Rattenkönig - Conrad Schmidt - E-Book

Rattenkönig E-Book

Conrad Schmidt

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Beschreibung

Gejagt von einer düsteren Vergangenheit versucht Nina in der wenig einladenden Stadt Runan eine neue Heimat zu finden. Noch ominöser als der Ort selbst ist jedoch ihre Bleibe, denn unter der oberflächlich idyllischen Kulisse des Gebäudes haust ein grauenerregendes Geheimnis. Das Böse selbst beginnt der jungen Frau bald eine todbringende Schlinge um den Hals zu legen und als Nina aus törichter Neugier heraus das verborgene Kellergewölbe betritt, sieht sie sich mit einem uralten Schrecken konfrontiert, welcher nicht gewillt ist sie je wieder gehen zu lassen.

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Seitenzahl: 361

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für Großmutter und Oma Inge

„Gute Tiere, spricht der Weise, mußt du züchten, mußt du kaufen, doch die Ratten und die Mäuse, kommen ganz von selbst gelaufen."

- Wilhelm Busch

Inhaltsverzeichnis

I. Omen

II. Geheimnisse

III. Jünger des schwarzen Todes

IV. Rattenfänger

Epilog

I. Omen

Liebste Frau Mutter,

mit guten Nachrichten wende ich mich an dich, denn all jenes, was du für mich erdachtest, wird schon alsbald in Erfüllung gehen. Ich stehe kurz vor der Vollendung unserer einstigen gemeinsamen Zukunftspläne und würdest du noch unter uns weilen, so wärest du sicherlich mit dem Stolz mir bezüglich erfüllt, den ich in deinem Herzen mein Leben lang zu erwecken versuchte.

Es gibt Tage, da fehlt mir dein weiser Rat und ich sehne mich nach deinen ermutigenden Worten, doch ich bleibe stets davon überzeugt, dass deine Lehren mich auf all die zu bestehenden Prüfungen bestens vorbereitet haben. Mögest du deinen Frieden in der Gewissheit finden, dass dein Dasein trotz vielerlei Strapazen und Opfer nicht umsonst gewesen ist und ich deine vermutlich noch immer verirrte Seele mit meinem Tun in baldiger Erwartung zur Ruhe betten kann…Schon der bloße Anblick ließ ein unnachgiebiges Gefühl des Ekels über meine Haut fahren. Die Straßen, welche ich eilig passierte, waren völlig verdreckt, der Lärm des Verkehrs war kaum auszuhalten und die triste Aura, die sich vermutlich schon vor langer Zeit über diesen Ort gelegt hatte, gab einem das Gefühl, die Geburtsstätte der Winter- als auch der Sommerdepressionen betreten zu haben.

Dazu diese offensichtlichen Blicke, die man mir von allen Seiten entgegenbrachte und die sich förmlich in mich hineinzufressen schienen. Jene Skepsis, welche von den zahlreichen Augenpaaren ausging, wurde zudem nicht ansatzweise von den dazugehörigen Passanten zu verstecken versucht. Warum Christopher mir ausgerechnet diese Stadt so sehr ans Herz gelegt hatte, blieb mir ein völliges Rätsel. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass ich in meinem gesamten Leben noch nie so ein heruntergekommenes Stück Landschaft erblickt hatte.

Mit jedem Schritt, den ich tat, um endlich meine Wohnung zu erreichen, rechnete ich damit, einen Jünger der Drogenkultur in der Ecke liegen zu sehen oder von einem dahergelaufenen Betrunkenen belästigt zu werden. Und wenn das jemand wie ich sagte, die aus einer Familie stammte, welche sich ausschließlich aus besagten Schmarotzern zusammensetzte, dann konnte man nur erahnen, wie schäbig der Boden sein musste, auf welchem ich Fuß gefasst hatte.

Wenn ich erst einmal in meiner Wohnung war, würde Christopher sich einiges anhören müssen. Am liebsten hätte ich sogleich kehrt gemacht und wäre wieder in den Zug gestiegen, um mich so schnell wie möglich wieder zurück nach Berlin zu begeben, auch wenn ich Gefahr liefe, die Wege einiger ungemütlicher Menschen zu kreuzen, mit welchen ich eine Begegnung in diesem und im nächsten Dasein nach Möglichkeit überaus gerne vermieden hätte.

Eine einzelne Strähne, die sich aus meinem Dutt gelöst hatte, strich mir, vom kalten Wind gelenkt, über die blasse rechte Wange, bevor ich sie wieder zu den anderen Haaren gesellte. Eigentlich hätte ich sie abschneiden müssen, so oft wie er sie mit seinen gierigen Pfoten berührt hatte, aber da ich mir geschworen hatte, all das Vergangene hinter mir zu lassen, ließ ich sie als Symbol dessen weiterhin auf meinem Schopf gedeihen.

Plötzlich spürte ich, wie etwas Nasses auf meinem Kopf landete und an meiner Schläfe hinunterlief - ein Wassertropfen, der zu meinem Pech nicht alleine kam, sondern lediglich als Vorbote eines heimtückischen Sturzregens diente. Großartig, dachte ich mir, ein scheußliches Ende für einen scheußlichen Tag in der scheußlichsten Stadt, die man sich nur hätte vorstellen können. Keine fünf Sekunden später wurde der schon seit längerer Zeit düstere Himmel aufgerissen und über mir ergoss sich eine eiskalte Regenflut.

Ohne eine Möglichkeit mich unter eine schützende Abdeckung zu stellen und nur mit einer dünnen Lederjacke bekleidet, begann ich mein Schritttempo anzuziehen, doch je schneller ich mich vorwärtsbewegte, umso mehr Regen schien zu fallen. Die Menschen, deren geiernden Blicken ich soeben noch ausgeliefert war, dezimierten sich binnen weniger Minuten, bis ich mutterseelenalleine auf der Straße weilte, an deren Rinnstein bereits reißende Bäche entstanden waren.

Als ich schließlich zu rennen begann, hatte sich das leichte Unwetter bereits in ein fürchterliches Gewitter verwandelt. Da meine Anreise auch noch an einem Sonntagabend war, entging ich zudem der Gelegenheit, mich in ein nahegelegenes Geschäft zu flüchten, um dieser Sintflut zu entkommen. Nicht einmal ein öffentliches Gebäude oder zumindest eine Bar waren irgendwo zu sehen. Es gab nur mich und den bitterlich weinenden Himmel.

Und als wäre dies nicht schlimm genug gewesen, verspürte ich urplötzlich das ungute Gefühl, dass sich die Einsamkeit, die mich in Berlin vor Jahren einst ergriff und quasi großzog, an meine Fersen geheftet hatte und mir bis an diesen gottverlassenen Ort gefolgt war.

