schweigend dieser riesige Klotz und vor ihm hing groß und rund, geheimnisvoll, der gelbe, fette Mond am nachtblauen Himmel. Dort breiteten sich die Landschaften der Zukunft aus, die Krater und Hänge, die leuchtenden Berge und die Roquefort-farbenen Täler.

Meine Güte, diese Wissenschaftler. Garcia lachte leise. Jahrzehnte, ach was, Jahrhunderte, wenn nicht gar seit tausend Jahren oder mehr zerbrachen sie sich den Kopf darüber, was sich wohl auf der anderen Seite des Monds befinden würde. Der dunklen Seite. Dabei war es so einfach. Garcia lächelte und im diffusen Licht glänzten seine Zähne perlmuttfarben in seinem schmalen, fein geschnittenen Gesicht. Man musste doch nur seine Hand ausstrecken und dem Mond einen kleinen Schubs geben, um auf die andere Seite sehen zu können. So war es mit allem. Nur er wusste davon oder zumindest kannte er niemanden außer sich selbst, der davon wusste. Außer vielleicht McCarthy. Aber der war gerade nicht hier.

»Yeah.« Auf einmal fing Garcia an zu schwitzen. Er musste sich konzentrieren, sonst würde er Angst bekommen. Noch nie, selbst in seiner Kindheit am Pascagoula River nicht – kam er wirklich von diesem Fluss? –, war der Mond der Erde so nahe gekommen wie jetzt.

»Pascagoula. Pascagoula.« Er sagte den Namen vor sich hin, wie um den Klang zu probieren, die stickige, feuchte Luft des Sommers, das Gras zu riechen, die Zikaden, all die Zeichen unausgesprochener Liebe …

Der Mond kam immer näher. Es schien, als wolle er Garcia mitsamt seinem überdimensionalen Gehirn zwischen sich und der Erdoberfläche zerreiben. Jetzt wusste er, warum er hier lag, warum er sich so flach an Mutter Erde presste.

»Oh, Mann«, flüsterte Garcia. »Mann.« Was würde aus dieser Vereinigung zwischen Erde, Mond und ihm hervorgehen? Wes Geistes Kind würde dieser neugeborene Planet sein, wie viele neue Galaxien würde ihr gemeinsames Genmaterial hervorbringen? Was für eine Reise würden sie antreten? Durchs Universum, soviel war sicher. Garcia sah Blumen vor sich, in Farben, die es noch gar nicht gab.

Er ließ seine Finger durchs Gras gleiten. Er musste sich konzentrieren. Es fiel ihm schwer, seinen Blick weg von diesem magischen Mond zu bewegen, er legte den Kopf in den Nacken und sah hinter sich auf den großen Kasten, der von einigen Scheinwerfern angestrahlt wurde. Die Mauern des Schlosses reflektierten das Licht gelb wie Sand.

Da war noch etwas anderes. Ein Geräusch, das vorhin noch nicht da gewesen war. Ein Kratzen oder Scharren und leise Stimmen, die den Weg entlang kamen. Garcia knurrte wie eine kleine Katze. Mühsam, als wäre sein Hals ein seit Jahren eingerostetes Scharnier, drehte er den Kopf nach rechts. Schräg über ihm ragte der Turm der Emichsburg wie ein mahnender Zeigefinger in die schwarze Nacht. Flackernd ging in einem kleinen Fenster eine Lampe an, und sie fügte sich unnatürlich in den Chor des unendlichen Lichts der Sterne am Himmel. Poltern und Stimmen. Ein Schrei drang durch die Nacht.

Das war genug. Garcia schnaubte unwillig und versuchte, sich zu erheben. Der Mond hatte wieder die unendliche Entfernung eingenommen, eine miese milchige Murmel am Himmel. Garcia fühlte Zorn in sich aufsteigen. Er musste sich konzentrieren, denn so viel war sicher: Es war nicht gut, wenn er wütend wurde. Es war ja nicht mehr wichtig, aber es war einer der Gründe, warum er damals zur Armee gegangen war.

Garcia sah wieder hinüber zum Turm und dachte an etwas anderes. Die sollten ihn kennenlernen, falls er in der Lage sein sollte, aufzustehen. Doch dann nahm auf einmal etwas anderes seine Aufmerksamkeit in Anspruch. An seinen Waden machten sich Käfer oder Ameisen zu schaffen, die ihm wohl in die Hosenbeine gekrabbelt waren. Und hörte er in dem Gestrüpp neben sich nicht überdeutlich die Mäuse rascheln? Würde er noch eine andere Erfahrung machen in dieser Nacht?

Der Mond war vergessen, er musste Prioritäten setzen. Nur: Was war wirklich wichtig? Die Ameisen loswerden oder sie akzeptieren? Den Frieden dieser Nacht wiederherstellen oder auf ihn pfeifen? Der Mond, würde er wiederkommen, auch wenn er sich jetzt um andere Dinge kümmern musste? Garcia lag im Gras, gelähmt, und starrte hinauf in den nachtblauen Himmel, angestrengt, als würde die Lösung des Rätsels irgendwo dort oben geschrieben stehen.

Die Sonne stieg unaufhaltsam höher und erhob sich über die Bäume und Häuser der Stadt in den Himmel, der an den Rändern noch in diffuses Weiß getaucht war. Der Schatten des Turms und des Krankenhauses fiel lang über den Rasen, der von schmalen Wegen durchzogen war und kunstvoll angelegte Blumenbeete umschloss. Der Morgenverkehr – auf der Ausfallstraße am Schloss vorbei – machte sich durch ein stetiges Rauschen bemerkbar. Besonders hartnäckig war das Brummen wie von einem altersschwachen Frachtflugzeug, das in Intervallen leiser und lauter wurde. Garcia versuchte, es zu ignorieren, aber schließlich schlug er die Augen weit auf. Über ihm baumelte eine blassviolette Blüte, in deren Schlund sich sein Blick beinahe verlor. Tief darin bewegte sich etwas, arbeitete sich mühsam nach oben, aus dem Geheimnis der Blüte zum Licht und wuchtete sich ohne Eile über den Rand des Kelchs. Es war das Frachtflugzeug, eine Hummel, die jetzt mit Pollen bestäubten Beinen zur nächsten Blüte brummte, völlig unbeeinflusst vom zusätzlichen Gewicht.

