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Es war die Nacht nach Neujahr als Lis Westners Bruder Rob spurlos verschwand. Die Familie glaubte an ein Verbrechen. Doch dann kehrt Rob zurück und Lis muss erkennen, dass in der Zeit der Rauhnächte ganz andere Gefahren draußen lauern.
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Seitenzahl: 551
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 58
Kapitel 59
Epilog
Die Weihnachtsstimmung und die Botschaft von Freude, Besinnlichkeit und Nächstenliebe war bereits ebenso wieder verraucht, wie die Silvesterraketen der vorangegangenen Nacht. Lebkuchen und Glühwein waren halb vergessen, nur noch die Reste des Pulvergeruchs hingen in den Nebelschwaden der neuen Nacht. Doch nicht nur draußen in der Dunkelheit erschien die Stimmung gedrückt und feindselig, auch hinter den hellerleuchteten Fenstern der Häuser hatte schon kurz nach dem neuen Jahr der alte Groll wieder Einzug gehalten. Das war es auch, was Rob Westner in dieser Nacht hinaus auf die Straße trieb. Er wusste es war unfair und er wusste es war kindisch, sich so aus der Affäre zu ziehen und das erste Essen im neuen Jahr mit seinen Eltern zu unterbrechen, doch er hielt es einfach nicht mehr aus. Das ewig gleiche Gezanke, die immer selben Vorwürfe. Rob konnte es nicht mehr hören. Er würde zu wenig aus seinem Leben machen, wenn seine Freundin schon keine anständige Karriere vorzuweisen habe, solle sie ihnen doch endlich einen Enkel schenken, die neuen Parkettfußböden seien zu hell und außerdem habe er nicht gefragt, ob er sie verlegen darf und sie hätten ihm dafür einen Schreiner empfehlen können. Nach einem über zweistündigen Redeschwall seiner Mutter, der nur aus Vorwürfen bestanden hatte – während sein Vater stets wortlos und betreten auf seinen Teller hinabgeblickt hatte – musste Rob einfach raus. Ihm war bewusst, dass er seine Freundin mit den Launen seiner Mutter allein ließ. Doch das war ihm in diesem Augenblick gleichgültig. Er würde es wieder gut machen, mit Blumen, oder Schmuck, oder was immer sie wollte, so lange sie es kurzzeitig alleine mit dem Drachen aufnahm. Rob hatte den Hund vorgeschoben, um sich davon machen zu können. Genauer betrachtet, eine sehr gute Wahl, da weder seine Mutter noch seine Freundin den jungen Rüden sonderlich gut leiden konnten. Der junge Irish Setter war also der ideale Sündenbock und darüber hinaus war es ihm auch ziemlich egal, was die anderen Menschen über ihn dachten, so lange sein Herrchen sich Zeit für ihn nahm. Rob hätte ihn auch einfach in den Garten schicken können, doch er brauchte mehr Zeit. Also ließ er sich von dem zwei Jahre alten Setter die Sackgasse hinter dem Haus entlang schleifen. Rob hätte einfach die Leine abmachen können. Es herrschte schon am Tag kaum Verkehr in der kleinen Anliegerstraße und die Nachbarn, die in dem einzigen Haus hinter ihm wohnten, waren über den Jahreswechsel zu ihren Kindern nach Österreich gefahren. Doch Rob hatte Bedenken, dass vielleicht doch von der vorangegangenen Silvesternacht noch verirrte Raketen oder sonstiger Müll in der angrenzenden Wiese lag. Der junge Rüde neigte noch immer dazu, alles Mögliche aufzunehmen und darauf herum zu kauen. Das Risiko erschien Rob zu groß. Und so sprang der Hund an der kurzen Leine vor ihm hin und her, röchelte jedes Mal, wenn er ins Halsband rannte und kratzte mit seinen kurzen schwarzen Krallen über den feuchten Teer. Glücklicherweise war es nicht glatt.
Rob fluchte leise durch die zusammengebissenen Zähne. In seiner Eile aus dem Haus zu kommen, hatte er nicht daran gedacht, wie kalt es war. Er hatte nur die dünne Jacke – wieso hing die um diese Jahreszeit eigentlich an der Garderobe – und die Turnschuhe übergezogen. Auch seine Jeans und das Poloshirt hielten nicht wirklich warm. An Handschuhe oder eine Mütze hatte er gar nicht erst gedacht.
Über ihm strich ein leises Pfeifen durch die dicken Nebelschwaden. Rob schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Er war es gewohnt, dass der Wind gerade nachts die Geräusche der Straße oder der Bahnlinie über die Wiesen bis zu ihnen hinab trug. Er kannte es seit seinen Kindertagen nicht anders. Nur Vatos hielt immer wieder kurz inne. Den Kopf hoch erhoben, die schweren Ohren zuckten. Doch immer nur für Sekunden, bevor er sich wieder in die Leine warf und weiter zerrte. In diesem Augenblick war Rob das Geräusch seiner Turnschuhe, die dabei kurz über den Boden rutschten, deutlich näher und bewusster, als das leise einsetzende Raunen über ihm. Rob ruckte einmal kurz an der Leine, um den Setter daran zu erinnern, dass jemand am anderen Ende hing.
Vatos stoppte abrupt, die schwarze Nase hoch in die Nachtluft erhoben. Rob nutzte den kurzen Moment, um sich die Handschlaufe der Leine über den linken Arm zu ziehen. Hoch bis zum Ellbogen. Mit den freien Händen wühlte er in seinen Jackentaschen, bis er die platt gedrückte Zigarettenschachtel fand. Seine Finger waren beinahe zu steif, um die Zigarette zwischen seine Lippen zu befördern. Das Feuerzeug schmerzte auf seiner Haut, als das raue kleine Rädchen sich unter seinem Finger schwerfällig drehte und die Hitze der Flamme war deutlich zu spüren, als sie emporschoss. Gerade als die Zigarettenspitze zu glühen begann, kam ein grober Ruck. Einen Augenblick lang sah Rob sich schon am Boden liegen. Zigarette, Schachtel und Feuerzeug landeten auf dem feuchten schwarzen Asphalt. Doch irgendwie schaffte Rob es mit ein, zwei großen Stolperschritten das Gleichgewicht zu halten.
Vatos war wieder zu einer lebenden Statue erstarrt. Er beachtete Rob nicht, sondern starrte in die Dunkelheit. Seine Rute ragte unbeweglich in die Höhe und das lange rote Fell bewegte sich leicht, durch die darunter zitternden Muskeln. Rob bückte sich leise fluchend. Die erste Zigarette war hin, aber die Packung würde nicht so schnell durchweichen. Die Verbliebenen ließen sich sicher noch anzünden.
Noch bevor Rob die Schachtel auch nur mit den Fingerspitzen berührte, hörte er das Kratzen. Das Kratzen, von harten kleinen Krallen, die über den Asphalt starteten. Gefolgt von einem kleinen Laut, halb Seufzen, halb Winseln und bevor Rob reagieren konnte, wurde er brutal nach vorne gerissen. Der feuchte Boden schürfte sich in die Haut seiner Handflächen und er war sich sicher, dass er spürte, wie sich an seinen Knien nach dem Aufprall warme Flecken aus Blut bildeten. Als er den Kopf hob, konnte er nur noch den schattenhaften Umriss des großen, rotbraunen Hundes erkennen und schon nach wenigen Sekunden hatte die Nacht ihn ganz verschluckt. Für ein paar Sekunden mehr konnte Rob das Geräusch der Leine hören, die über den Boden schleifte. Doch auch das ging bald im Raunen des Windes unter.
„Vatos! Was soll der Scheiß! Komm sofort zurück!“ Rob setzte sich auf die Straße, wischte sich den Straßendreck von den Handflächen und starrte in die Dunkelheit. Als würde das den Hund dazu bewegen, reumütig umzukehren. Der Wind fuhr durch Robs Haar. Wie mit kalten Fingern teilte er die Strähnen auf seinem Kopf und ließ ihn erschaudern. Vergessen waren die Zigaretten, vergessen war seine Wut auf den Hund. Der Wind trug Robs Atem plötzlich als weiße Dampfwolken mit sich fort, als wäre die Temperatur binnen Sekunden um mehrere Grad gefallen.
Er rappelte sich auf, vergrub die schmerzenden Hände tief in den Taschen. Immer noch starrte er in das dunkle Nichts vor sich, in das der Setter verschwunden war. Etwas bewegte sich. Knapp jenseits der Grenze bis zu der Rob glaubte, etwas erkennen zu können. Ein Schatten huschte kurz über der Erde dahin. Noch schwärzer als die ihn umgebende Nacht.
„Vatos?“
Lautlos verschmolz der Schatten wieder mit dem ihn umgebenden Schwarz. Mit stockenden Schritten ging Rob vorwärts. Vielleiht war es eine Katze gewesen. Oder ein Reh hatte sich aus dem Wald hinab in die Siedlung gewagt und hatte Vatos‘ Interesse geweckt.
