Rauch und Asche - Juli A. Zeiger - E-Book

Rauch und Asche E-Book

Juli A. Zeiger

4,9

Beschreibung

Kannst du ein Held sein, wenn du es musst? Eine schreckliche Seuche spaltet die Menschheit in zwei Lager. Während die Infizierten sonderbare Fähigkeiten entwickeln, sehen sich die Bürger zunehmend von dieser Macht bedroht. Das politische System versucht nun die Infizierten zu unterjochen, um der Krankheit Einhalt zu gebieten. Hunger, Angst und Separation bestimmen den Alltag in einer durch Kriege zerschundenen Welt. In New Born City müssen Mischa und Dante sich nun entscheiden: Nehmen sie das Schicksal der Welt weiter hin oder haben sie das Zeug zum Helden?

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»The time will come, when you‘ll have to rise

above the best, improve yourself,

your spirit never dies!

(…)

Here we are, don‘t turn away now,

we are the warriors that built this town.«

Imagine Dragons - Warriors

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Kaum Platz, um sich zu bewegen, kaum Luft, um zu atmen … Trotzdem stehen sie alle hier versammelt und warten.

Die Menschenmasse starrt mit schmerzenden Augen auf das Podium, in dessen Hintergrund grelle Bildschirme das sich bietende Bild in ungeahnte Dimensionen vergrößern. Manchen Menschen tränen die Augen, so hell sind die viel zu dicht stehenden Monitore. Wegen der Sonderverkündung würde es in den nächsten Tagen noch weniger Stunden Strom für die zivile Bevölkerung geben. Doch sie stehen alle hier versammelt, zitternd vor Kälte und Aufregung, gebannt wartend, was dieser großartige Mann heute, an diesem großen Tag zu sagen hat.

»Es sind nun hundert Jahre vergangen.

Einhundert Jahre, in denen wir gekämpft haben!

Wir kämpften um unser Land, das sie uns

wegnehmen wollen, um die Zukunft unseres

Landes.

Viele großartige Männer, die vor mir ihren Kampf

gegen die Seuche führten,

waren tapfer und heldenhaft.

Und doch bin ich es nun, der euch dorthin

zurückführen wird, wo wir einst aus den Fugen

gerissen wurden.«

Die Anspannung ist überall spürbar. Egal ob Mann, Frau oder Kind, die ganze Stadt hat sich zusammengefunden, um die Rede des Kanzlers, Major Razor, zum Nationalfeiertag zu hören, den Mann zu bejubeln, dem sie alles zu verdanken haben. Und gut sieht er aus in dem maßgeschneiderten Anzug, seine scharfen Züge sind steinhart und nur zu deutlich ist zu erkennen, wie sehr er es genießt, zu seinem Volk zu sprechen. Seine Aufmerksamkeit ist ihm gewiss.

»Wir haben unter Hunger und Entbehrungen

gelitten, mussten die schlimmsten und dunkelsten

Tage ertragen.

Die Gesetze sind noch immer hart,

aber sie sind gerecht!

Unsere Gesetze haben uns hierhergebracht.

Haben uns geholfen endlich Herr zu werden über die Krankheit, die unsere Vergangenheit

verseuchte!«

Das Mädchen fällt überhaupt nicht auf, während es sich sanft durch die Menge schiebt. Die Menschen um es herum kleben an den Lippen des Kanzlers, sodass sie nicht bemerken, wie sich der kleine Korb in seinen zierlichen Händen immer weiter füllt mit Portmonees, diversen Schmuckstücken und Süßigkeiten. Keiner der Anwesenden ist besonders wohlhabend und doch tragen alle zur Schau, was sie haben. Sie wollen beweisen wie sehr die harten Gesetze ihnen geholfen haben und wohin der Kurs, den Major Razor eingeschlagen hatte, sie alle geführt hat. Der perfekte Ort für das Mädchen, um zu nehmen, was ihm niemals sein wird.

»Niemand von uns muss mehr Hunger leiden.

Wir alle haben ein Dach über dem Kopf und die

Krankheit wurde soweit eingedämmt, dass wir

nur noch einen Fall unter Hunderten haben!«

Der junge Mann geht erbarmungslos durch die Reihen von Leuten, rempelt sie ohne jede Rücksicht an. Seine schnellen Schritte folgen einem furchtlosen Rhythmus und er spürt bereits die vertraute Wärme in seinen Fingern kribbeln. Näher … näher … immer näher muss er an den Kanzler heran! Obwohl links und rechts von ihm dann und wann ein entsetztes Stöhnen zu vernehmen ist, schaut sich niemand zu ihm um. Die Augen der Masse liegen unerbittlich auf dem Podium:

»Hundert Jahre sind vergangen … Wir haben

Kriege geführt, haben Gebiete verloren.

