Rattlin, der Reffer: Abenteuerroman - Frederick Marryat - E-Book

Rattlin, der Reffer: Abenteuerroman E-Book

Frederick Marryat

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Beschreibung

Frederick Marryats Werk 'Rattlin, der Reffer: Abenteuerroman' ist ein spannender Abenteuerroman, der von den Abenteuern des jungen Seemanns Rattlin erzählt. Der Autor präsentiert den Lesern eine faszinierende Welt der Seefahrt und Abenteuer, die durch detaillierte Beschreibungen von Schiffen, Seemannschaft und Piratenkämpfen zum Leben erweckt wird. Marryats literarischer Stil ist geprägt von einer lebendigen Erzählweise und einem Sinn für Dramatik, der den Leser von der ersten Seite an fesselt. Der Roman bietet zudem einen Einblick in die maritime Literatur des 19. Jahrhunderts und zeigt Marryats Talent als Autor von Abenteuerromanen.

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Frederick Marryat

Rattlin, der Reffer: Abenteuerroman

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Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Eilftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechszehntes Kapitel
Siebenzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel
Siebenunddreißigstes Kapitel
Achtunddreißigstes Kapitel
Neununddreißigstes Kapitel
Vierzigstes Kapitel
Einundvierzigstes Kapitel
Zweiundvierzigstes Kapitel
Dreiundvierzigstes Kapitel
Vierundvierzigstes Kapitel
Fünfundvierzigstes Kapitel
Sechsundvierzigstes Kapitel
Siebenundvierzigstes Kapitel
Achtundvierzigstes Kapitel
Neunundvierzigstes Kapitel
Fünfzigstes Kapitel
Einundfünfzigstes Kapitel
Zweiundfünfzigstes Kapitel
Dreiundfünfzigstes Kapitel
Vierundfünfzigstes Kapitel
Fünfundfünfzigstes Kapitel
Sechsundfünfzigstes Kapitel
Siebenundfünfzigstes Kapitel
Achtundfünfzigstes Kapitel
Neunundfünfzigstes Kapitel
Sechszigstes Kapitel
Einundsechszigstes Kapitel
Zweiundsechszigstes Kapitel
Dreiundsechszigstes Kapitel
Vierundsechszigstes Kapitel
Fünfundsechszigstes Kapitel
Sechsundsechszigstes Kapitel
Siebenundsechszigstes Kapitel
Achtundsechszigstes Kapitel.
Neunundsechszigstes Kapitel
Siebenzigstes Kapitel
Einundsiebenzigstes Kapitel
Zweiundsiebenzigstes Kapitel
Dreiundsiebenzigstes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Ich beginne ein Leben sonder Gleichen mit einem Gleichnisse. – Abfahrt mit vier Pferden. – Mein erstes Auftreten findet in einer Postkutsche unter dem Schutze der »Krone« Statt.

————

Das Buch, das ich zu schreiben gedenke, soll sich streng an die Wahrheit halten; es soll bona fide eine Selbstbiographie werden, und da die Lesewelt das Neue liebt, so wird eine Autobiographie, die nicht ein Jota Dichtung enthält, wohl die größte Neuigkeit sein, die ihrem ekeln Gaumen je geboten wurde. Da viele von den Ereignissen, welche ich zu schildern haben werde, eigentümlich und sogar auffallend sind, so erlaube ich mir zuerst einen kleinen moralischen Erguß, von der Gosse in der untern Themsestraße entnommen, welche meine geneigten Leser lehren wird, nicht vorschnell Thatsachen als unmöglich zu erklären, wenn ihnen dieselben ungewöhnlich erscheinen.

Treten wir mit jenem alten Gentleman unter das Portal der St. Markuskirche, denn der Regen drischt die Straßen, bis sie eigentlich weiß aussehen, und die Gosse vor uns ist zu einem kaum durchwatbaren Bache angeschwollen. Die Gosse gibt ein Bild von dem Strome des Lebens – und zwar von einem schmutzigen, erschöpfenden, wenn wir nach dem Aussehen des alten Gentleman schließen dürfen. Alles wird in den gemeinsamen Kloak, das Grab, fortgerissen! Welche Blasen mit hinunterschwimmen! Alles, was hübsch in der Mitte der Strömung sich befindet, scheint ruhig und triumphirend dahin zu segeln – viele unfläthige Trümmer treten in den Abzugsgraben mit einem Pomp und einer Würde ein, nicht unähnlich den Leichenceremonien eines großen Herrn. Doch ich habe es mit jenem kleinen Spane zu thun; eben erst ist er auf eine oder die andere Weise aus der Hauptströmung gestoßen worden – aber seht jetzt, welche Possen er spielt. Wie unstät er in seinen Bewegungen ist und in was für seltsame Ecken und Löcher er gestoßen wird. Dieselbe Erscheinung treffen wir auch im Leben. Ist ein Wesen einmal aus dem gewöhnlichen Laufe des Daseins gestoßen, so hat es recht viele und seltsame Abenteuer durchzumachen, ehe es wieder in die allgemeine Strömung eintreten kann und in stiller Ruhe nach dem Grabe hinschwimmen darf, das uns allen gemein ist.

Am zwanzigsten Februar 17– Abend sieben Uhr fuhr eine vierspännige Postchaise in vollem Galopp an der Thüre der Krone zu Reading an. Der Tag war ungestüm zu Ende gegangen, denn ein anhaltendes Gewitter mit Schloßen und Regen hatte männiglich, was eine Heimath besaß, genöthigt, daselbst Schutz zu suchen. Als der Wagen mit einem sehr folgenreichen Rucke Halt machte und die Tritte mit jener klappernder Hast niedergelassen wurden, welche von den Postillonen beliebt wird, wenn sie vier Pferde vor ihre ledernen Böcke kriegen können, schien der einzige Insasse sich nur noch weiter in seine dunkle Ecke zurück zu drängen, statt mit Hast heraus zu eilen, um die Behaglichkeit eines lodernden Herdfeuers gegen das dumpfe Gefängniß einer gemietheten Chaise zu vertauschen.

Dreimal hatte der diensteifrige Gastwirth seinen wohlgepuderten Kopf verneigt und bei jedem Bücklinge mit der Fläche seiner Hand die Regentropfen abgewischt, welche sich auf der Centralglatze seines Hinterhauptes festsetzten, ehe die fremde Person zu bemerken schien, daß ein Mann existirte, wie der Gastwirth zur Krone, oder daß dieser Wirth gar an dem Kutschenschlage stand. Endlich nahm ein dicht verschleiertes Frauenzimmer, die wie eine Sultanin in ihre Shawls begraben war, zitternd den dargebotenen Arm an und wankte in das Hotel. Bald nachher kehrte der Wirth, von einem Lastträger, einem Kellner und einem Stallknecht begleitet, zurück, gab auf das Geheiß der Dame jedem der Postillone ein schönes Trinkgeld und fragte nach dem Passagiergepäcke. Es war keines vorhanden! – Bei dieser Ankündigung fühlte sich der Wirth, wie er sich später ausdrückte, »wie vom Donner gerührt,« obgleich man nie recht verstehen konnte, was er damit meinte, da jede Veränderung in seiner wunderlichen, fetten Figur nur als Verbesserung erscheinen konnte. Während er verwirrt im Regen dastand, den er doch so leicht hätte vermeiden können, langte von Seiten der Dame ein anderer Auftrag an, frische Pferde zu bestellen und dieselbe mit der Chaise zum augenblicklichen Aufbruch bereit zu halten. Noch mehr Geheimniß und Verlegenheit. In der That, wenn die vereinten Ursachen den ehrenwerthen Gastwirth noch länger im Freien zurückgehalten hätten, so würde er wohl statt eines einträglichen Geschäftes zuverlässig seinen Tod an Erkältung, treuer Pflege seiner Gattin und eifriger Behandlung des Doktors geholt haben. Zum Glücke fiel es übrigens einem der Postillone ein, daß man zur Unterhaltung nicht gerade des Regens bedürfe und Schloßen gar schlimme Schlüssel zu einem Geheimnisse seien; die ganze Mannschaft verfügte sich deßhalb in das Schenkzimmer, um den Gegenstand mehr nach Gemächlichkeit der Herren, welche sich dabei betheiligt meinten, besprechen zu können.

»Ihr habt also ihr Gesicht nicht gesehen?« fragte der Wirth zur Krone.

»Würde sie nicht von Adams Großmutter unterscheiden können,« versetzte der Postillon, der die Deichselpferde geritten hatte; »ich hörte sie übrigens schluchzen und stöhnen, wie ein Rad, dem's an Schmiere fehlt.«

»Kannst wohl so sagen,« versetzte der andere Postillon, ein zusammengeschrumpftes Männlein, das seine gute sechzig auf dem Rücken haben mochte; »wir Postjungen erleben oft gar sonderbare Anblicke. Ich konnt's nicht mit ansehen, daß sie in dieser Weise litt, und hatte fast so viel Mitgefühl mit ihr, als wäre sie ein Gaul gewesen.«

Der Wirth gab den beiden Postillonen force de complimens für die Zartheit ihrer Gefühle, deren Wärme er vollkommen zu würdigen wußte, da er jedem seine Guinee, das Geschenk der Dame, gewechselt hatte. Als er sie in einem passenden Zustand – das heißt in der Mitte ihres zweiten Glases Grog – fand, machte er in seinem Kreuzverhör fort und erfuhr von ihnen, daß sie Auftrag erhalten hätten, an einem gewissen Orte auf einer ausgedehnten Haide, etwa zwölf Meilen entfernt, zu warten. Dort hätten sie kaum eine Stunde geharrt, als eine Privatequipage anlangte, welche die fragliche Dame und einen Gentleman enthielt. Die Dame selbst sei dicht verschleiert aus einem Wagen in den andern herüber verpflanzt worden, worauf sie Befehl erhalten hätten, in vollem Galopp dem Orte ihrer Bestimmung, wo sie sich jetzt befänden, zuzufahren.