Garcias Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln, das ihm erstarrt im Gesicht stehen blieb, als sein Blick langsam nach unten wanderte, über sein nicht mehr ganz frisches, verwaschen graues T-Shirt mit dem kaum lesbaren Aufdruck ›The …ones Tour 1…6‹ glitt und auf seine ausgelatschten Sandalen fiel. Dort unten schlossen sich gerade zwei Hände um seine Fußknöchel und zerrten ihn aus dem Blumenbeet, in dem er lag.

Kapitel 1

Der Wecker schrillte. Der Raum erzitterte, erbebte, als sei der Ton ein Frevel, der das Universum aus Bett, Nachttisch, Schrank und Stuhl, das Roccos Schlafzimmer ausmachte, in seinen Grundfesten erschütterte. Dumpf kam Rocco an die Oberfläche seiner Träume oder wo immer er sich gerade aufgehalten hatte. Mit schwerfälliger Hand tappte er nach dem Wecker. Warum hatte er sich keinen Radiowecker zugelegt?

Es dauerte einen Moment, bis er feststellte, dass nicht der Wecker, sondern das Telefon klingelte. Als Rocco es gefunden hatte, waren Welten zusammengestürzt, aber er war einigermaßen wach.

»Ja?«, sagte er in den Hörer und knipste seine Nachttischlampe an. Das gelbe Licht reichte kaum bis in die schummrigen Ecken des kleinen Schlafzimmers.

»Wir haben ’nen Toten«, sagte Anna am anderen Ende ungewohnt schnoddrig. Sie sagte nie Leiche. Das klinge so nach Moder und Fäulnis, hatte sie Rocco einmal erklärt. Toter, das hatte etwas düster Geheimnisvolles, wie ein Bild, auf dem nicht mehr alles zu erkennen war oder das sich in dunkle Räume erstreckte, die hinter einem Vorhang verborgen waren. Ein Toter, das raschelte wie trockenes Laub.

»Besser gesagt, eine Tote«, verbesserte Anna sich.

»Mhm«, machte Rocco und rieb sich müde die Augen, als der Wecker erneut klingelte. Er zuckte zusammen und schlug heftig auf den Ausschaltknopf. »Und wo?«, fragte er gereizt. »Alles klar. Bis gleich.« Er legte auf, warf das Telefon auf die Bettdecke und blieb ein, zwei Minuten bewegungslos liegen. Dann schwang er seine Beine über die Bettkante und stand auf. Es war kurz nach sechs.

Kurz nach halb sieben klingelte es an der Tür. Rocco nahm einen letzten Schluck aus seiner Espressotasse und ging die Treppe hinunter. Draußen war noch alles ruhig, nur auf der Hohenzollernstraße fuhr ab und zu ein Auto vorbei. Die Sonne kam gerade hinter den Dächern hervor und beschien die Spitzen der Bäume des kleinen Hohenzollernplatzes. Anna, seine Kollegin, saß dort auf einer Bank beim Auto. Rocco spürte die Frische der Luft an diesem Morgen. Und doch würde es ein heißer Tag werden.

»Commissario Marino«, rief Anna und winkte. Neben ihr standen zwei Becher Kaffee.

»Morgen«, sagte er mürrisch. Anna sah frisch aus wie immer, obwohl auch sie bestimmt aus dem Bett geklingelt worden war. Rocco nippte am Kaffee und verbrühte sich beinahe den Mund.

»Steig ein«, sagte Anna knapp. »Wir müssen zum Schloss.«

»Was genau ist passiert?«, fragte Rocco, während sie auf die Stuttgarter Straße bogen, die Ludwigsburg in zwei ungleiche Teile schnitt.

»Es gibt eine Tote im Märchengarten. Mehr weiß ich auch noch nicht. Sie haben sie gerade erst gefunden.«

»Wer ist ›sie‹?«

»Was weiß ich«, sagte Anna gereizt. »Ich hab doch gesagt, dass sie gerade eben erst gefunden wurde.« Rocco war um diese Uhrzeit einfach unerträglich. »Im Märchengarten.« Rocco schnaufte und blickte mit einem gewissen Wohlbehagen auf das Schloss, das nach Westen lange Schatten warf. Das Licht war klar und frisch, und die Konturen zeichneten sich scharf ab. Die Wiesen der Parkanlagen leuchteten golden in der Morgensonne.

Sie bogen in die Einfahrt zum Schloss ein. Im Innenhof am Brunnen stand ein Polizist mit drei Männern, die auf sie zu warten schienen.

»Guten Morgen«, sagte der Polizist, als sie ausgestiegen waren. »Herr Lohhausen, das sind Hauptkommissar Marino und Kommissarin Behr. Hauptkommissar Marino, das ist Herr Lohhausen von der Betreiberfirma des Märchengartens.« Die beiden anderen Männer schienen ihm keine Erwähnung wert. Einer davon trug ebenfalls Uniform. Rocco nahm an, dass es sich um einen Parkwächter handelte. Er musterte ihn kurz, das saubere, etwas aufgedunsene Gesicht und den akkurat gestutzten Oberlippenbart. Der andere trug Gummistiefel, eine blaue, grobe Hose und einen zerschlissenen und farblich undefinierbaren, fleckigen Pullover. Er sah die beiden Kommissare mürrisch an, dann drehte er sich weg und beachtete sie nicht weiter.

