Raureif - Uschi Kurz - E-Book

Raureif E-Book

Uschi Kurz

4,9

Beschreibung

Die bekannte Stuttgarter Künstlerin Mira Bellon, eine gute Freundin der Rechtsmedizinerin und forensischen Psychologin Kathrin Zimmermann, wird erwürgt aufgefunden. Kathrin hat sofort Elmar Witte im Verdacht, einen jungen Mann, mit dem die deutlich ältere Mira ein kurzes, leidenschaftliches Verhältnis unterhielt. Nachdem sie die Affäre beendet hatte, stellte Witte der Künstlerin monatelang nach. Doch der Stalker hat für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi. Kathrins Lebensgefährte, der Stuttgarter Hauptkommissar Konstantin Marks, und sein Kollege Cornelius Schröder tappen im Dunkeln. Doch Kathrin lässt nicht locker. Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf ein dunkles Geheimnis in der Vergangenheit ihrer toten Freundin. Dann geschehen weitere Verbrechen, diesmal im Umfeld einer Selbsthilfegruppe für Stalkingopfer. Als Kathrin herausfindet, dass auch Mira für eine kurze Zeit diese Selbsthilfegruppe besucht hat, gerät sie in tödliche Gefahr …

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Uschi KurzRaureif

Uschi Kurz

Raureif

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Uschi Kurz, Jahrgang 1956, ist in Ludwigsburg aufgewachsen und nach dem Studium der Germanistik und Philosophie sowie einem Zeitungsvolontariat zwischen Tübingen und Reutlingen gestrandet. Als freie Journalistin und später als Redakteurin beim »Schwäbischen Tagblatt« hat sie häufig Strafprozesse beobachtet und viel über menschliche Abgründe erfahren. Die »kriminelle Energie«, die dabei in ihr geweckt wurde, setzt sie schreibend um.

www.uschi-kurz.de

Für meinen Vater,der dieses Buch noch gerne gelesen hätte

1. Auflage 2016

© 2016 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © lassedesignen – Fotolia.com

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1746-2E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1747-9Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1482-9

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Weitere Bücher und E-Books aus dem Silberburg-Verlag

Sie starrt ihn mit angsterfüllten Augen an. Augen, in denen er sich selbst spiegelt. Je mehr er zudrückt, desto größer werden diese Augen und die Angst in ihnen. Und er drückt, drückt immer fester. Endlich ist der Punkt erreicht, an dem sie erkennt, dass er nicht wieder loslassen wird, dass er nie wieder loslassen wird. Dieser Moment, als sie sieht, dass ihr Schicksal besiegelt ist, das Gefühl, das er genau in dem Augenblick empfindet – es übertrifft alles, was er jemals an Euphorie empfunden hat. Es ist ganz einfach unbeschreiblich.

Schweißgebadet schreckt er hoch. Schon wieder dieser Traum. Seit Wochen immer derselbe Traum. Er keucht vor Anstrengung, sein Herz rast, als wollte es seinen Brustkorb sprengen, und er zittert am ganzen Leib. Durch die Ritzen der Jalousie dringt fahles Licht. Es ist fast Vollmond. Er zwingt sich aufzustehen, tappt mit nackten Füßen in die Küche und trinkt in großen Schlucken ein Glas Wasser.

Als er sich endlich wieder etwas beruhigt hat und zurück ins Bett geht, fasst er einen Entschluss. Es ist an der Zeit, dass etwas geschieht.

Ungläubig schaute Mike sein Gegenüber an. »Was soll ich machen?«, formulierte er angestrengt mit starkem Zungenschlag. Scheißalkohol. Er hatte eindeutig zu viel intus. Morgen würde er mit einem fürchterlichen Kater aufwachen und nichts mehr von diesem sonderbaren Gespräch wissen. Hoffentlich. Oder es für einen Traum halten, einen bösen Albtraum. Er fixierte seinen Gesprächspartner, der noch einen absolut kontrollierten Eindruck machte. Obwohl er deutlich mehr getrunken hatte als Mike.

»Du sollst sie doch nicht selbst umbringen. Das mache ich für dich.« Die Augen des Mannes glitzerten gefährlich. »Und du«, setzte er nach einer kurzen effektvollen Pause hinzu und stieß ihm mit dem Zeigefinger gegen die Brust, »und du übernimmst dann später die Drecksarbeit für mich.«

Das konnte doch nicht wahr sein. Der schien es tatsächlich ernst zu meinen.

Andererseits – was wusste er schon von dem Mann, den er erst vor wenigen Tagen kennengelernt hatte? Aber sie hatten sich gleich so gut verstanden, dass er ihm viel von sich erzählt hatte. Jetzt merkte er, dass das ein fataler Fehler gewesen war.

»Sie haben uns als Baby verlassen. Verdammt, sie haben es wirklich verdient«, stieß der Mann hervor, der nun erstmals leicht erregt klang.

»Ich kenne meine leibliche Mutter doch gar nicht. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich sie eigentlich nie vermisst«, stotterte Mike, dem die Situation immer unangenehmer wurde.

»Das habe ich auch geglaubt, bis ich an nichts anderes mehr denken konnte als an ihren Verrat«, entgegnete der Fremde leise. Er senkte seine Stimme noch mehr. »Ich finde die Schlampe für dich und erledige alles. Du hast absolut nichts damit zu tun.«

Dann stand er auf und schob seinen Stuhl so abrupt zurück, dass der fast umfiel. »Ich hole uns Nachschub, bevor die nichts mehr rausrücken.« Ohne zu schwanken ging er Richtung Theke. Mike schaute ihm fassungslos nach.

Dass er seine leibliche Mutter nie vermisst hatte, stimmte nicht ganz. Oh ja, er hatte sie vermisst. Und wie er sie vermisst hatte. Das war im Alter von neun Jahren gewesen, als Anne, seine Adoptivmutter, ganz plötzlich und völlig unerwartet nach einer harmlosen Blinddarmoperation gestorben war. Damals wusste er noch gar nicht, dass er adoptiert war. Bei der Beerdigung hatte seine feine Cousine – das heißt, eigentlich war sie ja gar nicht seine Cousine, aber das hatte er damals noch nicht geahnt – jedenfalls hatte sie nichts Besseres gewusst, als ihm die Wahrheit schonungslos an den Kopf zu werfen. »Du brauchst gar nicht so zu heulen, sie war ja gar nicht deine richtige Mutter.«

Seinem Vater, seinem Adoptivvater, war es danach nie wieder gelungen, diese Wunde zu heilen. »Wir wollten es dir zu deinem 10. Geburtstag sagen. Wir wollten mit dir eine kleine Reise unternehmen und es dir an deinem 10. Geburtstag sagen«, hatte Arno ein ums andere Mal beteuert. Aber für Mike war das kein Trost gewesen. An seinem 10. Geburtstag wäre er am liebsten gestorben. Er hatte ohnehin ein viel besseres Verhältnis zu Anne gehabt als zu seinem viel älteren Adoptivvater. Sofort nach dem Abitur war er ins Ausland gegangen und seither nie wieder zu Hause gewesen. Er war sich nicht einmal sicher, ob Arno überhaupt noch lebte.

Eine Zeitlang hatte es ihn damals intensiv beschäftigt, wer seine leibliche Mutter war. Wie sie wohl war und warum sie ihn sofort nach der Geburt zur Adoption frei gegeben hatte. Denn das war das einzige, was er mit Sicherheit wusste. Sie hatte ihn sofort loswerden wollen, und so war er als wenige Tage alter Säugling bei Anne und Arno gelandet. Doch das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint. Bis seine Mutter Anne so plötzlich starb.

Einen Hass auf seine leibliche Mutter hatte er deswegen aber nicht entwickelt. Zumindest hatte er das bisher immer geglaubt. Mittlerweile war er sich nicht mehr so sicher. Das Gespräch mit diesem seltsamen Typen hatte ihn total aufgewühlt. Er kannte sich selbst nicht mehr.