Dieser Bericht schien die Bedenken des Wirthes zufrieden zu stellen, die natürlich keineswegs pekuniär, sondern blos moralisch waren. Da stürzte mit einemmale mit glühendem Gesichte die Wirthin herein, und der arme Mann mußte ihrem kleinen Gewehrfeuer Stand halten, während er nur mit Puder Powder bedeutet im Deutschen Pulver und Puder. darauf zu antworten vermochte, der noch obendrein zur Zeit gewaltig feucht war.

»Du fauler, schläfriger, nichtsthuender, plaudersüchtiger Tagedieb! Da ist die Dame ganz erschrecklich krank. Man hat nach dem Doktor geschickt, und sein Wagen wird vor der Thüre sein, ehe du deine garstige Nase aufblässt, und meine gesegneten zehn Gebote jücken mich, sie dir ein Bischen blutig zu zeichnen, – du taugenichtsziger – – ah!«

Mit sehr de- und wehmüthiger Stimme quickste der Wirth heraus:

»Hast du das Gesicht der Dame gesehen?«

»Ihr Gesicht? So, nach ihrem Gesicht gelüstet's dich? Und noch obendrein nach dem Gesicht einer Dame! Habe ich nicht Gesicht genug für dich, du Spottgeburt von einem Menschen?«

Was die Frau Wirthin sagte, war ohne Zweifel richtig, denn sie hatte Gesicht genug für zwei nur halbwegs anständig begabte Weiber, und wäre obendrein im Stande gewesen, noch Jedermann, der einen Theil des seinigen verloren hätte, auszuhelfen. Wie dem übrigens sein mag – ich will höflicher sein, als die Frau Wirthin, und dem Leser mittheilen, daß noch Niemand im Hause das Gesicht der Dame gesehen hatte oder überhaupt zu sehen kriegen sollte.

Als dieses Wortgefecht eben einen ernstlichen Charakter anzunehmen begann, kam der Arzt an. Er war noch nicht lange mit der Unbekannten allein gewesen, als er nach einem Wundarzt schickte, und dieser ließ sodann eine Wärterin herbeirufen. Droben war so viel Gewühl, Unruhe und Heimlichthuerei, daß der Wirth bereits in Erwägung zu ziehen anfing, welchen von den beiden Leichenbestattern, die zu seinen Freunden gehörten, er mit dem mutmaßlichen Geschäfte beglücken sollte; zugleich rieb er sich die Hände, denn es kam ihm auch der Gedanke an das Leichenschauergericht und das damit in Verbindung stehende Mittagessen. Die Wirthin war beinahe rasend, als sie sich von dem vermeintlichen Sterbebette ausgeschlossen sah. Man rief hastig nach heißem Flanell und warmem Wasser – Gegenstände, welche sie als ein sicheres Zeichen der herannahenden Auflösung betrachtete.

Auf der Treppe, welche zu dem Gemache der Dame führte, standen zu Hauf der Wirth, die Wirthin, das männliche Dienstpersonal und die Mägde, welche sämmtlich in größter Spannung auf das schreckliche Getümmel im Innern horchten. Endlich trat für einige Minuten eine Todtenstille ein. Die Lauscher schauderten.

»'s ist Alles mit ihr vorüber,« rief ein zartherziges Geschöpf, das die Wärmpfannen besorgte, mit dem Schürzenzipfel nach dem Augenwinkel fahrend. »Die arme Dame! 's ist Alles mit ihr vorüber!«

Es war genau um zwei Uhr am Morgen des einundzwanzigsten Januars, als sich ein schrilles Geschrei vernehmen ließ. Bald nachher riß die Wärterin die Thüre auf, und in ihren Armen zeigte sich die neue Ausgabe eines Refferembrios, der von seinen Lungen sehr mannhaften Gebrauch machte und sämmtliche Anwesenden belehrte, daß Jemand aufgetreten war. Das vermeintliche Todtenbette hatte sich zu einem Bette des Lebens umgewandelt, und ein neues Wesen war geboren, zu klagen, zu sündigen und zu sterben, wie Myriaden vor ihm geklagt, gesündigt und den Tod gefunden hatten.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Ich bin entschieden eine Belästigung – beginne mein Leben mit einem halben Dutzend fruchtloser Reisen – finde eine Heimath sammt einem Nährvater und spreche gelehrt von Drehkreuzen und Erzbischöfen.

————

Was soll aus dem Kinde werden? Das ist eine furchtbare Frage, die schon oft unter allen Arten von Leuten gestellt wurde. Von allen möglichen Gegenständen ist ein Kind am allerschwersten los zu werden. Ein Weib kann man sich allenfalls ohne viel Herzbrechen vorn Hals schaffen, sogar einen Freund wie Schutt aus dem Wege räumen, und doch dabei ruhig bleiben – aber ein hülfloses, neugeborenes Kind! – Oh in seinem schwachen Winseln liegt eine ergreifende Beredtsamkeit, die sogar Fremden zum Herzen dringt: sie muß wie glühendes Feuer wühlen in den Eingeweiden der Mutter.

Der ganze Haushalt wurde augenblicklich in Bewegung gesetzt, um eine Amme auszusuchen. Endlich wurde eine solche in dem sehr hübschen Weibe eines liederlichen Brettschneiders, Namens Brandon, gefunden. Letzterer hatte viele Wechselfälle des Lebens gesehen und als Soldat, als Bedienter und als Matrose gedient; dabei war er ein verschmitzter, sinnlicher und harter Mann, mit einer unüberwindlichen Vorliebe für starkes Bier und die Kugelbahn. Seine Frau war ein sanftmüthiges kleines Geschöpf von ungemein gedrungener und ansprechender Gestalt. Ihr Gesicht glühete von Gesundheit; auch war sie, wie vorhin bemerkt, sehr hübsch und hätte wohl schön genannt werden können, wenn man anders diesen edlen Ausdruck auf die gemeine Atmosphäre, in der sie athmete, anwenden dürfte. Brandon war ein tüchtiger Arbeiter, ließ sich aber während der Hälfte der sechs Arbeitstage in der Woche unfehlbar, die Pfeife im Munde, beim Bierkrug oder auf dem Kegelgraben betreffen, weshalb sich Niemand wundern wird, wenn es viel Elend in seinem Hause gab, welches oft noch durch seine Rohheit erhöhet wurde. Und doch war er ein ganz angenehmer Kerl, wenn er Geld in der Tasche hatte, und ein ganz fideler Bursche, wenn er es verthat. Seine Frau halte ihn vor nicht langer Zeit mit einem schönen Mädchen beschenkt, und ihr Mutterherz blutete über den Mangel, mit welchem das rücksichtslose Benehmen ihres Mannes sie nun schon so lange vertraut gemacht hatte.

Diese ganze Zeit über schrie des Lesers gehorsamer Diener, und Niemand ließ sich ausfinden, unter so sonderbaren Umständen die Sorge für ein Wickelkind zu übernehmen, das unverweilt von seiner Mutter wieder vergessen werden sollte. Endlich fiel einer der Wirthshausmägde ein, sie habe Mrs. Brandon sagen hören, daß sie gerne noch ein anderes Kind außer ihrem eigenen säugen würde, wenn sie sich dadurch einigermaßen ihrem Mangel entziehen könnte. Da sie nun damals von Gesundheit strotzte und zwei schöne Milchbrüste hatte (denn mit einer einzigen wäre mir bei der Abwechslung nicht gedient gewesen), so wurde sie herbeibeschieden. Sobald sie übrigens hörte, daß ich ohne nähere Nachweisungen unmittelbar ihrer Obhut übergeben und für mögliche Unfälle nicht einmal eine Adresse zurückgelassen werden sollte, waren alle ihre Wünsche, sich selbst und ihr Kind in eine bessere Lage zu versetzen, doch nicht stark genug, um sie zu bewegen, sich auf die Gefahr einzulassen. Man bot ihr anderthalb Guineen wöchentlich und wollte ihr das erste Quartal zum Voraus bezahlen, aber vergeblich. Endlich ließ sie sich aber doch durch eine zugäbliche Zehnpfundnote ermuthigen, und da viel Flanell nöthig war, so wurde ich, noch ehe ich drei Stunden zählte, gebührend ausgestattet, um unverweilt das Dach zu verlassen, das ich nicht ein mütterliches nennen kann, um in den Kampf mit der Welt hinauszutreten.

Meine Mutter drückte außer sich glühende Küsse auf meine stöhnenden Lippen, rief heiße Segenswünsche auf mich nieder, die sie in ihrer Person nicht zu stören gedachte, und schärfte meiner Pflegerin bei der Liebe zu ihrem eigenen Kinde feierlich ein, gewissenhafte und mütterliche Sorge für mich zu tragen. Damit übrigens der Jammer dieser Scene für diejenige, welche mich geboren, nicht verhängnisvoll werde, schaffte man mich und meine Amme in aller Eile fort, noch ehe der Tag meiner Geburt völlig angebrochen war.