„Vatos! Die Jagd ist vorbei!“
Nichts. Rob stolperte weiter die Straße entlang. Sein Atem rasselte und hing in kleinen weißen Schwaden in der Luft. Neben sich konnte er den Gartenzaun des Nachbarhauses erkennen. Das Gartentor war fest geschlossen, das Gebäude dunkel. Seine Füße schienen langsam in seinen Turnschuhen zu gefrieren. Die Lichter aus den Fenstern seines eigenen Hauses waren schon längst vom Nebel verschluckt. Als wäre da nichts mehr außer ihm und der Dunkelheit.
Unter seinen Füßen wich der glatte Asphalt bald den zwei ausgefahrenen Schotterspuren, die hinausführten in die Wiesen und Felder. Er konnte die einzelnen Steine spüren, die sich durch die Sohlen drückten. Das Gras schien in der Nacht beinahe weiß zu glänzen unter der Feuchte des Nebels, trotzdem konnte Rob nicht weitersehen als ein paar Meter. Er hielt für einen Moment lang den Atem an, um nochmals genau in die Nacht hinaus zu hören.
Der Wind schien zu murmeln und zu flüstern. Nicht mehr nur ein Rauschen. Es klang nach vielen fernen Stimmen, die über ihn hinwegwehten. Etwas in ihm wollte auf dem Absatz kehrt machen und zurück zum Haus rennen. Egal wie sehr seine Füße schmerzten, egal wie sehr seine Lunge brannte. Etwas schrie, er solle erst anhalten, wenn er die Haustür hinter sich ins Schloss geworfen hatte. Der Wind streifte seine Schulter, wie ein Fremder in der Menge. Beinahe wäre Rob losgerannt, doch stattdessen presste er die Augenlider kurz fest zusammen. So fest und lange, bis er kleine helle Punkte tanzen sah und schüttelte den Kopf. Faszinierend was man sich im Dunkeln, in der Stille alles einbilden konnte. Was für Streiche einem die Furcht und die Fantasie in solchen Moment spielten. Dort draußen war nichts, außer einem dummen Irish Setter, der in der Dunkelheit irgendwelchem Getier nachjagte, das sich vermutlich schon längst irgendwo in Sicherheit gebracht hatte. Er konnte den Hund nicht sich selbst überlassen. In seinem ungebremsten Jagdeifer würde er am Ende noch bis zur Bundesstraße vor ein Auto laufen oder weiter vorne in den Bach stürzen und in der kalten Nacht erfrieren. Also ging Rob weiter. Immer wieder hielt er inne, rief den Namen des Hundes und hörte, was sich um ihn herum tat. Kein Zeichen von seinem Setter. Nur der Wind, der immer lauter wurde. Rob konnte ihn nicht mehr fühlen. Vielleicht lag es daran, dass seine Gesichtshaut schon halb erfroren war. Er konnte ihn nur hören. Mal klang er nach tausend Mündern, die nach Atem lechzten, mal klang er nach raschelnden Mänteln. Je weiter Rob dem unbefestigten Weg folgte, desto schwerer fiel es ihm, sich davon zu überzeugen, alleine dort draußen auf der Suche nach seinem Hund zu sein.
Wenn er jetzt umdrehte, dauerte es nur wenige Minuten. Er könnte sich vernünftige Sachen anziehen und mit seinem Vater und Taschenlampen die Suche wieder aufnehmen. Seine Mutter würde sicher nicht mitkommen, sie hasste den Hund beinahe so sehr, wie sie seine Freundin hasste. Ein neues Geräusch im Dunkeln ließ Rob innehalten. Ein Winseln. Leise und fern wehte es durch den Nebel. Unmöglich auszumachen, aus welcher Richtung es kam. Rob versuchte, sich auf das Geräusch zu konzentrieren. Den Kopf in den Nacken gelegt, lauschte er in den dichten Nebel, drehte sich dabei langsam in die eine, dann in die andere Richtung. Das Winseln schwoll langsam an. Es war hinter ihm, neben ihm, über ihm. Rob schüttelte den Kopf, als könne er es so in eine Ecke befördern. Es hielt an. Aber es klang nicht nach Vatos. Es klang nicht wie ein Hund. Es klang wie ein Dutzend Hunde, die angespannt und bebend im Nebel standen. Robs Atem begann sich stoßweise hoch zu quälen und mit jedem Atemzug brannte sein Hals und seine Zähne schmerzten. Ein neues Geräusch hallte durch die Nacht. Kein fernes Wispern, das der Wind von irgendwoher herantrieb. Es war klar und deutlich, hart und rhythmisch und es kam genau auf ihn zu. Es war der Klang von beschlagenen Hufen auf gefrorener Erde. Rob kniff die Augen zusammen, um im Nebel etwas erkennen zu können, doch es waren nicht einmal Umrisse zu erkennen. Stattdessen hörte er das Schnauben des Pferdes und das leise Klirren von Metallteilen. Rob starrte in den Nebel und versuchte auszumachen, wo der Weg war, den er gekommen war. Unter seinen Füßen war mit einem Mal nur nasses, weißes Gras. Bevor er sich bewegen konnte, spürte er es. Er spürte den Atem des Pferdes an seinem Ohr. Er konnte es riechen. Er roch das verschwitzte Fell und er konnte fühlen, wie etwas seine Schulter streifte. Ein lauter Schrei entfuhr seinen Lippen und er wirbelte ziellos herum. Doch er war immer noch allein in der Dunkelheit. Er stolperte. Seine geschundenen Füße und die steifen Beine waren nicht mehr fähig schnell genug zu reagieren und er schlug in das feuchte, kalte Gras. Ein Gefühl wie von unzähligen kleinen Dornen, die sich in seine unterkühlte Haut bohrten, raste seine Beine entlang. Gelächter in der Dunkelheit und das Scharren von Hufen auf hartem Boden.
Vergessen war die Suche nach seinem Hund. Rob wollte nur noch weg. Er kroch die ersten Meter auf allen Vieren durch das winterliche Gras, bevor er sich aufrappelte. Er wollte rennen, doch alles was seine Beine hergaben, war ein unkontrolliertes Gestolpere auf der unebenen Wiese. Er hatte keine Ahnung, in welcher Richtung der Feldweg lag. Er hatte keine Ahnung in welcher Richtung sein Haus war. Er wollte einfach nur weg und taumelte blindlinks in die Nacht. Um ihn herum begannen die dutzend Hunde zu heulen und zu jaulen und die Pferde wieherten. Es war wie eine Welle, die durch unzählige Leiber bebte. Und dann donnerte der Hufschlag durch den Nebel.
Rob sah sich nicht um. Seine Füße schrien in der Kälte auf dem harten Boden, seine Augen tränten und brannten und er konnte spüren, wie der Rotz begann über seine Oberlippe zu rinnen und hinab zu tropfen. Etwas stürmte an ihm vorbei, er konnte es fühlen. Es streifte seine Wange und er spürte einen dünnen Blutstrom auf seiner frierenden Haut brennen. Etwas traf seine Schulter. Hart und heftig. Rob fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. Für einen Moment lang schien er durch den Nebel zu wirbeln, schwerelos im Geheul des Nachwinds. Dann schlug er auf den Boden auf. Er konnte spüren, wie der harte Untergrund seine Nase brach und wie sein Poloshirt zerriss. Schwarze Flecken begannen vor seinen Augen zu tanzen. Aus Mund und Nase kam nur noch ein ersticktes Röcheln. Sein Mund schmeckte nach Blut und Eis. Das Jaulen der Hunde kreiste ihn ein und auch der schwere Hufschlag eines Pferdes näherte sich. Rob hatte nicht mehr die Kraft, den Kopf zu heben.
Er schloss die Augen und schluchzte leise in das tote Gras unter seinem Gesicht. Etwas packte ihn. Keine Klauen, keine Zähne. Es fühlte sich an, wie gigantische Finger die sich um Kleidung und Haut schlossen und ihn hochhoben, wie ein junges Kätzchen, das man am Nackenfell gepackt hatte. Einen Moment lang schien er wieder zu schweben. Beine und Arme baumelten ohne Bodenkontakt in der Luft. Dann bohrte sich etwas in seinen Magen. Sein ganzes Gewicht, sein ganzer Körper lastete auf diesem Punkt. Es roch wieder nach Pferd, nach Leder und Schweiß und mit einem Mal verflog die Kälte. Rob merkte noch, wie sie begannen, sich zu bewegen. Zuerst hörte und spürte er noch die rhythmischen Bewegungen der Hufe, den gleichmäßigen Atem des großen Tieres unter sich. Dann war da nur noch das Rauschen des Windes und dann war da gar nichts mehr.