Er hatte sich immer als Grenzgänger gefühlt. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Grenzgänger, dachte er, haben oft die größten Kunstwerke hervorgebracht. Und die größten Verbrechen, echote sein vom Alkohol vernebeltes Hirn. Schaudernd beobachtete er, wie der unheimliche Fremde mit zwei weiteren Bieren zurückkehrte. Er setzte sich wieder an den Tisch und hob auffordernd sein Glas. Zitternd griff auch Mike nach seinem Bier und stieß mit ihm an.

Sie starrt ihn mit angsterfüllten Augen an. Augen, in denen er sich selbst spiegelt. Je mehr er zudrückt, desto größer werden diese Augen und die Angst in ihnen. Und er drückt, drückt immer fester. Endlich ist der Punkt erreicht, an dem sie erkennt, dass er nicht wieder loslassen wird, dass er nie wieder loslassen wird. Dieser Moment, als sie sieht, dass ihr Schicksal besiegelt ist, das Gefühl, das er genau in dem Augenblick empfindet – es übertrifft alles, was er jemals an Euphorie empfunden hat. Es ist ganz einfach unbeschreiblich.

Leider auch viel zu kurz. Kaum hat sie ihr Ende ins Auge gefasst, signalisiert ein leichtes Knacken zwischen seinen Händen, dass es vorbei ist. Ihr Blick, der gerade noch flehentlich auf ihn gerichtet war, verliert sich. Alles würde er dafür geben, diesen Blick festzuhalten. Ungläubig beginnt er, sie zu schütteln. Erst leicht, dann immer heftiger. Doch ihr Kopf und ihre Glieder wackeln nur noch willenlos hin und her. Wie die Schlamperpuppe, die er als Kind einmal hatte.

Sie ist tot. Er muss es akzeptieren: Sie ist tatsächlich tot. Aber seine Wut, sein Hass, seine Rachegelüste sind immer noch da, sie haben an Intensität eher noch zugenommen. Seine Enttäuschung ist so groß, dass er beinahe die Kontrolle verliert. Er muss jetzt seine ganze Kraft zusammennehmen. Vorsichtig lässt er ihren Körper zu Boden gleiten. Mechanisch führt er einen einstudierten Handgriff nach dem anderen aus.

Während er wie in Trance seinen Plan zu Ende bringt, hält ihn nur ein Gedanke aufrecht: Er wird dafür sorgen, dass er dieses unbeschreibliche Gefühl schon bald wieder erlebt.

1

Montag

Als Katharina Zimmermann an dem tristen Novembernachmittag in Echterdingen aus dem Flugzeug stieg, war ihr kalt – und sie musste unwillkürlich an jenen Sommertag denken, an dem Marks sie zum ersten Mal von einem Flughafen abgeholt hatte. Damals hatte der Serienmörder, der später als »Totenschöpfer« in die Klatschpresse eingehen sollte, zu ihrer Zusammenarbeit in einer Sonderkommission geführt. Eigentlich müsste sie dem durchgeknallten Modeschöpfer, der seine ebenso genialen wie rigiden Modevorstellungen an einer Kollektion toter Mädchen umgesetzt hatte, dankbar sein. Immerhin hatte er sie und Marks zusammengebracht. Eineinhalb Jahre war das nun schon her, doch manchmal kam es ihr vor, als wäre es gestern gewesen.

Kathrin schüttelte den Kopf. Sie war abgeschweift. Offensichtlich wollte sich ihr Unterbewusstsein nicht mit der traurigen Realität auseinandersetzen. Doch es half alles nichts. Entschlossen betrat sie das Flughafen-Gebäude und begab sich zur Gepäck-Ausgabe.

Wieder war es eine tote Frau, die sie zur unfreiwilligen Rückkehr aus dem Ausland zwang. Damals hatte sie nur widerwillig einen Urlaub auf Sardinien abgebrochen, dieses Mal war es eine Tagung in den USA, bei der die Rechtsmedizinerin, die zudem Psychologie mit Schwerpunkt Forensik studiert hatte, einige der profiliertesten Profiler kennengelernt hatte. Dennoch war es für sie keine Frage gewesen, vorzeitig abzureisen, als Konstantin sie anrief. Denn es handelte sich nicht um irgendeine Tote. Es war Mira. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Ihre Freundin Mira Bellon war tot.

Kathrin trat aus der Glastür, die die Gepäckausgabe von dem Gästebereich trennte, und sah sich suchend um. Konstantin Marks stand an einen Pfeiler gelehnt und musterte aufmerksam die Schlange der ankommenden Passagiere. Er wirkte schmaler, als sie ihn in Erinnerung hatte, und auffallend blass. Sein lockiges, dunkelbraunes Haar, durchzogen von einigen wenigen dünnen silbrigen Strähnchen, war zerzaust und hatte heute mit Sicherheit noch keinen Kamm gesehen. Er sah aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Als er Kathrin erblickte, ging ein Strahlen über sein müdes Gesicht, und er trat rasch auf sie zu.

»Habt ihr ihn schon verhaftet?«

»Ja, ich freue mich auch, dass wir uns wiedersehen.«

»Es tut mir leid«, stammelte Kathrin bestürzt, als sie Konstantins Enttäuschung wahrnahm. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss und konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen. »Bitte sei mir nicht böse, aber ich bin so durcheinander«, schluchzte sie.

»Schon gut«, erwiderte Konstantin, der sie nun in die Arme nahm und ihr zärtlich über den Rücken streichelte. Wie einem Kind, das Trost braucht, dachte Kathrin, die ansonsten für romantische Klischees wenig anfällig war. Doch in diesem Moment war sie glücklich über diese Geste. Und froh darüber, dass er offensichtlich wegen ihrer lieblosen Begrüßung nicht sauer war. Dankbar schmiegte sie sich an ihn.

»Ich weiß doch, wie eng du mit Mira befreundet …« Konstantin zögerte, als wollte er die Worte nicht aussprechen, die dem Schrecken Endgültigkeit verliehen. Dann tat er es doch. »… wie eng du mit ihr befreundet warst.«

Er fasste sie an den Schultern und schaute Kathrin mit seinen unglaublich dunklen Augen fest an.

»Aber was deine Frage betrifft: Nein, wir haben ihn nicht verhaftet. Witte hat nämlich ein absolut wasserdichtes Alibi.«

»Das gibt’s doch nicht«, brauste Kathrin auf. »Er hat Mira monatelang verfolgt und ihr das Leben zur Hölle gemacht. Er muss einfach der Täter sein.«

Sie verstummte. Schließlich wusste sie aus Erfahrung, wie gründlich Konstantin und seine Kollegen ermittelten. Und da es sich um ihre Freundin handelte, hatten sie Wittes Alibi mit Sicherheit besonders sorgfältig unter die Lupe genommen.

»Und wenn der Todeszeitpunkt nicht stimmt?«

Konstantin starrte sie verblüfft an. Kathrin schreckte nicht einmal davor zurück, die Kompetenz ihrer eigenen Kollegen in Zweifel zu ziehen. So fest war sie davon überzeugt, dass Witte ihre Freundin umgebracht hatte.

»Wer hat sie denn obduziert?«

»Wächter«, sagte Marks trocken und machte mit dem einen Wort auch diese Hoffnung zunichte.

Mit 62 Jahren war Wächter der älteste Kollege in Kathrins Team und der Einzige, auf dessen Urteilsvermögen sie wirklich blind vertraute. Von ihm hatte sie in den letzten Jahren mehr gelernt als während des ganzen Studiums, und sie hoffte, noch möglichst lange von seinem Wissen profitieren zu können.

Die Fahrt vom Echterdinger Flughafen in die Stuttgarter Innenstadt war zäh und kam auf der Weinsteige immer wieder gänzlich zum Erliegen. Was nicht nur am Berufsverkehr lag.