»Lohhausen. Guten Morgen«, sagte Lohhausen, und streckte Rocco und Anna die Hand entgegen. »Ich bin der Manager hier.«

»Manager?«, sagte Rocco und schüttelte seine Hand. »Wie soll ich das verstehen? Werden das Schloss und der Märchengarten nicht von der Stadt und vom Land verwaltet?«

»Das war bis vor Kurzem so. Bis man sich entschloss, die Verwaltung in die Hände einer externen Betreiberfirma zu geben, die etwas vom Geschäft versteht.« Lohhausen lächelte unverbindlich. »Seitdem manage ich den Märchengarten. Mit dem Schloss haben wir aber nichts zu tun.«

»Ach ja«, sagte Rocco. »Ich erinnere mich …«

»Hm. Und das haben wir jetzt davon«, sagte Anna leise.

»Was sagten Sie?«, fragte Lohhausen und runzelte die Stirn.

»Ist Ihnen aus früherer Zeit ein ähnliches Vorkommnis bekannt?«, fragte Anna zurück.

Lohhausen zuckte mit den Schultern. Er mochte um die 40 sein, schütteres, blondes Haar, dunkle Augenringe und gerötete Lider. Er sah nicht schlecht aus, groß, schlank, korrekt gekleidet, leger. Markante Falten zogen sich zwischen den Brauen zur Nasenwurzel. Er dachte nicht über die Frage nach, da war Rocco sicher. Ihm gingen andere Dinge durch den Kopf.

»Mir ist jedenfalls nichts bekannt«, mischte sich der Mann in Uniform ein. »Gestatten Sie, ich bin Herr Gerhardt und für die Parkwächter zuständig.«

»Haben Sie die Tote gefunden?«, fragte Anna ihn.

Gerhardt schüttelte den Kopf.

»Das war er.« Er deutete mit dem Daumen auf den Arbeiter, der unbeteiligt etwas abseits am Brunnen lehnte und sich eine Zigarette drehte. »Der Franzose.«

Anna sah Rocco an.

»Ich weiß gar nicht mehr, wie er richtig heißt, ich glaube, Schaminsky. Jeder sagt ›der Franzose‹ zu ihm.« Gerhardt winkte ihn herbei.

Der Franzose zündete die Zigarette an, blies den ersten Zug in die Strahlen der Sonne, die bereits über den Ostflügel des Schlosses geklettert waren, und setzte sich langsam in Bewegung. Mit der linken Hand fuhr er sich durch sein dichtes, strubbeliges Haar.

»Jaa?«, fragte er gedehnt, als ob man ihm eine völlig abwegige Aufgabe zugeteilt hätte.

»Ihr Name?«, fragte Anna.

»Sagen Sie einfach Franzose zu mir.«

Anna verzog den Mund. »Dann ist ›Einfach‹ wohl der Vorname und ›Franzose‹ Ihr Nachname?«

»Genau.« Der Franzose sah sie an und grinste.

Anna kniff ihre grauen Augen zusammen und fixierte ihn unverwandt. Rocco erkannte an der Art, wie ihre Augenbraue kaum merkbar zuckte, dass jetzt nicht mit ihr zu spaßen war.

»Sie haben da drüben eine tote Frau gefunden«, sagte sie leise und ihr Pferdeschwanz wippte leicht. »Und Sie haben nichts Besseres zu tun, als Scherze wegen Ihres Namens zu machen? Sie sind ein äußerst charmanter Bursche und wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich Sie sicher gerne mit Ihnen verbringen, um lustige Namensrätsel zu lösen. Aber ich habe keine Zeit. Und wenn Sie mir nicht auf der Stelle Ihren Namen nennen, dann sind Sie der Erste heute Morgen, dem ich Handschellen anlege und von meinem Kollegen hier ins Präsidium bringen lasse. Ist das klar?«

Ganz langsam, als müsse er die Information, die möglicherweise hinter Annas Worten verborgen lag, erst mühsam entschlüsseln, schwand das Grinsen aus dem Gesicht des Franzosen.

»André Schaminsky«, sagte er schließlich.

»Sie haben die Tote gefunden?«

»Ja.«

»Wo genau?«

»Da hinten hängt sie.«

»Hängt sie?« Anna sah Rocco an. Der zuckte mit den Schultern.

»Na, kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.«

Der Franzose ging mit Gerhardt voraus durch ein zweites Tor, von dem eine lange, schmale Allee zum hinteren Teil des Schlosses und zum Märchengarten führte.

»Kennen Sie die Tote?«, fragte Rocco, ohne jemand Bestimmtes anzusprechen.

»Nicole Dahm«, sagte Gerhardt über die Schulter. »Eine Erzieherin …«

»Sie war eine Angestellte«, unterbrach ihn Lohhausen, der neben Anna und Rocco herging. »Sie werden verstehen, dass ich …« Er brach ab und faltete seine Hände ineinander. Er war nervös und Rocco fragte sich, ob es wegen der Toten war oder weil er ans Geschäft dachte.

»Ja …?«

»Ach, nichts.« Lohhausen winkte ab. »Es ist nur … schlechte Publicity können wir zurzeit nicht brauchen, wissen Sie?«

Business. Rocco nickte. »Das kann man wohl nie.«

Sie bogen hinter Gerhardt und dem Franzosen nach links ab und gingen den Weg entlang auf eine Burg zu, die hinter den Bäumen in Sicht kam. Die Sonne beschien die Südostseite des Turms, dessen gelbe Steine im klaren Licht leuchteten.