Dieser Tag war zufällig einer von denen, an welchen der Brettschneider auf Arbeit ausgegangen war. Er war früh aufgebrochen und eben eifrig im Geschäft begriffen, als ein dienstfertiger Freund zu ihm kam, um ihm mitzutheilen, daß sein Weib der Familie einen Zuwachs gegeben habe, ohne sogar um seine Erlaubniß zu bitten. Statt daher in seiner Arbeit fortzufahren, warf er sein Geräthe nieder, nahm seine Laterne auf und eilte nach Haufe, um daselbst aufzuräumen. Der Unmensch! möge ihm für alle Ewigkeit die Säge in den Händen kleben! Er fluchte fürchterlich und betheuerte mit schweren Eiden, daß ich augenblicklich sein unwirthliches Dach verlassen müsse, weshalb meine sanfte Pflegemutter, die ihre Thränen mit meinem Schreien vereinigte, sich genöthigt sah, mich an dem unheimlichen Regenmorgen, der nebelich über so vielem Elend grauete, zu meiner Mutter zurückzutragen.

Die dringendsten Bitten und eine Zugabe von fünf Pfunden bewogen endlich Mrs. Brandon, mich wieder an ihr Herz zu nehmen und zu versuchen, ob sie das Mitgefühl ihres Gatten nicht zu wecken im Stande sei. Sie kehrte zu ihm zurück, aber inzwischen hatte sich dieser Mensch mit zwei Rathgebern benommen – mit einem betrunkenen Gehülfen, der unter ihm diente, und seinem eigenen Geize. Ich berichte bloße Thatsachen. Vielleicht glaubt man mir nicht – je nun, ich kann's nicht ändern – aber dreimal wurde ich hin- und hergetragen, und jeder Gang brachte dem Brettschneider fünf Extrapfunde ein, bis endlich mein kleiner Kopf einen Ruheplatz fand. Alle diese Thatsachen habe ich wiederholt aus dem Munde meiner Pflegemutter getreulich so vernommen, wie ich sie hier aufzeichnete.

An jenem denkwürdigen Morgen fuhr die vierspännige Chaise wieder vor der Thüre des Gasthofes an; die durch Schleier und Halstücher verhüllte Dame wurde hineingehoben, und der Wagen rasselte in nördlicher Richtung mit aller Eile durch die Straßen von Reading. Ich will keine Thatsachen berichten, von denen ich nicht zuverlässige Kunde habe, und kann deshalb ebensowenig angeben, welchen Weg die Chaise mit ihrem einsamen Insassen nahm, als ich im Stande bin, eine rührende Schilderung von Gefühlen zu geben, die ich nicht als Augenzeuge zu bestätigen vermag. Ich erfuhr später, daß diese Dame meine Mutter war, wagte aber nie eine Frage über diese Punkte, obschon ich aus der Kraft und Innigkeit aller guten und zärtlichen Gefühle, die ihren Charakter bezeichneten, nur den Schluß ziehen kann, daß es ein wohlwollendes Erbarmen der Vorsehung war, wenn sie jene Reise in der Betäubung der Schwäche und Erschöpfung, oder gar in der Irre des Deliriums machte.

Sie verließ ihr neugebornes Kind und schleuderte es von der Wärme ihres eigenen Busens in den kalten Miethlingsschooß einer Fremden. Ich höre nun freilich einige puritanische, weltbeobachtende, gesteifte Exemplare von weiblicher Strenge ausrufen: »Und darin hat sie eine große Schändlichkeit begangen.« Die Thatsache gebe ich zu, aber die Schändlichkeit muß ich völlig in Abrede ziehen. Stolz trete ich an die Seite meiner viel gekränkten Mutter und sage diesen geschnürten Dämchen, daß mehr Muth, mehr Liebe, mehr Frömmigkeit in diesem heroischen Akte lag, als in dem Gefühl und in der achtbaren Zärtlichkeit von tausend Müttern, deren einzige Empfehlung ihre ehrbare Aufführung ist, – ehrbar, weil sie nicht in Versuchung geführt wurden – und deren größte Wonne darin besteht, Opfer, die sie nie bringen könnten, zu verhöhnen, und einen Heldenmuth zu verspotten, den sie nicht zu begreifen vermögen.

Daß viel Elend und Leiden dadurch veranlaßt wurde, will ich nicht läugnen; aber dennoch darf ich nicht säumen, ein Wesen von aller Schuld und Schande frei zu sprechen, dessen Grundsätze so edel waren und dessen Leben so mackellos dastand, wie es nur die Tugend selbst vorschreiben konnte. Die Schmach und das Elend, das meiner Aussetzung folgte, mag die wahren Urheber treffen und ihnen als schwerste Last auf der Seele liegen, wenn sie aufstehen zur Verantwortung am jüngsten Gericht; das glühende Roth der Schaam färbe ihre Gesichter in der Stunde, wenn diejenigen, welche die Welt als ihren Götzen anbeteten, es nicht mehr wagen dürfen, die Gemeinheit und Niederträchtigkeit irdischer Größe zum Deckmantel zu nehmen in der Stunde, in welcher die Handlungen der Menschen gewogen werden in der Wagschaale einer allwissenden Gerechtigkeit.

Wir haben oben gesagt, daß Brandon ein Brettschneider war; wir müssen ihn aber jetzt Mr. Brandon nennen, denn er kaufte sich ein Paar Stulpenstiefel, einen eleganten Rock, und hielt sich trotz dem, daß er oft betrunken nach Hause kam, für einen ganzen Gentleman. Man sieht ihn nunmehr weit häufiger auf dem Kegelgraben, als je zuvor, und er hat statt des Quarts eine halbe Gallone vor sich stehen. Er entscheidet gebieterisch über ehrliches und unehrliches Spiel, und seine Stimme hat bedeutendes Gewicht in fast allen Streitsachen, die in den zwei lustigen Brettschneidern unweit des Lambeth-Weges, oben in der Gurgelschneidergasse gelegen, verhandelt werden. Heutzutage ist freulich Alles geändert. Vergeblich sehen wir uns nach den zwei lustigen Brettschneidern um. Wenn wir fragen, wo sie sind, so wird nicht das Echo, sondern der Erzbischof von Canterbury Antwort geben, denn er hat ganz priesterlich aller dortigen Lustigkeit ein Ende gemacht, indem er das Haus niederriß und an dem Orte eine große Werste aufbauen ließ, wo vordem ein sehr hübscher Baumgang stand, der zu besagten lustigen Brettschneidern führte. Die Gurgelschneidergasse ist nicht mehr, obschon sie, trotz ihres schuftigen Namens, ihrer Zeit einen recht hübschen Spaziergang abgab, und ihre vielen Drehkreuze waren eben so viele Gottesgaben für die kleinen Knaben, welche sich derselben gratis als Carrousels bedienten, für das sie bei jeder Messe des Königreichs mit ihren Pencen hätten ausrücken müssen. Wir können sehr gut begreifen, warum die Drehkreuze dem hohen Würdenträger so viel Anstoß gaben, denn in Wahrheit sind alle jene Gebäude, das Vermiethen der Häuser, die Verbesserung des Grund und Bodens, und das Zerstören von armer Leute Lieblingsspaziergängen nichts mehr, als eine verbesserte Lesart der Worte: »zum Besten der Geistlichkeit.« Dennoch können wir uns nicht entbrechen, die Wegräumung der Drehkreuze zu bedauern, und es thut uns sowohl um ihrer, als um unserer selbst willen leid, daß ihre Beweglichkeit sie in dem Lichte einer stets rebellirenden Schmähschrift erscheinen ließ und so ihre unzeitige Zerstörung herbeiführte.

Drittes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Mein neuer Vater vergißt die rechte Linie, die ihm für sein Leben vorgezeichnet ist. – Ich werde krank – finde mich in eine Kanne und erhalte die Taufe. – Gehe nach Bath und versuche in ersten Proben meine Ueberredungskunst.

————

Als ich bei den Brandons mein Unterkommen fand, wurde ausgemacht, daß sie alsbald Reading verlassen und nicht mehr dahin zurückkehren sollten, so lange ich zu ihrer Familie gehöre. Zu diesem Ende wurden ihnen von unbekannter Hand die nöthigen Mittel zugewiesen. Sie begaben sich daher nach Lambeth, weil es dort von Sägegruben wimmelte – ein Vortheil, der jedoch mehr als zerstört wurde durch die übergroße Menge von Kegelgraben. Mr. Joseph Brandon hatte seinem Gewissen Genüge gethan, indem er sich in der Nachbarschaft besagter Sägegruben niederließ – er hatte wenigstens eine Richtung nach den Pfaden des Gewerbfleißes – aber so lange er für mich jährlich einundachtzig Pfund achtzehn Schillinge zog, zog er es immer vor, die neun Kegel fallen zu sehen oder fallen zu machen, statt auf einem schmalen Brette eine mit Kreide vorgezeichnete Linie zu zersägen. Dies war nicht die Lebenslinie, die ihm in Wirklichkeit vorgezeichnet sein konnte, und so traf es sich dann, daß er am dritten Tage seiner Niederlassung zu Lambeth, als er ausging, um Arbeit zu suchen, und durch Stangate-Street hinunterkam, in die Gurgelschneidergasse gerieth, bis er, nachdem er alle Drehkreuze zurückgelegt hatte, in den zwei lustigen Brettschneidern anlangte, um daselbst den Dritten zu spielen. In seinem Spähen nach Beschäftigung fand er es einen ganzen Monat lang unmöglich, über diesen Platz hinauszukommen.