»Montagsdemo«, sagte Konstantin und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Und seit dem schwarzen Donnerstag werden es jede Woche mehr.«

»Entschuldige«, sagte er, als er sah, dass Kathrin unvermittelt wieder in Tränen ausbrach. »Ich habe ganz vergessen, wie aktiv sie war.«

Mira Bellon hatte in den vergangenen Wochen keine der Montagsdemonstrationen versäumt. Sie war neben einigen anderen Promis aus der Kulturszene das Gesicht des Widerstands gegen Stuttgart 21. War es gewesen, denn jetzt war sie tot.

Wieder musste Marks anhalten. Plötzlich machte er etwas, was er noch nie getan hatte – zumindest nicht, wenn Katharina neben ihm saß: Er setzte das Blaulicht aufs Dach und schaltete das Signalhorn ein. Dann zog er nach rechts und fuhr halb auf dem Gehweg weiter. Wütende Reaktionen der anderen Fahrer, die mit ihnen im Stau standen, blieben nicht aus. Gesten, mit denen man ihnen den Vogel zeigte, waren noch längst nicht die unflätigsten.

Trotz Blaulicht brauchten sie eine Dreiviertelstunde, bis sie endlich auf dem Pragsattel im Robert-Bosch-Krankenhaus ankamen. Es war jetzt fast 18 Uhr.

Die Universität Tübingen hatte erst vor kurzem den Forschungs- und Lehrbereich ihres rechtsmedizinischen Instituts, an dem Professor Katharina Zimmermann ihren Lehrstuhl hatte, nach Stuttgart an das Robert-Bosch-Krankenhaus verlegt. Seither musste Kathrin seltener als zuvor nach Tübingen fahren, was ihr sehr entgegenkam, weil sie in Stuttgart wohnte.

Sie empfand es als eine nette Geste des Schicksals, dass sie nun beide in einem Gebäude arbeiteten, das mit Robert Bosch untrennbar verbunden war. Denn das Polizeipräsidium, in dem Marks seinen Arbeitsplatz hatte, war das ehemalige Robert-Bosch-Krankenhaus. Es lag nur wenige Minuten von dem Krankenhaus-Neubau aus den 70er Jahren entfernt, den sie nun ansteuerten.

Seit das Rechtsmedizinische Institut der Stadt Stuttgart in den 90er Jahren geschlossen worden war, führten Rechtsmediziner der Uni Tübingen am Robert-Bosch-Krankenhaus Obduktionen durch. Auch für toxikologische Untersuchungen und Tat-Rekonstruktionen war das Krankenhaus bestens gerüstet, und so war es naheliegend, dass man Mira Bellon in Stuttgart obduzierte.

Kathrin war froh darüber. Die Vorstellung, dass ihre Freundin in Tübingen auf einem ihrer »Tische« liegen würde, war unerträglich.

»Soll ich mitkommen?«, fragte Konstantin, als sie endlich in die Tiefgarage einfuhren. »Bist du sicher?«, setzte er nach, als Kathrin traurig den Kopf schüttelte.

»Ja. Ich glaube, ich brauche eine Weile.«

»Okay, dann fahre ich zurück ins Präsidium. Ruf mich einfach an, wenn ich dich abholen soll.«

Sie wollte gerade aussteigen, da beugte sich Konstantin zu ihr herüber und drückte ihr einen MP3-Player mit einem Kopfhörer in die Hand. »Dust in the wind«, sagte er leise und küsste sie zart auf die Wange.

»Dass du daran gedacht hast. Danke«, antwortete Kathrin gerührt, dann stieg sie aus.

2

Herbert Wächter war ein großgewachsener kräftiger Mann, der wenig auf sein Äußeres hielt. Wenn er nicht in seinen OP-Klamotten steckte, was selten genug vorkam, lief er am liebsten in verwaschenen schlabbrigen braunen Cordhosen herum. Ein durchaus passendes Outfit, denn die wenige Freizeit, die der alleinstehende Wächter hatte, verbrachte er ausschließlich in seinem verwilderten Garten, wo er das Aufund Verblühen der Pflanzen studierte. Vor allem das Verblühen – für ihn gab es nichts Schöneres als eine verwelkende Rose. Das, sagte er, sei seine Art, mit dem gewaltsamen Tod fertig zu werden, der ihn an seinem Arbeitsplatz umgab.

Wächter empfing sie mit hängenden Schultern in seinem Büro. Sein weißer Haarkranz stand wild von seinem Schädel ab und gab ihm etwas Verwegenes. Einstein. Obwohl Wächter eine viel massigere Figur hatte, musste Kathrin bei seinem Anblick immer an Einstein denken.

»Es tut mir so leid, Kathrin«, sagte Wächter, als er sie in den neuen Obduktionsraum führte. Er öffnete eine der Leichenboxen und zog den Rollwagen heraus, auf dem zugedeckt die sterblichen Überreste von Mira Bellon lagen. Vorsichtig schob er ihn in die Mitte des Raumes.

Wächter zögerte kurz und sah Kathrin an. Als sie nickte, zog er das weiße Tuch vorsichtig so weit herunter, dass es lediglich den Kopf der Toten freigab.

Wie oft hatte sie selbst diese Geste schon gemacht, wenn Angehörige zu ihr ins Institut kamen, um ihre Lieben zu identifizieren. Jetzt stand sie genauso hilflos da und fühlte, wie ihre Beine schwach wurden. Wächter, der sie besorgt beobachtete, schob ihr einen Hocker hin.

»Soll ich dir unsere Ergebnisse mitteilen, oder …?« Er brach ab.

»Wenn es dir nichts ausmacht, wäre ich zuerst gerne eine Weile mit ihr allein. Keine Angst, ich bin okay«, sagte Kathrin, als sie Wächters zweifelnden Blick sah. »Nur ein bisschen groggy. Der Jetlag«, schwindelte sie, ließ sich aber dankbar auf den Hocker sinken.

»Hast du mir einen Schluck Wasser?«, bat sie.

Wächter brachte ein Glas mit Wasser und reichte es ihr.

»Danke.« Kathrin nahm einen Schluck. Der dicke Kloß im Hals ließ sich nicht hinunterschlucken.

»Also gut. Dann gehe ich mal.« Wächter zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich habe noch jede Menge Schreibkram zu erledigen. Ich bin in meinem Büro. Du rufst einfach, wenn du so weit bist.«

Sie nickte und sah ihm nach, bis er den Raum verlassen hatte.

Dann erst zwang sie sich hinzuschauen. Mira, flüsterte sie unhörbar und berührte vorsichtig die Wange ihrer Freundin, die sie so oft geküsst hatte. Sie war eiskalt. Obwohl Kathrin nichts anderes erwartet hatte, war es ein Schock. Es war, als würde die Kälte auf Kathrin übergreifen, und sie begann zu frösteln.

Eigentlich sah Mira aus, als würde sie schlafen. Doch als Kathrin das Tuch, das ihren Leib bedeckte, ein wenig nach unten zog, sah sie die großen dunkelblauen Male am Hals, und der friedliche Eindruck wurde jäh zerstört. Kathrin konnte die Gewalt fast körperlich spüren. Sie wusste, wenn sie die Lider heben würde, könnte sie die Einblutungen in den Augäpfeln sehen. Ein weiteres untrügliches Zeichen dafür, dass Mira erwürgt worden war.

Je länger sie ihre Freundin betrachtete, umso fremder kam sie ihr vor.

Das schöne Antlitz mit den hohen Backenknochen wirkte irgendwie unnatürlich. Die Haut spannte und machte die Konturen schärfer. Ihre roten Haare, die unbändige Löwenmähne, auf die Mira immer so stolz gewesen war, hatte an Volumen verloren und lag dicht an der Kopfhaut an. Am Ansatz erkannte Kathrin erstaunt, dass einige Haare silbrig grau nachschoben. Ihre Freundin hatte nie erzählt, dass sie sich die Haare tönte. Aus Eitelkeit? Seltsam. Mehr noch als das makellose, nahezu faltenlose Antlitz ihrer Freundin empfand Kathrin diese ersten Altersanzeichen als unendlich schmerzlich. Symbol eines gewaltsam unterbrochenen Prozesses, eines gewaltsam beendeten Lebens. Wie gerne hätte sie Mira einmal mit grauen Haaren gesehen.

