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»Ich bin die mit dem Eisherz, haben sie gesagt. Ich hätte nie gedacht, dass darin Sonnenblumen wachsen können.« Früher sprang Joe über Bauzäune, um bei illegalen Blockaden nicht verhaftet zu werden. Aus der rebellischen Jugendlichen wurde eine aufopfernde Krankenpflegerin, deren Ideale nur allzu oft mit hilfloser Wut kollidieren. Auf einer Demonstration gegen Rechtspopulismus begegnet sie dem Polizisten August, der für seine Sanftheit schon mehr als einmal belächelt wurde – und mit ebendieser Joes Herz entknotet. Doch Joe trägt nicht nur ihr eigenes emotionales Päckchen, sondern auch das ihres besten Freundes Kai mit sich herum. Und dessen Inhalt ist leicht entzündlich …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Karla Eklund
Rebel of the Light
© 2025 Karla Eklund
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
ISBN: 9783759218667
Lektorat und Korrektur: Elja Janus
Cover: Lunar Coverdesign (Bildmaterial: depositphotos.com/freepik.com)
Charakterillustration: Mila Rosgeber
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Dieses Buch ist auch als Print erhältlich.
Diese Geschichte enthält potenziell triggernde Inhalte.
Diese sind:
Kindesmisshandlung, emotionaler Missbrauch, Beschreibungen von Gewalt, Tod/Verlust eines Familienmitglieds, übermäßiger Alkoholkonsum, Angst-/Panikattacken, ungewollte Schwangerschaft, Rassismus
Bitte lies diese Geschichte nur, wenn du dich emotional dazu in der Lage fühlst. Solltest du Hilfe benötigen, findest du diese anonym und rund um die Uhr unter den nachfolgenden Kontaktdaten (per Telefon, Chat oder Mail).
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Impressum
Inhaltswarnung
Prolog
Kapitel 1 – Joe
Kapitel 2 – August
Kapitel 3 – Joe
Kapitel 4 – August
Kapitel 5 – Joe
Kapitel 6 – August
Kapitel 7 – Joe
Kapitel 8 – August
Kapitel 9 – Joe
Kapitel 10 – August
Kapitel 11 – Joe
Kapitel 12 – Becki
Kapitel 13 – Kai
Kapitel 14 – Joe
Kapitel 15 – August
Kapitel 16 – Joe
Kapitel 17 – August
Kapitel 18 – Joe
Kapitel 19 – August
Kapitel 20 – Joe
Kapitel 21 – August
Kapitel 22 – Joe
Kapitel 23 – August
Kapitel 24 – Joe
Kapitel 25 – August
Kapitel 26 – Joe
Kapitel 27 – August
Kapitel 28 – Joe
Kapitel 29 – August
Kapitel 30 – Joe
Kapitel 31 – August
Kapitel 32 – Joe
Kapitel 33 – August
Kapitel 34 – Joe
Kapitel 35 – August
Kapitel 36 – Joe
Kapitel 37 – Joe
Kapitel 38 – August
Kapitel 39 – Joe
Kapitel 40 – August
Kapitel 41 – Joe
Kapitel 42 – Becki
Kapitel 43 – Joe
Kapitel 44 – Joe
Kapitel 45 – August
Kapitel 46 – Joe
Kapitel 47 – August
Kapitel 48 – Joe
Epilog – Joe
Playlist
Danksagung
Für Sara.
(Tut mir nicht leid, dass ich die Widmung geändert habe, denn mal ehrlich: Ohne dich würde es dieses Buch nicht geben.)
Es war der Regen, der die Angst mitbrachte. Und jenes Unwetter war nur eines von vielen.
Das Mädchen lag im Bett, das Gesicht zum Fenster gedreht. Aufzuckendes Licht tanzte mit den Silhouetten der Grünpflanzen, als ein leises Knarzen dem Donner zuvorkam.
Fünfundzwanzig, dachte sie.
»Joe.«
Sie sah zur Tür, die einen Spalt breit geöffnet worden war. Gerade genug für die zarte Gestalt. Gerade genug, damit nackte Füße hindurch- und über den Teppich huschen konnten. Sie hinterließen feuchte Spuren.
»Kai«, flüsterte sie. »Du bist ja ganz nass.«
Zur Bestätigung schlang er die dünnen Arme um seinen Körper. Er war so klein. Zu klein für sein Alter, sagten alle. So oft, dass er ihnen irgendwann geglaubt hatte. Und vielleicht fragte deshalb niemand, warum er blaue Flecken trug wie andere ihre von Mama aufgesetzten Schirmmützen. Kleine Jungs gerieten in die Mangel, so war das eben.
»Was ist los?«, wollte sie wissen. »Kannst du nicht schlafen?«
Was für eine unsinnige Frage. Er war von seinem Haus über die Straße und durch den Hof gelaufen. Barfuß im Regen, mit nichts an als seinem löchrigen Schlafanzug. Barfuß durch den dunklen Keller, die Angst im Schlepptau. Immer noch besser als die Dämonen in seinem Zimmer. Joe kannte sie nur vom Erzählen, aber das reichte. Sie hockten in jedem Winkel seiner Worte, und doch waren nicht sie es, die ihn klein machten.
Wortlos schlug Joe die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und lief zum Schrank. Sie zog eines ihrer T-Shirts heraus und eine Hose, beides war ihm zu groß. Er wand sich aus dem nassen Schlafanzug, bevor er erst in ihre Kleidung, dann unter die Decke kroch wie in eine Höhle. Mit einem gelächelten Danke nahm er ihre Hand.
»Joe?«, wisperte er, als sie einander zugewandt im flackernden Blaudunkel lagen. Und seine Angst verkroch sich ans Fußende.
Sie passt nicht zwischen uns, hatte Joe ihm wieder und wieder gesagt, immer dann, wenn er sich am kleinsten fühlte. Gemeinsam nehmen wir der Angst den Platz weg. Weil wir riesengroß sind, Kai. Du wirst schon sehen.
»Ja?«
»Bleibst du bei mir?«
»Ich bin doch hier.« Lachend stupste sie ihm mit dem Zeigefinger auf die blasse Nasenspitze.
»Ich meine: immer. Bleibst du immer, immer bei mir, bitte?«
Sie sah ihn an und ihr Herz zog. Ein bisschen, weil seine Augen sagten, dass er es ernst meinte, nicht nur um seinetwillen. Dass er ebenfalls immer, immer bei ihr sein würde, wenn sie das wollte. Ein bisschen, weil ihr das Angst machte. Angst und Hoffnung. Vielleicht war das die schlimmste und zugleich allerbeste Kombination.
»Immer«, flüsterte sie. Und sein Lächeln schaffte es beinahe, die Angst zu vertreiben.
Weil wir riesengroß sind, Joe.
Wenn er es glaubte, würde sie es irgendwann vielleicht auch tun.
Ich bin die mit dem Eisherz, sagen sie. Jetzt gerade bin ich vor allem die mit dem Brechreiz.
Es ist Sonntagnachmittag, ein freier Sonntagnachmittag, und eigentlich will ich auf meinem Balkon sitzen und einen Eistee trinken. Stattdessen Bier an den Tischtennisplatten, so weit okay. Wäre da nur nicht Becki, die sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit betont lasziv über die Platte beugt und uns ihren bauchnabeltiefen Ausschnitt präsentiert. Natürlich verfehlt sie trotzdem jeden zweiten Ball, um sich dann genauso übertrieben danach bücken zu können. Ich muss Kai, der neben mir spielt, nicht ansehen, um zu wissen, dass er grinst. Er genießt die Aussicht.
Der Alaunpark ist dem Wetter entsprechend gerammelt voll. Pärchen auf Picknickdecken. Punks mit Bierkästen. Und wir: irgendwo dazwischen. Am Rande des Dresdner Nachtlebens, mitten am Tag. Die wilden Zeiten liegen eindeutig hinter uns, zumindest für die meisten.
Malik, der mit Becki im Team spielt, trug früher einen türkisfarbenen Iro zu Springerstiefeln. Jetzt ist er Bankangestellter und schleicht die meiste Zeit in Hemden und Anzughosen durchs Leben. Die Jeans im Destroyed Look und das blau-schwarz karierte Hemd wirken in Kombination mit den hellbraunen Stoffschuhen, die er heute trägt, wie ein schlecht sitzendes Karnevalskostüm.