Heilig Abend neigte sich dem Ende zu und alles was von dem Trubel, Stress und der erzwungenen Heiterkeit nach Einbruch der Dunkelheit übriggeblieben war, waren ein Topf Glühwein auf dem Herd, ein Teller Plätzchen aus der Bäckerei, bunte Glaskugeln an einem Tannenzweig im Fenster und eine DVD von „Stirb langsam“, denn Weihnachten war erst vorbei, wenn Hans Gruber vom Nakatomi Plaza gefallen war. Für Lis Westner war das der schönste Augenblick der sogenannten besinnlichen Zeit. Vorbei waren die Pflichtbesuche in der Kirche, wo die Kinder von Freunden das Weihnachtsoratorium sangen, keine festliche Kleidung, keine Verpflichtungen mehr. Nur noch der alte „Han shot first“ Hoodie und die Couch.
Auch die alljährliche familiäre Weihnachtstradition hatte Lis bereits hinter sich gebracht. Ihre Mutter hatte sie fünfmal angerufen und jedes Mal eine Nachricht hinterlassen und Lis ignorierte sie alle. Sie musste sie auch nicht anhören, um den genauen Wortlaut zu kennen. Der hatte sich nämlich spannender Weise in all den vergangenen Jahren nicht geändert. Manchmal fragte sich Lis, ob ihre Mutter das Ganze vom Blatt ablas, Jahr für Jahr. Es begann mit einem Vorwurf, dass Lis sich so lange nicht gemeldet hatte, gefolgt von der Frage, was sie denn dieses Jahr für die Feiertage plante und dem Hinweis, dass sie und Lis‘ Vater am ersten Weihnachtsfeiertag ab 11.30 Uhr im Wunder-Bar zum Essen seien und sich freuen würden, wenn sie ihnen Gesellschaft leisten würde, vorausgesetzt sie würde den Köter zu Hause lassen.
Viele Familien hatten Weihnachtstradition. Das war die ihrer Familie. Und so zuverlässig wie ihre Mutter an Heilig Abend ihr Sprüchlein auf die Mailbox sprach, so zuverlässig hatte Lis vor, die Einladung zu ignorieren. Die Planung für den Abend stand ebenso fest, wie für die kommenden Tage.
Die verbliebenen Kerzenstummel auf dem Adventsgesteck brannten in der abgedunkelten Wohnung.
Ein Christbaum existierte nicht. Lis war immer nicht wohl bei dem Gedanken, den Irish Setter mit erreichbaren Glaskugeln allein zu lassen, selbst wenn es nur war, um kurz zu duschen. Im Wohnzimmerfenster hing ein großer geschmückter Tannenzweig und die Fensterbretter in Küche und Schlafzimmer schmückten Sternenlaternen. Das war das Schöne an der Weihnachtszeit. Die Lichter, der Schmuck und die Ruhe.
Setter Vatos hatte sich auf dem Dreisitzer Sofa breitgemacht und sich über die gesamte Länge ausgestreckt. Lis rempelte ihn mit dem Knie an und mit einem schläfrigen Grummeln rollte sich der große Rüde zur Seite. Lis ließ sich auf die Kissen niedersinken und nahm einen schnellen Schluck aus dem Becher. Der Geschmack von Apfel und Honig brannte auf ihren Lippen.
Egal was die anderen davon hielten und darüber dachten, es war der perfekte Heilig Abend in Lis‘ Augen und auch die Pläne für die kommende Woche sahen keine konventionellen Familienfesttermine vor. Die Agentur war bis Heilig Drei König geschlossen und die Zeit wollte Lis mit Nichtstun verbringen. Lange schlafen, Spaziergänge mit dem Hund, gutes Essen und Netflix. So stellte sie sich den Start ins neue Jahr vor.
Die Uhr stand auf kurz nach acht, beim ersten Becher Glühwein schimmerte durch die rotgoldene Flüssigkeit bereits das Weiß des Tassenbodens und von den Plätzchen waren nur noch Krümel und Puderzuckerreste auf Lis‘ Jogginghose übrig. Zuerst war es nur ein leises Surren und das Handy auf dem Wohnzimmertisch schob sich ein paar Zentimeter über die Glasplatte. Bevor Lis es richtig realisierte, dröhnte Rammsteins „Sonne“ los und ließ das Telefon weiter vibrieren. Vatos, der bisher mit allen Vieren in die Luft gereckt auf der Couch geschlafen hatte, fuhr herum. Doch der Versuch kontrolliert auf die Beine zu kommen, scheiterte. Seine Rute schlug gegen Lis Oberarm, einer der Hinterläufe verpasste dem leeren Teller einen Kick und ließ ihn in die Mitte des Tisches klappern und der Setter selbst krachte wenig grazil zu Boden. Früher am Abend hätte Lis sich gar nicht erst die Mühe gemacht, nach dem Handy zu sehen, sondern hätte es für einen weiteren Versuch ihrer Mutter gehalten, ihr auf die Nerven zu gehen. Doch um diese Uhrzeit hatte sie es meist eingesehen, dass ihre einzige Tochter sich mal wieder taub stellte. Also ließ Lis sich nach vorne kippen, um einen Blick aufs Display erhaschen zu können. Unter dem Foto einer bleichen Blondine leuchtete der Name „Robs Dummchen“.
Lis schluckte. Der Spitzname war bereits böse gewesen, als sie ihn damals vor gut acht Jahren zum ersten Mal in die Kontaktliste eingetippt hatte. Jetzt erschien er ihr nur noch geschmacklos. Wieso sie ihn in all der Zeit nie geändert hatte, konnte sie jedoch nicht sagen. Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, griff Lis nach dem Handy und nahm den Anruf an.
Doch es folgte keine Reaktion auf ihre Begrüßung. Am anderen Ende herrschte Stille. Lis griff nach der Fernbedienung, um den Ton abzustellen. Erst dann konnte sie etwas ausmachen, das an ein ersticktes Röcheln erinnerte.
„Miri? Miri ist alles in Ordnung bei dir?“
Noch immer keine Antwort, dafür drang ein Schluchzen begleitet von zitterndem Wimmern aus dem Lautsprecher. Es dauerte bis sich aus den erstickten Tönen so etwas wie verständliche Worte zu formen begannen.
„Lis… Lis, ich...ich brauche… oh Lis du musst mir helfen, bitte!“ Es kam als Winseln heraus, immer begleitet von lautem Schluchzen und unterbrochen vom Japsen nach Luft zwischen den rotzgefüllten Worten. Lis hielt den Atem an. Doch bevor sie weiter nachfragen konnte, startete das Gewimmere von Neuem.
„Sie schmeißt mich raus Lis! Sie… sie war heute b-b-bei mir und und will, dass ich bis… bis Januar aus dem Haus raus muss. Lis, ich weiß doch nicht wohin… ich... ich...ich hab doch niemand, wo soll ich hin, Lis, was soll ich machen, ich…ich…“ der Rest des Satzes ging in Husten, Röcheln und Schluchzen unter. Lis schloss die Augen und atmete tief durch. Miri musste ihr keine Details und Namen nennen. Lis musste nicht nachfragen, um genau zu wissen wovon sie sprach. Ihr war immer klar gewesen, dass dieser Moment kommen würde. Aber dass es ein Heilig Abend sein würde, war dann doch mehr, als Lis zu befürchten gewagt hatte. In ihrem Kopf begann es zu rasen und bevor sie noch irgendeinen klaren Gedanken fassen konnte, hörte sie sich selbst sagen: „Miri, beruhig dich. Ich packe zusammen und bin in spätestens zwei Stunden bei dir. Mach dir nen Tee, setz dich auf die Couch, mach den Fernseher an und warte bis ich da bin. Verstehst du mich?“
Ein ersticktes Geräusch, das Lis als Zustimmung interpretierte, kam vom anderen Ende der Leitung.
„Ok, ich fang sofort an zu packen. Mach keinen Blödsinn bis ich da bin!“
Sie wartete keine Reaktion ab, sondern beendete das Telefonat. Einen Augenblick lang blieb Lis starr sitzen und blickte auf das Smartphone in ihren Händen. Das war es dann wohl, Weihnachten war endgültig vorbei. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die leicht zerzausten Locken, verharrte einen Augenblick mit dem Hinterkopf in die Hände gestützt und blickte dann zu Vatos hinüber.
„Na komm Großer, die besinnliche Zeit ist vorbei.“
40 Minuten später jagte Lis ihren schwarzen Chrsyler Kombi über die A12 in der regnerischen Weihnachtsnacht Richtung Deutschland.
Die Straßen waren verlassen in dieser Nacht. Selbst auf der Autobahn war Lis die meiste Zeit allein unterwegs. Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Windschutzscheibe und der Wind rüttelte unnachgiebig an der bulligen Karosserie des schwarzen Chrysler 300 C Touring. Im Radio liefen Weihnachtslieder vom Band. An einem solchen Abend war jeder zu Hause bei seiner Familie oder wenigstens bei seinem Fernseher, erinnerte Lis sich bitter, als sie den Kombi von der Autobahn lenkte.