Es war ihm jedoch nicht lange gestattet, der große Mann unter seinen Gewerbsgenossen zu sein. Lag der Grund vielleicht in dem Umstande, daß Mrs. Brandon ihre nährenden Kräfte überschätzt oder daß ich durch die unfreundliche Witterung während der drei Reisen an meinem Geburtstage gelitten hatte – möglich auch, daß ich von Natur aus zart konstituirt war, oder daß alle diese drei Ursachen gemeinschaftlich wirkten – kurz, ich gerieth in einen sehr bedenklichen Zustand, und ehe noch der dritte Monat verflossen war, sah ich mich zu einer abermaligen Wanderung genöthigt.

Obgleich wir nicht wußten, von wem, waren sowohl ich, als Mrs. Brandon, ohne Unterlaß bewacht, und schon am zweiten Tage meiner Ankunft in Lambeth fand ein sehr geschickter, in der Nähe wohnender Arzt unter einem oder dem andern Vorwände Gelegenheit, sich bei meiner Wärterin einzuführen und eine ungemeine Zuneigung zu dem kleinen, possierlichen, winselnden Stück Sterblichkeit zu fassen, das in meiner Wenigkeit personifizirt war. Ich war um jene Zeit so ungemein klein, daß ich, auf die Gefahr hin, kindisch zu erscheinen, nicht umhin kann, zu berichten, wie mich Joseph Brandon einmal bis an den Kopf in eine Quartkanne tauchte. Freilich konnte nur Joseph Brandon oder ein Brettschneider auf einen so schmutzigen Einfall kommen. Ich habe nie erfahren, ob die Kanne mit Getränk gefüllt war, muß aber doch dieser unbesonnenen Handlung die sehr plebejische Vorliebe zuschreiben, die ich für das Doppelbier unterhalte, und die ich sogar in diesen Tagen der französischen Sitten und der französischen Weine nicht zu besiegen vermag.

Meine Gesundheit war nun so bedenklich geworden, daß eines Tages ein bloß mit E. R. unterzeichneter Brief mit dem Auftrage einlief, ich solle ohne Zögerung getauft werden; für die Kosten waren fünf Pfund beigeschlossen. Das Schreiben bemerkte ferner, Mrs. Brandon solle zwei achtbare Personen als Taufzeugen beiziehen; auch werde sich an diesem und diesem Tage, zu dieser und dieser Stunde ein Frauenzimmer in der Lambethkirche einfinden, welche die Stelle meiner Pathe vertreten wolle. Ich solle Ralph Rattlin heißen und, wenn ich am Leben bleibe, bis aus weitere Weisung als ihr eigenes Kind gelten, auch zu diesem Ende den Ramen Ralph Rattlin Brandon führen. Da man zwei anständige Personen brauchte, so hielt sich Joe Brandon, der seit ein paar Monaten nicht gearbeitet hatte, kraft seines Müssigganges, für berechtigt, sich selbst dazu zu zählen, da er ja ohnehin auch Stulpenstiefel trug. Der andere Taufzeuge war ein herabgekommener Fischhändler, Namens Ford, ein Pensionär der Fischhändler-Kompagnie, in deren Armenhaus zu Newington er nachher starb. Der alte Ford war ein jämmerlicher Tropf – boshaft von Natur, trunkliebend aus Gewohnheit, und voll Reue aus Methodismus. So war denn seine Zeit gleich getheilt zwischen Sünde, Trunkenheit und Zerknirschung. Sogar sein Schlaf war voll Sünde, denn in seinem unruhigen Schlummer pflegte er jede Nacht durch gotteslästerliche Reden das ganze Haus wach zu halten. Als ich in einer Miethkutsche nach der Kirche gebracht wurde, bemerkte mein geehrter Pathe Ford, »es wäre doch recht angenehm, wenn ich vor ihm in die Hölle käme, denn er sei überzeugt, daß ich zur Sünde geboren sei – ein Kind des Zornes und ein Erbe von Satans Königreich.« Diese bittere Aeußerung weckte sogar den Zorn meiner sanften Pflegerin, und sie zerfleischte ihm beide Seiten seines Gesichts dermaßen mit ihren Nägeln, daß die Spuren noch sichtbar waren, als man ihn neun Jahre nachher zu Grabe trug. Aber dies ereignete sich in der Kutsche, als wir nach der Kirche fuhren. Ford hatte sich bereits für seine kirchliche Pflicht vorbereitet, indem er sich durch sein Lieblingsgetränk, Wachholder, halb betrunken gemacht, und es wurde nun nöthig, die andere Hälfte nachzuholen, um ihn in den Stand zu setzen, die Feierlichkeit zu erstehen. Meine Wärterin hatte das Gesicht meiner Mutter nie recht sehen können; denn als sie bei meiner Geburt mit ihr zusammen getroffen, hatte die beiderseitige Aufregung, und das verdunkelte Zimmer Mrs. Brandon verhindert, sie so in's Auge zu fassen, um sie nachher wieder zu erkennen. Als daher unsere Gesellschaft an dem Thore des Kirchhofs ausstieg und in einiger Entfernung sich eine tief verschleierte Dame gleichfalls aus einem Wagen heben ließ, wußte meine Pflegemutter nicht, ob sie dieselbe je zuvor gesehen hatte. Bei religiösen Feierlichkeiten bin ich überhaupt sehr unglücklich gewesen. Der alte Ford bot bei dieser Gelegenheit einen schrecklichen Anblick; sein Gesicht strömte von Blut, und in seiner Trunkenheit mußte er von Brandon geführt werden, der sich diesmal wenigstens sowohl im Aeußern, als in seinem Benehmen, anständig aufführte. Als der Geistliche sah, in welchem Zustande sich Ford befand, so weigerte er sich, in der Ceremonie fortzufahren. Der Küster trat deßhalb für ihn ein und der Trunkenbold wurde zur Kirchthüre hinausgeführt. Die Feierlichkeit nahm ihren Fortgang und die Dame schien eifrig zu vermeiden, ihr Pathchen anzusehen. Ich wurde einfach Ralph Rattlin getauft. Die Dame schrieb ihren Namen zuletzt in das Buch, das dann augenblicklich von dem Küster entfernt wurde. Sie drückte eine Guinee in seine Hand, und nun beugte sich zum erstenmal ihr verschleiertes Gesicht über mich. Ich muß damals erbärmlich ausgesehen haben, denn kaum hatte sie mich betrachtet, als sie einen bitterlichen Schrei ausstieß, sich an den Wänden der Kirchstühle hielt, und so langsam das Gotteshaus verließ. Zwei oder drei Personen, welche zufälligerweise zugegen waren, wie auch Mr. und Mrs. Brandon, traten vor, um ihr Beistand anzubieten, aber der Geistliche, der zuvor ein Gespräch mit ihr gehabt zu haben schien, bedeutete ihnen, davon abzustehen. Das Ganze war überhaupt eine höchst traurige Geschichte. Man hatte dem alten Ford, nachdem er die Kirche verlassen, wieder in den Wagen geholfen, und Joe Brandon, der entweder billigermaßen über sein Benehmen aufgebracht, oder vielleicht ärgerlich über den Umstand war, daß er das Gesicht meiner unbekannten Pathin nicht gesehen hatte, zerdrosch auf dem Heimwege den alten Trunkenbold dermaßen, daß Mrs. Brandon fast in Krämpfe verfiel und Ford eine ganze Woche das Bett hüten mußte. Wenn ich an die Art denke, in welcher ich die heilige Taufe erhielt, so hätte ich gute Lust, die Handlung, obgleich ich die erstmalige nicht gerade eine verstümmelte nennen kann, aufs Neue an mir vollziehen zu lassen; aber dann schrecken mich wieder die Kosten.

Alles war nun in emsiger Bewegung, um von Felix-Street in Lambeth nach Bath zu übersiedeln, wo ich jeden Morgen in eine Quelle getaucht werden sollte, die in dermaliger Zeit sehr berühmt war. Der alte Ford wurde zurückgelassen. Zu Bath verblieb ich drei Jahre, während welcher Joe Brandon nichts arbeitete und sich selbst beredete, daß er nun wirklich Gentleman sei. In meinem dritten Lebensjahre starb meine Milchschwester, die kleine, kräftige, rothbäckige Marie, und der schwächliche, verkümmerte und welke Zweig lebte fort. Dieser Todesfall machte mich meiner Pflegemutter nur um so theurer, und sogar Joseph faßte, obschon nur aus Eigennutz, einige Liebe zu mir. Er wußte, wenn ich zu Grabe getragen wurde, müßte er wieder arbeiten; deshalb versah er persönlich an mir die Funktion einer Wärterin, indem er mich nach dem Brunnen nahm und Niemand anders gestattete, mich einzutauchen. Als ich älter wurde, erzählte er mir oft, wie ich gebeten, gefleht, all' mein Spielzeug und zahllose Küsse angeboten habe, wenn er mich nur an diesem einzigen Morgen nicht in das kalte Wasser tauchen wollte. Auch sprach er von einem gewissen Doktor Buck, der nach der Weise des Lambether Arztes gleichfalls eine wunderbare Zuneigung zu mir gefaßt, Recepte für mich geschrieben, ferner mir Arznei und Portwein geschickt habe – Alles aus reiner Menschenliebe; ich hätte übrigens diesen Doktor Buck mit seinem schrecklichen »Noch einmal eingetaucht, Brandon,« durchaus nicht leiden können. Doch dies sind Dinge, die längst aus meiner Erinnerung entschwunden sind.