Der kleine Koffer, den ich hinter mir herzog, sprang auf dem unebenen Fußweg auf und ab und ich wusste jetzt schon, dass ich später beim Auspacken die gesamte Wäsche noch einmal aufs Neue zusammenlegen durfte. Ich hoffte nur, dass der Koffer und besonders die Rollen, welche unter diesem angebracht waren, bei dem durch meine Hektik ausgelösten Gepolter nicht zu Schaden kommen würden, ganz zu schweigen von meinen Wertsachen und dem Portemonnaie, die ich darin mit mir herumschleppte, obgleich der Verlust dieser meine finanzielle Situation letztlich nicht großartig verschlechtern würde.

Während ich mich so durch sämtliche Pfützen und reparaturbedürftige Bodenlöcher kämpfte, dachte ich an die lausigen 100 Mark, die ich mir mühselig zusammengekratzt hatte und die zurzeit alles waren, was mir an Geld zur Verfügung stand.

Gerade als ich mich mit meinem Schicksal, so lange im Regen zu stehen, bis ich völlig durchgeweicht war, abgefunden hatte, leuchtete in einem der Gebäude neben mir ein Licht auf und ich hörte das Läuten eines kleinen Glöckchens, dem ein leises Knarren folgte, welches mich erleichtert aufatmen ließ. Eine sich öffnende Tür war die Antwort auf mein Hoffen und als ich dem Licht entgegenblickte, sah ich eine lächelnde, aber zugleich irritiert dreinblickend Frau, die mich vom Innern des kleinen Ladens heraus anblickte.

»Meine Liebe, haben Sie ihren Hausschlüssel verloren oder sind Sie obdachlos? Na los, kommen Sie schon rein.«

Erleichtert darüber, dass ich doch nicht auf offener Straße ertrinken musste, nahm ich das Angebot der Dame an und begab mich so schnell ich konnte zu ihr ins Trockene. Als ich mich mitten in dem kleinen Kiosk platziert hatte, stieg mir der Geruch von allerlei Süßem und altem Papier in die Nase, sowie der Geruch von Zigarettenrauch, den die schon etwas in die Jahre gekommene Dame in mein Gesicht blies, während sie mich neugierig von oben bis unten musterte.

»Sie kommen wohl nicht von hier, nicht wahr?«, fragte sie lächelnd und reichte mir ein Handtuch.

Ich musste schmunzeln und begann mein Gesicht abzutrocknen.

»Okay, was hat mich verraten?«

»Nun,« begann die Frau grinsend und nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette.

»Zuallererst wirkst du ziemlich verloren, was eigentlich nicht der Fall sein kann, wenn du erst einmal eine Weile in dieser Stadt lebst. Man findet sich hier sehr schnell zurecht, zumindest war das meine Erfahrung, und wenn man dem, was meine Kunden sagen, Glauben schenken kann, bin ich damit nicht die Einzige. So scheußlich diese Stadt auch ist, man kann ihr nicht vorwerfen unübersichtlich zu sein.

Und der zweite Grund ist, dass ein junges hübsches Ding wie du sich nicht alleine um diese Uhrzeit auf der Straße rumtreiben würde, wenn sie mehr über diese Stadt wüsste als ein Neuankömmling. Ein Mädchen, das vorhat länger in dieser Stadt zu verweilen lernt zuallererst, dass sich hier nach Einbruch der Dunkelheit die abartigsten Gestalten auf der Straße tummeln, denen jemand wie du nicht in die Quere kommen wollen würde.

Die einzige andere Möglichkeit wäre die, dass du vollkommen von Sinnen bist, aber ich denke, ich habe ausreichend Zeit an diesem Ort verbracht, um die Verrückten erkennen zu können, wenngleich meine Menschenkenntnis zu wünschen übriglässt.«

Fantastisch, demnach waren meine Sorgen also mehr als berechtigt. Dieser Ort war ein absoluter Alptraum. Die Frau wandte sich dem Regal zu, in welchem sich ihr großes Sortiment an Tabakwaren stapelte, holte eine Schachtel Zigaretten heraus, öffnete sie und reichte mir eine.

»Rauchst du?«

»Nicht mehr. Hab‘ vor knapp einem Jahr damit aufgehört.«

»Du Glückliche,« sagte sie und rauchte dabei genüsslich ihre eigene Zigarette auf, um sie im Anschluss in einem knallroten Aschenbecher hinter sich zu zerdrücken.

»Ich hab‘s auch probiert, aber natürlich nie geschafft. Vielleicht hab‘ ich einfach zu spät damit angefangen, dem Drang nach diesen kleinen Krebsstängeln zu entfliehen.«

Die Frau wandte sich wieder mir zu, entfachte mit ihrem Feuerzeug eine kurzlebige Flamme und zog genüsslich an ihrer zweiten Kippe.

»Da du ja offenbar neu hier bist, stellt sich mir natürlich die Frage, was dich hierhertreibt, beziehungsweise, wohin du gelangen wolltest, bevor der Regen dich überraschte. Wir können nämlich eher wenig damit prahlen, dass wir einen großen Zuwachs an neuen Bewohnern in dieser Stadt aufweisen.«

Ich kramte in meiner Jackentasche und holte einen kleinen Schmierzettel hervor, auf welchen ich meine neue Anschrift gekritzelt hatte.

»Ich bin auf dem Weg in meine neue Wohnung. Könnten sie mir vielleicht helfen, dorthin zu finden? Orientierungsmäßig bin ich bisher nämlich ziemlich aufgeschmissen.«

»Natürlich, zeigen Sie mal her...«

Sie nahm das Stück Papier entgegen und kniff angestrengt ihre Augen zusammen.

»Ach Mist, ohne meine Brille kann ich das nicht lesen, was steht da bitte, meine Liebe?«

»Eiben-Allee 17, das müsste ein mehrstöckiges...«

Noch bevor ich meinen Satz zu Ende bringen konnte, hatte die alte Dame auf einmal amüsiert zu Kichern begonnen und als ich ihr mit meinem völlig verwirrten Gesichtsausdruck signalisierte, dass ich absolut keine Ahnung hatte, weshalb sie mit einem Male so erheitert zu sein schien, klärte sie mich auf und deutete mit einem Finger aus dem Fenster.

»Sie sind schon längst da, Liebes.«

Tatsächlich. Hinter einer dichten Regenwand erkannte ich die verschwommenen Konturen eines großen dunkelgrünen Fachwerkhauses, das mich von der anderen Straßenseite aus anzugrinsen schien, so als wolle es sich darüber lustig machen, dass ich so verzweifelt nach ihm gesucht und kurz vor meinem Ziel diese Suche aufgegeben hatte. Erleichtert war ich dennoch darüber, dass der Weg zu meinem neuen Heim jetzt nur noch aus wenigen Metern bestand und diese Misere von einer Odyssee endlich ihr Ende gefunden hatte.

In Anbetracht dessen, dass ich nach Ankündigung meiner Ankunft auch sogleich meine Wohnung beziehen und den ersten Fuß in mein neues Leben hier setzen durfte, war mir nun auch der Regen völlig egal.