Die Scheinwerfer spiegelten sich in der nassen Fahrbahn und machten es Lis immer schwerer, sich zu konzentrieren. Jedem anderen hätte sie geraten, sich zusammenzureißen und am nächsten Tag noch einmal anzurufen. Doch bei Miri wagte sie das nicht. Hätte man sie gefragt, hätte Lis sicher keine Antwort darauf gewusst, wieso sie sich verantwortlich fühlte. Dennoch tat sie es. Eigentlich hätte sie den Anruf ignorieren können. Miri war eine erwachsene Frau, alt genug um ihr Leben selbst unter Kontrolle zu bringen. Doch Lis wusste, wie alle in Miris Umfeld, dass das nicht passieren würde. Früher hatte sich Rob in der Beziehung um alles gekümmert. Er hatte gearbeitet und sich um den Haushalt gekümmert. Behördengänge, Versicherungsangelegenheiten, alles hatte Rob geregelt und erledigt. Rob war der Erwachsene in der Beziehung gewesen. Wenn Lis an ihren jüngeren Bruder dachte, fiel ihr die Vorstellung von ihm als dem vernünftigen und besonnenen Part immer noch schwer. Für Miri war er erwachsen geworden, während Miri selbst unbeholfen und naiv an seiner Seite durch ihr Leben gestolpert war und sich immer darauf verlassen hatte, dass Rob alles unter Kontrolle hatte. Und irgendwie hatte es damals funktioniert. Sie hatte sich damals gefragt, wie lange Rob das mitmachen würde. Doch niemand hatte die Möglichkeit gehabt, herauszufinden, ob diese Beziehung eine Zukunft gehabt hätte.
Lis seufzte. Noch zehn Kilometer, dann hatte sie es geschafft. Vatos raunte im Kofferraum in seiner Transportbox. Immer wieder ertappte sich Lis dabei, wie sie überlegte nur kurz die Augen zu schließen. Ziellos begann sie durch die Radioprogramme zu schalten, nur um sich irgendwie zu beschäftigen. Im Lichtkegel der Scheinwerfer entdeckte sie endlich die Abzweigung, die von der Bundesstraße in die Dörfer hinaus führte. Die Straße wurde enger und wand sich durch abgeerntete Felder und Wiesen in denen der Regen kleine Seen gebildet hatte. In der Dunkelheit sahen sie aus, wie schwarze Spiegel. Nach wenigen Minuten kamen die ersten Häuser in Sicht. Zwei große Gehöfte, die die Straßenseiten säumten. In den Fenstern brannte Licht, die Innenhöfe waren zugestellt mit Autos. An Heilig Abend kamen die Familien eben zusammen.
Direkt hinter dem Ortsschild erstreckte sich der Parkplatz des WunderBar. Die kleinen Platanen, die die Parkreihen von einander trennten, waren komplett kahl, aber mit Lichternetzen eingehüllt, die die traurigen nackten Bäumchen in strahlende Lichterkuppeln verwandelten. Es standen nur noch wenige Autos auf dem Parkplatz und hinter den Fenstern, die mit Rahmen aus Kunstschnee verziert waren, bewegten sich nur vereinzelte Silhouetten. Lis versuchte sich daran zu erinnern, wann das WunderBar am Abend schloss. Ihr fiel nicht auf, dass sie den Fuß vom Gas genommen hatte, um einen längeren Blick darauf werfen zu können. Allerdings war auch niemand außer ihr auf der Straße, den der langsamer werdende Kombi hätte stören können.
Lis behielt das festlich geschmückte Restaurant so lange im Auge, wie es ging. Wie gern hätte sie sich jetzt an einen der Tische gesetzt und einen Bratapfel bestellt – falls sie die immer noch zur Weihnachtszeit auf der Speisekarte hatten. Doch das weihnachtliche Lichtermeer verschwand schließlich hinter der Biegung der Straße.
Es war nicht mehr weit. Vorbei an ein paar weiteren, teilweise mehr als geschmacklos geschmückten Einfamilienhäusern, nach der großen Tanne links abbiegen, ein Stück die Sackgasse lang und da stand es, das letzte Haus auf der linken Straßenseite. Ein unauffälliges Einfamilienhaus mit dunklem Dach, einer Doppelgarage und einem gewaltigen Walnussbaum. Seit Lis‘ Kindheit hatte sich nichts geändert. Die Außenfassade wirkte etwas schmutziger, was aber vielleicht auch schlicht am Wetter in dieser Nacht lag. Lis lenkte ihren Wagen vor die Garagen und schaltete den Motor ab. Langsam stieg sie aus und musterte die Fenster, die zur Straßenseite hin zeigten. Alle waren dunkel. Seufzend schlug Lis die Fahrertür zu, trat nach hinten an den Kofferraum und zog zuerst ihren kleinen Rollkoffer nach draußen. Danach ließ sie Vatos aus seiner Transportbox. Sorgsam darauf bedacht, dem Rüden sein Halsband mit der Leine überzustreifen. Sie hatte keine Lust bei Sturm und strömenden Regen auf den Feldern nach ihm zu suchen, weil er der Meinung war, einem Wildkaninchen oder sonstigem Getier nachstellen zu müssen. Vatos trottete hinter Lis her. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Na Großer, erinnerst du dich noch daran?“
Vatos schien sie zu ignorieren.
Das Gartentor stand weit offen. Jenseits des gepflasterten Weges erkannte Lis die Umrisse des ungepflegten und verwilderten Gartens. Als der Bewegungsmelder das Außenlicht einschaltete, erschien alles nur noch trostloser. Lis versuchte, nicht zu genau hinzusehen. Es war jetzt über zwei Jahre her, dass sie hier zu Besuch gewesen war und sie würde das Ausmaß noch früh genug bei Tageslicht sehen. Sie zog ihren Koffer die drei Stufen zur Terrasse hoch. Die Fliesen auf der kleinen Treppe waren locker und knirschten unter ihren Schuhen. Durch das Wohnzimmerfenster konnte Lis Licht sehen. Im Flur brannte die Deckenlampe. Nichts bewegte sich im Inneren. Lis stockte.
In der Haustür steckte der Schlüssel. Sie wollte glauben, dass es ein Zufall war und Miri ihn nur vergessen hatte. Lis ließ ihren Koffer los, griff nach dem Schlüssel und öffnete die Tür. Es war nicht die Deckenlampe, die im Flur brannte. Es waren Kerzen. Eine Kerze auf jeder Treppenstufe. Ganz hinten aus der kleinen Nische unter der Treppe ragten zwei nackte Füße aus dem Schatten hervor. Lis rannte los. Die Flammen flackerten theatralisch auf ihren Dochten, als sie vorbeilief. Sie ließ sich auf die Knie fallen und rutschte unter die Treppe.
„Miri alles ok, was…“
Lis blieben die Worte im Hals stecken. In dem kleinen engen Raum auf dem Steinboden hatte Miri sich zusammengekauert. Das feine blonde Haar klebte fettig an ihrem Kopf. Die Augen waren rot und verquollen. Aus ihrer Nase lief der Rotz und Pullover und Hände waren Blut verschmiert.
„Herrgott ich hab doch gesagt, du sollst keinen Blödsinn machen, bis ich da bin!“ Lis packte Miri am Oberarm, zerrte sie auf die Beine und zog sie mit sich ins angrenzende Badezimmer. Mit dem Ellbogen schlug Lis gegen den Lichtschalter. Der kleine Raum wurde so schlagartig in Licht getaucht, dass es blendete. Mit einer Hand packte Lis Miris Handgelenke, mit der anderen schob sie die Ärmel des Pullovers hoch. Im Licht sah das Ganze plötzlich nur noch halb so dramatisch aus. Miri hatte an beiden Unterarmen mehrere Schnitte, die aber bei genauerem Hinsehen gerade mal längere Kratzer waren. Mit einem Seufzen ließ Lis ihre Arme los. Einen Augenblick lang hatte sie sich wirklich Sorgen gemacht und sich darauf eingestellt, den restlichen Heilig Abend in der Notaufnahme zu verbringen.
„Wasch dich und komm ins Wohnzimmer, dann können wir reden.“ Auf dem Weg nach draußen zog Lis die Badezimmertür hinter sich zu. Vatos stand noch immer im Hausflur und betrachtete gebannt das Flackern der Kerzen. Die Lampe im Flur schien nicht zu funktionieren, zumindest reagierte sie nicht, als Lis den Schalter drückte. Also machte sie zuerst das Licht im Wohnzimmer an, bevor sie die Haustür schloss und die Kerzen auf der Treppe ausblies. Erst jetzt bemerkte Lis, wie unheimlich kalt es im Haus war. Im gesamten Erdgeschoss war eine Fußbodenheizung verlegt, dennoch hatte sich der Boden wie Eis unter ihren Knien angefühlt. Sie ließ ihre Finger über die Heizkörper im Wohnzimmer gleiten, kalt. Auch im Kachelofen brannte kein Feuer. Am Morgen würde Lis nachsehen, ob nur der Brenner ausgefallen oder ob der Heizöltank leer war. Heute würde sie nur den Kachelofen anheizen. Zumindest wenn hinter der Garage immer noch trockenes Brennholz gestapelt war, so wie es früher stets der Fall gewesen war.