Kais breiter Oberkörper passt ohnehin nur in Band-Shirts, und ja, verdammt, die Art und Weise, wie es trotz des weiten Schnitts über seinen Muskeln spannt, ist zum Anbeißen. Aber irgendwie turnt mich an ihm am meisten an, dass er mein Kai ist, schon immer war, seit wir in das Haus gegenüber eingezogen sind. Und als Mama und ich wieder auszogen, blieb er trotzdem in unserem Leben.
Ich kenne ihn viel zu gut, um fest mit ihm zusammen sein zu wollen. Dennoch war er da, als es niemand sonst war. Er war für uns da, nachdem mein Arschloch von Vater uns vor die Tür gesetzt hatte. Genauso wie ich für Kai da war, als die Welt ihm weismachen wollte, er müsse sich vor ihr verstecken.
Ich habe es ein paarmal mit anderen Typen versucht, aber wenn ich ehrlich bin, war es mir zu anstrengend. Zu anstrengend, eine Betriebsanleitung mitliefern zu müssen, um am Ende nur ihre Egos zu befriedigen. Zu anstrengend, mir ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen, um gewollt zu werden. Zu anstrengend, danach zu erklären, warum ich nicht kuschelnd einschlafen will. Kai kennt die Regeln. Kai kommt mir nie so nahe, dass ich zurückweichen müsste.
»Pass auf, jetzt rasieren wir sie«, ruft er gerade und schmettert den Ball haarscharf über das Netz.
Becki macht einen Hopser, bei dem alles an ihr mithüpft. Malik hechtet nach vorn, doch der kleine Ball saust unbehelligt hinter ihnen ins Grün. Lennart und Paul, die auf der anderen Platte sitzen und uns zuschauen, johlen, Lennart stößt einen Pfiff aus.
»Yes!« Ich knuffe Kai gegen den Oberarm. »Guter Schlag!«
Wir grinsen uns an. Ich kann in seinen Augen sehen, dass er sehr viel mehr will als nur einen Knuff gegen den Oberarm, aber das läuft nicht. Nicht hier.
»Revanche?«, fragt Malik von der anderen Seite.
Kai schnaubt. »Wie viele Revanchen willst du denn noch? Die nächste verlierst du genauso.«
»Also ich bin für Durchmischen«, wirft Becki ein und klimpert in Kais Richtung.
Ich unterdrücke ein Augenrollen. Die Frau ist ein Klischee. Ihr Kleid bedeckt gerade so ihren Hintern. Es ist schwarz mit dunkelrotem Blumenmuster, tief ausgeschnitten und so eng, dass ich mich frage, wie sie sich überhaupt bewegen kann. Es zeigt mehr von ihrem kurvigen Körper, als es verdeckt – sogar dort, wo es ihn verdeckt. Dazu trägt sie schwarze Schnürstiefeletten mit hohem Absatz. Ihre pink gefärbten Locken hat sie mit Haarspray derart festzementiert, dass sie wie eine Perücke aussehen. Ich glaube, unter ihrem Make-up ist sie sogar ganz hübsch.
Im Grunde ist es nicht ihre Schuld, dass in meinem Kopf diese Schublade besteht, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie den ganzen Aufriss wirklich um ihretwillen macht. Dafür gibt sie sich zu viel Mühe, sich an die Jungs ranzuschmeißen – inklusive Kai, was mich besonders nervt – und ihnen genau die Reaktionen zu entlocken, die sie dann auch bekommt. Besonders Lennart macht keinen Hehl daraus, was er von Becki will. Und sie genießt es.
Ich bin nicht einmal sicher, ob es wirklich Becki ist, die mich anwidert, oder ob es meine eigenen Gedanken sind, weil ich mich jedes verdammte Mal frage, ob sie auch so war. Ob das die Masche gewesen ist, die mich meinen Vater gekostet und meine Mutter beinahe in die Armut gestoßen hat. Becki ist wie ein Knopf, der diesen Film wieder und wieder abspielt, bis ich sie nur noch schütteln und ihr die Farbschichten aus dem Gesicht kratzen will.
»Also ich bin durch.« Kai legt den Schläger weg und beugt sich zu dem mitgebrachten Bierkasten hinunter. Daneben steht sein Rucksack, ein abgenutztes Teil, das er immer dabeihat, und dessen Bedeutung ich wie immer mit aller Macht beiseiteschiebe. Er nimmt zwei Flaschen heraus, reicht mir eine davon und schwingt sich auf die Platte.
Ich öffne meine Flasche an der Kante, dann setze ich mich neben ihn. Obwohl wir erst Ende April haben, ist die steinerne Oberfläche warm von der Nachmittagssonne. Ein leichter Luftzug kitzelt mich an den Knien, wo die Jeans zerrissen ist. Ich streife meine Converse und die bunt geringelten Sockenab und lasse meine nackten Füße über den Rand baumeln. Kein Balkon, aber eigentlich ganz nett.
Malik setzt sich zu uns. Becki steht einen Moment unschlüssig herum, sieht dann aber ein, dass Kai weiterhin unerreichbar ist, und schiebt sich zwischen Lennart und Paul auf die zweite Tischtennisplatte. Paul rutscht ein Stück zur Seite, Lennart legt sofort den Arm um sie. Sie kichert, als er sie näher zieht und die Nase an ihrem Hals vergräbt. Es sieht aus, als wolle er an ihr riechen, tatsächlich schaut er ihr von oben in den Ausschnitt. Genau, wirf sie dir am besten gleich über die Schulter und trag sie nach Hause. Die Steinzeit hat Rauchzeichen gesendet, sie will ihre Neandertaler zurück.
»Wie ist nun der Plan für morgen?« Pauls in die Runde geworfene Frage unterbricht das Geturtel.
Dennoch unterdrücke ich ein Seufzen. Seit Wochen zieht nahezu jeden Montagabend ein Mobb aus besorgten Bürgern und offensichtlichen Rechten durch die Dresdner Innenstadt, um gegen Wer-weiß-das-schon zu demonstrieren – soweit ich das verstehe, sind sie einfach gegen die Existenz anderer, insbesondere anders aussehender Menschen. Und wir halten dagegen. Wir, das sind Studierende, Linke und das, was man wohl die politische Mitte nennt: Leute, die einfach vernünftig sind. Leute, die durch ihre geplanten Demos für Toleranz einstehen und denen zeigen wollen: Ihr seid nicht das Volk.
Tja, und dann gibt es noch die inoffiziellen Gegendemos. Solche, die vor allem aufmischen wollen. Solche, von denen ich mich mittlerweile fernhalte. Und am liebsten wäre es mir, die anderen würden das auch tun.
Lennart hebt den Kopf. Dabei hat er dieses bitterschwarze Lächeln auf den Lippen, das nach Krawall schreit. »Na, was wohl? Nazis klatschen.«
Diesmal gebe ich mir keine Mühe, mein Augenrollen zu verbergen. Links von mir höre ich Maliks leises Schnauben, woraus ich schließe, dass er meine Ansicht zu diesem Thema teilt. Er mag immer noch verzweifelt versuchen, nach einem Hauch von knallhartem Punk auszusehen, doch insgeheim ist er eine sanfte Seele. Lennart dagegen ist ein Schläger. Wahrscheinlich ist es ihm sogar egal, wen er schlägt. Obwohl er nicht direkt ein Schrank ist; eher schmal gebaut, mit langen Armen und Beinen. Kai sagte mal, Lennart würde sowieso eher treten. Und etwas anderes hätte dieses Pack auch nicht verdient.
Ich hasse, dass er diesen Mist rechtfertigt. Und ich hasse, dass er diesen Mist immer noch mitmacht.
»Joe und ich wollten zur Kundgebung auf dem Neumarkt. Oder, Joe?« Malik sieht mich fragend an und ich nicke, den Blick auf Kai gerichtet.
Ich kann spüren, wie die Anspannung in meinen Nacken kriecht. Als würde mein Nervensystem sich darauf einstellen, diese Aussage zu verteidigen. Was ein schlechter Witz ist. Ich kenne Kais Dickschädel gut genug, um zu wissen, dass ich mir jedes Argument sparen kann.
»Neumarkt?«, wiederholt er mit einem Stirnrunzeln. »Was läuft da?«
»Ein paar Redner, bisschen Musik.« Malik zuckt mit den Schultern. »Werden wohl ziemlich viele Leute sein.«
»Kundgebung.« Lennart spuckt das Wort vor uns auf den Boden. »Was wollt ihr denn kundgeben? Dass Nazis scheiße sind? Davon werden sie auch nicht weniger.«
»Also nur rumstehen?« Auch Kai wirkt wenig überzeugt.