Rocco befiel auf einmal eine ungute Vorahnung. Das war eigentlich nicht seine Art. Als sie auf den Turm zugingen, erinnerte er sich, dass er als Kind diesen Turm bereits gesehen hatte, wie fast jedes Kind, das in der Gegend aufgewachsen war. Es war der Rapunzelturm. Seine Eltern hatten ihn und seine Schwester hierher geschleppt, obwohl sein Vater nichts mit deutschen Märchen anfangen konnte. Aber als Italiener war er für Märchen, die mit vielerlei Mythen und Aberglaube durchzogen waren, sehr empfänglich. Rocco erinnerte sich dunkel an die Versuche, den Zopf im Schatten des Turms zu beschwören. Die piepsende Stimme seiner Schwester neben ihm, er selbst, der stumm mit schwarzen Knopfaugen nach oben blickte, auf eine Reaktion des Mädchens wartete, die da wohl seit langer Zeit am Fenster saß …

»Ach, du Scheiße«, hörte er Anna sagen, und fast zeitgleich den Franzosen: »Hier ist es.«

Sie waren halb um den Turm herumgegangen, als der Franzose wie ein Fremdenführer hinaufdeutete. Dort, auf der Schattenseite, baumelte Rapunzels Zopf aus einem Turmfenster, ein grobes, hanffarbenes Etwas mit einer schmutzigen Schleife. Rocco kamen der Turm und der Zopf viel kleiner, irgendwie schäbiger und abgewetzter vor als in seiner Erinnerung. Und am Ende des Zopfs hing eine Frau. Das Gesicht war verzerrt und weiß wie Marmor, die Augen starrten scheinbar in verschiedene Richtungen. Ihre dunkelbraunen Haare fielen ihr bis auf die Schulter. Ihre hellblaue Bluse leuchtete unnatürlich vor der Turmwand. Rocco und Anna waren stehen geblieben und starrten auf das Bild, das sich ihnen bot.

Plötzlich begann sich die Tote zu bewegen wie eine Strohpuppe im Wind, obwohl nicht die leiseste Brise zu spüren war. Rocco hielt unwillkürlich den Atem an, doch gleich darauf erschienen zwei Köpfe am Fenster und machten sich am Rapunzelzopf zu schaffen. Erst jetzt realisierte er die Kollegen von der Spurensicherung, die schon unten am Turm standen und wie er und Anna nach oben blickten.

»Ach, du Scheiße«, flüsterte Anna noch einmal, dann gingen sie zu der Gruppe am Turm hinüber.

»Ja, traurig«, sagte Lohhausen unverbindlich. »Hören Sie, ich muss natürlich auch ans Geschäft denken.« Er sah Rocco an, der etwas blass geworden war. »Schlimm genug, was uns das für einen Image-Schaden verpassen könnte. Sie wissen schon, die Presse: ›Tod im Märchengarten‹, ›Rapunzel erwürgt Rivalin‹, ›Zopf des Grauens‹ und das ganze Gewäsch.« Er deutete die Schlagzeilen mit abrupt in die Luft gehobener Hand an. »Meinen Sie, dass Sie den Garten wegen dieses Vorfalls komplett sperren müssen? Sie könnten doch einfach …«

»Jetzt halten Sie mal die Luft an«, zischte Anna. »Wir informieren Sie, sobald Sie den Garten wieder öffnen können. Heute wird das ganz sicher nicht sein.«

Der Manager sah sie stirnrunzelnd an und scharrte unentschlossen mit einem Schuh im Sand. »Heute nicht?«, murmelte er. »Ja, okay. Auch gut. Ich werde dann meine Partner informieren.«

»Partner?«, fragte Anna. »Ich dachte, Sie sind der Manager?«

Lohhausen lachte kurz und unlustig. »Tja, was man alles so denkt.« Damit ließ er sie stehen und ging den Weg zurück zum Schloss. Anna sah ihm wütend nach.

Am Fuß des Gemäuers wartete die Gerichtsmedizinerin Dr. Mahler auf die Leiche. Die Polizisten oben hatten mithilfe von Herrn Gerhardt inzwischen den Mechanismus für den Zopf in Gang gesetzt und die Tote glitt an der Mauer des Turms herunter. Die letzten Meter zum Boden mussten mit einer Leiter überbrückt werden, denn der Zopf reichte nicht bis ganz unten.

Dr. Mahler war neben der Bluse der Toten der zweite Farbfleck am Tatort. Sie trug eine grelle Stola und hatte sich eine Sonnenbrille in ihr tiefschwarz gefärbtes Haar gesteckt, um den Geruch des Todes, der ihr ständig anhaftete, zu überdecken. Dass sie damit jedoch die Morbidität ihres Auftritts noch verstärkte, traute sich niemand, ihr zu sagen.

»Givenchy«, flüsterte Anna überzeugt, bevor sie sich Dr. Mahler und der Toten näherten. Rocco bewegte zweifelnd den Kopf hin und her und zuckte mit den Schultern. Anna und ihre Freundin Julia, mit der sie zusammenwohnte, versuchten jedes Mal, Dr. Mahlers Duft herauszufinden, wenn sie im Kaufhaus an der Parfumabteilung vorbeikamen. Bisher hatten sie, abgesehen davon, dass sie nach fünf Minuten ganz unglaublich stanken, allerdings keinen Erfolg gehabt.

»Hallo, Frau Doktor«, sagte Rocco.

»Marino«, schnaufte Dr. Mahler und drehte sich halb um, was einen Duftschwall verwelkter Hortensien in seine Richtung trieb. »Was für eine nette Überraschung so früh am Morgen.« Anna würdigte sie mit einem Seitenblick.

»Ja. So früh am Morgen«, sagte Rocco. Und schon in voller Kriegsbemalung, dachte er und hielt kurz die Luft an. In der Tat hatte Dr. Mahler ihrem flächigen Gesicht schon das volle Programm angedeihen lassen. Da waren Kajal, Lidschatten, Lippenstift, Tönungscreme und einige andere Kosmetika im Einsatz, von denen sich Rocco keine Vorstellung machen konnte.