Viertes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Ich wohne in der Nachbarschaft der Geistlichkeit, was mich veranlaßt, zu predigen. – Ich nehme das Wort für den gemeinen Mann und beweise, daß der Geringe und Demüthige nicht nothwendig schlecht sein muß – ein Kapitel also, das man nicht gerade zu lesen braucht.

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Unter dem Eintauchen, dem Portwein, der Chinarinde und dem Doktor Buck fingen, als ich vier Jahre alt wurde, meine Glieder an, sich gebührend auszudehnen, während mein Gesicht nachgerade die Farbe der Gesundheit erhielt. Ich habe den Tod meiner Milchschwester Marie berichtet, aber um diese Zeit begann der Brettschneider, der die Dynastie der Brandons fortzusetzen wünschte, in einer sehr ungebührlichen Weise den pater familias zu spielen. Das war nun freilich nicht recht, aber dennoch muß man in Milderung seines gottlosen Versündigens an dem göttlichen Gebote »zu wachsen und sich zu mehren« zugeben, daß damals Herr Malthus den Irrthum des Allwissenden noch nicht gut gemacht, dergleichen auch Miß Harriett Martineau ihre Pilgerfahrt nicht mit züchtiger Zurückhaltung begonnen hatte. Da nun weiter kein Grund vorhanden war, daß ich in Bath blieb, oder mein würdiger Nährvater sich von der Arbeit dispensirte, so begaben wir uns in unserem Spähen nach Sägegruben und Glück nach einem der besten Häuser in Felix-Street, unfern von Lambeth-Marsh. Dieser Platz erwies sich in Folge der Erfahrung einer kurzen Zeit nicht sehr segensreich für uns, weßhalb wir nach Paradiese-Row zogen, das dem Vater in Gott, Seiner Gnaden dem Erzbischof von Canterbury, etwa um eine Viertelmeile näher lag. Ich besaß den löblichen Stolz, zu zeigen, daß ich einen achtbaren – ich bitte um Verzeihung, das Wort ist nicht anwendbar – wollte sagen, einen großen Nachbar hatte. »Ich bin nicht die Rose,« sagt eine Blume in dem persischen Gedicht, »aber ich habe in der Nähe der Rose gelebt.« Ich blühte nicht in dem Garten des Erzbischofs, gedieh aber doch an der Außenseite der Mauer. Diese Mauer ist nun niedergerissen, und Reihen von Häusern stehen an ihrer Stelle. Ich hätte nun große Lust, mich über die Veränderlichkeit in Menschendingen zu ergehen; aber wie ich die Feder ansetze, kömmt mir's anders: dies ist ein praktischer Kommentar zu meiner beabsichtigten Rede, weshalb ich mir die Mühe ersparen will, sie niederzuschreiben.

Da unsere Wohnung in Paradise-Row größer war, als wir's für unsere Bequemlichkeit nöthig hatten, so nahmen wir wieder den alten Ford zu uns; es war wohl das einzige Paradies, das zu bewohnen er sich zu erfreuen hoffen durfte. Mein Pathe, der alte Ford, war ein entsetzlicher Mann. Er mischte Gebete und Gotteslästerungen, Psalmen und Schelmenlieder, Trotz und Zerknirschung, Stöhnen und Gelächter in so schauerlicher Weise unter einander, daß ihm alles aus dem Wege ging. Das höllische Feuer, behauptete er ohne Unterlaß, brenne stets vor seinen Augen; und da es in dem neuen Testamente eine Stelle gibt, welche behauptet, daß es keine Rettung für den gebe, der dem heiligen Geist fluche, so konnte er oft stundenlang diesen geheimnißvollen Theil der Dreieinigkeit verwünschen, unmittelbar darauf aber mit reuiger Zerknirschung seine Brust zerschlagen. Viele mögen glauben, daß dies eitel Wahnsinn war; er war jedoch nicht verrückter, als die meisten heißköpfigen Methodisten, deren Prediger gleichwohl unbeschränkt über die große Masse des Volkes herrschen, die sich in den bescheideneren Lebenswegen hinschleppt. Zwei Abende in der Woche fand in unserem Hause eine fromme Versammlung statt, und obgleich ich damals nicht älter als fünf Jahre gewesen sein kann, so erinnere ich mich doch lebhaft, daß bei solchen Gelegenheiten unsere Vorderstube mit glühenden Fanatikern erfüllt war. Der alte Ford befand sich in der Mitte, und zu jeder Seite des gottlosen Menschen beteten ein paar schlichthaarige Heuchler, bis ihnen der Schweiß von der Stirne strömte, um den Teufel aus ihm hinauszubeten. Die Achs und das Stöhnen der Zuhörer waren schrecklich, die ganze Scene aber, obgleich sehr erbaulich für die Auserwählten, eine wahre Schmach für ein civilisirtes Volk.

Ich muß mich nun auf mein Gedächtniß verlassen und meine eigenen Gefühle schildern. Wenn ich nach den Mühen und der Unruhe meines Geistes rechnen will, so bin ich bereits ein Greis und habe Menschenalter durchlebt. Ich bin weit, sehr weit in meiner Reise vorgerückt. Laßt mich daher meine Blicke zurücksenden aus die unendliche See, die ich durchzogen – es liegt ein Nebel darüber, fast so undurchdringlich, als derjenige, welcher die Zukunft verdüstert. Laßt mich inne halten. Es ist mir, als sehe ich ihn allmählig brechen und einige Sonnenstrahlen sich durchkämpfen. Jetzt heben sich die fernen Wellen, und die Spiele der Kindheit treten rein und klar hervor. Es war der Lenztag der Unschuld. Wie nahe jene fernen Wogen dem Himmel zu sein scheinen! Sie treffen mit ihm zusammen und sind gleichsam eins mit ihm in der Linie des Horizontes. Jene funkelnden Blitze sind die Stunden, die glücklichen Gefühle meiner Kindheit. Wie die See des Lebens weiter rollt, schwellen die Wogen mehr an und werden trübe; je weiter ich von dem Horizonte meiner frühesten Erinnerungen abkomme, desto ferner wird mir der Himmel. Die Gewitterwolke steht hoch über meinem Auge, die tückischen Wasser brüllen unter mir, und vor mir steht die finstere Nacht einer unbekannten Zukunft. Wo anders könnten sich meine Augen nach Trost umsehen, als auf dem weiten Raume, den ich zurückgelegt habe? Während mein Nachen achtlos vorwärts gleitet, träume ich nicht von den Gefahren, die ich nicht sehe, oder zittere ich nicht vor Riffen, die wohlwollend meinen Blicken verborgen sind. Es ist zureichend, daß ich weiß, ich müsse endlich aus der Strand laufen und mein sterblicher Leib zerschellen, wie eine Barke am Gestade, ehe die reineren Elemente sich in die unermeßliche Unsterblichkeit emporschwingen können. Ich will Rücksprache halten mit den Tagen meiner Jugend und nur in der Vergangenheit leben. Das Gedächtniß soll den Prozeß der Medea an mir üben und mich wieder verjüngen. Ich will zurückkehren zu den Marbeln und zu einem sorglosen Herzen – zu dem Reise und zu dem glücklichen Frohsinn – wenigstens in der Einbildungskraft.

Ich werde fortan auf mein Gedächtniß bauen. Sollte dieser Theil meiner Geschichte mehr in dem Lichte einer Kette von Gefühlen, als in dem einer Reihe von Begebenheiten erscheinen, so darf der Leser nicht vergessen, daß eben diese Gefühle der frühen Jugend, wirkliche Ereignisse, die Keime der Handlungen und die Leitschnüre der Bestimmung find. Der Kreis, in welchem man sich als Knabe bewegen muß, mag für niedrig erachtet werden; die Umgebungen mögen ärmlich, die Personen, mit welchen man in steter Berührung lebt, gemein und unfläthig sein; aber der Geist, wenn er so rein bleibt, wie man ihn aus der Hand des Schöpfers erhalten hat, ist ein fleckenloser Edelstein von unschätzbarem Werthe, den die Großen und Reichen nur zu selten finden, oder doch nicht zu würdigen wissen. Nichts Geistiges ist gemein, und der Geist, der eine gemeine Scenerie gut schildert, durchaus nicht niedrig, wie auch dieser Vorwurf die Schilderung selbst nicht mit Notwendigkeit treffen muß. Dagegen bekunden Stolz und Verachtung unserer Nebenmenschen eine gemeine Sinnesart, und sind der Ausdruck einer niedrigen Seele; sie sind es, die nur zu oft Leute, welche in Seide umherprunken und in Equipagen fahren, unter den Niedrigsten herabwürdigen.