»Vielen Dank, dann mach‘ ich mich mal gleich auf den Weg. Für die paar Meter muss ich mich eigentlich nicht länger unterstellen. Danke, dass sie mich hereingelassen haben.«

»Besuch mich gerne jederzeit wieder, jetzt, wo wir quasi Nachbarn sind. Diese Einsamkeit hier kann einem manchmal ziemlich zusetzen und die einzige Möglichkeit auf Gesellschaft, die man bekommt, lehnt man dann in den meisten Fällen doch lieber ab.«

Mit einem breiten Lächeln und einem zarten Winken verabschiedete mich meine erste richtige Bekanntschaft, die ich in dieser Stadt geschlossen hatte. Es war beruhigend zu wissen, dass dieser Ort nicht gänzlich aus jenem Müll bestand, nach dem ihre Straßen stanken.

Nachdem ich die Straße, die inzwischen deutlich mehr Ähnlichkeit mit einem Fluss aufwies, überquert und das Gebäude erreicht hatte, über dessen Pforte eine riesige schwarze 17 ihren Platz fand, betätigte ich sogleich die darunter befindliche Klingel und begann zu warten.

Kaum fünf Sekunden, nachdem das Läuten durch das Innere hinter der Türe hallte wurde mir diese geöffnet und ich sah mich einer großgewachsenen, völlig kalt auf mich herabblickenden Frau gegenüber, die mich misstrauisch musterte.

»Wer sind sie bitte?«

Ihre Stimme klang krächzend schwach, aber zeitgleich fordernd und einschüchternd. Ich beschloss jedoch diesem unverkennbaren Versuch mich nervös zu machen, nicht nachzugeben und stattdessen selbstbewusst zu wirken, um einen guten, aber nicht zu unterwürfigen Eindruck zu wahren.

»Nina Lehmann. Ich werde erwartet.«

Sie neigte ihren Kopf, so als wolle sie andeuten, dass sie das von mir Gesagte nicht richtig verstanden habe.

»Ist das so?«

Ohne auch nur einen Schritt zur Seite zu weichen, blockierte die hünenhafte Dame weiterhin den Eingang und verwehrte es mir, hinein ins Trockene zu gelangen.

»Würden Sie mich bitte eintreten lassen. Wie Sie sehen, regnet es ganz fürchterlich und ich bin schon ganz durchnässt.«

»Ja, das sehe ich«, sagte sie mit einem leicht abfälligen Ton in der Stimme und wanderte langsam mit ihren Augen an meinem vom Regen durchtränkten Körper hinunter.

Trotz dessen sie über die Lage nun ausreichend informiert zu sein schien, weigerte sie sich jedoch weiterhin, beiseite zu treten und mir Zugang zum Haus zu gewähren.

»Also würden Sie mich nun bitte hineinlassen?«

So groß die Frau auch war, so konnten dies und ihr eiskalter Blick nicht verbergen, dass sie von ihrer Statur her weniger wie eine respekteinflößende Hauswächterin wirkte, sondern vielmehr an eine weibliche und zudem völlig ausgehungerte Version von Nosferatu erinnerte.

Schon ironisch, wenn man bedachte, dass solcherlei Kreaturen der Nacht die Erlaubnis eines Hausbewohners brauchen, um über dessen Schwelle zu treten, sie in diesem Moment jedoch diejenige war, die eben dies zu verhindern versuchte.

Ohne groß auf meine wiederholte Nachfrage um Einlass zu reagieren, fanden ihre Augen wieder ihren Weg hinauf, bis sie in die Meinen starrten. Es folgte eine kurze unangenehme Stille, welche ich aus Irritiertheit und sie vermutlich aufgrund mangelnden Interesses an meinem Anliegen nicht durchbrach. Während sie den Anschein machte, mit ihren haselnussbraunen Augen direkt in meine Seele zu stieren ohne auch nur ein einziges Mal dabei zu blinzeln, faltete sie ihre knöchernen Hände und vergrub ihre spitzen Fingernägel in ihrem faltigen Handrücken.

»Ich befürchte, das muss die Herrin des Hauses entscheiden.«

Ihre monotone Stimmlage missfiel mir schon beim ersten Satz, aber dass sie diese so gekonnt beibehielt, begann nun allmählich etwas in meinem Inneren zum Kochen zu bringen.

»Na dann fragen sie ihre ‚Herrin‘, ich habe hier schließlich eine Wohnung gemietet,« sagte ich, diesmal mit einem leicht trotzigen Unterton, um der grässlich gehobenen Art der Frau zumindest ein wenig Widerstand entgegenzubringen.

»Ich werde erfragen, ob dies auch tatsächlich der Wahrheit entspricht.«

Ihr beinahe von einer seelenlosen Kraft getriebenes Verhalten schien mir am Anfang fast noch unheimlich, doch inzwischen brachte es Erinnerungen aus meiner Schulzeit zurück. Es war fast so, als würde ich all den arroganten Ziegen meiner ehemaligen Klasse gegenüberstehen. Diese Erhabenheit und diese abgehobene Art zu sprechen ekelten mich förmlich an, so als wären all die ganzen privilegierten Miststücke von damals und jede Lehrerin, die ich jemals gehasst habe, zu einer verabscheuungswürdigen Gestalt zusammengeschmolzen.

Bei ihrer äußeren Erscheinung hingegen gedachte ich einer ganz bestimmten Frau, welcher ich immer begegnete, wenn ich Großmutter damals im Altenheim besuchte - geziert mit dem schönsten Schmuck, gekleidet in den feinsten Kleidern, aber mit einem Auftreten, das an Eitelkeit kaum zu überbieten war. Dieses Weibsstück verkörperte die perfekte oder eher fatale Kombination dieser von mir so unausstehlichen Art von Menschen.

Es war diese Eigenheit, so zu reden, sich zu bewegen und so zu gucken, wie sie eben guckte, fast so, als hielte sie sich für eine dieser überstrengen Gouvernanten oder etwas in der Richtung. Wer weiß, womöglich war sie es auch mal, doch sollte man gewisse Eigenarten im Privatleben ablegen, wenn man sich mit Erwachsenen statt mit zwölfjährigen Gören auseinandersetzte, etwas, was diese Dame scheinbar nicht so ganz begriffen hatte.

»Nun, dürfte ich dann wenigstens solange eintreten, bis wir diese Angelegenheit geklärt haben?«

Mit einem Wimpernschlag, dem wohlbemerkt ersten während ihrer gesamten Unterhaltung mit mir, wandte sie sich schließlich von mir ab.