Vatos war bereits auf die Couch geklettert und hatte sich in den Kissen ausgestreckt. Lis nahm sich eine Minute, um sich im Raum umzusehen. Alles wirkte ungepflegt, nicht dreckig, aber verlebt und vernachlässigt. Auf dem Sideboard türmte sich getragene und zerknitterte Wäsche, auf dem Tisch lagen leere Verpackungen von Keksen, Müsliriegeln und Fertigsandwiches aus dem Discounter. So würde es wohl aussehen, wenn man eine neunjährige über Wochen allein zu Hause ließ. Lis fragte sich, ob Jutta immer noch zweimal im Monat zum Putzen vorbeikam. Sie bezweifelte, dass Miri es schaffte, das Haus selbst sauber zu halten und weder war der Boden schmutzig, noch hatte das Bad dreckig gewirkt.
Im Flur knarrte eine Tür. Kurz darauf kam Miri mit hängendem Kopf und baumelnden Armen ins Wohnzimmer geschlichen. Der graumelierte Pullover hatte immer noch Blutflecken, aber Miri hatte sich nicht nur die Hände, sondern auch das Gesicht gewaschen und sah nun nicht mehr ganz so verheult aus. Trotzdem bot sie immer noch ein Bild des Jammers. Ihre Haut war blass und spannte sich über ihre Gesichtsknochen. Die Augen lagen tief in den Höhlen und unter den Schwellungen sah man die schwarzen Augenringe. Sie sah auf der einen Seite aus, wie ein halb verhungertes Straßenkind und auf der anderen schien sie gleichzeitig furchtbar alt geworden zu sein. Lis winkte sie zu sich rüber und setzte sie auf die Couch. Es schien Miri fast unmöglich, den Kopf oben zu halten und Lis anzusehen. Doch Lis hatte keine Lust, ihr eine Standpauke wegen der kleinen Einlage zu halten. Auch hatte sie keine große Lust, über all das zu reden. Lis war einfach nur noch erschöpft. Sie wollte nicht einmal mehr über das ganze Chaos nachdenken. Sie konnte fühlen wie Kälte und Feuchtigkeit den Weg über ihre Hände unter den Strickpullover fanden.
„Ich heize jetzt die Öfen an und danach gehen wir schlafen, um alles andere kümmern wir uns morgen früh, ok?“
Miri nickte nur schwach und blieb ansonsten regungslos. Schnell wurde Lis klar, dass sie beim Holz holen keine Hilfe zu erwarten hatte. Also nahm sie den Korb, der neben dem Ofen stand und machte sich wieder auf den Weg nach draußen. Miri rührte sich nicht, nur Vatos schoss von der Couch hoch und sprang beinahe über den Wohnzimmertisch, um schnell genug hinter seiner Besitzerin her zu kommen.
Draußen pfiff der Sturmwind durch die nackten Äste der Bäume und wehte den Regen bis auf die überdachte Terrasse. Am Gartentor musste Vatos doch zurückbleiben, was er mit lautstarkem Jaulen kundtat. Offenbar erinnerte er sich nicht mehr daran, dass er eine Zeitlang dort gelebt hatte. Oder er erinnerte sich nur zu gut an diese Zeit, dachte Lis bei sich, als sie sich vor dem Regen wegduckte und versuchte, an der Hauswand etwas Schutz zu finden. Zu ihrer Erleichterung lagerte das Holz immer noch unter einem kleinen Vordach an der wetterabgewandten Seite der Doppelgarage. Es war nicht mehr viel, aber für ein paar Tage würden die Holzscheite ausreichen und was das Wichtigste war, sie waren trocken. Lis stapelte mehrere Scheite in den Korb und sammelte kleinere Holzstücke, die am Boden lagen.
Der Korb war schwer und sperrig und Lis fluchte innerlich bei dem Gedanken, dass sie sich damit den Pullover ruinieren könnte. Am Gartentor vollführte Vatos seinen Begrüßungstanz. Bis sie wieder im Haus war, war sie durchnässt, durchgefroren, ihre Arme und ihr Rücken schmerzten und sie wünschte sich, sie würde noch in ihrer Wohnung sitzen. Miri hatte sich nicht bewegt und blickte auch nicht auf, als Lis den Korb neben dem Kachelofen zu Boden krachen ließ. Auf dem Ofen lag noch eine Packung der langen Streichhölzer. Lis war verwundert, wie einfach ihr alles noch von der Hand ging. Es war über zehn Jahre her, dass sie den Kachelofen das letzte Mal angeheizt hatte. Doch schon bald fraßen sich die Flammen in das trockene Hartholz. Zufrieden schloss Lis die Glastür und betrachtete einen Moment lang, wie das Feuer zu lodern begann. Danach klemmte sie sich ein paar Holzscheite unter den rechten Arm, steckte sich die Streichhölzer in die Gesäßtasche und griff sich eine Handvoll von den kleinen Holzstücken.
„Miri, steh auf und komm mit.“ Der Satz fühlte sich noch dümmer an, als er klang. Aber irgendwie war Lis überzeugt, dass sich Miri ohne Anweisung nicht bewegt hätte. So erhob sie sich steif von der Couch und schlich mit immer noch hängendem Kopf hinter Lis her.
Als auch im oberen Stockwerk das Feuer im Ofen brannte, legte Lis so viele Scheite nach, wie irgend möglich, ohne die Flammen zu ersticken. Es würde ausreichen, um bis zum Morgen eine Glut zu bewahren. Lis ließ sich von Miri eine Decke und ein Kopfkissen bringen und dann schickte sie Miri wie ein Kleinkind ins Bett. Selbst entschloss sie sich, diese Nacht auf der Couch zu schlafen. Sie hatte nicht vor, dies auch die kommenden Nächte zu tun, so lange sie dort blieb. Doch fürs erste war ihr die Nähe zum Kachelofen das Wichtigste. Außerdem wollte sie auf Tageslicht warten, um sich den Zustand der anderen Zimmer anzusehen.
Bevor sie sich hinlegte, schloss Lis die Jalousien an den Fenstern und legte noch einmal Holz nach. Ihr Handy legte sie auf den Wohnzimmertisch, löschte das Licht im Raum und wickelte sich auf der Couch in die Decke. Wie das ganze Haus war sie kalt und roch feucht. Doch das war Lis in diesem Augenblick egal. Sie lauschte dem Knistern des Feuers, bis sie einschlief.
Der Regen hatte über Nacht aufgehört und auch der Sturm war abgeflaut. Dafür hüllte jetzt der Hochnebel das Haus und die Umgebung in einen grauen Schleier. Für Lis war es eine unruhige Nacht gewesen. Die Couch war kein sonderlich bequemer Schlafplatz und auch Vatos, der immer wieder ruhelos durch das Zimmer gewandert war und die Fenster angeknurrt hatte, hatte nicht zu einem erholsamen Schlaf beigetragen. Kurz vor sieben Uhr beschloss Lis, die Nacht für beendet zu erklären. Als erstes legte sie Feuerholz nach. Sie mochte den Geruch und das leise Knarren und Knistern, wenn die Glut sich in die neuen Holzscheite fraß. Die Morgenrunde im Garten nutzte Vatos für einen Kontrollgang. Mit hocherhobener Rute trabte er die komplette Länge des Zauns auf und ab. Immer wieder hielt er inne, knurrte mit gesträubtem Nackenfell hinaus in den Nebel, nur um dann weiter zu patrouillieren. Jeder Quadratzentimeter wurde ausgespäht und inspiziert. Kein Vogel durfte sich ungestraft im Garten bewegen.
Die Überlegung ihn allein draußen zu lassen, verwarf Lis schnell wieder. So aufgeregt kannte sie ihren Hund nicht. Die Gefahr, dass Vatos auf die Idee kommen könnte, über den Zaun zu springen, war ihr zu groß. Zwar hatte er in der letzten Nacht artig – wenn auch ziemlich laut – am Tor gewartet, als sie das Holz geholt hatte, doch an diesem Morgen war der Setter in einer zu eigenartigen Stimmung.
Erst als sie ihn wieder im Haus untergebracht hatte, machte sie sich auf den Weg in den Keller. Als sie die Tür am Fuße der Treppe öffnete, machte Lis einen Schritt rückwärts und schnappte nach Luft. Der Geruch, der ihr entgegenschlug, war fast unerträglich. Ein dickes Gemisch aus kalter Feuchtigkeit, Öl und alten Lumpen quoll wie dicke Suppe in den Treppenabgang. Entlang der ehemals weißen Wand zeichnete sich auf Knöchelhöhe ein dunkler Rand ab. Ein alter Wasserschaden, der nicht nur am Putz seine Spuren hinterlassen hatte. Der Geruch des Öls war jedoch das Einzige, was davon noch übrig war. Im Gegensatz zu den Kellerwänden war der Heizöltank knochentrocken. Auch wenn sie es bereits erwartet hatte, sackten Lis‘ Schultern ab, ebenso wie ihre Laune. Die ausgefallenen Heizungen konnte sie mit Leichtigkeit mit den Kachelöfen überbrücken, das war nicht das Problem. Doch kein Heizöl bedeutet auch kein warmes Wasser.