Ein Teil von mir möchte ihn schütteln. Aber das würde meinen durch die Zähne hervorgepressten Versuch, ihn umzustimmen, nicht besonders glaubwürdig machen. »Stell dir vor, nicht alles lässt sich dadurch bekämpfen, dass man einander die Köpfe einschlägt.«
»Nicht?« Lennart reißt übertrieben die Augen auf. Becki neben ihm lacht. »Leute, ich glaube, Joe hat ihren Biss verloren.«
Provozierend grinst Lennart mich an, noch immer den Arm um Becki gelegt. Sie ist so grell und er so abgrundtief. Zwei Nuancen eines Gefühls, das mich an Kopfschmerzen erinnert. Solche, die man bekommt, wenn jemand an einem völlig verkaterten Morgen die Vorhänge aufreißt.
Ich hole tief Luft, um seine Behauptung Lügen zu strafen, doch Kai kommt mir zuvor.
»Kann ich nicht bestätigen, Alter.« Er drückt mir einen Kuss auf die Wange.
Das darauffolgende Pfeifen der anderen verursacht bei mir schon wieder diesen Brechreiz. Trotzdem lasse ich es mir nicht nehmen, ein zuckersüßes Lächeln in Beckis Richtung zu werfen. Dabei balle ich die Hand so fest zur Faust, dass die Fingernägel in meine Handfläche schneiden. Zu sehen, wie ihre Miene gefriert, gibt mir mehr, als jede schlagfertige Antwort es gekonnt hätte. Ob ich mich in solchen Momenten selbst ein bisschen scheiße finde? Na, aber sicher.
»Okay«, sagt Kai an die anderen gewandt. »Was ist mit euch? Paul? Becki?«
»Hab morgen Spätschicht«, antwortet sie sofort und schiebt die Unterlippe nach vorn.
Paul kratzt am Etikett seiner Bierflasche. Die Vorstellung, wie er mit Kai und Lennart durch die Straßen zieht und Leute vermöbeln will, ist absurd. Er ist von der Statur her eher schmächtig. Mit seiner Hipster-Brille und den riesigen Hoodies, die er immer trägt, wirkt er fast schon unscheinbar, obwohl er sich die dafür eigentlich viel zu langen Haare mit Gel zu steinharten Stacheln formt. Und so wundert es mich nicht, als er schließlich brummt: »Ich gehe mit Joe und Malik.«
»Tote Hose, ey! Leute, mit euch ist nichts mehr zu holen!« Kai schüttelt den Kopf und schnippt seinen Kronkorken in Pauls Richtung. »Gut, dann nur ich und Lennart. Sieh zu, dass du fit bist«, sagt er mit Blick auf Becki, denn es liegt auf der Hand, dass Lennart heute nicht allein nach Hause geht.
Der grinst nur noch breiter. »Keine Sorge, Alter. Nazis zertreten geht immer.«
Und ich fürchte, das stimmt sogar. Weil es eben viel zu viele davon gibt.
»Bist du sicher, dass du nicht mit uns mitkommen willst?«, frage ich Kai, als wir auf dem Weg zu meiner Wohnung sind. Er wirft mir einen eindeutigen Blick zu. Einen, der sagt: Vielleicht hat Lennart recht. Vielleicht hast du deinen Biss verloren.
Das habe ich definitiv, verglichen mit früher. Ich bin keine Achtzehnjährige mehr, die bei unangemeldeten Sitzblockaden antifaschistische Parolen brüllt und Dinge auf Reichsflaggen schwenkende, selbst ernannte Volksversteher wirft. Möglichst eklige Dinge, die deren Auftreten gerecht werden. Nun bin ich eine dreiundzwanzigjährige, zu viel arbeitende Gesundheits- und Krankenpflegerin, die gern die Welt retten würde – aber eingesehen hat, dass die Welt nicht zu retten ist.
»Du kannst ruhig sagen, dass du es kacke findest.«
»Oh, ich denke, das weißt du schon.« Meine Stimme klingt so ruhig, obwohl alles in mir brennt, und die Art, wie er mich angrinst, macht es nicht besser. Als wäre das hier ein verdammtes Spiel.
Vielleicht wäre das mit dem Schütteln doch eine gute Idee. Es scheint ja die einzige Sprache zu sein, die er versteht. Die wichtigen Dinge haben wir einander schon immer ohne Worte gesagt. Aber vielleicht hätten ein paar mehr davon hier und da nicht geschadet. Zum Beispiel: Lass die Scheiße doch einfach! Am besten schreiend.
Nur würde es nichts bringen. Und irgendwie verstehe ich ihn. Es ist so ziemlich das Einzige in seinem Leben, worüber er die Kontrolle hat.
Manchmal schaffe ich es beinahe, zu verdrängen, in was für einen kranken Mist wir da reingeraten sind. So wie jetzt, als wir meine Haustür erreichen und Kais Miene schlagartig an Härte verliert. Er hebt die Hand und streicht mir eine Strähne hinter das Ohr. Keine Ahnung, wie oft er das schon getan hat. Keine Ahnung, wie oft ich mir gewünscht habe, wir wären normal.
»Ich weiß zumindest, was ichjetzt tun möchte.« Die andere Hand legt er an meine Taille und zieht mich ein Stück näher, sodass ich den Kopf in den Nacken legen muss, um ihn weiter anzusehen. »Ich habe für dich eine Grenze gezogen. Vor Becki. Das ist dir doch aufgefallen, oder?«
Die Erinnerung lässt mich die Zähne zusammenpressen. »Danke.«
»Danke?« Kai legt seine Hände auf meinen Hintern, steckt sie in die Taschen meiner Jeans. »Ich dachte, das reicht für mehr als ein Danke.«
Als ich das Bier in seinem Atem rieche, versteife ich mich endgültig. Er hat mindestens vier getrunken, was zu viel in mir auslöst, aber nicht das, woran er gerade denkt. Nur mit Mühe widerstehe ich dem Drang, den Kopf wegzudrehen. Wenn er jetzt schon Dampf ablässt, bleibt vielleicht weniger für morgen.
»Ich habe aber Frühschicht«, lenke ich ein und er brummt zustimmend.
»Ist das ein Ja?«
Ich nicke nur knapp. Während ich nach dem Schlüssel krame und mich umdrehe, um die Tür aufzuschließen, verteilt Kai Küsse in meiner Halsbeuge. Zumindest mein Körper reagiert darauf. Kein Wunder, für ihn ist es ein Déjà-vu.
»Sieh es als Anreiz, deinen Standpunkt noch mal endgültig klarzumachen.«
Sein Lachen kitzelt meinen Nacken. Und ab da braucht es keine Worte mehr.
Es ist wie eine Choreografie, die wir jahrelang einstudiert haben. Wir vögeln uns aus dem Flur bis ins Schlafzimmer. Danach stelle ich mich unter die Dusche und mache es mir selbst, um wenigstens einen Teil der inneren Anspannung loszuwerden. Als ich wiederkomme, liegt Kai auf dem Rücken und schnarcht leise. Ich hole mir mein Bettzeug, mit dem ich mich auf der Couch einrichte. Wenn er morgen früh aufwacht, werde ich weg sein. Er wird seinen Kaffee trinken, das Bett machen, mir ein paar Worte auf einem Zettel hinterlassen. Oder auch nicht. Und dann mit Lennart Leute verprügeln gehen.
Bei Kai weiß ich, woran ich bin. Immer, immer.
Ich habe nie behauptet, dass das gut ist.
Sobald ich meinen Helm aufsetze, werde ich zu einer Nummer. Eine Nummer in schwarzer Ganzkörpermontur. Das soll uns davor schützen, erkannt zu werden, falls es zu einer Konfrontation kommt. Manchmal fühle ich mich, als werde ich von einem Menschen zu einem Baustein. Ein Baustein in einer Mauer aus Körpern.
Ich schaue hinüber zu Franka, mit der ich sonst auf Streife bin. Gerade bändigt sie ihre kupferfarbenen Locken mit einer dünnen Mütze, dann setzt sie ebenfalls den Helm auf. Die Uniform lässt sie optisch schrumpfen. Als Baustein wirkt sie winzig, dabei ist sie alles, nur nicht das.
»Alles klar?«, frage ich sie und sie antwortet mit einem kurzen Nicken.