»Bedaure, der Zugang des Hauses ist lediglich Bewohnern oder deren Gästen gestattet. Ich muss Sie bitten, draußen vor der Türe zu verweilen, bis ich die Angelegenheit mit meiner Herrin geklärt habe. Sie schläft bereits, daher wird es wohl einen kleinen Moment dauern, aber der Nässe ihrer Kleidung nach zu urteilen, dürfte die Dauer Ihres Wartens ohnehin von keinerlei großer Bedeutung mehr sein.«

Gerade, als sie die Tür schließen wollte, drehte sie sich jedoch noch einmal zu mir um und während sie dies tat, hob sie ihre Nase so weit in die Höhe, dass ich beinahe damit rechnete, dass sie jeden Moment nach hinten kippen würde. Wie gerne hätte ich ihr die langen spitzen Nieten meines Armbandes in die Nasenhöhlen gerammt, besonders, da sie mir diese so einladend entgegenhielt.

»Verzeihen Sie bitte vielmals junge Dame, aber dieses Haus hat strikte Regeln und wir können nicht einfach,« sie sah verächtlich an mir hinunter, diesmal etwas schneller, aber immer noch mit demselben kritischen Blick wie vorhin im Gesicht, »jede beliebige Person hier herumstolzieren lassen.«

Für wen hielt sich dieses Weibsbild von einer Haushälterin eigentlich? War ich hier etwa in einem Viertel für die reichsten der Reichen gelandet oder warum wurde man hier als einfacher Bürger wie ein Hund vor der Tür stehen gelassen? Das Kochen in meinem Innern stieg immer weiter empor und ich hatte beinahe das Gefühl, als würde heißer Dampf aus meinen Poren austreten.

Diese Frau, selbst wenn sie die heilige Maria höchstpersönlich gewesen wäre, hatte mir wenigstens ein Mindestmaß an Respekt entgegenzubringen, auch wenn ich nicht ihren gehobenen Standards entsprach und mich eben lieber in schwarzer Lederjacke und Springerstiefeln einkleidete, anstatt ein rosafarbenes Kleid zu tragen, um meiner Rolle als Vorzeigefrau mehr gerecht zu werden.

Keine Ahnung, ob mein eher unkonventionelles Äußeres ein Indikator für ihre Unfreundlichkeit war, aber meiner persönlichen Erfahrung nach zu urteilen war genau dies der Grund, weshalb sie mich als unwürdig für ihr ach so feines Etablissement empfand. Vermutlich hätte sie ein adrettes Mädchen, das geradewegs aus einem vornehmen Internat kam, durchaus mehr respektiert als einen unliebsamen Gruftie.

»Ich habe für diese Wohnung bezahlt und ich verlange, dass Sie mir auf der Stelle Zutritt zu diesem Haus gewähren!«

Sie ignorierte mich. Verdammt nochmal, das arrogante Stück würdigte mich nun nicht einmal mehr eines Blickes, während sie langsam die Tür verschloss. Bevor diese jedoch endgültig ins Schloss fiel, stellte ich meine Fußspitze auf die Schwelle und verhinderte somit, dass sie sich vollends schließen konnte.

Sie reagierte nicht. Ob sie meine Dreistigkeit überhaupt bemerkt hatte?

Offensichtlich nicht, denn durch den Türspalt, welcher nun meine Freikarte in dieses Gebäude sein sollte, konnte ich mit meinem Blick genau verfolgen, wie sie die große Treppe hinaufging und das ohne sich auch nur ein einziges Mal nach mir umzusehen. Vielleicht war es ja doch von Vorteil, dass sie so verbissen darauf war mich zu ignorieren, aber trotz meiner leicht zufriedenstellenden List brodelte diese tiefsitzende Wut noch immer in mir.

Mit dem Ziel, mich jedoch nicht großartig weiter über diese Frau zu ärgern schritt ich über die Schwelle ins Innere des Hauses und sah mit einem giftigen Blick die Treppe hinauf, von welcher sie hoffentlich bei ihrer Rückkehr stürzen und sich dabei die verfluchte Visage zertrümmern würde, nicht dass es bei ihr einen großen Unterschied gemacht hätte. Wie sie wohl reagierten würde, wenn sie erblickte, dass ich mich ihrem Befehl widersetzt hatte, dem sie ja wohl deutlich mehr Bedeutsamkeit zuwies, als ich es tat.

Sei es doch drum; selbst wenn ihr das nicht recht wäre, so hatte ich dennoch für die Wohnung gezahlt. Ich hatte ein gutes Recht darauf, dieses Haus zu betreten. Und was wollte sie schon groß tun? Würde sie die Polizei rufen, könnte sie sich vor denen lediglich lächerlich machen.

»Soso, wie ich sehe, hat sich die junge Dame bereits selbstständig Zutritt verschafft,« ertönte plötzlich die krächzige Stimme dieser Vogelscheuche, die nun in Begleitung einer noch deutlich älteren Dame von oberhalb der Treppe auf mich heruntersah und mir ein hämisches und zugleich garstiges Lächeln entgegenbrachte. Zu meiner Zufriedenheit verbarg sich hinter ihrer Häme jedoch ein durchaus missbilligender Ausdruck der Enttäuschung darüber, dass ich ihrer Aufforderung nicht nachgekommen war und obgleich sie sich bemühte es nicht zu zeigen, konnte ich es ihr trotzdem genauestens von der nicht mehr ganz so hochgestreckten Nasenspitze ablesen.

»Da manche Leute ja offenbar die Höflichkeiten beiseitelegen und es nicht als nötig erachten, eine junge Frau, die sich bei der draußen herrschenden Kälte den Tod holt, eintreten zu lassen, obgleich sie dafür sogar auch noch bezahlt hat.«

Das Lächeln verschwand nun vollends aus ihrer eingebildeten Fratze, während ich meine Wundwinkel triumphierend ein gutes Stück höher zog. Eigentlich war es gar nicht meine Art so zu reden oder besser gesagt zu schwafeln, aber ich bekam so das Gefühl, dass ich sie mit dieser Sprechweise noch mehr aus der Fassung brachte als durch den eigentlichen Inhalt.

Die feine Dame neben ihr hingegen schien sich über unseren kleinen Wortwechsel zu amüsieren und kicherte etwas verlegen hinter vorgehaltener Hand, bevor sie sich wieder fasste und zu mir nach unten in die Eingangshalle kam.

»Nun Sie sind also das junge Ding aus Berlin, hab‘ ich recht?«

Die ältere Frau tastete sich langsam am Geländer vorwärts und ließ sich dabei von ihrer Bediensteten stützen, bis sie mit mir auf einer Augenhöhe war, mich freundlich anlächelte und mir die mit vielerlei Ringen geschmückte Hand reichte.

»Ich bin Vera Bélanger, die Besitzerin dieses Domizils und ihre Ansprechpartnerin, falls sie Probleme mit irgendetwas haben sollten. Sie müssen Fräulein Borkowskia verzeihen, sie reagiert immer überaus misstrauisch auf Fremde wie Sie, was jedoch nur daran liegt, dass sie überaus fürsorglich zu den Bewohnern meines Hauses ist und verhindern will, dass ihnen jegliche Form von Schaden zugefügt wird. Ich bin sicher, Sie werden sie schon recht bald selbst in Ihr Herz geschlossen haben, jetzt wo Sie auch offiziell unter ihren Schutz gestellt sind.«

Sie ging auf die Rezeption zu, die sich links vom Eingang befand, und nahm einen Schlüssel aus einer der Schubladen hinter dem Tresen, um ihn mir zu überreichen.