Wir alle hatten entsetzliche Angst, uns zu

infizieren, die Nächsten zu sein!

Aber nun haben wir es im Griff!

Wir haben uns ein neues Reich geschaffen!

Haben die Trümmer neu zusammengesetzt und

den Fortschritt wiederbelebt!

Unsere Kämpfe, unsere Opfer sind nicht länger

umsonst gewesen!«

Kurz lächelt die Diebin eine ältere Frau entschuldigend an, die sie aus Versehen angerempelt hat, als sie einen saftigen Apfel aus ihrem Beutel entwendet hatte. Die Frau lächelt flüchtig zurück, beachtet das hübsche Kind in ihrem schönen roten Kleid nur eine Millisekunde lang. Das Mädchen ist bereits weitergezogen.

»Wir werden die Krankheit besiegen!

Ein für alle Mal!«

Er ballt die Hände zu Fäusten und grelle Flammen züngeln um seine Knöchel.

»Nie wieder wird einer von Ihnen einen von Uns verletzen!«

Sie zupft elegant und gewandt eine Perlen Halskette vom Hals einer schick gekleideten Frau, dass die Trägerin es nicht bemerkt. Nun würde sie umkehren müssen, die Diebin war zu nah an das Podium geraten.

»Wir sind die stärkere Einheit!«

Näher … näher! Er muss näher ran, bevor er den Feuerball aus seinen Fäusten entlassen konnte.

»Wir werden sie bekämpfen mit all unseren Mitteln!«

Weg, weg, nur schnell weg, bevor die Menge in Jubel ausbricht. Sie kann nicht riskieren aufzufallen.

»Sie werden brennen!«

Er kommt in der zweiten Reihe an, als …

»Sie werden untergehen!«

Sie dreht sich um und will geschwind entwischen, als …

»Und WIR werden dafür sorgen!«

Mit voller Wucht prallen sie aufeinander und die Illusion verpufft. Das Mädchen wird umgeworfen und landet hart auf dem Boden.

Noch einmal flackert das Bild des roten Kleides und des Korbs voll frischer Früchte auf, dann bleibt nur noch das dreckige, furchterregend dürre Mädchen in den löchrigen Kleidern am Boden liegen. Ein Sack voller Wertgegenstände und Lebensmittel landet klirrend neben ihr.

Seine Hände leuchten – bereit zum Angriff - noch greller auf als die Monitore, in die alle zuvor gestarrt hatten, doch es war zu spät.

»Infizierte!!!«

Das laute Schreien und Kreischen der Menge ist ohrenbetäubend. Kurz sehen die beiden Unglückseligen sich in die Augen. Sie wissen, was sie sind und sie wissen, was zu tun ist: Sie müssen um ihr Leben laufen.

Infizierte dürfen keinen Kontakt zu Bürgern

haben. Ihnen ist es nicht gestattet, mit ihnen zu

kommunizieren oder zu interagieren.

Einundsechzig. Zweiundsechzig. Dreiundsechzig. Hart halte ich die Hand auf meinen Mund gedrückt und zähle die viel zu langsam verstreichenden Sekunden. Erst nach einhundertzwanzig Sekunden werde ich es wagen, mich zu bewegen. Erst dann kann ich mir sicher sein, dass niemand bemerkt hat, dass ich mich hier versteckt halte und sie einfach weitergegangen sind, ohne noch einmal einen genauen Blick in die kleine Gasse zu werfen, vor der sie meine Spur verloren haben.

Ich drücke mich fest gegen die harte Steinwand meinen Rücken, meine Fähigkeiten übernehmen den Rest. Ich erschaffe mit Hilfe meiner geistigen Vorstellungskraft die perfekte Illusion der Wand, an der ich stehe, nur dass ich durch dieses Trugbild vollständig mit ihr verschmelze. Meine Verfolger müssten sie schon abtasten, um mich zu finden. Siebenundachtzig. Achtundachtzig. Neunundachtzig.