Die porzellanfarbene Haut der Toten schimmerte durchsichtig und gab ihr etwas Puppenhaftes. Nichts war von dem Energiebündel spürbar, das Mira zu Lebzeiten gewesen war.

Keine drei Wochen war es her, dass Kathrin ihre Freundin zuletzt gesehen hatte. Sie hatte ihr in ihrem Atelier ihr neuestes Werk gezeigt. Sie zeigte ihre Arbeiten immer erst, wenn sie fertig waren. Das großformatige Bild war so unheimlich kraftvoll, dass es Kathrin die Sprache verschlagen hatte. Noch nie zuvor war Miras Kunst so ausdrucksstark gewesen. Sie hatte offensichtlich gerade eine neue Schaffensperiode begonnen. Rote Schlieren zogen sich wie ein Theatervorhang über das ganze Gemälde, darunter war schemenhaft eine für Mira ungewöhnlich realistische Darstellung zu erkennen. Der blutrote Schleier, der sie bedeckte und verhüllte, erschien ihr jetzt wie eine böse Vorahnung.

Mira, die eine Professur an der Kunstakademie hatte, hatte sich in den vergangenen Jahren wieder verstärkt ihren eigenen Werken zugewandt. Ihre Bilder erzielten mittlerweile auf dem Kunstmarkt enorme Preise. In der deutschen Kunstszene war sie eine der wenigen Frauen, die gut von ihrer künstlerischen Arbeit leben konnten. Dennoch widmete sie sich weiterhin mit Leidenschaft der Ausbildung des Nachwuchses.

Die Bellon, wie sie in Kunstkreisen nur genannt wurde, sah sich selbst in der Tradition von Francis Bacon und Lucien Freud. In ihren frühen Werken war deren Einfluss noch deutlich erkennbar, doch im Lauf der Zeit hatte sie eine ganz eigenständige Bildsprache entwickelt. Auch sie arbeitete stets figürlich, wenngleich ihre Porträt- und Aktmalereien – denn es waren immer Menschen-, meist Männerbilder, die sie schuf – im Laufe der Zeit immer abstrakter überlagert wurden. Bis schließlich nur noch ein kleines Guckloch übrigblieb, durch das bruchstückhaft ein charakteristisches Merkmal des Porträtierten zu erkennen war. Das konnte ein Körperteil sein oder ein Wesenszug. Das Erstaunliche war: Ganz gleich, wie winzig und vermeintlich unbedeutend der Ausschnitt war, den sie in den Fokus rückte, die Person war immer so präzise getroffen, dass man sie auf Anhieb erkannte.

»Zur Kenntlichkeit entstellt«, hatte sie einmal in einem Interview gesagt.

Unter Politikern und Wirtschaftsbossen waren ihre Porträts deshalb gefürchtet. Doch noch mehr traf es die Mächtigen und solche, die es gerne wären, nicht von der Bellon porträtiert zu werden. Von ihr als bedeutungslos ignoriert zu werden. Mira hatte sich in ihrem Atelier einen eigenen Nockherberg geschaffen.

Doch es waren längst nicht nur Promis, die sie porträtierte. Häufiger noch ließ sie sich von einfachen Menschen inspirieren, die sie in ganz alltäglichen Situationen darstellte. Immer waren es Einzelpersonen und egal, was sie machten, Mira zeigte sie so, dass ihre Einsamkeit mit Händen greifbar war.

Die vielschichtige Arbeit, die Mira Kathrin kurz vor ihrem Tod gezeigt hatte, fiel völlig aus dem Rahmen ihres bisherigen Œuvres, nicht nur, weil erstmals eine ganze Personengruppe abgebildet war. Auf den ersten Blick war es ein Blick hinter die Kulissen einer Bühne. Tänzer, Schauspieler oder Schausteller hatten Künstler schon immer fasziniert. Man denke nur an die Arbeiten von Degas oder Picasso. Doch bei Mira war es mehr als das: Es war das Seelenporträt einer ganzen Gesellschaft.

An ihrem letzten gemeinsamen Abend hatten sie zusammen gekocht und nach dem Essen bis tief in die Nacht geredet. Am Ende hatte Mira, wie immer, wenn sie etwas zu viel getrunken hatte, ihren Melancholischen bekommen. Sogar übers Sterben hatten sie geredet. Mira hatte Kathrin gestanden, dass sie oft über ihre eigene Beerdigung nachdachte.

»Weißt du«, hatte sie irgendwann gesagt, »du wirst es vielleicht kitschig finden, und es ist auch nicht besonders originell, aber am liebsten würde ich ›Dust in the wind‹ hören. Das Original von Kansas.«

Schließlich hatte Mira Kathrin gebeten, über Nacht zu bleiben. Doch Kathrin hatte abgelehnt, weil sie am nächsten Morgen als sachverständige Gutachterin in einem Prozess aussagen musste und dafür noch Unterlagen aus ihrer Wohnung benötigte. Nun würde sie es sich ewig vorwerfen, nicht bei Mira übernachtet zu haben.

Dieses letzte Gespräch war Kathrin im ersten Schock eingefallen, als Konstantin am Telefon von Miras Tod berichtete, und sie hatte ihm von dem Musikwunsch erzählt. Er hatte es nicht vergessen.

Kathrin holte den kleinen Mp3-Player aus ihrer Tasche. Sie schaltete ihn ein und rief die Songtitel auf. Auf dem Display erschien ein einziger Titel. Sie setzte die Ohrhörer ein und klickte den Song an. Dann schloss sie die Augen und gab sich ganz der Musik hin. Die melancholische Stimme Steve Walshs drang leicht scheppernd in ihre Ohren. »All we are is dust in the wind«. Als die charakteristische Geigenmelodie erklang, konnte sie sich endlich gehen lassen. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Nach und nach trat die Tote, die vor ihr lag, in den Hintergrund, und die lebendige Mira nahm ihren Platz ein.

Kathrin hatte Mira vor zehn Jahren bei einer Vernissage kennengelernt. Es kam ihr viel länger vor, als hätten sie sich ein ganzes Leben gekannt, so vertraut waren sie. Sie hatten viel gemeinsam unternommen, Ausstellungen in ganz Europa besucht. In all der Zeit konnte sie sich an keinen einzigen richtigen Streit erinnern. Während mit ihrer Schwester Laura, die sie liebte, wie man nur eine Schwester lieben konnte, immer wieder die Fetzen flogen, war sie mit Mira meist einer Meinung.

Lediglich Miras unbändigen Drang, alles auszuprobieren, auch Rausch- und Suchtmittel in allen Varianten, konnte Kathrin nicht nachvollziehen. Mira war wie eine Kerze, die an beiden Enden brannte. Sie konnte schlecht nein sagen, und wenn ihr etwas gefiel, konnte sie nie genug bekommen. Jetzt kam es ihr vor, als sei es Mira bewusst gewesen, dass sie im Zeitraffer leben musste.

Auch Miras unstillbarer Hang nach immer jüngeren Liebhabern hatte bei Kathrin ein gewisses Unverständnis ausgelöst. Doch Mira hatte nur gelacht und behauptet, sie sei spießig.

Meist schleppte Mira ihre »Typen« auf Vernissagen ab oder sie meldeten sich auf eine ihrer Annoncen »Männliches Aktmodell gesucht«. Auf diese Weise hatte die 45-Jährige auch den zwanzig Jahre jüngeren Elmar Witte kennengelernt. Erst hatte er ihr Modell gestanden, dann war er in ihrem Bett gelandet, und schließlich war sie ihn nicht mehr losgeworden.

Kathrin war er vom ersten Moment an unsympathisch. »Er könnte dein Sohn sein, Mira«, war ihr damals herausgerutscht, und für einen Moment hatte sie gedacht, Mira sei sauer.