»Sie haben die Wohnung Nummer 9, sie befindet sich gleich in der ersten Etage. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass starke Verschmutzung der Wohnung und des Flures, sowie das mutwillige Zerstören von Wänden, Decken und Böden einen Kündigungsgrund darstellen. Für stark beschädigtes Mobiliar erwartet Sie eine Abmahnung und die Schäden werden Ihnen in Rechnung gestellt werden.

Gäste dürfen Sie empfangen, jedoch beachten Sie, dass um Punkt 10 Uhr die Nachtruhe in diesem Hause in Kraft tritt, weshalb ich Sie darum bitte diese auch einzuhalten. Der Keller ist unter keinen Umständen zu betreten aufgrund einer Ungezieferplage, die bis zu ihrer Beseitigung auch dort unten verbleiben soll.

Wenn Sie irgendwelche Beschwerden haben sollten, so wenden Sie sich entweder an mich oder an Fräulein Borkowskia, falls ich einmal nicht verfügbar sein sollte. Sie sehen also, wenn Sie sich gesittet verhalten und keinen allzu aufbrausenden Lebensstil pflegen, sollten wir hier alle wunderbar miteinander auskommen.

Wenn Sie mit diesen Regeln einverstanden sind, dürfen Sie sich nun gerne auf ihr Zimmer begeben und ich hoffe auf eine gute Nachbarschaft. Herzlich Willkommen.«

Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen und lediglich mit einem dankenden Lächeln auf den Lippen, nahm ich den Schlüssel entgegen und ging die Treppe hinauf. Diese Stadt war mir unheimlich und diese Gegend hier war nicht gerade als einladend zu betiteln, doch die Freundlichkeit von Fräulein Bélanger und meine kurze, aber nette Bekanntschaft mit der Kioskdame von gegenüber, machten mir Hoffnung, dass ich hier mit der Zeit doch ganz gut zurechtkommen würde.

Dass jedoch das Böse höchstpersönlich in diesen Mauern ein neues Zuhause gefunden hatte, lange bevor ich über jene unheilvolle Schwelle trat, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst gewesen.

Als ich das erste Stockwerk erreicht hatte, spürte ich, wie mich inzwischen die Müdigkeit überkam und meine Augenlider damit begannen schwerer zu werden, während ich langsam durch den Gang schlurfte, meinen Koffer hinter mir herzog und mit angestrengtem Blick die Türen nach der Nummer 9 absuchte. Als ich endlich die richtige Wohnung gefunden hatte und erleichtert den Schlüssel ins Schloss steckte, erblickte ich etwas in meinem Augenwinkel.

Es war eine kurzweilige, fast unscheinbare Bewegung aus der Tiefe des schier endlosen Ganges. Das Gefühl, welches mich überkam, war gleichzusetzen mit dem, das ich erst vor kurzer Zeit auf den Straßen der Stadt verspürt hatte, als ich noch den Blicken all dieser Fremden ausgeliefert war. Jemand beobachtete mich.

Ich wandte langsam meinen Kopf und erblickte eine Frau, welche ein wenig entfernt von mir circa fünf Türen weiter, im Flur stand und mich mit einem völlig starren und leblosen Blick beäugte. Vielleicht war sie einfach etwas griesgrämig oder ebenso misstrauisch wie Fräulein Borkowskia, aber Tatsache war, dass mir dieser stierende Blick ein ganz seltsames Unbehagen bereitete, viel schlimmer als es die Blicke der Passanten außerhalb dieses Hauses taten.

Anmerken ließ ich mir dies zwar nicht, zumindest hoffte ich, dass ich es gut genug zu verbergen vermochte, doch der Ton meiner Stimme reichte aus, um meine Unsicherheit zu verraten.

»H-Hallo. Ich - bin Nina. Ich wohne ab heute hier. Freut mich Sie kennenzulernen.«

Die Frau sagte nichts. Sie starrte mich einfach nur an, ohne auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben.

»Dann, dann auf eine gute Nachbarschaft, würde ich sagen…«

Das anschließende schüchterne Lachen, welches ich als Auflockerung der seltsamen Stimmung an meinen Satz hängen wollte, blieb mir vor lauter Unwohlsein im Halse stecken. Die Frau, die mit Sicherheit schon die 60 überschritten hatte, drehte sich wortlos in Richtung der Tür, vor der sie stand, steckte den Schlüssel ins Schloss und ohne auch nur einmal kurz die Miene zu verziehen, verschwand sie in ihrer Wohnung und ließ mich alleine im schummrigen Licht des Flurs zurück.

Ohne mich groß mit Nachdenken aufzuhalten, öffnete ich nun auch meine Wohnungstür und betrat zum ersten Mal meine neuen vier Wände. Um mich umzugucken, hatte ich jedoch weder die Lust noch war ich wach genug für eine Erkundungstour, weshalb ich mich einfach nur meiner durchnässten Kleidung entledigte, mich ins freundlicherweise bereits bezogene Bett fallen ließ, die Augen schloss und in einen wohlverdienten Schlaf nach einem wahrlich erschöpfenden Tag verfiel.

*

Das Läuten des Telefons riss mich jäh aus meinen Träumen und mit einem von noch immer anhaltender Müdigkeit geprägten Gang, torkelte ich quer durch das Zimmer und nahm den Hörer ab.

»Nina Lehmann, hallo?«

Just in dem Moment fiel mir ein, dass ich mich gar nicht so förmlich hätte melden müssen, da es eh nur eine Person gab, die bisher diese Festnetznummer besaß.

»Nina? Ich bin’s, Christopher,« ertönte die Stimme von der anderen Seite und bestätigte damit meine Vermutung.

Meine anfängliche Freude über eine mir bekannte Stimme wurde ziemlich schnell von den negativen Gefühlen überschattet, die mich von gestern im raschen Tempo einzuholen begannen.