Aus der Ferne höre ich noch die aufgeregten Stimmen vom großen Platz. Der Ort der Sonderverkündung ist nur zwei Straßen von mir entfernt und doch kann ich von der Hysterie, die unmittelbar nach unserer Entdeckung ausgebrochen ist, nichts mehr hören.

Die schwerbewaffneten Soldaten, die hinter mir herrannten, waren wohl überzeugend genug für die Schaulustigen, damit diese sicher sein konnten, dass die Regierung von New Born City wie immer alles im Griff hat.

Ich muss mich schwer zurückhalten, um nicht hysterisch aufzulachen.

Sie haben immer alles im Griff.

Einhundertsechzehn. Einhundertsiebzehn.

Einhundertachtzehn.

Noch einmal höre ich mich aufmerksam um. Die schnellen Schritte der schweren Stiefel sind verklungen. Ich höre nichts und niemanden in meiner Nähe, weshalb ich mich traue wieder tief Luft zu holen.

Bis heute ist mir noch niemals eine Illusion entglitten. Vor allem nicht vor so vielen Menschen. Ich habe meine Fähigkeiten unter Kontrolle und weiß mich zu konzentrieren.

Und doch war der Aufprall gegen diesen Typen und die Tatsache, dass er eine Art grelle Lichtkugel in seinen Händen erschuf - inmitten einer riesigen Menschenmenge - so hart, dass alles von mir abgefallen ist. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen.

Dieser Kerl ist da mit einer brachialen Gewalt durch die Menge gehetzt, sodass man nicht besonders schlau sein muss, um zu ahnen, dass er nichts Gutes im Schilde geführt hat.

Ich bin eine Diebin. Ich bewege mich langsam und behutsam, lächele hier und da und versuche nicht mehr Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen als unbedingt nötig.

Aber dieser Typ wollte mehr als ein paar Schmuckstücke.

Nur seltsam, dass er am Rande des Platzes in ein Auto steigen konnte und ich mich nach dem Schock in die nächste Gasse flüchten musste.

Ohne meine Begabung wäre ich jetzt tot. Noch einmal atme ich tief durch, dann denke ich fest an ein Mädchen, welches ich vorhin in der Menge gesehen habe. Sie trug ein dunkelblaues Kleid und ihr blondes Haar fiel in sanften Wellen über ihre schmalen Schultern. Es dauert nur einen Wimpernschlag und schon sehe ich für jeden, dem ich begegne, so aus wie sie. Bis zum Bahnhof habe ich noch einige Straßen zu laufen. Und ich kann nicht riskieren, dass jemand mich meldet. Denn ein schmutziges, unterernährtes Mädchen mit verfilzten Haaren fällt den normalen Menschen definitiv auf. Solche Leute sind wie Ungeziefer für Bürger.

Lästig und ekelhaft. Niemand will Kontakt zu diesem Ungeziefer.

Wir sind nur dann für die Bürger oder Soldaten relevant, wenn wir für sie arbeiten können.

Oder wenn sie ein Objekt brauchen, auf das sie all ihren Hass projizieren können.

Seitdem der neue Kanzler von New Born City im Amt ist, sind die öffentlichen Hinrichtungen einmal im Monat zu gesellschaftlichen Ereignissen geworden. Infizierte werden dabei für Verbrechen angeklagt, die grausam und schändlich sind.

Jeder normal denkende Mensch würde sich den Tod eines Mannes wünschen, der kleine Kinder qualvoll folterte bis kein Leben mehr in ihnen war. Doch die Schaulustigen ahnen nicht, dass dieser Mann niemals einer Fliege etwas zu Leide getan hat. Er kann nur nicht mehr so viel arbeiten, um als produktiv zu gelten. Darum wird er aus dem Ghetto am Rande der Stadt gezerrt, vor den Augen seiner Frau und Kinder, nur um am Monatsende zur Unterhaltung von hunderten Menschen hingerichtet zu werden. Meist benutzen sie Strom, in harten Fällen aber auch ein Bolzenschussgerät.

Damals, als ich mit Mama noch im Ghetto gelebt habe, habe ich die Bürger gehasst. Weil sie erdulden, was diese Menschen mit uns machen, weil sie nur froh waren, dass sie es nicht haben.

Aber mittlerweile weiß ich, dass Major Razor und seine Regierung nichts weiter tun, als ich auch: Sie erschaffen Illusionen von einem Feind, der niemals ein Feind sein müsste.

Mein Hass ist zu Mitleid geworden.