„Na klasse, Katzenwäsche mit dem Wasserkocher.“ Lis erinnerte sich an den Zustand von Miris Haaren und wollte sich gar nicht vorstellen, wie lange sie schon nicht mehr geduscht hatte und wie lange der Tank wohl schon leer sein mochte. Vor Donnerstagmorgen würde niemand erreichbar sein. Also hieß es, über die Weihnachtsfeiertage improvisieren und sich dann sofort ans Telefon setzen und versuchen vor dem neuen Jahr noch jemanden zu finden, der ihr aus der Misere helfen konnte. Immerhin fand Lis in einem kleinen, feuchten Vorratsschrank noch ein paar Glühbirnen für die Flurlampe im Erdgeschoss.
Die Küche half auch nicht, Lis‘ Stimmung zu verbessern. Im Kühlschrank standen gerade mal zwei Gläser Marmelade und ein Stück Butter zusammen mit einem einsamen Apfel auf den verschmierten Ablageböden. Wenigstens fand sie in den Schränken mehrere Packungen Nudeln, vier verschiedene Tütensoßen, Reis und auch ein Glas mit gemischten Teebeuteln. Kaffee wäre ihr lieber gewesen und das Abendessen am ersten Weihnachtstag hatte sie sich auch anders ausgemalt, aber immerhin würde es eines geben. Lis wühlte sich durch das Teesortiment und entschied sie sich für einen Beutel Winterträumerei. Was immer das sein mochte. Auch wenn Jutta sich offensichtlich immer noch um die Sauberkeit im Haushalt bemühte, traute Lis den Tassen im Schrank nicht ohne sie vorher selbst auszuspülen. Immerhin war die Mikrowelle geputzt.
Im Haus war nichts zu hören, außer dem Geräusch der Mikrowelle in der sich die Tasse mit dem Teewasser drehte und gelegentlich das Klappern von Vatos‘ Krallen. Miri schien noch zu schlafen. Lis war allein. Allein mit dem Haus, in dem sie aufgewachsen war. Allein mit dem Haus, in dem ihr Bruder eine Familie hatte gründen wollen. Allein mit dem Haus, vor dem ihr Bruder spurlos verschwunden war.
Die Tasse kam so heiß aus der Mikrowelle, dass Lis sich beinahe die Hände am Griff verbrannte, als sie sie auf die Arbeitsfläche stellte. Ein Werbegeschenk von einer ortsansässigen Baufirma. Kein Porzellanset, wie ihre Mutter es besaß. Der Teebeutel entließ gelbliche Schwaden ins Wasser und während der Tee zog, trat Lis ans Küchenfenster. Vom Erdgeschoss aus konnte sie nicht auf die Straße hinaussehen. Der Baum versperrte ihr die Sicht.
Dort draußen war es passiert. Nur wenige Meter weiter, am Nachbarshaus vorbei auf den Wiesen. Man hatte nichts gefunden, außer einer aufgeweichten Schachtel Zigaretten und das Feuerzeug. Vatos wurde zwei Tage nach Robs Verschwinden aufgegriffen, als er einer Gruppe Spaziergänger im Wald folgte und um Futter bettelte. Von Rob hingegen hatte man nie wieder etwas gesehen oder gehört. Keine Nachricht, keine Zeugenberichte, keine Leiche. Auch wenn es Lis‘ Wissen nach nie jemand laut ausgesprochen hatte, gingen doch alle davon aus, dass ihr Bruder nicht mehr am Leben war. In ein paar Tagen war es sieben Jahre her, dass ihn jemand lebend gesehen hatte. Die Leute im Dorf hatten schon nach wenigen Wochen angefangen, sich nicht mehr nach Neuigkeiten zu erkundigen, sondern Beileid auszusprechen. Den genauen Zeitpunkt, wann sie selbst die Hoffnung aufgegeben hatte, dass er zurückkommt, konnte Lis gar nicht mehr genau benennen. Irgendetwas in ihr hatte stets versucht ihr einzureden, dass er sich einfach vom Acker gemacht hatte. Dass Rob weg aus seinem Leben gewollt hatte und dass es so der einzige Weg für ihn gewesen war. Auch wenn sie von Anfang an gewusst hatte, dass es eine Lüge war, die sie sich selbst erzählte, hatte es etwas Tröstliches für Lis gehabt, sich das einzureden. Nie im Leben hätte Rob so etwas getan. Irgendwann hatte Lis sich einfach damit abgefunden, dass ihr Bruder nicht mehr da war. Nicht mehr lebendig, nicht tot, nur einfach nicht mehr da. Die einzige, die sich immer verzweifelt an den Glauben klammerte, dass er zurückkommen würde, war Miri.
Lis warf den Teebeutel in den Mülleimer und wanderte mit der Tasse in der Hand durchs Haus. Es war lange her, dass sie hier zu Gast gewesen war. Miri hatte sich ab und an bei ihr gemeldet. Ihr zu Geburtstag oder Neujahr alles Gute gewünscht, aber wirklich gesehen hatten sie sich seit die Suche nach Rob abgebrochen worden war kaum. Doch es hatte sich eigentlich nichts verändert. Sicher wirkte alles älter und irgendwie verlebter, doch Lis war sich sicher, dass das Haus auch vor sieben Jahren genau so ausgesehen hatte. Dieselben Wohnzimmermöbel, derselbe Teppich im Flur, derselbe Fotodruck von einem knallgelben VW Bus vor schwarz-weißen Palmen an der Wohnzimmerwand, derselbe Garderobenschrank bei dem an der linken Tür der Griff abgebrochen war.
Lis fasste nach dem intakten Griff an der anderen Schranktür und zog sie auf. Ein Schauer lief durch ihren Körper und beinahe hätte sie die Tür wieder zugeschlagen. Doch sie konnte den Blick nicht abwenden. Auf den Metallkleiderbügeln hing Robs dunkelgraue Winterjacke, dahinter die Trainingsjacke des örtlichen Fußballvereins in dem er gespielt hatte. Auf dem Lattenrost am Boden standen die roten Sneaker, die Lis ihm damals zum Geburtstag geschenkt hatte. Was würde sie wohl finden, würde sie den Schafzimmerschrank öffnen? Würde der Einsatzoverall der Freiwilligen Feuerwehr immer noch an der Innenseite der Tür hängen, damit er ihn im Einsatzfall sofort griffbereit hatte? Standen sein Duschgel und der Nassrasierer immer noch im Badezimmerschrank und warteten auf seine Rückkehr? Die Zeit war offenbar stehen geblieben in diesem Haus. Vielleicht hätte es ihr Hoffnung geben sollen. Dieses Gefühl, dass Miri immer noch an ein Wunder zu glauben schien.
Doch stattdessen ließ es sie erschaudern. Lis versuchte, das Gefühl mit einem Schluck Tee wegzuspülen. Doch der klebrige Geschmack von Apfel, Zimt und Marzipan half nicht. Sie ließ die Schranktür wieder zufallen. Es war Zeit, zumindest den Versuch zu starten, sich genügend zu waschen, um unter Leute gehen zu können und ihren Koffer auszupacken. Immerhin hatte sie um halb zwölf bereits eine Verabredung mit ihren Eltern im WunderBar, dafür musste sie gesellschaftsfähig sein.
Das WunderBar lag nur wenige hundert Meter entfernt die Hauptstraße entlang den Berg hoch. Den Chrysler zu nehmen, wäre einem Anschlag auf den letzten Rest von Lis‘ Laune gleichgekommen. Die Einteilung des Parkplatzes stammte noch aus einer Zeit, als ein VW Golf die übliche Autogröße dargestellt hatte und die Leute parkten immer noch so, als hätten sie die Veränderung über die Jahrzehnte nicht gemerkt. Da Lis keine Lust darauf hatte, das schwarze Monster mit einem Dutzend Rangierversuchen in eine der einzigen Lücken zu quetschen, nur damit ihr dann jemand anderes an den Wagen fuhr oder ihr mit der Autotür eine Delle hineinschlug, beschloss sie, den Weg zu Fuß anzutreten.
In der Morgenluft konnte Lis sehen, wie ihre Atemwolke immer größer wurde mit jedem Schritt, den sie den Berg hoch tat. Vatos hatte sie bei Miri gelassen. Auch wenn sie es doch noch geschafft hatte, sich aus dem Bett zu quälen, hätte Lis es nie geschafft, die junge Frau ohne ein ausgiebiges Schaumbad auch nur im Ansatz für einen Ausflug in die Gesellschaft vorzeigbar zu bekommen. Zudem hatte Lis‘ Mutter Vatos noch nie leiden können, was zu Lis‘ Verwunderung durchaus auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. Während Lis spüren konnte, wie ihre Nasenspitze begann in der Kälte rot zu werden und ihre Lippen austrockneten, hielten der dicke, strahlend blaue Daunenmantel und die gut gefütterten Winterstiefeletten den Rest ihres Körpers angenehm warm.