Ich habe dies gesagt, weil der erste Theil meines Lebens unter sogenannten »gemeinen Leuten« verbracht wurde. Wenn ich sie nach Wahrheit schildere, so müssen sie noch immer niedrig vor denen erscheinen, welche sich selbst das Beiwort »hoch« anmaßen, obschon ich für meine Person der Ansicht bin, daß nichts unter der Sonne niedrig ist, als die eigentliche Gemeinheit. Wer sich nützlich macht, verdient Ehre. Daß ersteres bei dem bescheidenen Arbeiter der Fall ist, wird nie in Abrede gezogen, obschon man ihn nur zu oft verachtet und ihm nur selten die gebührende Ehre erweist; aber ich habe unter dem »gemeinen Volke« einen Abscheu vor Gemeinheit, eine Selbstaufopferung, eine eiserne Geduld unter Entbehrungen aller Art und einen moralischen Muth gefunden, welche im Vornehmen Helden schaffen würden. Auch kann ich den Bewunderern der Größe sagen, daß die schlimmen Leidenschaften des gemeinen Volks eben so gigantisch, ihre Verworfenheit eben so großartig und ihre Begriffe von dem Laster eben so raffinirt und ausgebreitet sind, als die irgend eines fashionabeln Roués, um den man sich in den ersten Zirkeln drängt, oder sogar die eines gekrönten Despoten. Nun auch ein Wörtchen von der Kraft des gemeinen Verstandes. – Allerdings ist dieser selten durch eine aus bloßen Worten bestehende Gelehrsamkeit gebildet. Sein Wissen besteht nur in partiellen Lichtblicken; deshalb ist seine Sphäre zwar eng, er selbst aber dennoch kräftig. Er ist ein Zwerg mit den Muskeln und Sehnen eines Riesen, und was seine Faust in seinem unscheinbaren Kreise erfassen kann, wird mit furchtbarer Gewalt festgehalten. Der General, welcher Armeen besiegte und Länder unterjochte – der Minister, der sie zu Grunde richtete, und der Jurist, der Beide rechtfertigt – Keiner davon hat in der höchsten Höhe seiner Bemühungen auch nur den zehnten Theil von dem Scharfsinne und den geistigen Hülfsquellen, die mancher Gewerbsmann aufbieten muß, um für sich und seine Familie das tägliche Brod zu gewinnen oder seine Kundschaft zusammen zu halten, damit er nicht dem Armenhause verfalle. Warum heißen die Anstrengungen des Geistes bei dem Arbeiter gemein und bei dem Minister groß, tief und glorreich? Die wohlwollende Allmacht hat allen ihren Kreaturen diese köstliche Gabe verliehen. Eben so gut könnte man die Sonne als höchst gemein bezeichnen, weil sie, wie der Geist, Allen in gleicher Weise bei Verrichtung ihrer Obliegenheit Hülfe leistet. Ich wiederhole, daß nichts, was Geist hat, nothwendig niedrig sein muß, und nichts gemein ist, als die eigentliche Gemeinheit.

Fünftes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Ich erhalte meinen ersten Unterricht in der Streitsucht und sauge einen schlimmen Geist ein – lerne lesen aus der Anschauung und mich balgen durch die Uebung – gehe zu einem Soldaten in die Schule. – Ich bin ein guter Knabe und komme gut durch.

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Mit meinem sechsten Lebensjahre hatte sich meine Gesundheit befestigt – ein Umstand, der Joe Branden gar nicht gelegen kam; denn da ich nicht länger ein kränkliches Kind war, das unablässige Aufmerksamkeit und die sorgsamste Abwartung forderte, wurde meinen Pflegeältern angedeutet, daß an den für mich bezahlten Vierteljahrsraten fortan ein bedeutender Abzug stattfinden werde. Brandons Entrüstung überstieg alles Maaß, und er betrachtete sich als einen Mann, dem man schweres Unrecht anthat. Kein Sinekurist, dessen Pension eingezogen wurde, konnte sich ungestümer über die Heiligkeit hergebrachter Rechte auslassen. Sein Zorn machte sich jedoch nicht nur in eitler Deklamation Lust, denn er war nicht der Mann, um es bei bloßen Worten bewenden zu lassen. Er deklamirte eine volle Stunde über die Thorheit seines Weibs, daß sie ihm für so lange Zeit die Mittel zu einer wohlgenährten Faulheit verschafft hatte, drohete, den Balg – darunter keine geringere Person, als mich verstehend – nach dem Armenhause zu bringen, und schloß die Sache dadurch ab, daß er im Hause sein Weib zerprügelte und außer dem Hause sich einen königlichen Rausch antrank.

Dies war die erste Scene, die einen tiefen Eindruck auf mich machte. Trotz meiner Jugend begriff ich doch, daß ich der Grund von der üblen Behandlung meiner Pflegemutter war, die ich zärtlich liebte. Ich legte mich in's Mittel und brachte meinen kleinen Körper zwischen sie und ihren viehischen Unterdrücker. Ich kratzte, trat mit Füßen, schrie und war ganz toll vor Leidenschaft.

In dieser Stunde fachte der Geist des Bösen und des Hasses die ruhigen Kohlen in meinem Herzen zu lichter Flamme an, und der Dämon des Ungestüms hat es seit jener Zeit nur allzuleicht gefunden, seinen Altar aufzurichten, dessen Feuer, wie verzehrend es auch für den Augenblick sein mag, nie von Dauer ist. Von jenem Augenblicke an beginnt mein intellektuelles Dasein. Ich sah meine schluchzende Pflegemutter an, empfand, was Liebe war, und meine Liebe machte sich in einem Strome von Thränen Luft. Ich blickte auf den Tyrannen und fühlte nun zum erstenmale, was es hieß, zu hassen; auch bemühte ich mich, den brennenden Wunsch meines Innern, ihn zu züchtigen, in wilden Geberden und Ausrufungen vertoben zu lassen. Der alte Ford, welcher zugegen gewesen und an dem Streite seinen Spaß gehabt hatte, beglückte mich fortan mit seiner besonderen Gunst; er erklärte, daß ich ganz nach seinem Herzen sei, denn ich habe den Teufel in mir – sagte, ich habe gerade den rechten Geist, um an dem Galgen zu enden – und hoffte, trotz seines Alters, dieses Schauspiel noch zu erleben. Dann bat er den Herrn, er möchte meine kostbare Seele wie einen glühenden Brand aus dem Feuer retten, führte mich in den nächsten Branntweinladen – ließ mich das ekle Gift kosten – sagte mir, ich sei ein kleiner Mann, und man habe Ruhm vom Kampfe – verwies mich auf meine winzigen Fäuste und versicherte, daß nur Feiglinge einen Schlag hinnähmen, ohne ihn zu erwiedern. Eine Lehre wie diese wird nicht wieder vergessen. Ich knirschte mit den Zähnen, ballte meine Hände und sah mich wild nach etwas um, was ich zernichten könnte. Ich war im besten Zuge ein kleiner Tiger zu werden. Von dem, was ich in jenem Augenblicke empfand, kann ich mir leicht die Gefühle vorstellen und sogar halb vergeben, welche in den gekrönten Ungeheuern thätig sind, wenn sie im Blute schwelgen und einen Hochgenuß in den Folterqualen finden, die sie verhängen. Da man in der Jugend ihren schlimmsten Leidenschaften schmeichelt, so werden sie zu einem schrecklichen Werkzeuge der Grausamkeit, dessen Bewältigung nicht in ihrer Macht liegt. Aber dieser Unterricht in der Tigerwildheit hatte, wenn auch kein Antidot, so doch ein Besänftigungsmittel in der zärtlichen Liebe zu meiner Pflegemutter, als ich mich derselben nach meiner Rückkehr in die Arme warf. Seit jenem Tage bin ich oft in heftige Leidenschaftsanfälle ausgebrochen; zum Glück für mich haben sie aber längst aufgehört, eine häufige Erscheinung zu sein.

Am andern Morgen kam Meister Joseph krank und, wenn auch nicht gedemüthigt, so doch fast hülflos nach Hause. Er hatte nun drei eigene Kinder, und die Nothwendigkeit, die Kegelgräben zu meiden, dafür aber in der Sägegrube sich umzuthun, wurde dringend. Trotz aller seiner Rohheit und seiner Laster hatte er mich doch sehr lieb gewonnen, und er lobte sogar meinen Muth, weil ich es gewagt hatte, ihn anzugreifen. Er nahm mich nun nach der Sägegrube mit, erlaubte mir auf den Brettern zu spielen, und theilte mit mir sein al fresco Mittagsmahl, sammt dem Porterkruge. Ich galt stets für seinen ältesten Sohn und wurde von den Nachbarn nicht anders, als Ralph Rattlin Brandon genannt. Ich wußte nichts Anderes und meine Pflegeeltern bewahrten pflichtlich das Geheimniß. In meinem siebenten Jahre begann ich, mich mit den schmutzigen Knirpsen in der Straße zu balgen, welche sich über meine guten Kleider ärgerten. Es ist eine harte Arbeit, vom siebenten Jahre an sich stets fortkämpfen zu müssen. Der alte Ford pflegte mir das Blut von der Nase zu wischen und mit Worten süßer Ermuthigung in Weinessig getränktes Löschpapier auf die Beulen zu kleben, obgleich er stets seine Rede mit der Prophezeihung schloß, sein hoffnungsvolles Pathchen werde doch noch gehangen werden, und er getröste sich der Aussicht, es zu erleben. Freilich bin ich noch nicht ertrunken, obgleich es zuweilen haarscharf zuging; aber der alte Ford ist schon seit dreißig Jahren todt. Da nun ein Theil seiner Prophezeiung nicht in Erfüllung ging, habe ich einige schwache Hoffnung, auch der Erhöhung zu entgehen, auf welche er in dem andern hindeutete.

Um diese Zeit begann ich zu bemerken, daß hin und wieder in langen Zwischenräumen eine Dame einsprach, um mich zu sehen. Sie schien sich ungemein über meine Liebkosungen zu freuen, obgleich sie keine Schwäche blicken ließ. Sie galt als meine Pathe, und das war sie auch zuverlässig. Namentlich forschte sie besonders nach, ob ich auch gehörig reinlich gehalten würde; auch brachte sie mir stets Konfekt, welches unmittelbar nach ihrer Entfernung von mir und den kleinen Vielfräßen, meinen vermeintlichen Brüdern und meiner Schwester, verzehrt wurde.