Am Bahnhof angelangt, muss ich meine Tarnung verändern. Ich passe mich wieder der Umgebung an. Ich weiß nicht, was ein Bahnhof in der früheren Welt einmal für eine Bedeutung hatte, heute ist das Gebäude nur noch Schutt und Unrat. Vor vielen Jahren muss hier eine Bombe explodiert sein. So erzählt man sich jedenfalls.

Auf den Fassadenteilen wachsen bereits Moose und Flechten, das einzige bisschen Natur, das man in New Born City zu sehen bekommt.

Meine Schritte müssen ganz leise sein, denn Soldaten streifen ständig durch die alten Ruinen, in der Hoffnung einen der Infizierten zu entdecken, der sich hier vielleicht versteckt. Deshalb darf ich keinerlei Aufmerksamkeit auf mich ziehen.

Zwischen all den Schuttteilen finde ich schließlich den Gullydeckel, der in mein Reich, hinab in die Kanalisation führt.

Ich atme noch einmal tief die klare Luft der Freiheit ein, dann lasse ich die Illusion von mir gleiten und begebe mich hinunter in die Stadt unter der Stadt.

Sollten Bürger Infizierten helfen, auf welche Art

auch immer oder Kontakt zu ihnen pflegen, ist

dies ein Verstoß, der mit dem Tod bestraft wird.

Der typische Geruch von abgestandenem Wasser und Schimmel umgibt mich sofort, als ich wieder unter der Erde bin. Keine Spur mehr von der frischen Luft, die ich bis eben noch einatmen durfte. Es ist ein Privileg nach oben gehen zu können. Die meisten von uns beginnen ihr Leben in der Kanalisation und werden niemals etwas anderes sehen, als die kleine Stadt, die sich im Schatten aufgebaut hat. Die meisten Kinder, die im Ghetto geboren wurden, werden in diese dunklen Gänge geschmuggelt, wenn sie nicht vorher von den Soldaten entdeckt werden.

Es ist schwer im Ghetto irgendetwas heimlich zu tun, ein Kind auszutragen und zu bekommen, gehört zu den schwersten Herausforderungen überhaupt. Umso häufiger die Razzien werden, umso seltener kommen Kinder zu uns. Meist sind es nur ein oder zwei Neugeborene im Jahr.

Wenn sie es nicht nach hier unten schaffen, werden sie - bei einer nützlichen Fähigkeit - von der Mutter getrennt und in irgendeinem Labor aufgezogen oder - bei einer nicht nützlichen Fähigkeit - direkt vor Ort exekutiert.

Die Welt um uns herum ist traurig und trostlos und doch haben wir das Glück zu leben. Außerhalb des Ghettos und des Dranges ein produktives Mitglied sein zu müssen. Damals, als damit begonnen wurde, die Kinder in der Kanalisation zu verbarrikadieren, musste auch ich gehen, denn eine Illusionistin konnte nun wirklich niemandem nützen. Sie brauchen die Starken. Die, die Elektrizität beeinflussen oder erschaffen können, die Schnellen und die, die ein Element beherrschen können. Sie brauchen die, die für sie arbeiten können.

Mein Bruder und ich gehören nicht zu dieser Gruppe. Meine Fähigkeiten beschäftigen den Geist und seine sind noch nicht entwickelt. Wir können nichts Greifbares erschaffen oder irgendetwas tun, was den Bürgern von Nutzen sein könnte. Und genau deshalb leben wir fernab des Sonnenlichts und existieren eigentlich gar nicht. Wir haben keine Registrierungsnummern, so wie die anderen Infizierten aus dem Ghetto. Wenn uns draußen jemand erwischt, haben die Soldaten das Recht, uns direkt zu erschießen. Genau aus diesem Grund geht so gut wie niemand nach oben.

Nachdem ich den leeren Kanalgänge gefolgt bin, in deren Labyrinth ich mich inzwischen so gut auskenne, dass ich blind hindurchrennen könnte, gelange ich in den bewohnten Bereich.

Hütten aus Pappe, Stoffresten und Wellblech reihen sich so dicht aneinander, dass kaum Platz dazwischen ist. Überall riecht es nach ungewaschenen Körpern und Fäkalien. Kinder schreien, weinen und lachen. Die einzigen Lichtquellen sind heruntergebrannte Kerzen und kleine Lagerfeuer.

Hier gibt es keine Betten oder Stühle. Der Boden ist alles, was wir haben. Es ist laut, stickig und dreckig. Aber immer noch besser als der Tod.