Doch dann hatte sie mit ihrer unvergleichlichen Art schallend losgelacht. »Vielleicht ist er das ja, der Sohn, den ich nie hatte.«

Trotz all ihrer Gemeinsamkeiten hatte Kathrin bisweilen das unbestimmte Gefühl, dass Mira etwas vor ihr verbarg. Manchmal kam es ihr vor, als wollte die Freundin ihr etwas anvertrauen und schreckte im letzten Moment zurück. Kathrin hatte sie nicht gedrängt. Sie war überzeugt, irgendwann würde ihr die Freundin erzählen, was sie bedrückte. Und jetzt war es zu spät.

3

Kathrin wusste nicht, wie oft sie die Wiederholungstaste gedrückt hatte, als sie plötzlich einen sanften Händedruck auf der Schulter spürte. Sie zuckte zusammen und öffnete die Augen. Wächter stand direkt vor ihr. Sie nahm den Kopfhörer ab und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Ich habe dich gar nicht kommen hören.«

»Entschuldige, aber du hast wohl dein Handy ausgeschaltet. Marks ist am Telefon.«

Wächter reichte ihr sein Mobiltelefon.

»Kathrin, tut mir leid, dass ich dich störe«, sagte Marks in dem Routineton, den er immer anschlug, wenn er vom Präsidium aus mit ihr telefonierte. »Die Kollegen von der Spurensicherung sind immer noch dabei, die privaten Unterlagen von Mira durchzusehen. Dabei sind sie auf einen Schließfachschlüssel gestoßen. In dem Schließfach lag ihr Testament und ein dicker Brief, der an dich adressiert ist. Natürlich müssen wir ihn ermittlungstechnisch auswerten. Aber sie war das letzte Mal im Sommer an dem Schließfach, und ich glaube kaum, dass der Brief einen Hinweis auf ihren Mörder enthält. Ich konnte durchsetzen, dass du ihn zuerst anschauen darfst. Meinst du, du schaffst das heute Abend noch?«

»Natürlich«, sagte Kathrin, »du kannst mich in einer Stunde abholen. Ich möchte nur noch mit Wächter die Obduktionsergebnisse durchsprechen.«

Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand. »Mein Gott, es ist ja schon zwanzig nach sieben. Das heißt, wenn Herbert überhaupt noch so lange Zeit hat?« Sie warf einen fragenden Blick auf Wächter, der sofort zustimmend nickte.

Sie vereinbarten, dass Konstantin gegen 20.30 Uhr kommen würde, um sie mit ihrem Gepäck, das immer noch in seinem Wagen lag, nach Hause zu fahren. Den Brief wollte sie am Abend in Ruhe lesen. Schlafen konnte sie ohnehin nicht, aufgewühlt wie sie war. Und dann war da noch der Jetlag. In New York und in ihrem Kopf war es gerade erst früher Nachmittag. Kathrin verabschiedete sich von Marks und reichte Wächter das Telefon. Der steckte es in seine Tasche und ging ins Büro.

Als er wenig später mit dem Obduktionsbericht zurückkam, hatte Kathrin bereits ebenfalls Arbeitskleidung und Handschuhe angezogen. Die Obduktion war zwar längst abgeschlossen, dennoch wollte sie vermeiden, falsche Spuren an der Toten zu hinterlassen.

»Mirabelle Bichler«, sagte Wächter, als er mit routinierten Handgriffen die Röntgenbilder in die Halterung der Lichtkästen steckte. »Ich hatte keine Ahnung, dass Mira Bellon ein Künstlername ist.«

»Doch, den hat sie schon sehr früh angenommen, wohl auch, um sich abzugrenzen«, entgegnete Kathrin. »Sie hatte kein sehr gutes Verhältnis zu ihrer Familie.«

»Wusstest du, dass sie vor langen Jahren einmal ein Kind geboren hat?«, fragte Wächter.

»Nnn…ein, bist du sicher?«, stotterte Kathrin, die wie vor den Kopf gestoßen war.

»Sie muss damals selbst fast noch ein Kind gewesen sein. Wer weiß, ob der Säugling überhaupt überlebt hat.«

»Das war es also, was sie mir immer sagen wollte«, murmelte Kathrin.

»Sollen wir weitermachen?«, hörte sie Wächter von weit weg fragen.

»Ja natürlich, entschuldige«. Mühsam gelang es Kathrin, sich zusammenzureißen.

Wächter breitete auf einer Arbeitsfläche die Fotos aus, die am Tatort aufgenommen worden waren. Dann begann er mit seiner Erläuterung. Vieles von dem, was er Kathrin erklärte, hatte sie bereits von Konstantin erfahren. Dennoch erschrak sie, als sie die Bilder sah, die beim Auffinden der Leiche gemacht worden waren.

Mira lag, nur mit einem dünnen Seidennachthemd bekleidet, auf ihrer Terrasse in einer bis zum Rand mit Rosenblüten gefüllten grünen Plastikwanne. Einige der Rosen waren zudem auf dem Boden rund um die Wanne verstreut. Raureif hatte auf Miras Haaren und den Rosenblüten zarte Gespinste gebildet, die der Szene eine morbide Schönheit verliehen. Mira war eine leidenschaftliche Gärtnerin und gartentechnisch bestens ausgerüstet. Die Wanne, in der sie lag, hatte Kathrin bei ihr noch nie gesehen. Sie hatte Räder und konnte wie ein Schubkarren zum Transport von Lasten verwendet werden. Der Täter musste sie eigens für diesen Zweck mitgebracht haben.

»Er hat sie wie Abfall weggeworfen«, murmelte Kathrin.

»Und gleichzeitig auf Rosen gebettet«, ergänzte Wächter.

»Du hast recht«, pflichtete Kathrin ihm erstaunt bei. Ihr war das ambivalente Verhalten des Täters noch gar nicht aufgefallen.

Als sich Kathrin nun abermals der Toten zuwandte, zwang sie sich, in ihr nicht mehr die Freundin zu sehen, sondern ein Opfer, das ihre professionelle Hilfe brauchte.

»Der Fundort ist nicht der Tatort«, hörte sie Wächter sagen. »Er ist ins Haus eingedrungen, sie muss bereits geschlafen haben. Er hat sie im Schlafzimmer mühelos überwältigt. Es gibt kaum Spuren von Gegenwehr. Er muss einen Schlüssel gehabt haben. Haus- und Terrassentür sind jedenfalls unbeschädigt«, sagte er mit einem Seitenblick auf Kathrin, die die Augenbrauen hochzog.

»Das hat leider nichts zu bedeuten«, widersprach Kathrin. »Mira hat ständig vergessen, die Terrassentür abzuschließen. In letzter Zeit war sie allerdings etwas vorsichtiger, wegen der Übergriffe von Witte.« Sie schaute Wächter fragend an.

»Sie wurde nicht vergewaltigt«, kam er ihrer Frage zuvor. »Wir gehen davon aus, dass er sie im Haus getötet hat. Unmittelbar danach brachte er sie nach draußen und legte sie in die mit getrockneten Rosen gefüllte Wanne«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort.

Kathrin, die schweigend zugehört hatte, betrachtete die Fotos, die man von der Leiche am Fundort gemacht hatte. »Was ist das?«, fragte sie und zeigte auf zwei dunkle Streifen auf dem Schotterweg.