Die Polizisten hatten den Körper inzwischen auf den Boden gelegt. Die Leiche war mit einem Kabelbinder an den Zopf gebunden gewesen. Tieflila schillernde Striemen zogen sich um den Hals. Auch an den Handgelenken waren auf den ersten Blick blaue und grüne Flecke zu sehen. Der Fotograf schoss Bilder, bis Dr. Mahler ihn unsanft beiseite schob.

»Und? Was sagen Sie?«, fragte Anna, nachdem die Gerichtsmedizinerin die Tote eine Weile regungslos betrachtet hatte. Dr. Mahler zog die Augenbrauen hoch. Ihre Bluse raschelte, als sie mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die ausgefranste, blaue Linie am Hals der blassen Toten zeigte.

»Sieht so aus, als sei sie mit dem Kabelbinder erdrosselt worden. Allerdings …« Sie streckte die Hand aus und ein Mann von der Spurensicherung reichte ihr ein paar Latexhandschuhe, die sie über ihre lackierten Finger zog. Dann hob sie den Kopf der Leiche etwas an.

»Allerdings gibt es hier am Hinterkopf Blutspuren und eine ziemlich tiefe Verletzung. Könnte auch die Todesursache sein. Könnte aber auch sein, dass sie sich beim Sturz von dort oben den Kopf an der Wand angeschlagen hat. Obwohl es eigentlich nicht nach einer Abschürfung aussieht. Mit Sicherheit kann ich das noch nicht sagen. Aber ich glaube weniger, dass sie an dem Sturz gestorben ist. Möglicherweise war sie schon vorher tot.« Dr. Mahler sah die Wand des Turms entlang nach oben. »Meine Güte«, seufzte sie und stand auf. Rocco trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Trotzdem lassen Sie die Wand am besten auf Blutspuren untersuchen, Marino.« Und zu den Leichenträgern: »Sie können sie mitnehmen.« Angewidert zog sie die Handschuhe von ihren Fingern und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn. Es begann, heiß zu werden, obwohl es erst früher Vormittag war.

»Sie benachrichtigen uns, sobald sie Näheres wissen«, sagte Rocco.

»Ich rufe Sie an.« Dr. Mahler nickte. Sie schob ihre Sonnenbrille vor die Augen und sah noch einmal am Turm hinauf. »Und? Welches ist Ihr Lieblingsmärchen?«

»Mein … Lieblingsmärchen?«, fragte Rocco irritiert.

»Na ja.« Dr. Mahler sah ihn an, lächelte milde und er wusste, dass sie hinter der schützenden Sonnenbrille ihre Augen zusammenkniff. »Ist doch der Märchengarten hier, nicht? Ein passender Ort für einen Mord.«

Rocco verzog missbilligend den Mund. »Auf was die Leute alles kommen.«

Die Leichenträger waren bereit und wollten den Sarg zu ihrem Wagen tragen, als plötzlich zwei Polizisten aus dem Gebüsch kamen. Im Schlepptau hatten sie einen verwahrlosten Kerl.

»Sehen Sie mal, Herr Kommissar«, rief der eine, »wen wir hier im Gestrüpp gefunden haben.«

»Na, so was«, sagte Dr. Mahler und trat einen Schritt zurück.

»Na, so was«, seufzte Rocco und zog die Augenbrauen hoch. »Garcia.«

Anna runzelte die Stirn. »Du kennst den?«

»Kennen klingt mir in diesem Fall zu vertraulich. Aber ich weiß ziemlich genau, wer das ist, wenn du das meinst.«

»Das meine ich«, sagte Anna genervt. »Und? Wer ist das?«

»Garcia«, sagte Rocco einfach und winkte den Beamten. »Bringt ihn mal her.«

»Na, so schnell haben Sie jedenfalls noch nie einen Mord aufgeklärt, Marino«, sagte Dr. Mahler und ging den Leichenträgern hinterher zum Parkplatz.

»Rotkäppchen«, rief sie über die Schulter und schwenkte zum Abschied ihre Handschuhe.

»Rotkäppchen?«

»Mein Lieblingsmärchen.«

»Oh, Mann.« Anna sah ihr nach. »Auf ihrem Tisch will ich nicht landen.«

»Das will keiner«, sagte Rocco. Er wedelte sich mit der Hand Frischluft zu. »Junge, Junge. Was für eine Frau.«

Anna knuffte ihn in die Seite. »Spinnst du?«

»Garcia. Was machst du denn hier?« Die Beamten hatten den spindeldürren Mann vor Rocco und Anna aufgestellt. Er hielt sich leicht schwankend vor ihnen und schien zu überlegen. Zumindest verzog er das Gesicht zu seltsamen Grimassen, kniff die Augen zusammen und blies seine Backen auf, als würde er nachdenken.

»Pffhh«, machte er schließlich.

»Mhm«, machte Rocco.

»Wenn du mich fragst, der Typ ist vollkommen stoned«, flüsterte Anna ihm ins Ohr.

Rocco nickte. »Ganz sicher.« Er sah sich um. Die Leichenträger und Dr. Mahler waren weg. Unter dem Turm standen nur noch ein paar Beamte der Spurensicherung. Auf der sonnenzugewandten Seite lehnte der Franzose an der Mauer, neben ihm stand Herr Gerhardt von der Parkaufsicht. Die beiden sahen neugierig herüber. »Herr Gerhardt?«, rief Rocco. »Kommen Sie bitte? Und bringen Sie Ihren Franzosen mit.«

»Ja, bitte?«, fragte Gerhardt höflich. Der Franzose sagte gar nichts. Er starrte nur zu Garcia.