Überall, wo ich vorbeikomme, nicken mir die größeren Kinder leicht zu. Sie sehen, dass ich ohne etwas zu Essen wiedergekommen bin. Trotzdem erlauben sie sich nicht enttäuscht zu sein. Meine Illusionen ernähren uns den Großteil des Jahres. Ich bin eine der wenigen, die sich nach oben wagen und auch wieder zurückkommen.

Theoretisch könnte ich meine Illusionen nutzen, um so schnell wie möglich aus dem Stadtgebiet zu verschwinden und schließlich auch die weiten Grenzen von New Born City zu passieren. Hinaus ins zerbombte Land. Niemand weiß wirklich, wie es dort aussieht, aber alle hier halten mich für so stark, dass ich auch dort draußen irgendwie klarkommen würde.

Obwohl keiner von uns eine wirkliche Schulbildung genossen hat, bringen die, die nach oben gehen, auch dann und wann Bücher mit. Mit ihnen versuchen wir, uns selbst etwas beizubringen. Die erste Generation der Kinder im Schatten - zu denen auch ich gehöre - hat im Ghetto noch Lesen und Schreiben von ihren Eltern gelernt. Wir versuchen alles, um diese Fähigkeiten auch an all die anderen Kinder weiterzugeben, die wir hier betreuen.

Aus den Landkarten und den Geschichtsbüchern wissen wir ungefähr, wie die Welt außerhalb von New Born City aussehen könnte. Über die Grenzen hinaus kommt der Bereich, den sie die Bomblands nennen. In den großen Kriegen vor der Gründung unseres »sicheren Stadtstaates« wurden alle Städte und Landschaften dort niedergebrannt und von Atomraketen und anderen Sprengstoffen zerklüftet. Mehr als Trümmer und Asche kann es da draußen nicht geben. Nach hundert Jahren allerdings gibt es vielleicht auch schon ein bisschen Vegetation. Wenn ich wollte, könnte ich es also tatsächlich wagen, in die Bomblands hinauszugehen und probieren mir ein Leben aufzubauen, um all die Angst und den Hass hinter mir zu lassen.

Aber um welchen Preis? Es wäre zwar nicht besonders schwer, meine wenigen Habseligkeiten zu packen und mich mithilfe der verschiedensten Illusionen irgendwie durch all die vielen Sicherheitskontrollen zu bringen. Wenn ich es schaffe jede Menge Essen in die Kanalisation zu schmuggeln oder Diebesgut auf dem Schwarzmarkt zu tauschen, dann müsste auch das irgendwie möglich sein.

Aber dann wäre ich ganz allein. Denn ich müsste Benji zurücklassen.

Leicht schüttele ich den Kopf, als ich mich unserer Behausung nähere. Wir leben zu zweit in einem Acht-Personen-Zelt. Wir haben also jede Menge Platz und sogar unsere Privatsphäre. Soviel Luxus hat nicht jeder hier unten.

Ich höre bereits das vertraute Ratschen des Reisverschlusses, der aufgezogen wird und schon im nächsten Moment steckt Benji seinen Kopf durch den Eingang unseres Zeltes. Sein Gesicht strahlt. Obwohl sein Blick zunächst auf meine leeren Hände gleitet und er sieht, dass ich nichts mitgebracht habe, freut er sich wie immer mich zu sehen. Mein kleiner Bruder rennt das letzte Stück auf mich zu und umarmt mich so fest, dass es beinahe wehtut. Für einen mageren Achtjährigen, der kaum etwas zu essen bekommt, kann er wirklich ganz schön stark zudrücken.

»Hey, mein Kleiner!« Sanft streiche ich ihm ein paar seiner braunen Strähnen aus dem Gesicht. Mein Bruder ist mein Ein und Alles und der Grund, warum ich lieber niemals wieder ans Sonnenlicht gehen würde, als allein in Freiheit zu leben. Meiner Mutter habe ich vor acht Jahren schwören müssen, dass ich ihn beschützen werde und ich werde sie definitiv nicht enttäuschen.

»Wie war die Sonderansprache?«, fragt er aufgeregt und lässt sich im Schneidersitz vor unserem Zelt nieder.