Das Polizeiaufgebot ist heute größer als sonst, mehrere Hundertschaften von außerhalb. Es ist kein gewöhnlicher Montag. Die Stimmung brodelt auf beiden Seiten. Mehrere namhafte Redner haben sich für die Kundgebung auf dem Neumarkt angemeldet. Es gibt sogar ein Gratis-Konzert, um die anzulocken, die sonst lieber auf dem Sofa bleiben. Die beisammenzuhalten, wird sicher leicht. Aber nicht nur wir mobilisieren von außerhalb. An Tagen wie diesen reisen Rechts- und Linksextreme aus ganz Deutschland nach Dresden – scheinbar, um die jeweiligen Positionen zu unterstützen. Aber sie mischen ihre Parolen unter die, die zwar laut sind, jedoch weitestgehend friedlich. Und wenn die Stimmung überkocht, sind sie ganz vorn dabei.
Es ist unser Job, die beiden Seiten auseinanderzuhalten. Wir bilden die Mauer zwischen Fäusten, Steinen und Feuerwerkskörpern auf beiden Seiten. Bisher hatte ich das Glück, dabei nie in erster Reihe zu stehen.
Und auch heute sieht es danach aus, als müsse ich vor allem durch Präsenz glänzen. Die Route der Rechten verläuft westlich an der Altstadt vorbei. Eine linke Gegendemo sammelt sich auf der Neustädter Seite. Wenn die Kolleginnen und Kollegen die Sache im Griff haben, sollte es keinen Kontakt geben. Wenn …
Im Zentrum des Neumarkts erhebt sich die Frauenkirche mit ihrer hellen, von vereinzelten dunkleren Originalelementen durchzogenen Sandsteinkuppel, umgeben von blassbunten, ebenfalls rekonstruierten Häuserfassaden. Es scheint symbolträchtig, dass die Kundgebung hier stattfindet. Weil dieser ganze Ort symbolträchtig ist. Weil einige Menschen zu einem gewissen Grad unbelehrbar sind. Es steht mir nicht zu, Partei zu ergreifen – nicht heute –, doch es fällt schwer, das nicht zu tun. Wenigstens gedanklich.
Franka und ich sind für die südwestliche Ecke eingeteilt. Wir halten uns am Rand, während die Leute an uns vorbeiströmen. Die meisten ignorieren uns, nur ein paar nicken uns zu. So ist es immer. Polizeipräsenz löst allgemeines Unwohlsein aus, nur die Wenigsten begreifen es als Sicherheit. Mir reicht es, wenn ich weiß, dass ich ihnen Sicherheit gebe.
Die Organisatoren haben einiges aufgefahren. Roland Kaiser hält eine Rede über Menschlichkeit. Danach Herbert Grönemeyer. Die Toten Hosen bilden das Finale und ich bemerke mit einem Schmunzeln, dass Franka unauffällig mitwippt. Die Stimmung ist ausgelassen. Emotional, doch nicht annähernd so wütend wie ein paar Straßen weiter. Wir sind weit genug entfernt von dem, was mir wirklich Sorgen bereitet. Über das Funkgerät bekommen wir mit, dass der Aufmarsch der Rechten am Bahnhof Mitte angekommen ist und auseinanderzubrechen droht, während die Linken vom Neustädter Ufer vorrücken. Nur eine einzige Brücke befindet sich zwischen beiden Fronten, kaum ein Kilometer. Viel zu nahe.
Als das Konzert vorbei ist, löst sich die Versammlung allmählich auf. Jetzt liegt es an uns, dafür zu sorgen, dass die Leute nicht zwischen die Fronten geraten. Wir erklären, lenken um, bitten höflich um Einsicht. Ein paar wenige schimpfen vor sich hin, folgen dann aber den Anweisungen. Die meisten reagieren vernünftig. Irgendwann werden wir zum Postplatz beordert, der ein paar hundert Meter westlich liegt, um das Ganze dort fortzusetzen. Die Bewegungen der Masse im Auge zu behalten.
Obwohl es erst April ist, flirrt die Luft über den Straßen. Die Häuserblöcke rundherum halten die Wärme des sonnigen Frühlingstages und unter der Vollschutz-Montur läuft mir der Schweiß. Ich habe den Helm abgesetzt, trotzdem fühlt sich das Atmen schwerfällig an. Franka holt zwei Flaschen Wasser aus einem der Autos und reicht mir eine. Gerade, als ich einen Schluck trinken will, erspähe ich eine Gruppe, die sich zügig in die Richtung bewegt, die wir eigentlich blockieren sollen. Es sind zwei Männer und eine Frau. Der eine, in Kapuzenpullover und Jeans, mit stachelig abstehenden Haaren, wirkt recht grimmig. Der andere trägt eine schwarze Hose mit Silberkettchen und ein kariertes Hemd. Ich sträube mich dagegen, ihn als Punk einzuordnen, weil heutzutage jeder diese Art von Klamotten tragen kann, aber so oder so ist das eindeutig die falsche Richtung. Ich lasse die Flasche stehen und kreuze ihren Weg, Franka im Schlepptau.
»Schönen guten Tag«, sage ich in freundlich-professionellem Ton. Es ist eine Stimmlage, die ich mir mit der Uniform anziehe. »Sie müssten bitte nach Süden ausweichen.« Ich weise in die entsprechende Richtung. »Hier können Sie nicht weitergehen.«
Die Gruppe bleibt stehen. Den beiden Typen ist ihr Widerwillen deutlich anzusehen, doch die Frau hebt lediglich eine Augenbraue.
»Wir können nicht?«
Etwas an ihr schreit nach Ärger, trotz ihres amüsierten Untertons, trotz der Art und Weise, wie sie den Kopf leicht zur Seite neigt und mich anlächelt. Für einen Moment verliere ich die Fähigkeit, zu antworten, geschweige denn wie ein Polizist zu agieren. Denn Polizisten starren keine Passantinnen an. Nicht so.
Dabei weiß ich im ersten Moment nicht einmal, wieso. Die Frau muss Anfang bis Mitte zwanzig sein. Sie ist kaum kleiner als ihre Begleiter, die langen, blonden Haare hat sie zu einem zerzausten Pferdeschwanz gebunden. Genau genommen wirkt alles an ihr ein wenig zerzaust – von den abgewetzten, dunkelblauen Sneakern über die zerrissenen, tief auf der Hüfte sitzenden Jeans bis hin zu dem weiten, zwei Finger breit Haut freilassenden Shirt, das ihren Körper umspielt. Und obwohl sie eher nach Feierabendbier an den Elbwiesen aussieht als nach Möchtegern-Punk wie ihre Begleiter, sagt mir die Art, wie sie ihre Arme verschränkt, dass sie niemand ist, der gern beiseitetritt.
Mit einem Räuspern zwinge ich mich in die Professionalität zurück und deute die Straße hinunter. »Dort hinten laufen noch Demonstrationen. Es wäre besser, wenn Sie diese Route meiden.«
Der mit der Stachelfrisur schnaubt. »Habt ihr die Nazis wieder nicht im Griff? War ja klar.«
Franka neben mir versteift sich merklich und auch ich spanne mich an, werde aufmerksamer. Doch die Frau lacht nur, wobei nur in diesem Kontext völlig unangebracht ist. Ihr Lachen ist wie die Sonne. Ich kann kaum hinsehen und gleichzeitig muss ich.
Jetzt hör auf zu starren, ermahne ich mich in Gedanken. Als ob das so einfach wäre!
»Reg dich ab«, ermahnt die Frau ihren Kumpel. »Der Herr Wachtmeister hier macht nur seinen Job.«
In diesem Moment bin ich dankbar dafür, dass mir in der Uniform ohnehin schon warm ist. So fällt ihr hoffentlich nicht auf, wie mir die Röte ins Gesicht steigt, während ich nicke. Keine Ahnung, warum ich ihr zustimme. Vielleicht bin ich abgelenkt davon, dass sie so hell ist. Die blaugrünen Augen über Sommersprossen, die kleinen Fältchen rundherum, das alles führt offensichtlich zu einem Kurzschluss in meinem Nervensystem, denn anders kann ich mir nicht erklären, was hier passiert.
»Also dann …« Sie zwinkert mir zu, als wüsste sie genau, was ich denke. Dabei kann hier von Denken wirklich nicht mehr die Rede sein. »Schönen Tag noch.«
Grinsend tippt sie sich mit zwei Fingern gegen die Schläfe, bevor sie ihre Begleiter mit einer Kopfbewegung anweist, sich in die andere Richtung zu wenden.
Franka antwortet »Ebenfalls«, und dann gehen die drei davon.
Ich sehe ihnen nach, sehe ihr nach, wie einem Sommertag, der sich dem Ende neigt. Verdammt, was für ein Schwachsinn! Verdammt, ich fluche nie.
Erst als sie außer Sicht sind, gehe ich zurück zum Auto, schnappe mir die Wasserflasche und leere sie in einem Zug.