»Das sind Spuren von der Wanne. Er scheint die Leiche in der Wanne durch den ganzen Garten gezogen zu haben. Wir wissen nicht, weshalb. Vielleicht auf der Suche nach einem für seinen Zweck optimaleren Standort. Irgendwann muss er die Wanne dann auf der Terrasse platziert haben. Sicher ist, dass sich Mira sofort nach Eintritt des Todes im Freien befand. Als ihre Studenten am Samstag früh um zehn Uhr zum wöchentlichen Jour fixe kamen und Mira auf ihr Klingeln nicht öffnete, sind sie in den Garten gegangen. Dort haben sie die Tote dann gefunden. Die Leiche war regelrecht schockgefrostet. Es gab keinerlei Verwesungsanzeichen. Du kannst es dir selbst ausrechnen, sie muss dort abgelegt worden sein, als die Temperatur bereits deutlich unter dem Gefrierpunkt war. Ich habe bei der Wetterstation nachgefragt. Der Frost setzte in der fraglichen Nacht kurz nach drei Uhr ein. Dann wurde es rasch sehr kalt. Gegen Morgen hatte es minus acht Grad. Das ist übrigens die Temperatur, bei der sich in Kombination mit leichtem Wind Raureif bildet. Erst gegen elf Uhr stieg die Temperatur am Samstag wieder an.«

»Um drei Uhr morgens«, wiederholte Kathrin nachdenklich, »da hat Witte längst die bedauernswerte junge Frau in dem Flatrate-Bordell malträtiert. Von Miras Haus bis nach Fellbach braucht man mit dem Auto mindestens eine halbe Stunde. Verdammt, das passt einfach nicht zusammen. Und ich war mir so sicher, dass er es war.«

»Tut mir leid.« Wächter zuckte mit den Schultern. »Aber das Zeitfenster ist eindeutig. Mira Bellon wurde spätestens um vier Uhr getötet und dann sofort in der Kälte abgelegt.«

Mühsam gelang es Kathrin, ihre Erregung zu unterdrücken. Sie wollte und musste sachlich bleiben. Das war sie Mira schuldig.

»Habt ihr irgendwelche Spuren gefunden?«

»Nichts Verwertbares. Der Täter muss eine Art Schutzanzug getragen haben. Wir haben auf ihrem Körper Fasern eines Gewebes gefunden, wie es von Technikern in Reinräumen verwendet wird. Allerdings werden die Anzüge mittlerweile von zahlreichen Firmen verwendet, wir dürfen uns also keine allzu großen Hoffnungen machen, über das Fabrikat an den Träger zu kommen.«

»Und die Rosen? Du kennst dich da doch aus. Meinst du, die geben einen Anhaltspunkt?«

»Wohl kaum.« Wächter schüttelte den Kopf. »Es waren verschiedene Sorten und ausschließlich getrocknete Blüten. Die bekommt man mittlerweile in jedem Bastelladen zu Dekozwecken. Es kann aber auch sein, dass er die Rosensträuße selbst getrocknet und die Köpfe dann abgeschnitten hat. Aber das bringt uns momentan auch nicht weiter.«

Fast eine Stunde lang ging Kathrin mit Wächter noch einmal alle Obduktionsergebnisse durch. Danach musste sie ihm widerstrebend recht geben: Wenn Wittes Alibi stimmte, konnte er Mira nicht ermordet haben.

4

Noch bevor Kathrin die Tür des Zweifamilienhauses aufschloss, das sie gemeinsam mit ihrer Schwester Laura und deren Familie im Stuttgarter Westen bewohnte, hörten sie schon das Geschrei. Laura stritt sich offensichtlich wieder einmal lautstark mit ihrem Mann Franz. Seit einem halben Jahr hatten sie regelmäßig Zoff. Angefangen hatte es damit, dass Laura, die wie ihr Mann Pharmazie studiert hatte, wieder in ihren Beruf einsteigen wollte. Franz versuchte, das mit allen möglichen und unmöglichen Argumenten zu verhindern. Die Mädchen seien noch zu klein. Dabei waren die Bedingungen ideal. Die Apotheke lag nicht weit von ihrem Wohnhaus entfernt, und die Mutter von Kathrin und Laura lebte immer noch selbstständig in ihrer Wohnung über der Apotheke, so dass sich die Zwillinge nach der Schule problemlos bei der Oma aufhalten konnten.

Aber auch inhaltlich waren sich die beiden nicht einig. Laura, die sich in den vergangenen Jahren intensiv mit Naturheilkunde beschäftigt hatte, wollte die Apotheke, die sie von ihren Eltern übernommen hatten, neu ausrichten. Franz, ein eingefleischter Vertreter der Schulmedizin, war strikt dagegen.

»Glücklicherweise sind die Zwillinge nicht zuhause«, sagte Kathrin seufzend zu Konstantin, »die haben Montagabends immer Reitstunde und übernachten danach bei einer Freundin.«

Sie traten ein. Als die Tür ins Schloss fiel, wurde es schlagartig still. Kurz darauf ging der Streit in der Wohnung im Erdgeschoss mit gedämpften Stimmen weiter.

In Kathrins Appartement im ersten Stock ging Konstantin zielstrebig in die Küche, während sie im Schlafzimmer verschwand und den Koffer auf das Bett warf.

»Ich mache uns jetzt erst mal eine Kleinigkeit zu essen. Du hast doch bestimmt, seit du den Flieger verlassen hast, nichts mehr gegessen«, rief Konstantin und begann, ohne ihre Antwort abzuwarten, mit Töpfen zu hantieren.

Obwohl Kathrin vor lauter Kummer auch während des Flugs fast nichts gegessen hatte, verspürte sie keinerlei Hunger. Allerdings fühlte sie sich total zittrig, und so war sie froh, dass Konstantin, der leidenschaftlich gern kochte, ihr die Entscheidung einfach aus der Hand nahm. Ein paar Bissen würde sie ihm zuliebe schon hinunterbringen. Und ihr würde das wahrscheinlich wirklich gut tun.

Wenig später zog Knoblauchduft durch den Flur. »Nichts Besonderes, aglio e olio«, grinste er, als Kathrin in die Küche kam. Das Spaghetti-Wasser kochte bereits, und in einer Pfanne dampfte das Olivenöl. Konstantin gab Peperoni-Streifen dazu und drehte das Gas zurück.

»Ist doch okay, wenn wir in der Küche essen?«

Sogar den kleinen Küchentisch hatte er schon gedeckt.

»Also, wenn du mal partout nicht mehr für den alten Strahner arbeiten willst, dann kannst du problemlos eine Kneipe aufmachen«, sagte sie und schlang ihm von hinten die Arme um den Bauch, an dem ihre kleine Küchenschürze etwas deplatziert wirkte.

»Ich weiß – oder einen abgedrehten Laden mit Designermöbeln.« Er löste sich aus ihrem Klammergriff, drehte sich um und gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze.

»Oder beides in einem. Nur Herrenausstatter darfst du nicht werden, sonst wird die Stuttgarter Männerschaft bald die am schlechtesten angezogene der Welt«, neckte sie, auf Konstantins Desinteresse an Klamotten anspielend, das schon fast an Ignoranz grenzte. Wohingegen sie sein stilsicherer Geschmack, was Inneneinrichtungen betraf, immer wieder verblüffte. Andererseits war das auch kein Wunder, schließlich war seine Mutter eine bekannte Stuttgarter Innenarchitektin gewesen. Leider war sie gestorben, lange bevor Kathrin ihn kennen gelernt hatte.

»Mmh, das war genau das, was ich jetzt gebraucht habe«, sagte Kathrin und drehte die letzten Spaghetti auf ihre Gabel. Beim Essen hatte sie erst gemerkt, wie hungrig sie war, und obwohl sie zuvor keinen Appetit gehabt hatte, hatte es ihr nun doch geschmeckt.

»Möchtest du noch einen Schluck?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, füllte Konstantin ihr Glas. Als er auch sich selbst nachfüllen wollte, klingelte sein Handy.

»Wo?«, fragte er mit ernster Miene, und Kathrin wusste, dass sie ihren Wein alleine würde trinken müssen.

»Ja, ich bin in 15 Minuten bei euch.«

»Shit«, fluchte er, »es hat eine Messerstecherei gegeben, und weil es in der Nähe des Bahnhofs passiert ist, fahren sie gleich das volle Programm. Dabei hat es mit der Montagsdemo bestimmt nicht das Geringste zu tun. Es tut mir leid, ich wäre heute Nacht wirklich gerne bei dir geblieben. Aber ich konnte den Bereitschaftsdienst einfach nicht wegtauschen. Zur Zeit sind alle Kollegen total überlastet und froh um jede freie Minute.«

Konstantin sah plötzlich unheimlich müde aus.