»Wütend … wie immer. Scheinbar wollen sie noch radikaler gegen uns vorgehen, weil sie immer noch kein Heilmittel haben. Ich war aber zu sehr damit beschäftigt zu stehlen, sehr viel habe ich also nicht mitbekommen.« Ich lasse meine Hand sanft über den rauen Steinboden wandern und denke an weiches Moos und bunte Blumen. So wie ich es in einem der Bücher gesehen habe, die sich in einer unserer Schlafkammern stapeln. Benjis Gesicht erhellt sich sofort wieder, als er versucht eine der Blumen zu ergreifen. Er liebt die schönen Illusionen besonders.

»Ist etwas dazwischengekommen?!«, fragt er nun. Sein staunender Blick hängt an einem Schmetterling, den ich an seinem Kopf vorbeifliegen lasse.

»Irgendein Typ ist in mich reingelaufen. Scheinbar hatte er auch Fähigkeiten … keine Ahnung, wo der herkam. Ich musste auf jeden Fall so schnell wie möglich weg.«

Die Erinnerung an den Vorfall lässt mich noch immer wütend werden. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was dieser Kerl da wollte und es wäre mir auch egal gewesen, wenn er Major Razor direkt vor den Augen aller Schaulustigen in die Luft gejagt hätte. In jedem Fall hat er mir so aber das Geschäft und damit den Tag verdorben.

»Da schickt man dich einmal während einer Vollversammlung raus … « Zero lässt sich so plötzlich neben mich fallen, dass ich die Blumenwiese und den Schmetterling einfach fallen lasse.

Ich schlage ihm spielerisch gegen den Oberarm und verdrehe die Augen.

Zero und ich waren damals beide zehn Jahre alt, als wir hier runtergekommen sind. Zero mit seiner Schwester Laura und ich mit Benji im Arm. Wir vier haben unsere Behausungen direkt nebeneinander errichtet und eine Art Ersatzfamilie gebildet.

»Ich werde morgen noch einmal nach oben gehen … Das Essen wird langsam knapp und ich hätte auch nichts dagegen mal wieder ein Stück Seife in die Hände zu bekommen«, meine ich, während Zero damit begonnen hat, für Benji lustige Figuren in den Staub zu malen.

»Ich begleite dich diesmal. Du kannst nicht immer alles alleine machen, Mischa!«, beschließt er einfach so und obwohl ich mich wehren möchte, bin ich wahnsinnig froh, dass er diesen Vorschlag gemacht hat.

Es hat durchaus Vorteile allein auf Beutetour zu gehen, aber trotzdem bin ich jedes Mal dankbar, nicht ohne Begleitung durch diese Welt gehen zu müssen, die mir doch ziemliche Angst macht. Zero war noch nie oben … Es macht bestimmt Spaß, ihm alles zu zeigen.

»Alles klar … , aber es wird nicht so einfach, da zu zweit durch zu spazieren«, warne ich, doch der Schwarzhaarige grinst mich nur abenteuerlustig an. »Gefährliche Mission mit geringer Chance in einem Stück zurückzukehren? Das klingt, als könnte das der schönste Tag meines trostlosen Lebens werden!«

Infizierte dürfen ihren von der Regierung

vorgegebenen Lebensraum nur zur Arbeitszeit

oder auf ausdrücklichen Befehl verlassen.

Zuwiderhandlung wird mit dem eigenen oder

dem Tod eines Familienangehörigen bestraft.

Zero muss die Augen fest zusammenkneifen, als er aus dem Kanalrohr tritt, welches direkt in einen ausgetrockneten Fluss mündet. Meine Augen kennen das Licht bereits und doch muss ich mehrmals blinzeln, bevor ich die kargen Umrisse meiner Umgebung genauer betrachten kann: durch Trockenheit aufgerissener Boden und die kahlen Äste von mageren Bäumen, die einst den Fluss gesäumt haben müssen. Die rostenden Überreste einer Brücke, die früher einmal über den Fluss gereicht hat, stehen riesig und anklagend wie ein gigantisches Skelett vor uns. Immer, wenn ich diesen Ausgang nehme, bin ich erschlagen von der schieren Größe dessen, was Menschen einmal ohne Fähigkeiten erschaffen haben müssen.

Hier in dieser Umgebung halte ich mich seltener auf, denn am Ufer des Flusses stehen die letzten guten Häuser, bevor das Stadtgebiet endet. Es handelt sich dabei um ehemals prächtige Anwesen, an denen der Zahn der Zeit aber ebenfalls sehr energisch genagt hat. Wie alles in New Born City machen selbst die Häuser der betuchteren Bürger einen heruntergekommenen Eindruck.