Bereits im Treppenhaus schlägt mir wohlige Kühle entgegen. Mit einem müden Seufzen schließe ich die Wohnung auf, trete in den Flur und lehne mich dann einen Moment von innen gegen die Tür, bis meine Augen sich an den Lichtwechsel gewöhnt haben. Ich atme in die Stille hinein. Der Tag klebt mir auf der Haut und noch auf dem Weg zum Bad schäle ich mich aus den verschwitzten Klamotten. Dann steige ich unter die Dusche und lasse lauwarmes Wasser über meinen Körper laufen, durch die Haare, über das Gesicht. Nachdem ich das Wasser abgestellt habe, bleibe ich noch stehen und fühle die letzten Tropfen zu Boden gleiten.
Ein Handtuch um die Hüfte gewickelt, gehe ich in die Küche. Das Fenster ist angekippt. Von draußen dringt gedämpfter Verkehrslärm herein, gemischt mit abendlichem Vogelzwitschern, ein paar Glockenschlägen aus der Ferne. Ich öffne den Kühlschrank und nehme die Schale mit dem Gemüse heraus, das ich heute Morgen geschnitten habe. Das Dressing rühre ich frisch an, gebe es darüber und vermenge alles. Ich schlage drei Eier in die Pfanne, und während sie vor sich hin brutzeln, schiebe ich zwei Scheiben Brot in den Toaster. Dann hole ich den Laptop und stelle ihn auf den Tresen zwischen Küche und Wohnbereich.
Bin gleich so weit, tippe ich. Du auch?
Als Antwort erhalte ich einen lächelnden Smiley.
Ein paar Minuten später habe ich eine Jogginghose und ein helles Shirt angezogen und sitze mit meinem Salat samt Beilagen vor dem aufgeklappten Laptop. Es braucht nur ein Klingeln, ehe sie abnimmt.
»Hey, Mama«, begrüße ich sie. Meine Mundwinkel verziehen sich automatisch, bis das Lächeln meine Augen erreicht.
»Hallo, August, mein Schatz.« Ihre Haare sind noch feucht und sie trägt ihr geblümtes Lieblingskleid. Das Strahlen in ihren Augen vermag beinahe die Schatten darunter zu verbergen. Vor ihr steht ein dampfender Teller mit kleinen Klößchen in Soße, dazu ein Häufchen Reis.
»Königsberger Klopse?«, frage ich und sie nickt.
Das Essen meiner Kindheit. Papa zuliebe aßen wir jeden Sonntag Königsberger Klopse, bis ich sie selbst genauso mochte. Es gab Königsberger Klopse zu meiner Schuleinführung, zur Konfirmation, zu Papas Beerdigung. Das Rezept steht in dem kleinen Büchlein, das meine Mutter mir zum Auszug mitgegeben hat. Obwohl ich mich wieder und wieder daran versuche, schmecken sie nie wie ihre.
»Soll ich dir welche aufheben?« Als hätte sie meine Gedanken gelesen.
Lächelnd schüttle ich den Kopf und stecke mir eine Gabel voll Gemüse in den Mund. Es ist noch kein regionales, doch die sommerliche Fülle lässt sich bereits erahnen.
»Du siehst müde aus«, spreche ich aus, was ich schon als Allererstes dachte.
»Du auch«, antwortet Mama nur und legt all ihre Wärme in ihren Blick. Sorg’ dich nicht um mich, sagen ihre Augen, doch wer sollte es sonst tun? Wir sorgen füreinander, seit Jahren schon. »War wieder viel los heute?«
Ich zucke mit den Schultern. Wahrscheinlich ist sie besser informiert als ich, weil sie den Liveticker verfolgt hat. Es ist eine dieser Unarten, dass alle über alles bereits Bescheid wissen, bevor es vorbei ist, und noch währenddessen auswerten, was die Polizei vor Ort hätte besser machen können. Doch wir sind mittendrin. Mama wertet natürlich gar nichts aus – sie will nur wissen, dass ich nicht Teil der Eskalation war.
Am Bahnhof Mitteging es zum späten Nachmittag hin noch heiß her. Schlecht organisiert, wettern die Altklugen von außen. Keine Ahnung, wie man sich gegen solche Wut organisieren soll. Man kann Feuer nicht mit Feuer bekämpfen, trotzdem wird genau das erwartet.
»Franka und ich waren am Neumarkt. Eher ruhig«, erkläre ich. »Ein paar Leute umleiten, den Überblick behalten … solche Sachen.«
Ohne dass ich es verhindern kann, flackert ein Bild vor meinem inneren Auge auf: ein sommersprossiges Gesicht, blaugrüne Augen, zerzauster, blonder Pferdeschwanz. Ein paar Leute umleiten. Als hätte sich ihr Leuchten in mein Gehirn gebrannt und etwas inmir umgeleitet. Dann sehe ich meine verklärte Miene links unten auf dem Bildschirm und verschlucke mich beinahe an dem Stück Rührei, das ich mir nebenbei in den Mund geschoben habe.
»Das ist gut.« Mama scheint von alledem nichts zu bemerken. »Und wie geht es Franka?«
Während ich mich wieder meinem Essen widme, lächle ich in mich hinein. Das ist keine Small-Talk-Frage, sie will das wirklich wissen. Meine Mutter ist der fürsorglichste Mensch der Welt. Immer, wenn mir das auffällt, muss ich an meine Ex-Freundin Iris denken, die genau das gehasst hat, und mein Herz bekommt einen Stich. Franka kommt wohl einer Schwiegertochter am nächsten, allerdings in der Freundschafts-Edition.
»Sie heiratet bald.«
»Oh, das ist wundervoll!«
»Ja«, bestätige ich. »Ja, das ist es.«
Franka war schon mit Philipp liiert, als wir uns in der Ausbildung kennenlernten, trotzdem hat es weitere fünf Jahre gedauert, bis er ihr den Antrag machen durfte – der Form halber, denn sie hatten das Thema zuvor monatelang diskutiert. Für sie war es eine überflüssige Formalität, für ihn eine Herzensentscheidung, und dass sie sich dennoch in der Mitte trafen, spricht wohl mehr als alles andere dafür, dass es die richtige ist.
Ich spüre die Frage, die in der Luft hängt. Das tut sie öfter, je länger das mit Iris her ist, obwohl Mama sie nie ausspricht. Wenn es jemanden gäbe, würde sie es wissen. Aber es gibt niemanden. Es gibt nur uns beide, den Job, den Sport und meine Freundschaft mit Franka. Anfangs schleifte mich Franka hin und wieder zu Doppeldates mit irgendwelchen Bekannten, bei denen ich nur mit halbem Herzen anwesend war. Mittlerweile hat sie es aufgegeben. Und so gibt es niemanden, für dessen Vorstellungen ich mich aufgeben müsste. Es gibt niemanden, der mich wieder zerstören könnte. Und noch viel wichtiger: niemanden, den ich enttäusche. Ich bin vielleicht nicht viel, aber ganz. Und das reicht.
Zieglers Blumenbinderei befindet sich in einer Nebenstraße im Erdgeschoss eines Eckhauses. Die schmutziggelbe Fassade ist ein wenig in die Jahre gekommen, vom Treppengeländer blättert der Lack. Kombiniert mit den verschiedenen Pflanzenkübeln, die meine Mutter zu Dekorationszwecken auf der Treppe drapiert, ergibt sich ein vor Leben strotzender Kontrast. Im Schaufenster rankt sich dichtes Blattwerk um bunte Zaunfiguren aus Blech. Ein paar einzelne Vasen mit saisonalen Schnittblumen runden das Bild ab. Vor ein paar Jahren habe ich angefangen, den Türrahmen mit Acryllack zu verzieren, bin aber nie fertig geworden. Jedes Mal, wenn ich davorstehe, nehme ich mir vor, es fertigzustellen. Dann kommt das Leben dazwischen.
Früher musste ich nur über die Schwelle treten und der Klang des kleinen Glöckchens über der Tür hat mich sofort in eine Parallelwelt befördert. Eine, die nach Holz und feuchter Erde riecht und nach irgendetwas Frischgebackenem, für das meine Mutter extra früher aufgestanden ist, damit wir es uns nach Feierabend schön machen können. Das hier war nie nur ein Arbeitsort. Es war ein Lebensraum, es war mehr Zuhause als es der Ort, der diesen Namen eigentlich trug, je hätte sein können, es war eine Zuflucht, als dort alles den Bach runterging. Egal, wie sehr die Welt da draußen aus den Fugen geriet, hier drinnen gab es nichts als dunkelgrüne Geborgenheit.