»Ah, gut, dass du anrufst, ich hab‘ ein Hühnchen mit dir zu rupfen.«

»Nee danke, ich hab‘ schon gegessen.«

»Was...? Egal, jedenfalls hättest du mich ja ruhig mal vorwarnen können, dass ich fortan in einer Stadt lebe, die so dermaßen grauenhaft ist und in der einer Frau schon am ersten Tag davon abgeraten wird, im Alleingang die Straße zu überqueren. Du hast behauptet, das wäre eine der schönsten Städte, von der halt einfach kein Schwein je gehört hat, aber nach dem, was ich hier bisher gesehen habe zu urteilen, kann ich mir gut vorstellen, warum keiner je von ihr gehört hat.«

»Wovon redest du da? So grauenhaft ist die Stadt ja nun wirklich nicht oder hast du schon irgendwelche negativen Erfahrungen gemacht, mal abgesehen von dem Schmutz, von dem ganz nebenbei erwähnt jede größere Stadt befallen ist.«

»Ich musste mich stundenlang durch überfüllte Busse, Bahnen und durch ein fürchterliches Gewitter quälen, hab dabei fast meinen Koffer demoliert und wurde auch noch vom Wachhund meiner neuen Vermieterin vor der Tür stehen gelassen und dieser ganze Stress gerade mal am ersten Tag.«

»Äh... Nina. Jetzt wiederhole am besten nochmal alles und denke darüber nach, ob das der Fehler der Stadt war oder ob es an deiner mangelnden Planung lag, dass dein erster Tag hier so beschissen verlaufen ist. Ich meine, du willst doch nicht etwa die Stadt für das Gewitter verantwortlich machen, oder? Und über überfüllte Busse hast du dich in Berlin auch nie beschwert. Ist schon n‘ bisschen albern, findest du nicht?«

»Wie auch immer. Tatsache ist, dass ich nicht behaupten kann, dass es mir hier gefällt.«

»Hey, ich hab‘ dir von Anfang an angeboten, bei mir zu wohnen, aber du wolltest ja nicht. Die Menschen hier sind zum größten Teil wirklich nett; ist halt dumm gelaufen, dass du gerade das Haus mit einem der wenigen Biester erwischt hast. Das hättest du alleine dadurch schon mal vermeiden können, wenn du einfach für eine Weile zu mir gekommen wärst und dir die Wohnung in Ruhe und mit etwas mehr Bedacht ausgesucht hättest statt gleich so überstürzt diesen Mietvertrag zu unterschreiben.«

»Hör zu, ich schätze unsere Freundschaft wirklich sehr, aber in Anbetracht dessen was da mal zwischen uns lief, würde ich ungerne eine Wohnung mit dir teilen. Zudem bin ich dann doch etwas zu pedantisch was Hygiene betrifft, um mich mehrere Stunden geschweige denn Wochen in deinem Terrain aufzuhalten.

Vermutlich werde ich alleine davon schwanger, dass ich mich bäuchlings auf die Couch lege.

Danke, nein. Außerdem schlafe ich lieber in einem Wohnhaus mit gruseligen Nachbarn als in einem heruntergekommenen Motel, in dem täglich was weiß ich für Gestalten ein und aus gehen. Nachher werde ich noch am helligten Tage entführt und als Sexsklavin in Rumänien verkauft. Nett von dir, dass du mich bei dir wohnen lassen würdest, aber ich fürchte, ich muss ablehnen.«

»Wie du meinst, es ist ja letztendlich deine Entscheidung. Warst du schon in diesem Hotel?«

Mein Blick fiel hinüber zur Wanduhr, die in der Ecke des Zimmers stand und deren Zifferblatt wie ein riesiges Auge den Raum überwachte.

12:23 Uhr.

»Noch nicht, ich wollte heute Vormittag mal hin und mich vorstellen.«

»Hättest du Lust danach einen Kaffee oder sowas zu trinken?«

Ich kramte den kleinen Notizblock hervor, den ich immer in meiner Jackentasche mit mir trug.

»Klar, warum nicht, dann kannst du mir gleich mal erzählen, wie es dir so geht. Übers Telefon ist sowas ja immer so unpersönlich.«

»Okay. Passt dir 14 Uhr?«

Ich warf einen Blick auf die Seite, deren Kopf das heutige Datum aufzeigte.

»Lieber 15 Uhr, ich weiß ja noch nicht, wie lange es dauert.«

»Alles klar, ich hole dich dann vom Hotel ab, in Ordnung?«

»Super, dann bis später.«

»Bis nachher.«

Ich legte auf und sah mich um. Die Wohnung machte im durch die Fenster fallenden Tageslicht wirklich einen recht schönen Eindruck. Sie wirkte geradezu edel auf mich und das, obwohl die Miete hier gar nicht mal so teuer war. Zwar hatte ich Bilder von der Wohnung erhalten, doch ich war mir sicher, dass die gesamte Innenausstattung, die man mir hier zur Verfügung gestellt hatte, zum Besitz der früheren Eigentümerin zählte und nicht an mich weitergereicht werden sollte.

Nachdem ich den Raum für ein paar Minuten stumm studiert hatte, ging ich ins Bad, wusch mir ein wenig das Gesicht, kämmte meine durch scheinbares hin und her wälzen im Bett zerzausten Haare, kleidete mich schnell um und begab mich dann mit meiner Jacke im Arm in Richtung Tür.

Je mehr ich über das anstehende Wiedersehen mit Christopher nachdachte, desto unwirklicher erschien mir der Gedanke, dass ich mich ausgerechnet von ihm hatte dazu überreden lassen hierherzuziehen. Es war eine relativ kurzfristige Entscheidung und außer ihm hatte ich auch keine wirklichen sozialen Kontakte, die man in die Kategorie Freunde hätte einteilen können – aber, dass ich so schnell auf seinen Vorschlag angesprungen war, verblieb trotz dessen ziemlich bizarr.

Andererseits war es mir lieber in einer neuen Stadt zumindest eine Person zu kennen, als mich gänzlich alleine in einer neuen Umgebung zurechtzufinden. Meine soziale Kompetenz war ohnehin verkümmert genug. Ein Wunder, dass ich überhaupt noch eine Freundschaft zu jemandem pflegte. Das Aufbauen eines Bekanntenkreises war schon von klein auf eine wahre Sisyphusarbeit für mich gewesen - wie ein Kartenhaus, das man versucht fertig zu stellen, welches jedoch bereits schon immer dann zusammenbricht, bevor man überhaupt erst mit dem zweiten Stockwerk beginnen kann.

Genug, dachte ich mir und sperrte meine Vergangenheit wieder in die dafür vorgesehene Schublade, um sie hoffentlich bald für immer dort verrotten lassen zu können. Leider verstauben Erinnerungen deutlich langsamer als Gegenstände. Man muss sich nicht die Mühe machen, sie aus den tiefsten Winkeln des Verstandes hervorzuholen und mit einem kräftigen Luftausstoß von all dem Schmutz der Jahre zu befreien. Es reichte oft ein meist völlig zusammenhanglos wirkender Denkanstoß aus der Gegenwart, um eine Kettenreaktion in Gang zu setzen, welche diese Schatulle voller schlechter Memoiren binnen Sekunden dazu animierte, sich selber zu reinigen und zu öffnen.

Sowie ich auf den Flur trat erwartete mich eine gähnende Leere, zumindest erblickte ich niemanden auf dem langen Gang und auch auf der Treppe kam mir niemand entgegen. Zudem war es erstaunlich still. Hinter den verschlossenen Türen erklang weder das Geräusch von angeregten Konversationen noch das von laufenden Fernsehgeräten.