»Haben Sie diesen Mann schon früher einmal hier gesehen?«, fragte Rocco. Gerhardt musterte Garcia eingehend. Garcia sah ihn seinerseits genau an, aber keiner konnte ermessen, was er wirklich sah. Kurz weiteten sich seine Pupillen in erschreckendem Ausmaß, sodass Rocco befürchtete, er würde im nächsten Moment aus purer Angst laut schreiend davonlaufen. Aber dann beruhigte er sich offenbar wieder. Alle seine Kämpfe schienen innerlich abzulaufen, in seinem Gesicht waren nur die Ausläufer der Beben zu sehen. Seine lockigen Haare hingen ihm in Zotteln übers hagere Gesicht, in dem eine große Hakennase das hervorstechendste Merkmal war, sah man einmal von seinen schwarzen, schwimmenden Augen ab. Sein T-Shirt war nicht mehr ganz sauber und er strömte einen erdigen Geruch aus. In seiner Brusttasche steckte eine Pfeife und aus seinem Mundwinkel rann Speichel in seinen schmalen Bart, der sich über die Oberlippe bis unter die Mundwinkel erstreckte.

»Nein, ich kann mich nicht erinnern«, sagte Gerhardt nach einer eingehenden Inspektion. »Und ich glaube nicht, dass der mir entgangen wäre.«

Rocco verzog die Mundwinkel. »Das habe ich mir gedacht«, brummte er.

Der Franzose schien aus einer Art Trance zu erwachen. Er schob den Unterkiefer vor und schluckte leer. »Herr Gerhardt. Klar. Der hat sich doch schon öfter hier herumgetrieben.« Er starrte Garcia an und nickte bedächtig. »Chef, der war schon hier. Weiß ich ganz genau. Ist immer hier und an den Hütten unten im Märchengarten rumgeschlichen.« Er zeigte mit seinem muskulösen Arm nach unten, wo die Hütten stehen mussten. Dann nickte er wieder und sah Garcia prüfend ins Gesicht. »Ganz sicher war der das.«

Gerhardt schüttelte den Kopf. »Also, ich hab den hier noch nicht gesehen. Und ich habe euch gesagt, ihr sollt mich informieren, wenn hier so was rumläuft.« Er warf einen angewiderten Blick auf Garcia.

»Der war schon oft hier«, wiederholte der Franzose und sah Anna an, ohne auf seinen Chef zu achten. Anna zog zweifelnd eine Augenbraue hoch.

Garcia schnaufte und besah sich den Franzosen aus halb geöffneten Augen. »Ich schlag dir alle Zähne ein«, flüsterte er ohne erkennbare Regung. Trotzdem schien die Anstrengung ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er schwankte zur Seite und stützte sich auf einen der Uniformierten.

Der Franzose lachte. »Jederzeit, Mann. Jederzeit.« Er krempelte seinen Pullover hoch und zeigte seine kräftigen Unterarme.

»Oh, Mann. Mir reicht es. Können wir dieses Horrorkabinett jetzt aufs Revier mitnehmen?« Anna zeigte in die Runde und sah Rocco genervt an.

»Garcia? Warum?« Rocco schüttelte den Kopf. Er traute Garcia alles Mögliche zu, aber keinen Mord.

»Na, hör mal. Wir haben ihn hier aus dem Gebüsch gezogen, direkt neben dem Tatort …«

»Nicht ganz«, mischte sich einer der Beamten ein, die ihn gefunden hatten. »Er lag da unten.« Er zeigte den Hang hinunter auf ein Blumenbeet. »Wir haben ihn nur hier heraufgebracht, weil es der kürzeste Weg war.«

»Anna. Wir könnten ihn wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz drankriegen, da bin ich sicher. Aber das ist auch schon alles. Was sollen wir mit dem Vogel?«, fragte Rocco.

»Spinnst du?« Anna traute ihren Ohren nicht. »Immerhin … immerhin konnte er was gesehen haben, oder nicht?«

»Na gut, dann lassen wir uns seine Adresse geben. Wenn er wieder klar ist, soll er im Präsidium vorbeikommen. Gut?«

Anna verdrehte die Augen. Manchmal konnte sie Rocco auf den Mond schießen.

»Was soll das? Der Mann war ziemlich sicher Zeuge in einem Mordfall. Mindestens ein Zeuge, wenn nicht mehr.«

»Ach was«, sagte Rocco. »Ich kenne doch Garcia. Der würde keiner Fliege was zuleide tun.«

»Ich glaube es nicht«, zischte Anna. Sie packte Rocco am Arm und zog ihn ein paar Meter weiter weg. Beide standen einen Augenblick schweigend nebeneinander und sahen die Allee entlang auf einen Mann, der ein Fahrrad schob und vom anderen Ende her langsam auf sie zukam.

»Sag mal, was ist los mit dir?«, fragte Anna. »Gerade eben hast du noch gesagt, du kennst den Kerl nicht gut, und jetzt tust du so, als wärt ihr zusammen in die Grundschule gegangen. Warum willst du den Typ nicht mitnehmen? Das ist doch Quatsch.«

»Schau ihn dir doch an. Ich kenne ihn schon eine Weile, der streunt seit einer Ewigkeit hier herum. Sollten wir ihn brauchen, entkommt er uns nicht. Wo sollte er schon hin? Und ich bin sicher, dass er nichts mit dem Mord zu tun hat. Mit Garcia vergeuden wir nur unsere Zeit. Wenn er wieder unter uns weilt, können wir ihn meinetwegen verhören.«