Das Dorf um sie herum schien immer noch ausgestorben zu sein. An vielen der Häuser waren trotz der bevorstehenden Mittagsstunde die Jalousien noch geschlossen. In den Einfahrten standen keine Autos und außer ihr war niemand auf der Straße. Im trüben Tageslicht wirkte die festliche Beleuchtung des Gasthauses nicht mehr so eindrucksvoll, wie in der Nacht zuvor. Als würde der Hochnebel auch das Licht der unzähligen kleinen Lampen dämpfen und sie weniger klar strahlen lassen. Der Parkplatz war wie erwartet brechend voll. Einige der Autos standen schon am Straßenrand geparkt. Auch auf dem Parkplatz herrschte mehr Chaos als gesittetes Parken. Manche Dinge änderten sich eben einfach nicht, egal wie viele Jahre auch vergehen mochten.
Auf der leer geräumten Terrasse vor dem Eingang tummelten sich ein paar Leute rund um einen Tisch auf dem ein Aschenbecher stand und zogen gierig an ihren Zigaretten. Keine bekannten Gesichter dabei oder zumindest keines, das Lis durch den Schlitz zwischen Mütze und Schal erkennen konnte. Ein kurzes Nicken zum Gruß und sie schob sich durch die Rauchwand in den Vorraum des WunderBar. Von der Decke baumelte ein Mistelzweig, der sich leicht im Luftzug wiegte. Doch für solche Kleinigkeiten hatte Lis in diesem Moment keinen Kopf. Der Gastraum war bis auf den letzten Platz besetzt. Unzählige Stimmen vermischten sich mit dem Kratzen von Besteck, dem Knarren von Stühlen und dem Schlurfen von Füßen zu einer Wand aus Lärm. Noch bevor einer der Kellner auf sie aufmerksam wurde, entdeckte Lis, wonach sie Ausschau gehalten hatte. Auf der anderen Seite, an den Fenstern mit Blick in den Biergarten saßen ihre Eltern. An einem Zweier-Tisch mit einer roten Amaryllis in einer goldenen Vase mit Weihnachtsmotiv studierten sie gerade die Speisekarten. So viel zur Einladung zum Essen vorbei zu kommen. Nie hatte Lis geplant, die Einladung anzunehmen. Umso mehr überrumpelte es sie, wie zornig es sie machte, dass an dem Tisch kein Platz für sie vorgesehen war. Alles was sie noch an Beherrschung hätte aufbringen können, alle Diplomatie verpuffte, als sie sich den Weg durch das Restaurant bahnte.
Heiner Westner wurde zuerst auf seine Tochter aufmerksam. Er ließ seine Karte sinken und seine Unterlippe klappte einen Moment lang vor Erstaunen auf, bevor sich ein Strahlen über sein Gesicht ausweitete. Doch er blieb sitzen. Sagte nichts, legte nur die Hände auf die Karte auf dem Tisch. Es dauerte, bis auch Mariann Westner den Blick von der Speisekarte hob. Sie sah ihren Mann an und als sie realisierte, dass er ihr keine Aufmerksamkeit zu teil werden ließ, verwandelte sich ihr Gesicht für wenige Sekunden in diese garstige kleine Grimasse, die Lis nur zu gut kannte. Die Augen verengten sich zu Schlitzen, durch die ihr Blick hindurchblitzte, die Nasenspitze hob sich und die Lippen schoben sich in einer Spitze zusammen. Ein gemeiner kleiner Schnabel statt einem Mund, mit dem ihre Mutter es verstand, auf jemanden einzuhacken. Als sie dem Blick ihres Mannes durch den Raum folgte, veränderte sich der Ausdruck. Bei anderen Menschen konnte man bei diesem Vorgang sehen, wie die Muskeln unter der Haut arbeiteten, wie sich die Gesichtszüge nach und nach bewegten. Bei ihrer Mutter wirkte es immer, als würde man von einem Bild zum Nächsten blättern. Als würde sie eine Maske wechseln. Verschwunden die Fratze, ersetzt durch ein Lächeln, das ihre Zähne freilegte. Mit ausgebreiteten Armen erhob sie sich von ihrem Platz und tat einen Schritt auf Lis zu.
„Elisabeth, Liebes. Wie schön, dass du es geschafft hast.“
An den umliegenden Tischen ebbten die Gespräche ab. Man versuchte zu lauschen.
Keinen Meter vor ihrer Mutter hielt Lis an. Die Hände in den Taschen ihrer Jacke vergraben blickte sie auf die Frau in dem weinroten Kostüm hinab. Die weit ausgebreiteten Arme ignorierte sie.
„Spar dir das Theater. Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht? Verflucht nochmal Mutter, es ist Weihnachten.“
Die Stille griff auf weitere Tische über. Es drehten sich Köpfe in ihre Richtung, andere waren diskreter und hielten nur in der Unterhaltung und dem Essen inne, um besser lauschen zu können.
Mariann gab sich alle Mühe, unbeeindruckt zu wirken, doch das Lächeln sackte ebenso ab, wie ihre Arme. Auch die Schichten des sorgsam aufgetragenen Make-Ups in ihrem Gesicht konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter ihnen, die Farbe aus der Haut wich.
„Dir auch fröhliche Weihnachten, Liebes. Wieso setzt du dich nicht…“
„Mutter, ich will eine Antwort und zwar jetzt. Was hast du dir dabei gedacht, das Mädchen an Heilig Abend aus dem Haus zu werfen?“
In der Stille hob Gemurmel an. Die Augen ihrer Mutter zuckten durch den Raum, ohne dass sich dabei ihr Kopf bewegte. Alle starrten sie an, alle lauerten darauf, was sie nun tun würde. Ihre Lippen begannen zu beben und die Worte, die aus ihrem Mund kamen, zitterten mit.
„Elisabeth, sie ist kein Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau. Ich habe sie nicht aus dem Haus geworfen. Ich habe nur gesagt, dass es Zeit für sie ist, auszuziehen.“
Der Lärmpegel um sie herum hob an. Stühle wurden verrückt und Hälse gereckt, um die Szenerie besser beobachten zu können. Lis starrte weiter auf ihre Mutter hinab.
„Und das musste an Heilig Abend sein? Ein wundervolles Weihnachtsgeschenk. Was für ein Mensch bist du eigentlich.“
Die Hände ballten sich zu Fäusten an Marianns Seite, bis auf den Handrücken die Adern hervortraten und die Knöchel weiß wurden. Die Maske mit dem Lächeln rutschte von ihrem Gesicht und da war sie wieder, die Grimasse, die Lis nur zu gut kannte.
„Wieso nimmst du dieses kleine Flittchen ständig in Schutz. Dieses nichtsnutzige Weibsbild soll endlich aus meinem Haus verschwinden!“
Nun war es an Lis, zu lächeln. Auch wenn sich nur ihre Lippen bewegten. Ihr Blick blieb auf ihre Mutter fixiert. Das Restaurant um sie war wieder verstummt. Die Leute hielten die Luft an nach Marianns Ausbruch. Die Schritte, die durch die Stille knarrten, nahm Lis kaum wahr. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern und egal, wie sehr die Leute um sie herum auch die Hälse recken mochten, kaum jemand, vermochte es noch zu hören.
„Du hast eine Kleinigkeit vergessen, Mutter. Es ist nicht dein Haus.“
Mariann taumelte einen Schritt zurück, als hätte Lis sie gestoßen. Ihr Mund stand offen und ihre Lippen pumpten vor Schock. Lis genoss diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Doch bevor eine der Beiden noch etwas erwidern konnte, spürte Lis eine Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich nicht um. Die Worte, die folgten, konnte Lis nicht nur hören, sie fühlte sie an ihrem Ohr.
„Lass es bitte gut sein, Lis.“
Ohne zu zögern, ließ Lis von ihr ab. Sie senkte ihren Blick zu ihrem Vater und dieses Mal weitete sich ihr Lächeln auch auf ihre Augen aus.
„Sorry Paps. Ich wünsch dir frohe Weihnachten. Vielleicht sehen wir uns die Tage ja noch. Ohne sie.“
Dann wandte sie sich ab. Die Hand fiel von ihrer Schulter. Lis steuerte den Ausgang an, während ihr alle Augen im Raum folgten und auch die Schritte ließen sich nicht abschütteln. Sie schob sich vorbei an all den anderen Tischen, Gästen und den Bedienungen, durch den Vorraum und vorbei an den Rauchern auf der Terrasse, die sich immer noch um das Tischchen mit dem Aschenbecher scharten und von dem Tumult nichts mitbekommen hatten. Erst unterhalb der Stufe auf dem Parkplatz hielt sie inne. Es war der Moment, in dem ihr bewusst wurde, dass wer immer hinter ihr gestanden hatte, wer immer ihr durch das Restaurant gefolgt war, sie mit ihrem Namen angesprochen hatte. Sie wandte sich stockend um, unsicher ob derjenige ihr bis auf den Parkplatz gefolgt war und blickte in ein nur zu vertrautes Gesicht. Der hochgewachsene Mann stand weniger als einen Meter hinter ihr. Die blonden Haare kurz geschnitten, um die grünen Augen hatten sich die ersten Falten gebildet. Und mit einem Mal war Lis ihr Auftritt furchtbar peinlich. Sie richtete den Blick auf den Teerboden, biss sich auf die Unterlippe und betete, dass das Brennen, das gerade in ihren Wangen hochstieg, auch als Reaktion auf die Dezemberluft gedeutet werden konnte.