Kai und ich haben die Innenwände des Lädchens damals in diesem Farbton gestrichen. Es lässt die Blumen strahlen, die in schlichten Keramiktöpfen auf gestuften Holzregalen stehen. Zurzeit sind es vor allem Pfingstrosen, Hortensien, Freesien und Levkojen in verschiedenen Rosa- und Violetttönen, dazwischen Weiß, hier und da ein kräftiges Rot oder Gelb.
Obwohl dieser Safe Space mittlerweile mit der Realität kollidiert ist, erzeugt das Glöckchen noch immer ein warmes Echo in meiner Brust. Mein tiefes Einatmen ist ein lebenslang antrainierter Reflex. So vieles hat sich verändert, doch der Geruch ist immer noch gleich: die blumige Kopfnote, die holzig-erdige Basis. Und das Herz des Ladens erscheint ein paar Sekunden später in der Tür zur Werkstatt.
»Johanna, meine Liebe.« Meine Mutter wischt sich die Hände trocken, während ich ihr beim Anblick der vertrauten Geste entgegenlächle. »Schön, dass du da bist.«
Sie zieht mich in eine Umarmung und streicht mir dabei ein-, zweimal über den Rücken. Heute duftet sie nach Brot.
»Entschuldige die Verspätung. Auf Station war die Hölle los.«
Genau genommen trifft diese Aussage auf jeden zweiten Dienst zu. Ich weiß nicht, ob es am Uniklinikum liegt oder an der Branche – ziemlich sicher Letzteres –, aber ich komme selten zum Sitzen. Zum Luftholen. Selbst die Toilettengänge sind rar, was jedoch nicht weiter auffällt, da ich sowieso kaum Gelegenheit zum Trinken habe. Gesetzliche Pausen? Fabelwesen. In der Pflege zu arbeiten muss man schon wollen. Reich wird man davon nicht. Nur müde. Und hin und wieder auf eine absurde, kaum erklärbare Weise zufrieden. Das ändert nichts daran, dass die meisten von uns spätestens mit Fünfzig aus den Latschen kippen werden. Unser Ethos ist das Immunsystem dieses Berufs. Zunehmend angeschlagen, aber darin konstant. Was kann da schon schiefgehen?
»Das glaube ich – nach dem gestrigen Nachmittag.« Meine Mutter wirft mir einen prüfenden Blick zu und ich weiß, was sie fragen will und gleichzeitig nicht ausspricht.
»Auf dem Neumarkt war die Stimmung gut«, sage ich mit einem Schulterzucken. Mir entgeht nicht, dass sie kaum merklich aufatmet. Nein, ich mache keine Blockaden mehr mit. Und ich klettere auch nicht mehr über Bauzäune, um mich vor der Polizei zu verstecken.
Sicher bin ich schuld an so manchem grauen Haar auf dem Kopf meiner Mutter. Sie hat nie versucht, sie zu verstecken, trägt die mittlerweile melierte Mähne in einem langen, geflochtenen Zopf, der ihr seitlich über die Schulter fällt. Sie ist wunderschön, innen und außen, und es schmerzt mich nach wie vor, dass mein Vater sie weggeworfen hat wie eine vertrocknete Blume. Dabei strahlen Trockenblumen so viel dauerhafter, nicht nur für ein paar Tage.
Die Köpfe der Strohblumen knistern leise, als ich mit den Fingern darüberstreiche. Meine Mutter verziert mit ihnen die Regale – sattgelbe, rote und pinke Farbtupfer auf dunklem Holz.
»Was gibt es heute zu tun?«, frage ich, während ich meine Runde durch den Laden drehe.
»Wir bekommen noch eine Lieferung.« Sie inspiziert ihren Kalender, der aufgeschlagen neben der Kasse liegt. »Gegen halb sechs. Bis dahin könntest du hier die Bestände durchgehen.«
»Okay.«
Ich nehme mir die Vasen einzeln mit ins Atelier, breite die Blumen nebeneinander auf der langen Werkbank aus. Ich drehe sie zwischen den Fingern, prüfe die Blüten. Bei denen, die noch frisch aussehen, schneide ich die Stiele schräg an und wechsle das Wasser. Mit jedem Handgriff wird mein Kopf leiser. Die Spannung in meinen Schultern weicht unter den routinierten Bewegungen, die ich über die Jahre tief verinnerlicht habe. Und doch, ein bisschen ist es immer noch wie früher: nur sie und ich, etwas weniger heil, aber trotzdem eine eigene Welt.
Meine Mutter bindet währenddessen Sträuße und bedient die wenigen Leute, die sich um diese Zeit noch in den Laden verirren. Aufgrund der Lage hat sie wenig Lauf- und viel Stammkundschaft. Hin und wieder gibt es einen Großauftrag zu Hochzeiten oder Messen. Zieglers Blumenbinderei ist eine kleine Marke, dafür eine beständige. Meine Mutter wird niemals reich sein, doch sie ist zumindest unabhängig. Gut so. Lange genug hat sie darum gekämpft. Und viel zu oft tut es mir leid, dass diese Marke mit ihr enden wird.
Kurz vor halb sechs läutet das kleine Glöckchen erneut. Reflexartig drehe ich den Kopf in Richtung Tür, doch es ist nicht der Lieferant, den wir erwarten, sondern Kai, der den Türrahmen beinahe ausfüllt. Sein linkes Auge hat einen violetten Rand und seine Oberlippe ist an einer Seite geschwollen. So viel dazu, die Realität auszusperren. Sie hatte schon immer die Angewohnheit, sich mit einem Schlag in die Magengrube zurückzumelden.
»Hey, Süße«, begrüßt mich Kai.
Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. Er weiß, dass ich das hasse – wenn er mich Süße nennt. Und noch mehr, wenn er sich prügelt. Es turnt mich so was von ab, vor allem, weil Kai so dermaßen darauf steht. Ausgerechnet er. Gleichzeitig hoffe ich, dass seine Blessuren keinen anderen Ursprung haben. Auch wenn ich nicht weiß, was von beidem schlimmer wäre. Oder doch, ich weiß es. Und es lässt mein Herz ziehen. Auf die schlimmstmögliche Weise.
Ich erwidere ein tonloses »Hey«, dann wende ich mich wieder den Blumen zu.
»Ist das alles?« Er tritt näher und will mir einen Kuss auf die Wange geben.
Erneut funkle ich ihn an und er lässt es, nicht ohne ein leises Schnauben auszustoßen. Bevor ich reagieren kann, kommt meine Mutter aus dem Atelier, in jeder Hand einen frischen Strauß. Als sie Kais Blessuren wahrnimmt, verharrt sie mitten in der Bewegung. Ihr Blick schnellt zu mir, ich hebe kaum merklich die Schultern. Ich weiß es doch auch nicht. Es gibt die unausgesprochene Regel, dass wir ihn nicht mehr danach fragen, geschweige denn versuchen, etwas dagegen zu tun. Wir haben es versucht. Mehrfach. Mit dem Resultat, dass wir ihn wochenlang nicht zu Gesicht bekamen und hinterher alles nur noch schlimmer war.
Ein altbekannter Schatten huscht über das Gesicht meiner Mutter. Wir teilen diese Hilflosigkeit schon zu lange, um es nicht zu sehen. Im Gegensatz zu mir fängt sie sich innerhalb eines Sekundenbruchteils und geht dazu über, das zu tun, was sie am allerbesten kann: Sie gibt ihm das Gefühl, hierherzugehören.
»Kai, mein Junge«, begrüßt sie ihn und steckt die Sträuße in die kleineren Vasen auf dem Fußboden.
Irgendwie schafft sie es, dass ihr Lächeln nicht erzwungen wirkt, im Gegenteil. Es strahlt eine Wärme aus, die sogar auf mich übergreift und mich daran erinnert, dass es besser ist, Kai mit seinen blauen Flecken hier bei uns zu haben, als dass er sich woanders neue einhandelt.
»’N Abend, Frau Ziegler.« Er tippt sich mit der Hand gegen die Stirn und lässt seinen Rucksack in die Ecke hinter dem Tresen fallen.
»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mich Martina nennen sollst?« Sie stemmt die Hände in die Hüften.
Kai zwinkert ihr zu und ihre gespielte Empörung hält keine fünf Sekunden. Es ist ihr Ding, schon immer. Kai gehört zur Familie, trotzdem siezt er meine Mutter. Als wäre das eine letzte Grenze, nach deren Überschreitung er aufhören müsste, ihre Tochter zu vögeln, weil es andernfalls wirklich schräg wäre. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, regelmäßig zum Essen aufzuschlagen – vor allem sonntags, wenn es Frikassee gibt.