Außerdem erhielt meine Pflegmutter stets ein Geschenk, welches sie sehr sorgfältig vor ihrem Lehensherrn von der Sägegrube verheimlichte. Ich kann mir übrigens im Ganzen nur vier dieser »Engelsbesuche« in's Gedächtniß rufen: sie konnten wohl Engelsbesuche genannt werden, wenn man die große Schönheit der Dame in Betracht zog. Damals weckte ihre Gestalt und ihr Gesicht in mir eine Vorstellung von den gesegneten Himmelsbewohnern vor der Schöpfung des Menschen, und es ist mir seitdem nie möglich geworden, sie mit etwas Schönerem zu ersetzen. Der Leser wird bald erfahren, wie ich in jenem frühen Alter so gut mit der englischen Sprache bekannt wurde.

In meinem achten Jahre schickte man mich in die Schule. Ich konnte schon vorher lesen, obgleich ich nicht mehr weiß, wie ich dazu gekommen bin. Meine Pflegeeltern waren sehr unwissenschaftliche Leute. Vielleicht lehrte mich's der alte Ford – nun, 's ist eben eines von jenen Geheimnissen, die ich nie zu lösen vermochte, und es nimmt mich Wunder, daß ich eine so wichtige Sache ganz vergessen konnte, während ich mich doch vieler weit untergeordneterer Ereignisse so klar erinnere. Dem war übrigens so. Ich ging zur Schule. Mein Lehrer war ein leichenhaft aussehender, stelzbeiniger vormaliger Soldat und hielt ebenso streng auf Mannszucht, als auf sein ABCbuch.

Ich entsinne mich noch gut des alten Isaaks und seiner großen, schönen, kranichhalsigen Tochter. Die Dirne war so gerade wie ein Pfeil, und doch pflegte sie, sei es aus Koketterie oder aus Eigenheit, in einer ganz sonderbaren Weise die Methodistenkapelle zu besuchen; ihr Grübchenkinn ruhte nämlich aus einem eisernen Reife, und ihre schöngeformten Schultern waren durch Riemen so dicht zurückgeschnürt, daß ihre Schwanenbrust eine fast nur zu üppige Büste bot. Diese Werkzeuge gegen Verkrümmung mit ihrem Scharlachleder also in den Dienst der Schönheit gepreßt, übten eine auffallende und erregende Wirkung auf den Beschauer. Ich habe in meinen reiferen Jahren oft an das Mädchen gedacht, und muß gestehen, daß kein Anzug, den ich je erblickte, der Trägerin ein größeres Interesse verlieh, als jene Riemen und Eisen, welche zu Hause nie getragen wurden. Vielleicht war das Ganze ein Einfall ihres Vaters, der ein alter Soldat war und das Kommando »Augen rechts – richt euch!« zum Motto hatte. Wie dem übrigens sein mag, die Tochter gefiel sich darin. »Augen rechts! – richt euch!« ist für Damen ein ebenso gutes Motto, als für eine Armee – und sie achten sicher wohl danach.

Die wichtigsten Ereignisse, die mein Gedächtniß aus dieser Schulzeit aufbewahrt hat, bestehen darin, daß ich eines Tages meine Aufgabe, die zwei ersten Kapitel des Evangeliums Johannis vollkommen gut auswendig wußte, daß vierzehn Tage vor der Sommervakanz eine ungebackene Stachelbeerpastete sehr augenfällig auf dem Simse des Schulzimmerfensters stand, an der wir am glücklichen Tage des Ferienanbruchs Theil nehmen sollten, und daß jeder Knabe für seinen Antheil an dem gewaltigen Mahle vier Pence zahlen sollte. Wir waren unserer vierzig bis fünfzig. Fast habe ich zu erwähnen vergessen, daß Auftrag erlassen worden war, mich gebührend abzustrafen, wenn ich es verdiene; aber der Schulmeister mochte mir um keinen Preis weh thun oder mich weinen machen. Ich verdiente regelmäßig drei oder viermal des Tages Züchtigung und wurde auch ebenso regelmäßig einmal gestriegelt. Aber diese Strafe – wie trügerisch war sie, und wie sehr bedauerte ich, daß sie nicht kräftiger gehandhabt wurde, als ich die Sache einmal aus dem Fundament kennen lernte! Der alte Isaak hätte nicht zarter zu Werke gehen können, wenn er von der Wange einer Dame eine Fliege abgewehrt hätte. Er brachte mich nie zum Weinen.

Sechstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Zeigt in methodischer Weise, wie man einen Glauben finden und alle Religion verlieren kann; desgleichen auch, wie eine Berufung durch Personen von verschiedenen Berufen erzielt wird.

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Wie bereits berichtet, war ich in meinen Leidenschaftsausbrüchen ermuthigt und systematisch in die Streitsucht eingeführt worden. Mein Geist sollte sich nun höheren Spekulationen aufschließen, und eine religiöse Furcht, mit allen Schreckbildern des Aberglaubens in ihrem Gefolge, kam wie ein Schwarm von Banditen auf mich los, zuerst meine Seele in die Fesseln der Betäubung schlagend, bis sich zuletzt die Bande lösten und mein Geist in seiner ganzen kindischen Wildheit durch die grausen Reiche beängstigender Träume und wacher Visionen wanderte. Ich modelte mich zu einem Poeten.

Meine Pflegemutter war stets ein wenig fromm; sie ging nach der nächsten Kapelle oder Kirche, kniete mit aller Demuth nieder, betete und fand Trost, indem sie sich begnügte, das Wort Gottes zu hören, ohne sich mit den Spitzfindigkeiten irgend eines besondern Dogmas zu beunruhigen, das sie doch nicht verstanden haben würde. Der alte Ford dagegen war ein wüthender Methodist; er gab zu, daß er sich nie bekehren könne, und während er täglich den Becher der Sünde bis auf die Hefe leerte, versuchte er lange Gebete als Gegenmittel anzuwenden. Die Salbung, mit welcher er an seine Brust schlug und ausrief: »o ich elender Sünder!« konnte nur durch die Wahrheit dieser Behauptung übertreffen werden. Mrs. Brandon schloß sich seinen Versammlungen in unserm Hause nur an, wenn er vollkommen nüchtern war – also nicht oft, während Brandon sich nie dabei zeigte. So lange Letzterer die Stulpstiefel trug, war er ein Optimist und ein völliger Epikuräer in seiner Philosophie – natürlich im modernen Sinne dieses Wortes. Als er noch achtzig Pfund jährlich und keine eigene Familie hatte, war kein Mensch fideler oder glücklicher, und er setzte das vollkommenste Vertrauen auf die Vorsehung. Er that sich etwas darauf zu gut, zur Landeskirche zu gehören, weil dies respektabel und er ein Freund der Orgel war. Indeß besuchte er nie den Vormittagsgottesdienst, weil er nicht rasirt war; Nachmittags konnte er sich sein Schläfchen nicht versagen, und Abends sah man nur die dienenden Klassen in der Kirche. Ueber das demüthige Gebet seiner Gattin und über die fanatische Gluth seines Miethmanns machte er sich lustig. Er war ein Hochkirchler und damit Punktum. Sobald aber die Zunahme seiner Familie und die Schmälerung seines Einkommens ihn nöthigten, vom Morgen bis in die Nacht zu arbeiten, wurde er mürrisch und sehr flau in seinem Glauben.

Die französische Revolution war damals in ihrem wildesten Toben, und man redete allgemein der Gleichheit in religiösen, wie in politischen Dingen das Wort. Die Aufregung der Zeiten erstreckte sich sogar bis zu der Sägegrube. Brandon betrank sich an einem Sonnabende mit einem Häuflein Demagogen, und als er am nächsten Sonntag Morgen – es war ein schöner Sommertag – erwachte, machte er plötzlich die Entdeckung, daß er nach einem Glauben suchen mußte. Er begann sofort seine Sonntagspilgerfahrten und streifte, seinen Sohn Ralph an der Hand, durch die ganze weite Hauptstadt und ihre ausgebreiteten Umgebungen von einer Congregation zur andern. Ich glaube nicht, daß wir auch nur einen einzigen, der Gottesverehrung geweihten Platz unbesucht ließen. Ich kann mich noch gut erinnern, daß der katholische Gottesdienst einen bedeutenden Eindruck auf ihn machte. Wir wiederholten unsere Besuche drei- oder viermal in der katholischen Kapelle, eine Achtung, die er noch keiner andern gezollt hatte. Das Resultat läßt sich leicht denken. Wenn ein aufgeregter Geist nach Nahrung sucht, begnügt er sich auch mit dem Abfalle, vorausgesetzt, daß er nur berauscht. Wir trafen endlich auf eine kleine Bande toller Methodisten, die noch unheimlicher und ausschließlicher war, als sogar Fords Sekte: die Congregation bestand aus Leuten der niedrigsten Volksklasse, etwa zwölf oder dreizehn ausgenommen, die positiv verrückt waren. Der Pastor war ein schlauer Spitzbube, der sich an der Verirrung seiner Gemeindemitglieder mästete. Sie hielten an der Lehre von der sich sichtlichen Erwählung, die sich durch eine Berufung zu erkennen gab – das heißt, durch eine direkte Heimsuchung von dem heiligen Geiste, welche darin bestand, daß man in Zuckungen niederfiel – ein noch zuverlässigeres Zeugniß, wenn dies in voller Versammlung stattfand. Die Erwählten konnten nie wieder fallen: die Sünden, welche sie nachher begingen, waren nicht die ihrigen, sondern nur die Wirkung des bösen Geistes in ihrem Innern, den sie hinauswerfen konnten, wenn sie wollten, um sodann wieder so rein zu sein, wie zuvor. Alle übrigen, welche keine Berufung hatten, befanden sich in einem Zustande von Unterworfenheit und gingen auf der Hochstraße der Verdammniß dahin.