„Oh, hey Ben. Fröhliche Weihnachten und… so.“
Ben Thieslers Lachen hallte über den Parkplatz. Er vergrub seine Hände in den Taschen seiner Anzughose. Die Arme hielt er am Körper, die Schultern hochgezogen, um zu verhindern, dass sich die Winterluft zu schnell durch das weiße Hemd in seine Haut fraß.
„Das nenn ich Mal nen Auftritt, Lis. Die Leute werden davon bis Ostern reden, wie sich die Tochter der Frau Apothekerin benommen hat.“
Lis zuckte innerlich zusammen. Wie sie es immer verabscheut hatte, wenn ihre Mutter sich mit Frau Apothekerin hatte ansprechen lassen. Ihr Vater war Apotheker, ihre Mutter war nur seine Ehefrau. Einmal hatte sie mit dieser Aussage auch die Dame in der Metzgerei verbessert. Ihre Mutter hatte ihr dafür zwei Wochen Hausarrest verpasst. Ben wusste das. Er kannte all die Geschichten. Er wollte sie nur aufziehen. Also lachte Lis und schüttelte den Kopf.
„Hat deine Mutter das wirklich gebracht? Hat sie Miri gestern gesagt, sie soll aus dem Haus verschwinden?“
Ein Nicken.
Ben sog die Luft durch die Zähne ein. Für Lis reichte das als Wertung der Situation. Einen Augenblick standen beide unschlüssig in der Kälte. Auf die Frage, wie lange sie vor hatte zu bleiben, konnte Lis nur mit den Schultern zucken. Sie würde bleiben, bis die Angelegenheit geklärt war, wie lange immer das dauern mochte.
„Hör mal, wenn das Haus wirklich so verwahrlost ist, wie deine Mutter erzählt, kannst du gerne... ich meine, es sind noch Zimmer frei und ich schulde dir immer noch einige Nächte Obdach.“
Lis konnte sich lebhaft ausmalen, wie ihre Mutter Miri überall als Messie darstellte und in den schillerndsten Farben ausmalte, wie sie das Haus, das man ihr gütiger Weise überlassen hatte, in eine Müllhalde verwandelte. Dabei würde ihre Mutter das nie zulassen. Lis war sich absolut sicher, dass sie ihre Putzhilfe regelmäßig schickte, um das Haus in Schuss zu halten und zu kontrollieren, was Miri machte. Hätte es Grund zur Annahme gegeben, dass Miri das Gebäude oder irgendetwas darin mutwillig beschädigen würde, hätte ihre Mutter viel früher eingegriffen.
„Meine Mutter erzählt Schauermärchen in denen sie die Retterin in der Not ist. Es ist eigenartig im Haus, ja. Miri hat alles aufgehoben. Selbst Robs Schuhe stehen noch im Schrank und ja, sie hat vergessen Heizöl zu bestellen. Das einzige was sie zu Essen im Haus zu haben scheint sind Tütensoßen und Nudeln, aber…“ Lis brach mitten im Satz ab. Ihr war ein Gedanke gekommen, der im ersten Moment etwas eigenartig erschien, doch in Anbetracht ihrer Lage und der Tatsache, dass Ben ihr seine Hilfe angeboten hatte, eigentlich nicht so abwegig war.
„Könnte ich später zum Duschen vorbeikommen? Ich meine natürlich in einem der Gästezimmer. Vor Übermorgen gibt es kein Heizöl und ohne… natürlich nur wenn es keine Probleme mit deiner Frau deswegen gibt.“
Als Lis es aussprach, klang es mit einem Mal doch wieder seltsamer, als gedacht. Zumal sie zu Beginn des Gedankens keine Sekunde an Bens Frau verschwendet hatte. Wie lange waren die beiden jetzt schon verheiratet? Es war noch vor Robs Verschwinden gewesen, das wusste Lis noch, an mehr konnte sie sich nicht erinnern. Sie und Bens Frau Renate hatten sich nie nennenswert leiden können. Auch wenn die Abneigung auf beiden Seite unterschiedliche Gründe hatte.
Doch zu Lis‘ Verwunderung zuckte Ben nur mit den Schultern. „Meine Frau ist mit ihren Kindern zu ihren Eltern gefahren.“
„Für die Feiertage?“
„Für immer.“
Lis presste ihre Lippen zusammen. Für einen Augenblick überlegte sie, Ben ihr Beileid auszusprechen. Doch irgendwie hatte sie den Eindruck, dass er nicht besonders betroffen zu sein schien, von dieser Entwicklung und außerdem hätte er ohnehin gewusst, dass sie es nur der Höflichkeit halber sagte. Bevor Lis in irgendeiner Form reagieren konnte, ergriff Ben die Initiative: „Wieso machen wir es nicht komplett anders. Tütensoße klingt jetzt nicht nach einem passenden Essen für die Festtage. Kommt doch heute Abend einfach vorbei. So gegen sechs. Ihr könnt duschen oder ein Bad nehmen und danach Essen wir zusammen. Ich reservier uns das Nebenzimmer. Du, Miri, ich, der Hund falls du den noch hast. Was hältst du davon?“
Mehr als ein Nicken brachte Lis nicht zustande. Und auch Ben beließ es bei einer stummen kleinen Geste bevor er sich umdrehte und wieder in Richtung Eingang verschwand. Die Raucher an ihrem Tischchen warfen verstohlene Blicke zwischen Lis und Ben hin und her und tuschelten über ihren Zigaretten. Lis beachtete sie nicht weiter. Sie sah Ben nach, bis er hinter der Holztür verschwunden war, dann machte sie sich auf den Heimweg.
Und als sie zurück am Haus in der Einfahrt stand, betrachtete sie lange den alten Nussbaum, von dessen Ästen aus man so einfach auf das Dach der Doppelgarage klettern konnte, dessen First genau unter dem Fenster ihres ehemaligen Zimmers endete. Es war so lange her, doch manche Nächte vergaß man wohl nie in seinem Leben.
Miri saß im Schrank. Minuten nachdem Lis das Haus verlassen hatte, hatte sie sich in ihren Rückzugsort geflüchtet. In schweren Stunden hatte sie das immer getan. Die Nähe zu Robs Sachen spendete ihr Trost. Und heute brauchte sie den mehr denn je. Nicht nur, dass man sie aus ihrem Zuhause vertreiben wollte, nein, Lis hatte auch noch das Vieh im Haus gelassen.
Miri hatte den Hund noch nie leiden können. Sie hatte immer gehofft, Rob würde seiner eines Tages überdrüssig werden und ihn weggeben. Doch er hatte an dem dummen Vieh gehangen. So hatte sich Miri mit dem Hund irgendwie arrangiert. Und dann war die Nacht gekommen. Rob war für immer verschwunden, aber den Köter hatte man gefunden. Dafür hatte Miri ihn umso mehr gehasst. Sie hatte ihn eine Woche in der Garage weggesperrt. Ihr war es egal gewesen, ob er überlebte. Sie hatte das Vieh nicht mehr sehen wollen. Als Lis ihn damals zu sich genommen hatte, hatte Miri aufgeatmet und gehofft, ihn nie wieder sehen zu müssen und nun lief er wieder durch ihr Haus. Miri presste beide Hände auf ihre Ohren und vergrub ihr Gesicht im Saum eines Wintermantels, um nicht hören zu müssen, wie seine Krallen unten über das Parkett klapperten.
Miri würde sich nicht von der Stelle bewegen, so lange sie mit dem Vieh allein im Haus war. Nicht genug, dass Robs Mutter sie auf die Straße setzen wollte. Ohne den Hund hätte Rob in jener Nacht das Haus nicht verlassen. Ohne den Hund wäre das, was dort draußen passiert war, niemals passiert. Der Köter hatte ihr alles genommen, was ihr etwas bedeutet hatte. Er hatte ihr Leben zerstört und dennoch musste sie es dulden, dass er sich in ihrem Haus aufhielt.
Ihre Ohren begannen zu schmerzen. Sie wiegte sich hin und her, bis sie mit dem Hinterkopf gegen die Rückwand des Schranks schlug. Wimmernd kippte sie zur Seite.
Etwas bewegte sich auf der anderen Seite der Wand. Dort wo hinter dem Schrank das Gästezimmer angrenzte. Jemand war im Haus.