»Na, komm schon her«, verlangt sie und breitet die Arme aus, die sich kurz darauf um seinen breiten Rücken schließen. Womöglich ein bisschen fester, als es für eine einfache Begrüßung angemessen wäre.
»Kann ich was helfen?«, fragt Kai, als er wieder frei ist, und kratzt sich mit einem schiefen Grinsen am Hinterkopf, was sich aufgrund der aufgeplatzten Lippe schnell zu einer schmerzverzerrten Grimasse verwandelt.
Ein Teil von mir will ihm sagen, dass er auch willkommen wäre, wenn er nichts beisteuert. Dass er nicht im Weg ist, dass er nicht stört, nur weil er nichts Nützliches tut. Doch ein anderer Teil ist immer noch sauer auf ihn, weil er auf dieser sinnlosen Krawall-Demo war. Am liebsten würde ich ihn hochkant rauswerfen, damit er es endlich mal lernt. Aber genau diese Art hat ihn ja überhaupt erst zu dem gemacht, der er ist.
»Wir bekommen gleich eine Lieferung«, sage ich also und deute auf die Eingangstür. »Vielleicht kannst du mit anpacken.«
Er nickt und wie aufs Stichwort fährt draußen ein Transporter mit dem Logo des Lieferanten vor. Heraus steigt ein Mann mit dunkler Hose und kurzärmeligem Hemd, der die grüne Schirmmütze abnimmt und mit zusammengekniffenen Augen die Blumenbinderei mustert. Während meine Mutter ihm entgegengeht, um die Formalitäten abzuwickeln, hole ich mit Kai ein paar Eimer aus dem Lager. Er kennt die Abläufe genauso gut wie ich und ich bin froh, dass wir hierfür keine Worte brauchen. Sie hätten ohnehin Mühe, sich an all dem Unausgesprochenen vorbeizuzwängen.
Am Lieferwagen nehmen wir die in Folie gewickelten Sträuße entgegen und stecken sie in unsere Eimer. Die vollen trägt Kai nach drinnen. Meine Mutter hakt die jeweilige Stückzahl auf ihrer Liste ab. Zum Schluss gibt sie dem Fahrer ein Trinkgeld und eins ihrer selbst belegten Spiegelei-Brötchen. Er bedankt sich mit einem Nicken, dann holpert der Transporter davon.
Die restliche Zeit verbringen wir damit, Folien aufzureißen, Blumen vor uns auszubreiten und zu sortieren. Wir trennen die überschüssigen Blätter ab, schneiden die Stiele an. Dann stellen wir einen Teil der Blumen in Vasen, den Rest bringen wir in den Eimern ins Lager. Meine Mutter ordnet die Vasen im Verkaufsraum nach ihren Vorstellungen an und ergänzt die bereits geprüften Bestände.
Es ist schon nach sieben, als Kai die letzte Rose anschneidet. Sie ist blutrot und er dreht sie zwischen den Fingern, die Augen auf mich gerichtet. Ich runzle die Stirn, kann aber das Zucken meiner Mundwinkel nicht unterdrücken. Das gemeinsame Arbeiten, jeder für sich, aber nebeneinander, hat mich merklich versöhnt. Kai wirkt ähnlich gelöst, trotz seines blauen Auges, das ihn ein wenig wild aussehen lässt – noch wilder als sonst. Er steckt die Rose zu den anderen und trägt die Vase in den Verkaufsraum. Ich wische mir die Hände an der grünen Schürze ab, dann greife ich mir den Besen und fege den Verschnitt zusammen.
Meine Mutter hat inzwischen die Abrechnung beendet und den Tresen freigeräumt. Statt Blumen steht dort nun ein Teller mit belegten Brötchen, die sie dem Anschein nach selbst gebacken hat, außerdem eine Schale mit kleinen Tomaten und eine mit Gewürzgurken. Aus dem Kühlschrank in der Garderobe holt sie für jeden von uns eine Flasche Limonade.
»Mhmm«, macht Kai, der gerade seine Schürze abnimmt und an den Haken hängt. »Das sieht super aus. Sollte gerade reichen, oder?«
Er schenkt meiner Mutter ein schelmisches Grinsen. Ich knuffe ihn gegen den Oberarm. Die Portion reicht locker für die doppelte Anzahl an Personen. Andererseits kann Kai auch essen wie drei Personen – in dem Sinne wird er wohl recht behalten.
Sobald ich in mein Brötchen beiße, merke ich, wie hungrig ich bin. Nach der Arbeit hatte ich mehr Lust auf ein Nickerchen und danach war ich so im Flow, dass ich das Essen vergessen habe. Das passiert mir oft, obwohl ich gern esse. Allerdings nur, wenn es bereits auf dem Tisch steht – zur Zubereitung muss ich mich meist überwinden. Es ist eine der wenigen Eigenschaften, die ich von meinem Vater habe. Meine Mutter liebt es, Essen zuzubereiten – noch mehr, wenn sie es für andere tut. Nun lächelt sie vor sich hin, während Kai ein Brötchen nach dem anderen verschlingt. Ich reiße mich zusammen, kaue langsam, lasse den Geschmack nach Kindheit und Zuhause auf meiner Zunge zergehen. Als selbst Kai schließlich kapituliert, sind nur noch zwei Brötchen übrig, die meine Mutter ihm selbstverständlich einpackt.
»Nimm schon«, sagt sie, als er protestieren will, »du kannst es gebrauchen!«
Der eineinhalb Köpfe größere und doppelt so breite Kai nickt und steckt die beiden Brötchen in die Taschen seines Pullovers, den er an den Haken neben der Kasse gehängt hat.
Draußen auf der Treppe trinken wir kurz darauf zu zweit unseren Rest Limonade. Die Steinstufen sind warm, die Sonne blitzt zwischen den Häusern hindurch und taucht den Abend in ein sanftes Licht. Ich atme tief ein, erst die Luft, dann den Duft nach Orange, bevor ich den letzten Schluck nehme. Ein Hauch von Vorfreude auf den nahenden Sommer.
»Bist du fertig?«
Kai nickt und trinkt ebenfalls aus. Ich nehme ihm die Flasche ab und will sie nach drinnen bringen.
»Kann ich heute bei dir pennen?«
Ich halte in der Bewegung inne. Kais Stimme ist leise, er spricht nach vorn, ohne mich anzusehen. Etwas in mir ballt sich zusammen, ein Knoten aus abgestandener Wut. Es kommen immer mal wieder Fäden dazu, doch der Knoten wird nicht größer, eher fester. Und ich weiß nicht einmal, worauf ich wütend bin. Oder doch, ich weiß es: auf das Leben. Auf die Umstände, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Unsere abwesenden Arschlochväter, Kais Wrack von Mutter. Meistens fällt es mir leicht, die Wut zu ignorieren. Es ist auch nicht die gleiche Art wie bei Kai: die, die einen explodieren lässt. Ich knote und knote und knote, bis sich mein Inneres ganz hart anfühlt. Und das ist gut, oder nicht? Es macht mich unzerstörbar. Es macht mich eiskalt.
Aber dieser Moment fühlt sich an wie eine offene Wunde. Nadelspitzengleich bohren sich seine Worte in meinen Kopf. Denn mir ist klar, was es für ihn bedeutet, wenn ich Nein sage, und fuck, ich kann ihn nicht zu dieser Frau gehen lassen. Jedes Mal, wenn er dort ist, kommt er nur noch explosiver zurück.
Also sage ich »Okay«, obwohl nichts daran okay ist und ich eigentlich nur schlafen will. »Hast du alles dabei?«
»Immer«, antwortet er. »Weißt du doch.«
Ja. Ja, leider weiß ich das. Genauso wie er weiß, dass es in meinem Schrank eine Kai-Ecke gibt. Für den Notfall. Nur dass sein Leben genau genommen ein einziger Notfall ist. Und dieses halbe Regalbrett sein einziges Stück Zuhause.
Mit einem steinharten Gefühl im Magen bringe ich die leeren Flaschen rein.
Meine Mutter nimmt sie lächelnd entgegen. »Danke für eure Hilfe«, sagt sie und umarmt mich fest.
»Nicht dafür«, erwidere ich.
»Du passt doch auf ihn auf, oder?« Ihr Tonfall ist schlagartig ernst und ich spüre, wie ihre Worte mir den Brustkorb zuschnüren.