Als ich anschließend einen Fuß in die ebenfalls menschenleere Eingangshalle setzte, schien es geradezu so, als würden die großen, grünen, aber zeitgleich bitterkalt wirkenden Wände das Widerhallen meiner schneller werdenden Schritte förmlich aufsaugen. Fast so, als hätte das Haus selbst den Plan gefasst verhindern zu wollen, dass die Mittagsruhe gestört würde. Das Gebäude schien mit seiner geisterhaften Leere wie eine gut erhaltene Ruine. Auf mich wirkte es beinahe seelenlos.

Nervös tastete ich nach meiner Geldbörse, ständig mit der Angst, dass ich sie verlegt haben könnte. Ich konnte abermals von Glück reden, dass die Wohnung trotz ihrer beeindruckenden Ausstattung zu solch einem günstigen Preis angeboten worden war und der Schmutz der Stadt hatte diesen Vorteil sicherlich mit zu verschulden. Immerhin eine gute Sache, die die Hässlichkeit des Ortes nach sich zog. Würden mir nun jedoch auch noch meine letzten Mark abhandenkommen, würde ich wohl kaum mit einem Lächeln und Luftküssen meine Miete bezahlen können, zumal es noch völlig ungewiss war, ob ich überhaupt die Stelle im Hotel sicher hatte.

Sollte die Leitung sich dazu entscheiden mich abzulehnen, säße ich bis zum Hals in der Scheiße. Eine vulgäre Ausdrucksweise und doch passte sie ganz wunderbar zu meiner momentanen Situation. Ungewissheit war das, was ich am allermeisten verabscheute.

Lieber würde ich einen Schlag ins Gesicht bekommen und den daraus resultierenden Schmerz auf meiner Haut verspüren, als mit verbundenen Augen dazuliegen und lediglich erahnen zu können, was ich zu erwarten hätte.

Ein Schlag ist schmerzhafter als keiner, das war eine simple These. Jedoch war ein nur drohender, eventuell nie einsetzender Schmerz dafür umso quälender zu ertragen, wie ein peinvolles Äquivalent zur Vorfreude, die ja als die schönste Freude gilt. Am besten demonstriert wird dieses Gefühl, wie ich finde, durch das Entfernen eines alten Pflasters. Man versucht es zunächst vorsichtig, weil „vorsichtig“ ja in der Regel „weniger schmerzhaft“ bedeutet. Da man jedoch während des Prozesses bemerkt, dass es dennoch schmerzt, lässt man lieber alles so, wie es ist.

Und dann kommt der gute alte Satz »Einfach ganz schnell abreißen.«, was sich in der Theorie zunächst völlig absurd anhört, aber in der Praxis tatsächlich wider den Erwartungen Wirkung zeigt. Nichtsdestotrotz sträubt sich der menschliche Verstand zunächst dennoch vor der Durchführung, selbst wenn man es schon einige Male zuvor ausprobiert hat. Dieses Mal könnte es ja schließlich plötzlich doch weh tun und genau dieser Schmerz, der lediglich zwischen unseren Schläfen existiert, plagt uns mehr als das Abreißen dutzender Pflaster.

Und eben diese Ungewissheit sucht einen ein ganzes Leben lang heim, ob als Kind, als Erwachsener oder eben Frauen meiner Altersgruppe. Wir alle befinden uns im ständigen Konflikt mit unseren eigenen Erwartungen, welche wir unbewusst eigenständig mit schwarzem dickflüssigem Pessimismus tränken.

Ein Grund, wenn nicht sogar der Hauptgrund dafür, dass so viele Menschen ihr Leben lang auf der Stelle gehen. Man vermeidet voller Angst den nächsten Schritt; es könnte ja weh tun, eine falsche Entscheidung sein oder Gott bewahre der letzte sein. Die Menschen fürchten sich so sehr vor dem Tod, dass sie vergessen zu leben und das Risiko eine falsche Entscheidung zu treffen, verdammt sie zu einer permanenten Handlungsunfähigkeit.

All diese schrecklichen Szenarien, welche unser Gehirn uns zur Selbstmanipulation in den Weg legte und dann spann es diese Szenarien noch nicht einmal zu Ende. Stattdessen sahen wir uns stets nur mit einem verwaschenen Schleier konfrontiert, zu undurchsichtig, um die Situation zu erkennen und strategisch nach Lösungen zu suchen, aber durchsichtig genug, um uns einen kleinen schauererweckenden Blick auf eine ansonsten ungewisse Zukunft zu ermöglichen.

Diese Blockade schien eigentlich durchbrochen, als ich Berlin hinter mir gelassen hatte, aber da ich nun abermals trotz meines Voranschreitens vor demselben verfluchten Schleier stand, überkam mich langsam aber sicher die erschreckende Realisierung, dass er Teil des Lebens war und wieder und wieder durchlaufen werden musste. Heute war der Schleier mein Mangel an Geld, der meinen Blick auf die Zukunft trübte, morgen war es vielleicht schon wieder etwas ganz Anderes, damit musste ich wohl oder übel klarzukommen lernen.

Letztendlich brachte ich es doch fertig, mein Portemonnaie in den tiefsten Tiefen meines Rucksacks zu finden und erleichtert die Eingangstür zu öffnen, um nach draußen zu gelangen. Wer weiß, womöglich entsprach die Stadt am Tage sogar eher der Beschreibung Christophers und besaß ein eher lykanthropisches Wesen.

Als ich die Pforte nach draußen öffnete, schien mein Herz für den Bruchteil einer Sekunde auszusetzen. Keine 20 Zentimeter vor der Tür hatte sich ein großgewachsener, bärtiger Mann aufgebaut. Sein massiger Leib steckte in einem alten, aber doch recht kostspielig aussehenden Anzug. Dazu balancierte er eine kleine Brille auf seiner Nase und es thronte ein dunkelroter Zylinder auf seinem wohl kahlen Haupt. Diese Vermutung bestätigte sich sehr bald als er ihn zur Begrüßung abnahm und vor die geschwellte Brust hielt, seine nackte Kopfhaut entblößte, um mir anschließend ein freundliches Lächeln entgegenzubringen.

»Hallo Kindchen. Sie müssen die neue Bewohnerin sein, habe ich recht?«, sagte er mit einer tiefen, aber dennoch überaus herzlich klingenden Stimme.

»J-Ja, das ist richtig.«

Eigentlich hatte ich keinerlei Grund nervös zu sein, doch das war das erste Mal, dass jemand in, beziehungsweise in diesem Falle vor, diesem Hause wirklich so wirkte, als wäre er mir in jeglicher Hinsicht freundlich gesonnen.

Fräulein Bélanger hatte zwar auch eine nette Art an sich, jedoch war ich mir sicher, dass sie auch ziemlich schnell ungemütlich werden konnte, wenn etwas den von ihr aufgestellten Regeln im Wege stand. Zu viel an ihrer Art und Weise trug kleine, aber deutliche Warnzeichen.

»Nun, da in diesem Hause fast ausschließlich alte Schachteln untergebracht sind und ich mir bei jedem Besuch so vorkomme, als besuchte ich meine Mutter im Heim, habe ich nicht mit solch einer jungen Schönheit wie Ihnen gerechnet. Wie ist Ihr Name, Kind?«

»Oh, Dankeschön,« ich begann zu schmunzeln.