Alles dies konnte ich natürlich erst lange nachher fassen, aber unglücklicherweise verstand ich doch (oder glaubte es wenigstens) die schrecklichen Bilder von den ewigen Qualen, und die Gewißheit, daß sie bald über mich hereinbrechen würden. Anfangs machten diese Verkündigungen – sei es aus Unachtsamkeit oder Mangel an Fassungsgabe – nur einen unbedeutenden Eindruck auf mich. Aber die schrecklichen Schilderungen nahmen allmälig eine sichtbarere und strengere Gestalt an, bis sie Wirkungen hervorbrachten, die nichts weniger als günstig waren.

Die Lehrsätze der Caterianer sagten ganz der Einsicht und den ungestümen Leidenschaften Brandons zu. Die Sekte nannte sich die der Caterianer, weil ihr ehrwürdiger Geistlicher Cate hieß. Mein Pflegevater kehrte nach dem zweiten Sonntagsgottesdienste zurück und brachte sein Haus in Ordnung. Der heiße Schinken wurde aufgegeben, der Spaziergang auf's Land eingestellt und viermal des Tags ein Meeting gehalten. Sogar Ford wollte dies nicht gefallen. Brandon arbeitete an seiner Berufung und rang mit Heftigkeit um das Privilegium, ungestraft sündigen zu können. Mr. Cate hatte ihm gesagt, daß er sich auf einem verzweifelten Wege befinde. Brandon that daher Alles, was er konnte, aber die Berufung wollte nicht auf den Ruf kommen. Früher war dies bei Mrs. Brandon der Fall, sofern die äußeren Erscheinungen zur Sprache kamen, obschon sie die Ehre der innern Berufung ablehnte. Meine gute Pflegemutier war nämlich guter Hoffnung, und Mr. Cate hatte sie mit einer lebhaften Schilderung der Qualen eines neugebornen Kindes, welches die Strafe der Hölle erleide, weil es als unerwählt gestorben sei, – in die absolut nöthigen Zuckungen versetzt. Brandon begann jedoch des langen Wartens und Betens, vielleicht auch der nun allzuhäufigen Besuche seines Seelenhirten, müde zu werden. Er hatte nun abwechselnd seine Anfälle von zügelloser Unmäßigkeit und religiöser Verzweiflung. Eines Sonntag Morgens weckte er mich vor sieben Uhr, und ich meinte, er wolle mich wie gewöhnlich zu einem Morgenmeeting mitnehmen. Wir begaben uns nach dem Saale, der als Kapelle diente, und hatten denselben beinahe erreicht, als die halboffene Thüre eines nahegelegenen Wirthshauses das schnöde Gemisch ekler Dünste in die balsamische Sabbathluft ausgoß. Mein Führer zögerte – er bewegte sich gegen das Versammlungshaus hin, aber sein Kopf war in eine andere Richtung gedreht – er machte Halt.

»Ralph,« sagte er, »hast du nicht Mr. Ford in das Wirthshaus gehen sehen?«

»Nein, Vater« versetzte ich; »ich glaube nicht, daß er droben ist.«

»Auf alle Fälle ist's besser, wenn wir hingehen und nachsehen, denn ich darf nicht zugeben, daß er einem ehrbaren Haus die Schande anthut, am Sonntag Morgen in einer Branntweinschenke zu zechen.«

Wir traten ein.

Wir fanden daselbst einige von seinen Kameraden. Eine Pinte Wermuthbier nach der andern mußte aufgesetzt werden, und endlich wurde eine Gallone starken Ale's auf den Tisch gestellt, ein Quart Wachholderbranntwein darein gegossen, und das Ganze mit einem rothglühenden Schüreisen erwärmt. Ich erhielt nun die Weisung, zu lügen, und mußte versprechen, daß ich der Mutter erzählen wolle, wie es in der fremden Kapelle zugegangen sei; dagegen machte ich übrigens auch meine Bedingungen, indem ich von ihm verlangte, daß er die Mutter nicht mehr schlagen dürfe. Es war fast Kirchenzeit, als der Wirth uns zu einer Hinterthüre hinausließ. Die betrunkenen Burschen wankten nach Hause, während Brandon, der mich bei der Hand ergriff, sich alle Mühe gab, nüchtern zu erscheinen, was ihm auch beinahe gelang.

Nach einem hastigen Flühstück begaben wir uns zu dem Meeting. Mein Pflegevater sah ungemein verstört aus. Mr. Cate raste eben in der Mitte eines extemporirten Gebetes, als man in der Kapelle einen schweren Fall vernahm. Der Geistliche stieg von seinem Pulte herunter, kam herzu und betete über dem hingestreckten Opfer der Trunkenheit, oder vielleicht der Epilepsie, indem er zugleich verkündigte, daß Bruder Brandon seine Berufung erhalten habe, und jetzt unzweifelhaft unter die Auserwählten gehöre. Er kam nicht so bald wieder zu sich, als man erwartete; sein Stöhnen betrachtete man als Merkmal von dem Wirken des Geistes, und als er sich endlich so weit erholt hatte, um von zweien der Congregation nach Hause geführt werden zu können, ergoß sich der Prediger über die Bekehrung des Brettschneiders, indem er das Kapitel von der Bekehrung Sauli zum Texte wählte und die beiderseitigen Fälle mit einander verglich. Mögen die Gegner der Staatskirche spotten, wie sie wollen – ähnliche schandbare Scenen sind wenigstens nie in ihren zur Zeit noch verehrten Mauern vorgefallen.

Als wir zum Diner zurückkehrten, fanden wir, daß Brandon sich soweit gesammelt hatte, um sehr hungrig, sehr stolz und sehr pharisäisch fromm zu sein. Mr. Cate speiste bei uns. Er war voll heiliger Glückwünsche über das wunderbare Ereigniß. Der Brettschneider nahm sie in demüthiger Selbstzufriedenheit als unmittelbare Aussprüche der Wahrheit hin, und schien ganz zu vergessen, daß es Dinge wie Wermuthbier und rothglühende Schüreisen gebe. War er ein vollendeter Heuchler, oder nur in einer Selbsttäuschung befangen? Wer kann das Menschenherz erforschen? Indeß übte »diese Berufung« die Wirkung, den »Berufenen« zu einem vollendeten Sünder zu machen, und das Maaß der Schändlichkeit, die er gegen seine arme Frau übte, zu füllen.

Siebentes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Ich erhalte gleichfalls eine Berufung – an der Thüre des Todes. – Ein großer Aufschwung im Leben. – Branden will keine Faullenzer in seiner Sägegrube haben – ist zu Grunde gerichtet und bewirthet den ehrwürdigen Mr. Cate mit einer Prügelsuppe.

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Alles dies war die Vorbereitung zu einem Ereigniß, das für mich von der größten Wichtigkeit war, und vielleicht bis auf diesen Augenblick einen unmerklichen Einfluß auf meinen Geist, wie auch auf meinen Charakter übte. Brandons Berufung erregte in unserem bescheidenen Kreise großes Aufsehen. Er hatte zwar Sorge dafür getragen, daß ich erfahren sollte, was ich unter Trunkenheit verstehe, und so dachte ich, daß er an dem Nachmittage seiner Erwählung betrunken gewesen sein müsse, obschon er seinen Zustand so gut zu verbergen verstand, daß es nicht den Anschein hatte. Ich hörte übrigens aufmerksam auf die Rede des Predigers, welche jenem Auftritte folgte, und alle Bedenken wurden mir benommen. Ich konnte nicht glauben, daß ein ernster Mann an einem Pulte etwas Anderes zu sprechen vermöge, als die Wahrheit, namentlich, wenn er so laut und zwei Stunden lang predigte. Mein Geist war ein eigentliches Chaos, und ich fing an, mich sehr elend zu fühlen. Einer der nächsten Sonntage führte die Krisis herbei. Mein Anzug war immer viel besser, als man von dem Sohne eines bloßen Tagwerkers erwarten konnte, und da ich damals ein blonder Knabe mit sanftem Gesichte war, so stach ich merkwürdig genug gegen den Haufen ab, der das Meetinghaus zu besuchen pflegte. Mr. Cate hatte sehr nachdrücklich die höllischen Regionen, die endlosen Qualen, das Feuermeer und die Gluthwellen geschildert, so daß zwei oder drei alte Weiber in Krämpfe ausbrachen und etliche junge ohnmächtig wurden; da machte er plötzlich in dem Strome seiner Beredtsamkeit und unter dem Stöhnen des Auditoriums: »der Herr sei uns gnädig!« Halt. Für eine halbe Minute trat eine Todtenstille ein, worauf er plötzlich seine Stimme erhob, auf mich deutete und rief: »Betrachtet dieses schöne Kind – seht, wie das reine Blut sein zartes Gesicht färbt – aber was ist es anders, als ein guter Bissen für den Teufel! Alle die Foltern und alle die Qualen, von denen ich gesprochen habe, werden über ihn kommen. Schaut ihn nur an – dort wird er brennen und voll Schmerz ächzen, wird immer und immer verzehrt und doch nie zerstört werden, wenn nicht die Erbsünde aus ihm gewaschen wird durch die ›Berufung‹ und er dadurch Aufnahme erhält unter die ›Erwählten‹.«