Die Politiker und Major Razor selbst predigen wieder und wieder, wie gut es allen geht, aber genau hier sehen wir, dass dem nicht so ist. Reiche Bürger besitzen nicht viel mehr Geld, Schmuck oder andere Kostbarkeiten, sie bekommen für die Arbeit, die sie leisten nur mehr Essensmarken für sich und ihre Familien. Und genau deshalb sind Zero und ich heute auch hier.

Wir haben fast die ganze Nacht diskutiert. Erst als unsere Geschwister schlafen gegangen waren, konnten wir ernsthafte Pläne schmieden und eigentlich war ich von Zeros Idee absolut nicht begeistert. Er war der Meinung, dass es sich viel mehr lohnen würde, direkt in das Haus eines Bürgers einzubrechen und dort Lebensmittel zu stehlen. Meine Erfahrung stimmte ihm sofort zu. Immer, wenn ich an einem gewöhnlichen Tag ohne Sonderverkündung auf den Straßen unterwegs war, liefen nicht viele Bürger umher. Immerhin mussten sie ebenfalls arbeiten, wenn auch nicht unter solch unwürdigen Bedingungen wie die Infizierten aus dem Ghetto. Mehr als ein bis zwei Taschendiebstähle waren nie für mich drin gewesen und diese magere Beute musste ich dann auch noch auf dem Schwarzmarkt in etwas Essbares oder Baustoffe für unsere Unterkünfte umwandeln.

Es ist also eigentlich viel einfacher in eine Wohnung einzusteigen und sich die Nahrung zu nehmen. Auch weniger riskant, immerhin gelten auch für Bürger lange Arbeitszeiten.

Doch in mir hatte sich ein kleiner Funke Menschlichkeit geregt, schließlich mussten auch Bürger etwas essen. Deshalb hatte ich dafür gekämpft, dass wir wenn schon die Reichen ausrauben. Denn ich wusste, dass diese mehr als genug Vorräte hatten und schneller wieder an neue kommen würden als irgendein kleiner Arbeiter in einer Fabrik.

Als sich Zeros Augen endlich an das Tageslicht und seine Lungen an die frische klare Luft gewöhnt haben, webe ich meine Illusionen um uns herum.

Unser Aussehen soll sich unserer Umgebung anpassen: Wir sind unsichtbar.

Zero betrachtet skeptisch seine Hand, die den sandigen Ton des Flussbettes annimmt und je nachdem, wie er sich dreht, immer wieder in seinen Schattierungen variiert.

Ich muss mir ein Lachen verkneifen und mache mich auf den Weg. Durch die Möglichkeit mich zu tarnen, habe ich mich schon des Öfteren hier herumgetrieben. Manchmal, um etwas zu stehlen und manchmal, um einfach meine Umgebung zu erkunden. Ich möchte jeden Zentimeter von New Born City kennen, bis zu den Grenzzäunen, die irgendwo auf der anderen Seite des Flusses beginnen. Sollte irgendwann einmal irgendetwas schiefgehen, will ich mit den Kindern die Chance haben zu fliehen.

Der Aufstieg aus dem Flussbett ist am schwersten. Auch hier zeigt sich wieder meine Überlegenheit gegenüber allen, die noch nie hier oben waren. Meine Muskeln kennen das Klettern, das Rennen und jede noch so anstrengende Bewegung – Zeros Körper nicht. Der Dunkelhaarige benötigt doppelt so viel Anstrengung, um die leichte Steigung zu bewältigen, weshalb er, oben angelangt, kaum noch Luft bekommt. Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn und ich sehe deutlich in seinen Augen, dass er am liebsten zurückgehen möchte, dass ich fast geneigt bin, das alles abzubrechen.

Aber dann denke ich an Benji und all die anderen Kinder, die Hunger haben und mein eigener Magen beginnt kollektiv mit zu knurren.

Wir können das hier nur mit vollen Taschen wieder beenden.

Also schüttele ich leicht den Kopf und trete die letzten Meter bis zur befestigten Straße an.

Zero und ich laufen schweigend nebeneinander her. Zum einen weil er gerade so seinen Atem nach dem Klettern unter Kontrolle bekommen hat und zum anderen, weil wir selten viel reden. Wir führen eine von jenen Freundschaften, die nicht vieler Worte bedarf. Meist reicht ein einfacher Blick, um uns zu verständigen.