»Ich bin Nina, Nina Lehmann.«

»Was für ein entzückender Name für eine entzückende Dame wie Sie. Wohin führt Ihr Weg Sie heute?«

Obgleich ich geschmeichelt war, wurde die zutrauliche Art des Mannes sehr schnell sehr befremdlich.

»Ich habe mir vor Kurzem hier in der Gegend ein Bewerbungsgespräch organisiert und dort wollte ich gerade hin.«

»Das ist wunderbar, Kindchen. Nun, dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei Ihrem Unterfangen. Auf Wiedersehen, ich bin sicher, wir werden uns noch des Öfteren über den Weg laufen.«

»Da bin ich sicher. Tschüss.«

Auch wenn ich diese Freundlichkeit sehr wertschätzte, so war mir diese überschwängliche Umgangsweise doch ein wenig suspekt. Scheinbar gab es für alle Menschen, die in Verbindung zu diesem Haus standen, nur emotionale Extreme, egal an welche Gefühlslage sie sich banden. Mit einem Lächeln ging ich zielstrebig mit meiner kleinen Karte in der Hand durch die Tür ins Freie und genoss die Sonnenstrahlen, die sich augenblicklich auf meiner Haut festsetzten und sie mit ihrer Wärme durchzogen.

»Ach, und Nina.«

Ich wandte mein Gesicht vom Himmel ab und richtete es zur Tür, wo die Sonnenstrahlen vom strahlenden Lächeln des Mannes reflektiert wurden und seine Worte wie über eine Brücke aus Licht in meine Richtung gleiten ließen.

»Ich hoffe, Sie haben einen Regenschirm dabei. Das Wetter kann hier sehr schnell umschlagen.«

Beinahe in Gelächter ausbrechend, aufgrund der Tatsache, dass ich ja bereits gestern ein eher unschönes Erlebnis mit den hiesigen Wetterbedingungen hatte, aber gleichzeitig dankbar für den fast schon fürsorglichen Hinweis des Fremden, brachte ich ihm ein dankendes Nicken und ein verschmitztes Lächeln entgegen und machte mich auf in Richtung Hotel, das zu meinem Glück nicht allzu weit von meinem jetzigen Wohnsitz entfernt war.

Als ich mich jedoch einige Meter vom Haus entfernt hatte und den letzten Satz des Mannes in meinem Kopf Revue passieren ließ, fragte ich mich, warum er ausgerechnet vor dem Regen gewarnt hatte, obgleich der Himmel völlig klar schien. Ein gut gemeinter Rat, so schien mir, aber irgendetwas störte mich daran, dass er es angesprochen hatte. Ich wusste nicht genau, was es war, aber es beunruhigte mich.

Gut, diesbezüglich hätte man nun erfragen können, was mich denn zurzeit auch bitteschön nicht beunruhigen würde, aber bald schon festigte sich in mir die Vermutung, dass meine gestrige Ankunft doch nicht so unbeobachtet verlaufen war, wie ich zunächst angenommen hatte.

*

Nachdem mein Vorstellungsgespräch im Hotel beendet war, ich meine Angelegenheiten für den Tag somit als erledigt ansah und einen, wie ich fand, soliden ersten Eindruck hinterlassen hatte, saß ich mit einer Tasse Kaffee in der Hand und einem Teller Gebäck vor mir an einem Tisch des Susie Cafés in der Nähe des Julius Platzes.

Christopher hatte Recht behalten. Am Tage machte die Stadt wahrlich einen deutlich einladungsfreudigeren Eindruck als im Schutze der Nacht. Die Sonne schien keinen Zentimeter der Umgebung auszulassen, der Platz war mit hinreißenden Grünflächen und zahlreichen Blumen verschönt worden und auch die Menschen schienen mit einem Mal deutlich freundlicher. Eine halbe Stunde saß ich nun schon hier, ohne auch nur einen der unfreundlichen Blicke zu ernten, die mir gestern noch zuhauf förmlich entgegengeschleudert wurden. Christopher saß mir gegenüber und lächelte mich fragend an.

»Und? Was haben sie nun gesagt?«

Ohne die Frage zunächst wirklich zur Kenntnis zu nehmen, ließ ich den Blick über den Platz schweifen und spielte dabei abwesend an meinem Armband herum. Vielleicht wollte ich den Moment einfach noch für einen kurzen Augenblick länger wirken lassen, aus Angst, es könne sich vielleicht nur um eine Illusion handeln, die verschwinden würde, sobald ich ihr die kalte Schulter zeigte.

»Nina?«

Irritiert und gleichzeitig mit einem um Entschuldigung bittenden Schmunzeln im Gesicht, drehte ich meinen Kopf Richtung Christopher.

»Tut mir leid, was hast du gesagt?«

Als ob ich es nicht verstanden hätte, aber ich habe bereits in der Grundschule gelernt, dass es besser ist, den Leuten weißzumachen, man habe sie nicht verstanden, anstatt zuzugeben, dass man sie mutwillig ignoriert habe.

»Was sie beim Vorstellungsgespräch gesagt haben, wollte ich nur wissen,« sagte er und legte seine gefalteten Hände vor mir auf den Tisch, um sich dann erwartungsvoll zu mir nach vorne zu beugen.

»Nicht viel tatsächlich. Sie meinten nur, dass sie sich innerhalb der nächsten Tage bei mir melden wollen. Aber das ganze Gespräch über waren die drei total nett zu mir, ich glaube, ich hab‘ tatsächlich ganz gute Chancen, zumal sie anscheinend nicht sonderlich viele andere Bewerber haben.

Die eine Frau hat mich allerdings während die andere mich über so ein paar Grundsachen abgefragt hat, die ganze Zeit mit so ‘nem skeptischen Blick gemustert. Kann gar nicht so richtig einordnen, was ich davon jetzt halten sollte. Ich glaube, ihr hat einfach mein Aussehen nicht gepasst, so wie die an mir auf und ab geguckt hat, aber naja. Solange sie überstimmt wird, ist alles gut.«

Wohl wissend, dass Christopher mich bezüglich meiner Unsicherheit aufgrund der besagten Dame verstand, dachte ich über all die Probleme nach, die ich damit gehabt hatte mich unbemerkt in die Gesellschaft einzufügen. Früher war es wirklich schwer, aber inzwischen war ich auch gar nicht mehr willens mein jetziges Ich aufzugeben, um dies zu tun, auch wenn mich Begebenheiten, wie die soeben geschilderte, ärgerten, nicht zuletzt aufgrund ihres häufigen Auftretens.

»Na, das ist doch toll. Gut, der letzte Punkt ist vielleicht etwas, mit dem du noch öfter konfrontiert wirst, aber hey, ist nicht so, als wäre es all die Jahre in Berlin besser gelaufen, oder?«