Anna atmete tief durch. Sie hatte sich an die Art gewöhnt, mit der Rocco seine Ermittlungen durchzuführen pflegte. Aber manchmal platzte ihr der Kragen. »Ich weiß nicht, Rocco. Ich weiß nicht, was ich machen soll. In anderen Dienststellen wäre so was eine grobe Verletzung der Vorschriften. Und hier komme ich mir vor, als würde ich einen Aufstand machen wegen einer Lappalie.«

Inzwischen war der Mann mit dem Fahrrad näher gekommen, was er durch ein unregelmäßiges Klingeln mit der Fahrradglocke kundtat. Rocco und Anna sahen ihm zu, während Rocco leise sagte: »Anna, ich bitte dich. Vielleicht ist es besser, wenn wir den Spuren nachgehen. Du untersuchst den Tatort. Den Turm, dieses Gemäuer und so weiter, während ich ein Wörtchen mit Lohhausen rede. Was sagst du?« Er zeigte auf den Mann mit dem Fahrrad. »Da kommt McCarthy. Das ist der Kumpel von Garcia. Vielleicht kann der ja Licht in die Geschichte bringen.« Er sah McCarthy zu und wiegte bedächtig den Kopf. »Sag mal, bei dem ist auch nicht klar, ob er das Fahrrad oder das Fahrrad ihn schiebt, oder?«

»Nicht ganz«, sagte Anna und starrte auf den rundlichen Mann, dessen buntes Hawaii-Hemd an ihm klebte. Er schien zu wenig mehr fähig, außer die Klingel zu betätigen und sich gerade eben so auf den Beinen zu halten. Rocco musste grinsen.

»Hallo«, rief er und winkte dem Mann zu. Der stoppte kurz vor Garcia.

»Ich bin Arzt«, sagte er, nachdem er sich mit dem Unterarm mühsam den Schweiß von der Stirn gewischt hatte. »Ich soll diesen Mann abholen. Er muss zur …« Er sah sich um, schien zu überlegen und zog die Nase hoch. »Untersuchung«, fuhr er schließlich fort.

»Jaha«, prustete Rocco. »Guter Witz, McCarthy. Guter Witz. Der Mann ist Zeuge in einem Mordfall. Warst du vielleicht heute Nacht auch hier im Garten?«

»Ich muss weg«, sagte Anna plötzlich. »Ich muss hier weg, bevor noch die gesamte geschlossene Abteilung der Stadt aufmarschiert. Herr Gerhardt, Herr Schaminsky, ich will in den Turm. Würden Sie mich bitte begleiten? Rocco, wir sehen uns später. Ich bin überzeugt, du kommst hervorragend ohne mich aus mit deinen … Bekannten.«

»Das sind nicht meine Bekannten«, rief Rocco hinter ihr her und breitete die Arme aus. »Was kann ich denn dafür?« Er sah die Beamten an, die beide die Schultern hochzogen und ihre Handflächen ausbreiteten.

Kapitel 2

Rocco musste sich zu Lohhausens Büro durchfragen. Nachdem die Fairy Tale GmbH die Geschäftsführung des Märchengartens übernommen hatte, war die Verwaltung von der Mömpelgardstraße in ein umgebautes Kasernengebäude mit sanierten und restaurierten Büroräumen in die Friedrich-Ebert-Straße gezogen. Lohhausens Firma war also fast Nachbar der Polizeidirektion.

Eine Sekretärin begleitete ihn schließlich ins Büro. Es war ein langer Raum mit hohen Decken, die Glasfasertapeten waren weiß gestrichen worden und an einer Wand hingen ein paar dezente Grafiken, die bei der Größe kaum ins Auge fielen. Die gesamte gegenüberliegende Front war verglast und zeigte hinaus auf einen Parkplatz mit neu angepflanzten Bäumen. Lohhausen hatte allerdings die Jalousien nahezu komplett heruntergelassen, sodass im Raum Zwielicht herrschte. Er saß hinter seinem gläsernen Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm seines Notebooks.

»Ich bin gleich soweit«, murmelte er und wies mit einer Geste auf einen Lederstuhl.

Rocco ging hinüber zum Fenster, klappte die Jalousie mit zwei Fingern auseinander und sah hinaus. Es war nichts los auf dem Parkplatz, grelle Stille in der Mittagshitze, Bäume und Autos schwitzten matt oder glänzend vor sich hin. Er wanderte hinüber zu einem Sideboard, auf dem Entwürfe, Skizzen und Flyer lagen.

»Ho, ho, ho«, rief Lohhausen und stand von seinem Stuhl auf. Rocco fühlte sich an den Weihnachtsmann erinnert. »Ich glaube nicht, dass das relevant für Ihre Ermittlungen ist, Herr Kommissar. Das sind Firmeninterna.« Lohhausen lächelte. »Aber unsere Marketing-Kampagne startet bald. Da können Sie dann alles sehen. Setzen Sie sich doch.« Er deutete wieder auf den Stuhl vor ihm.

»Herr Lohhausen, ich brauche die Personaldaten von Nicole Dahm. Die können Sie mir doch sicher geben, nicht wahr?«

»Natürlich. Kein Problem.« Lohhausen drückte auf einen Summer. Rocco setzte sich und sie warteten einen Augenblick, bis die Sekretärin in der Tür erschien. »Suchen Sie mir doch bitte die Personalakte von Frau Dahm heraus«, sagte Lohhausen. »Der Kommissar benötigt sie für seine Untersuchungen.«

Die Dame nickte und verschwand wieder. Rocco und Lohhausen saßen sich wieder schweigend gegenüber. Rocco lächelte und ließ ihn nicht aus den Augen. Warum soll ich die erste Frage stellen, dachte er und hörte, wie Lohhausen tief Luft holte.

»Und?«, fragte er. »Wie sieht’s aus?«

»Wie sieht was aus?«, fragte Rocco zurück.

»Na ja, was gibt’s Neues? Haben Sie den Täter?« Lohhausen war irritiert.