»Schon gut.« Kathrin legte ihre Hand zärtlich auf seinen Arm. »Ich bin ohnehin total erschöpft. Ich werde Miras Brief lesen«, sagte sie leise und schaute traurig zu dem dicken Umschlag, der neben ihr auf der Anrichte lag.

Irgendwie ahnte sie, was darin stand. Konstantin hatte natürlich bereits erfahren, dass Mira in ihrer Jugend ein Kind geboren hatte, hatte es aber nicht übers Herz gebracht, es ihr am Telefon oder im Auto zu sagen. Zumal er nicht wusste, ob Mira es Kathrin nicht vielleicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte.

»Und dann werde ich versuchen zu schlafen.«

»Ruf mich sofort an, falls du das Gefühl hast, da steht was drin, was unsere Ermittlungen weiterbringen könnte.« Konstantin war bereits aufgestanden und hatte seine Lederjacke angezogen.

»Natürlich.« Kathrin folgte ihm in die Diele, wo er sie zum Abschied flüchtig küsste. Er war in Gedanken bereits anderswo, und Kathrin nahm es ihm nicht übel.

Als sich die Tür hinter ihm schloss, atmete sie erleichtert auf und schämte sich sofort deswegen. Sie wusste, wenn Konstantin bei ihr übernachtet hätte, wäre ihr Gespräch mit Sicherheit irgendwann auf Schröder gekommen. Und über Schröder wollte sie sich momentan ganz bestimmt nicht mit Konstantin unterhalten. Doch ihr schlechtes Gewissen plagte sie. Sie würde das nicht mehr lange aushalten. Irgendwann würde sie mit ihm reden müssen. Mit ihm oder mit Schröder.

5

Kathrin ließ das kalte Wasser in ihre hohlen Hände laufen und spritzte sich immer wieder das Gesicht ab. Dann schaute sie in den Spiegel und erschrak. Ihr Spiegelbild war ihr immer noch fremd. Vor über einem Jahr, Wochen, nachdem Marks sie aus den Fängen des »Totenschöpfers« befreit hatte, hatte sie sich die Haare abschneiden lassen. Zu sehr hatte ihr schulterlanges dunkles Haar sie an die Königin Cleopatra erinnert, in die sie der Wahnsinnige damals verwandelt hatte.

Die Haare abzuschneiden war eine kindische und psychologisch leicht zu deutende Reaktion und doch für sie absolut notwendig gewesen. Die Vorstellung, wie dieser Verrückte ihre Haare berührt und geschmückt hatte, war ihr unerträglich. Noch immer hörte sie, wenn sie den Kopf schüttelte, das sanfte Klingeln der Perlen, die er in ihre Strähnen geflochten hatte.

Jetzt trug sie ihr Haar in Streichholzlänge, was weit weniger pflegeleicht war, als sie gehofft hatte. Eigentlich hatte sie fast glatte Haare, Schnittlauchlocken, wie ihre Großmutter immer gesagt hatte. Doch je kürzer ihre Haare waren, um so eher begannen sie sich zu wellen, und dann standen sie störrisch in alle Richtungen ab. Was dazu führte, dass sie jetzt alle paar Wochen zum Frisör musste.

Kritisch beäugte sie ihr Konterfei. Sie hatte klassisch geschnittene Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen und einer geraden Nase. Ihre katzengrünen Augen wirkten stumpf und leblos. Dieses müde Gesicht hätte den Modeschöpfer bestimmt nicht inspiriert. Sie schüttelte wütend den Kopf. Früher waren ihr während eines unbeherrschten Wutanfalls die Haare um den Kopf geflogen und auf die Backen geklatscht. Ein Gefühl, das sie meist rasch zur Besinnung gebracht hatte und nach dem sie sich jetzt sehnte.

Plötzlich stand ihre Entscheidung fest: Sie würde sich die Haare wieder wachsen lassen. Sie wollte sich von dem Psychopathen nicht in alle Ewigkeit vorschreiben lassen, wie sie auszusehen hatte und wie nicht.

Als sie an der Stirn einige neue graue Härchen entdeckte, musste sie unversehens wieder an Mira denken. Sie seufzte. Die letzte Nachricht ihrer toten Freundin wartete.

Kathrin hatte es sich gerade auf dem Sofa bequem gemacht und den restlichen Rotwein eingeschenkt, als es an der Tür klopfte.

»Komm herein, es ist nicht abgeschlossen.«

Im Türrahmen erschien ihre völlig verheulte Schwester. Sie steckte in ihrem Lieblings-Outfit, einem verwaschenen grauen Jogginganzug, und trug Kathrins schwarzen Kater Ramses auf dem Arm. Als Laura ihn auf den Boden absetzte, würdigte er Kathrin keines Blickes, sondern drehte schnurstracks Richtung Küche ab, wo sein gefüllter Fressnapf auf ihn wartete. Wie immer, wenn sie eine Weile weg war, würde es Tage dauern, bis der beleidigte Kater sich herablassen würde, wieder mit ihr zu kommunizieren.

Kathrin stand auf, und dann lagen sich die Schwestern lange in den Armen. Als sie sich voneinander lösten, hatten beide Tränen in den Augen.

»Das mit Mira ist so furchtbar. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie tot sein soll. Wurde der Scheißkerl schon verhaftet?«

»Nein, ich verstehe es auch nicht. Aber der Typ scheint ein wasserdichtes Alibi zu haben.« Kathrin geriet ins Stocken. Sie hatte eigentlich keine Lust, jetzt über die privaten Querelen ihrer Schwester zu reden, aber sie konnte schlecht so tun, als hätte sie nichts mitbekommen.

»Es tut mir so leid. Ich wollte dich wirklich nicht mit unserem Streit belasten. Aber wir stecken ganz schön in der Scheiße«, kam Laura ihr zuvor.

»Schon okay«, versicherte Kathrin, die sich wieder hingesetzt hatte, während Laura wie ein Tiger durchs Wohnzimmer lief.

»Ich glaube, Franz betrügt mich«, brach es jetzt aus ihr heraus.

Für einen Moment wusste Kathrin nicht, wie sie reagieren sollte. Sie hatte Franz vor Monaten zufällig mit einer reichlich aufgedonnerten jungen Frau in einem Lokal gesehen und gleich das Gefühl gehabt, dass es sich dabei um mehr als ein harmloses Geschäftsessen handeln könnte. Damals hatten die Streitereien zwischen ihrer Schwester und ihrem Schwager gerade angefangen. Allerdings war es immer um die Apotheke gegangen. Und Kathrin wollte nicht zusätzlich Öl ins Feuer gießen, indem sie Laura von ihrer Beobachtung berichtete.

»Wir kommst du denn darauf?«, fragte sie matt.

»Er ist ständig weg, trägt plötzlich schicke Klamotten, und angerührt hat er mich auch schon ewig nicht mehr«, schluchzte ihre Schwester. »Aber was mich am meisten kränkt, ist, dass er mich überhaupt nicht in seine Arbeit mit einbezieht. Dabei war es immer unser Wunsch, die Apotheke gemeinsam zu führen, damit er auch wieder mehr Zeit für die Kinder hat. Aber davon will er plötzlich nichts mehr wissen.«

»Hast du ihn schon mit deinem Verdacht konfrontiert?«

»Ja, aber er hat einfach alles abgestritten und behauptet, dass ich mir da was einbilde. Er behauptet, er hätte eben so viel zu tun. Ich kann ihm das aber nicht glauben. Während du weg warst, haben wir uns sogar schon einmal vor den Zwillingen richtig gestritten. Es war furchtbar.«

»Ich fände es ohnehin besser, wenn ihr den Kindern gegenüber offen seid. Die haben bestimmt längst gemerkt, dass etwas nicht stimmt. So selten, wie ihr gerade etwas zusammen macht.« Kathrin musste sich allergrößte Mühe geben, um ein Gähnen zu unterdrücken.

»Lass uns morgen weiterreden, ja? Ich bin todmüde«, bat sie.

»Natürlich. Entschuldige, ich bin so egoistisch. Ich habe ganz vergessen, dass du heute erst geflogen bist. Und dann der Schock mit Mira.«

Obwohl Laura ehrlich zerknirscht wirkte, spürte Kathrin ihre Enttäuschung. Aber wenn sie ihre Schwester jetzt nicht fortschickte, würde sie heute Nacht die Seelentrösterin geben müssen, und dazu hatte sie momentan einfach nicht die Kraft.

Der eigentliche Grund aber war: Der Brief konnte nicht warten.

6

Der Umschlag sah ganz unscheinbar aus – wie eine Geschäftspost. »Katharina Zimmermann« stand in Druckschrift auf der Vorderseite geschrieben. Als Kathrin den Umschlag vorsichtig mit einem Brieföffner aufschlitzte, kamen mehrere kleine Briefe zum Vorschein, die alle zugeklebt waren. Auf einem stand »Michael«, ein anderer war unbeschriftet. Mit zittrigen Fingern öffnete sie den dritten Umschlag, auf den ihre Freundin schwungvoll »Katha« geschrieben hatte. Heraus kamen vier eng beschriebene cremefarbene Blätter. Unwillkürlich schnupperte sie daran. Der zarte Duft von Sonia Rykiel, dem Parfum, das Mira so geliebt hatte, war unverkennbar.

»Liebe Katha« – schon die Anrede schnürte ihr den Hals zu und trieb ihr wieder Tränen in die Augen. »Katha« – so hatte sie außer Mira niemand genannt.

Liebe Katha,

ich weiß auch nicht, wie man einen solchen Brief anfangen soll, von dem man doch hofft, dass er seinen Empfänger nie erreichen möge. Da Du diese Zeilen liest, ist das Schlimme wohl eingetreten und ich bin gegangen.

An dieser Stelle war die Tinte verlaufen. Mira hatte geweint. Kathrin schluckte schwer und wischte sich die eigenen Tränen aus den Augenwinkeln. Einen Moment überlegte sie, ob sie die Blätter zum Schutz in eine Klarsichthülle stecken sollte, doch sie entschied sich dagegen. Es war unwahrscheinlich, dass dieses Schreiben für die Spurensicherung irgendwelche Erkenntnisse barg, und sie wollte diese Blätter so in der Hand halten wie es ihre Freundin getan hatte.

… und ich bin gegangen. Ob es vor der Zeit war, vermag ich nicht zu beurteilen, aber es war auf jeden Fall, bevor ich mein Vorhaben beenden konnte.

Ein Vorhaben, das Du hoffentlich für mich beenden wirst. Ich hoffe, Du bist mir nicht böse, aber ich habe es in all den Jahren unserer Freundschaft nicht geschafft, Dir ein Geheimnis – mein großes Geheimnis – anzuvertrauen. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte – aber im entscheidenden Moment fehlte mir immer der Mut. Auch jetzt fällt es mir unendlich schwer, diese Worte zu Papier zu bringen:

Ich habe einen Sohn. Ja, ich habe vor vielen Jahren, als ich selbst noch fast ein Kind war, einen Sohn geboren. Man hat ihn mir sofort weggenommen, und ich habe mich nicht einmal dagegen gewehrt.

Wie Du ja weißt, stamme ich aus einer strenggläubigen Familie. Bevor wir nach Ludwigsburg gezogen sind, haben wir auf dem Land gewohnt, in einem kleinen Ort namens Bittenfeld.

Dort war für Kinder absolut nichts los. Im Sommer das kleine Freibad, das war’s auch schon. Ich habe schon früh leidenschaftlich gerne gemalt und gezeichnet, aber meine Eltern hielten nichts davon. Und als ich einmal im Kindergottesdienst eine Zeichnung von unserem Pfarrer gemacht habe, haben sie mir das Malen komplett verboten.

Für mich war es deshalb wie eine Befreiung, als ich in die Realschule nach Waiblingen durfte. In der neunten Klasse bekamen wir in Kunst einen Lehrer, Harald Moor, der sich nicht nur in der Kunstgeschichte sehr gut auskannte, sondern sogar selbst Kunst machte und immer wieder Ausstellungen hatte!

Für mich war das wie eine Offenbarung.

Harald Moor hat rasch mein Talent gesehen und im Rahmen seiner Möglichkeiten gefördert. Ich war natürlich stolz und geschmeichelt, zumal wir Mädchen irgendwie alle in ihn verknallt waren. Dass er in seiner Zuneigung mir gegenüber weit über das Ziel hinausschoss, habe ich leider viel zu spät erkannt. Anfang der zehnten Klasse sind wir ins Schullandheim gefahren, und da ist es dann passiert. Als ich zurückkam, wurde ich 16 und war schwanger!

Schon nach wenigen Tagen wurde mir morgens speiübel. Meine Eltern haben sofort gewusst, was los ist.

Abtreiben ging natürlich gar nicht, und so verschwand ich kurzerhand bis zur Geburt von der Bildfläche. Noch in den Herbstferien brachten sie mich in den Schwarzwald, in ein katholisches Heim für »gefallene« Mädchen, die ein ähnliches Problem mit sich herumtrugen wie ich. Zuhause erzählten meine Eltern, ich hätte eine schwere Form von Tuberkulose und wäre zur Behandlung in einer Spezialklinik. Das war damals gar nicht so selten, und weil TB so ansteckend war, kam auch niemand auf die Idee, mich besuchen zu wollen.

Meine Eltern waren in der ganzen Zeit nur einmal da, und meinen jüngeren Bruder Peter bekam ich gar nicht zu Gesicht.

Am 10. Mai 1982 wurde dann mein Sohn geboren. Es war eine schwierige Geburt. Ich habe das Baby nur einmal in den Armen gehalten, bevor sie es mir weggenommen haben. Angeblich gab es schon ein Elternpaar, das sehnsüchtig auf ihn gewartet hat. Ich habe den Schwestern gesagt, dass er Michael heißen soll, aber ich weiß nicht, ob er tatsächlich diesen Namen erhielt.

Meinen Eltern habe ich nie verraten, wer der Vater ist. Vielleicht haben sie es ja geahnt. Als ich aus der »Kur« zurückkam, hatte sich Moor längst versetzen lassen, und meine Familie war nach Ludwigsburg umgezogen.

Moor habe ich aus dem Heim geschrieben, aber er hat sich nicht gemeldet. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Er ist dann wenige Jahre später bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Irgendwie fand ich das gerecht.

Nach meiner Rückkehr habe ich auf Wunsch meiner Eltern eine Lehre als Arzthelferin gemacht. Noch während der Lehrzeit bin ich von zu Hause ausgezogen und habe angefangen, das Abi nachzumachen. Den Rest weißt du ja.

An meinen Sohn habe ich in diesen Jahren selten gedacht, ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Aber als während meines Studiums eine Kommilitonin schwanger wurde, kam plötzlich alles wieder hoch. Ich habe ihn so sehr vermisst und gleichzeitig alles getan, ihn zu verdrängen.

Auf die Idee, ihn zu suchen, bin ich in all den Jahren nie gekommen. Aber die Sehnsucht ist immer stärker geworden.

Dass ich angefangen habe, Nachforschungen anzustellen, daran bist eigentlich Du schuld: Weißt Du noch, als ich Dir Elmar vorgestellt habe, da hast Du gesagt: »Mira, der könnte dein Sohn sein.« Und mir wurde schlagartig klar, wie recht Du hast. Da habe ich angefangen, nach Michael – für mich bleibt er Michael, obwohl ich gar nicht weiß, ob er tatsächlich so heißt – zu suchen. Bisher leider ohne Erfolg.