Rocco lachte. »Herr Lohhausen«, sagte er sanft. »Wir haben die Tote gerade eben erst gefunden. Wie sollen wir da schon den Mörder haben? Er stand ja nicht daneben. Hoffe ich.« Garcia kam ihm in den Sinn. »Ich habe ein paar Fragen an Sie.«

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich kurz halten könnten«, erwiderte Lohhausen. »Ich habe nicht viel Zeit und …«, er sah auf sein Notebook, »gleich noch einen Termin.«

»Sicher«, sagte Rocco. Sein Blick fiel auf die gläserne Schreibtischplatte, durch die er Lohhausens übereinander geschlagene Beine und seine braunen Lederslipper sehen konnte. Er trug hellbraune Socken. Rocco verzog keine Miene. »Eine Ihrer Angestellten ist auf dem … Firmengelände ermordet worden. Es tut mir leid, aber Sie werden sich die Zeit nehmen müssen, meine Fragen zu beantworten.«

Lohhausen spielte mit einem Kugelschreiber und sah zum Fenster hinaus. »Tja, richtig. Nicole war eine meiner Angestellten«, sagte er, als hätte er es vergessen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und rieb sich die geröteten Augen. Für einen kurzen Moment wirkte er müde. »Wissen Sie, ich stehe unter ziemlichem Druck. Unsere Firma ist dabei, den Märchengarten von Grund auf zu modernisieren. Deshalb wurde das Management des Parks in unsere Hände gegeben. Es ist viel zu tun und da kann ich so etwas natürlich nicht brauchen.«

»Nicole?«, fragte Rocco. »Haben Sie sich geduzt?«

Er bemerkte ein kurzes Zögern bei Lohhausen. »Mit den Mädels schon«, sagte er und zwinkerte Rocco zu. »Wo ist eigentlich Ihre Kollegin?«

»Die sieht sich den Tatort an und unterhält sich mit den Parkwächtern. Was hat Nicole … Was hatte Nicole Dahm eigentlich genau für eine Funktion in Ihrem Betrieb?«

»Sie war für die Kindersammelstelle zuständig, zusammen mit zwei weiteren Mädchen. Sie wissen schon, an einem Tag wie heute besuchen viele Eltern mit ihren Kindern den Märchengarten. Da geht das eine oder andere verloren und muss wieder eingesammelt werden. Außerdem veranstalten wir spezielle Führungen und Spiele für Kinder und Eltern. Das werden wir noch weiter ausbauen.« Lohhausen legte den Stift auf die Glasplatte seines Schreibtischs, als müsse er genau an dieser Stelle liegen. »Nicole … Frau Dahm war Erzieherin bei uns.«

»Und die beiden anderen?«

»Noch eine Erzieherin und eine Studentin von der PH. Ingrid … Schmidtgarten und Mindy Schneider.«

Mindy. Rocco schwieg und sah auf den Innenhof hinaus. Ein Geländewagen versuchte vergeblich, einzuparken. Wie eine Fliege gegen das Fenster stieß er immer wieder vor und zurück, ohne sichtbares Ergebnis. Es war warm, Rocco hatte schon lange seine Jacke ausgezogen und krempelte nun die Ärmel seines Sporthemds hoch. Auch Lohhausen stand jetzt auf, zog sein Jackett aus und lockerte die Krawatte.

»Seit wann kennen Sie Frau Dahm?«, fragte Rocco.

»Na, seit sie bei uns angefangen hat. So ungefähr vor einem Jahr.«

Wie aufs Stichwort betrat die Sekretärin das Büro und legte Lohhausen die Personalakte auf den Tisch. Er nahm sie, warf einen Blick hinein und gab sie an Rocco weiter. »Hier steht alles Wissenswerte über Nicole Dahm drin«, sagte er.

»Wir brauchen auch noch die Adressen der anderen Angestellten, die mit Nicole zusammengearbeitet haben.«

Lohhausen verdrehte die Augen und nickte. »Kein Problem. Meine Sekretärin wird sie Ihnen beim Hinausgehen aushändigen.«

Rocco lehnte sich zurück und betrachtete das Sideboard, auf dem die Layouts für Prospekte und Plakate lagen. »Sagen Sie, Herr Lohhausen, diese Modernisierung, von der Sie vorhin sprachen … Ich habe schon davon gehört, aber um was geht es da genau?«

Lohhausen runzelte die Stirn. »Was hat das mit dem Fall zu tun?«

»Das weiß ich noch nicht.«

Der Manager schüttelte den Kopf. »Das sind streng vertrauliche Pläne. Der Märchengarten soll … hm, wie soll ich sagen … sozusagen entstaubt werden. Ach, das führt nicht weit genug. Das wird eine ganz neue Dimension von Entertainment. Aber ich kann Ihnen dazu noch nichts sagen. Mit Nicoles Tod steht das ganz sicher nicht in Verbindung.«

»Sie sind nicht sehr hilfreich, Herr Lohhausen.«

»Das ist nicht meine Aufgabe«, erwiderte Lohhausen verbissen. »Ich muss ein Unternehmen führen und kann es mir nicht leisten, meine Zeit zu vergeuden, nur weil eine überkandidelte Mitarbeiterin am Zopf von Rapunzel erhängt wurde.« Er starrte Rocco mit zusammengekniffenem Mund an und wartete.

Rocco hob die Augenbrauen. »Wieso überkandidelt?«

»Ich weiß nicht. Sie war vielleicht ein bisschen überdreht, aber eigentlich hat es nichts zu bedeuten«, erwiderte Lohhausen und zuckte mit den Schultern.

Rocco stand auf und ging hinüber zum Sideboard. »War Nicole Dahm verheiratet? Oder hatte sie einen Freund?«, fragte er nebenbei.