Am liebsten möchte ich antworten, dass ich seit Jahren auf ihn aufpasse, dass das aber leider nicht reicht, weil wir keine Kinder mehr sind, die man abends in den Arm nimmt und ihnen sagt, dass morgen alles wieder gut ist, und daran glaubt. Weil nichts gut ist. Weil über uns diese Gewitterwolke hängt und es sich zuweilen anfühlt, als würden wir im ewig andauernden Eisregen stehen, der einfach alles durchdringt. Und ich kann Kai nur gelegentlich ein Dach anbieten, wissend, dass es immer löchriger wird, wissend, dass wir früher oder später erfrieren.
Stattdessen nicke ich, und als ich ihr erleichtertes Lächeln sehe, glaube ich mir fast selbst. Immer, immer. Wir sind immer noch riesengroß, nur nicht auf die gute Art.
Da Kai mit der Bahn gekommen ist, fahren wir zu zweit auf meinem Fahrrad nach Hause. Er sitzt auf dem Sattel, ich auf der Lenkerstange, mit dem Rücken gegen seinen Oberkörper gelehnt. Der Wind weht ihm meine Haare ins Gesicht und hin und wieder fühle ich seine Wange an meiner. Sein Aftershave ist immer noch das gleiche wie früher und in diesem Moment sind wir nichts als eine Illusion dessen, was wir hätten sein können, wenn doch alles gut geworden wäre.
Wir sprechen nicht, bis wir bei mir sind. Nachdem das Rad im Keller verstaut ist, stapft Kai hinter mir her in den dritten Stock. Ich schließe die Wohnungstür auf und wir schlüpfen aus den Schuhen. Neben seinen klobigen, schwarzen Turnschuhen wirken meine Chucks fast schon zerbrechlich.
»Willst du was trinken?«, durchbreche ich die Stille, weil ich keine Ahnung habe, was ich sonst sagen soll.
Die Stimmung ist seltsam nahbar und jedes Wort kommt mir vor wie ein Kleidungsstück, das ich abstreife. Ich habe kein Problem damit, körperlich nackt zu sein, aber das hier fühlt sich roh an und verdammt beängstigend.
Kai schüttelt den Kopf.
»Willst du vögeln?«
Erneutes Kopfschütteln. Ich unterdrücke ein Seufzen.
»Okay.«
Am liebsten würde ich es gut sein lassen. Aber ich kann nicht. Genauso wenig wie ich ihn früher nach Hause schicken konnte, wenn er sich mitten in der Nacht reingeschlichen hatte. Er mag seitdem gewachsen sein, aber in manchen Dingen ähnelt er immer noch dem tropfnassen, zitternden Jungen. Die Erinnerung lässt mich schlucken.
»Willst du über gestern reden?« Die Frage wiegt schwer auf meiner Zunge. Sie nicht zu stellen wäre noch schwerer, auch wenn ich es eigentlich nicht wissen will. Ich habe es ihm versprochen. Immer, immer.
Kai, der meinen Flur inspiziert, als wäre er noch nie hier gewesen, nur um mich nicht ansehen zu müssen, hält in der Bewegung inne.
»Was meinst du?« Seine Stimme klingt rau und viel zu verletzlich. Oder verletzt. Vielleicht beides.
Ich deute auf sein Gesicht und hoffe, dass das reicht.
Kai zuckt mit den Schultern. Sein Blick schweift zur Garderobe, über meine Taschen, Jacken, Schuhe, das kleine Sideboard daneben. Hauptsache von mir weg.
Ich mustere meinen besten Freund, der dank blauem Auge und aufgeplatzter Lippe noch grobschlächtiger wirkt als sonst, und trotzdem gerade so … Ich kann nicht anders, als klein zu denken. Vielleicht, weil ich nur sein Profil sehe und wie er schluckt. Vielleicht, weil Kais Schweigen verschiedene Nuancen hat, und diese hier so laut ist. Ich denke an die Art und Weise, wie er mich vorhin gefragt hat, ob er bei mir übernachten kann. Mein Kiefer spannt sich an und ich zwänge die Worte mit Gewalt hervor.
»Warst du danach zu Hause?«
Ruckartig schaut er mich an. »Nenn’ es nicht so!«
Der Ausdruck in seinem Gesicht würde jeden anderen zurückschrecken lassen. Mir tut er nur weh. Weil ich weiß, was er bedeutet. Wenn ihr ehrlich bin, wusste ich es schon vorher. Ich wollte es nur nicht wahrhaben.
»Bei … ihr, meine ich.«
Er nickt.
»Du hättest bei mir schlafen können.«
»Dachte, du hättest keinen Bock auf mich«, brummt er.
Hatte ich auch nicht. Aber das ist größer als solche Befindlichkeiten.
»Komm her«, sage ich sanft, und weil Kai sich nicht rührt, ziehe ich ihn in eine Umarmung. Ich muss mich dafür auf die Zehenspitzen stellen, zumindest bis er sich zu mir herunterbeugt und die Arme um meine Taille schlingt. Er vergräbt die Nase an meinem Hals, atmet gegen meine Haut.
»Ich kann sie doch nicht immer allein lassen.« Sein Flüstern würde sich auf dem Weg zu mir verlieren, wäre sein Mund nicht direkt neben meinem Ohr.
Die Worte fahren mir bis ins Mark. Ich löse mich von Kai, halte ihn an den Oberarmen von mir und sehe ihm fest in die Augen.
»Doch, das kannst du.« Das könntest du, korrigiere ich in Gedanken.
Er könnte, wenn er nicht jeden Job, den ihm entweder das Amt oder einer von uns vermittelt, binnen kürzester Zeit hinschmeißen würde. So viel geballte Energie passt in keine Struktur, will in keine Struktur passen. Er könnte sie allein lassen, doch solange er sich dagegen wehrt, sich selbst zu retten, ist er verloren. Er könnte, gäbe es da nicht diese eine, noch viel schmerzhaftere Wahrheit: Er will nicht.
»Komm«, sage ich erneut und greife Kais Hand.
Wir legen uns in mein Bett, voll bekleidet, bei offenem Fenster. Draußen verabschiedet sich der Tag mit lautstarkem Vogelgesang, mit Glockenläuten, mit abendlicher Betriebsamkeit. Es ist eine andere als am Morgen, sie klingt weniger hektisch, satt von den durchlebten Stunden.
Kai bettet seinen Kopf auf meinen Bauch. Seine Bartstoppeln kratzen durch den Stoff meines Oberteils. Ich beginne, leise zu summen, und fahre dabei mit den Fingern durch seine Haare, über die kurz rasierten Seiten, in seinen Nacken, über den Hals und seinen Kiefer entlang wieder nach oben bis zur Schläfe. Und von vorn. Schon nach wenigen Minuten wird sein Atem ruhiger, sein Körper entspannt sich.
Ich liege da, lausche und streichle, fühle und streichle, und friere bei jedem meiner Gedanken ein bisschen mehr. Es könnte so einfach sein. Es könnte, es könnte, es könnte. Doch wir sind nun mal kein Konjunktiv.
Am Mittwochmorgen stehe ich wie so oft am Elbufer und halte mein Gesicht in die Sonne. Reste der Nachtfeuchte lassen die Wiese zwischen Radweg und Fluss im Licht glitzern. Weiter hinten ragt die Silhouette der Altstadt in den Himmel, als würde sie sich nach den Sonnenstrahlen strecken, die die barocken Kuppeln und Türme nach und nach in Beige-, Grau- und Minttönen anmalen, mit einem Tupfen Gold hier und da.
An diesem Punkt habe ich etwa die Hälfte meiner üblichen Laufrunde hinter mir. Gerade genug, damit mein Atem etwas schwerer geht und mein Kopf frei genug ist, um mir diesen kurzen Moment des Innehaltens zu gönnen. Wenn ich zu lange stehen bleibe, fährt mein Kreislauf runter und meine Gedanken fahren hoch. Dann fange ich an, den Tag vorzudenken, oder noch schlimmer: mich an meinen letzten Dienst zu erinnern. Gestern hatte ich frei und das war nicht gut. Denn ich habe an sie gedacht. Die Frau auf der Demo. Kaum kam ich zur Ruhe, hatte ich ihr Bild vor Augen. Und ihr Lachen im Ohr. Jetzt auch. Weil sie wie ein Lichtfunken war und hier überall Licht ist und …
Himmel, was denke ich da?!
Genervt von mir selbst werfe ich einen Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk, die nicht nur die Zeit, sondern auch den Puls anzeigt. Ich rede mir ein, dass Letzterer nur von der Anstrengung so hoch ist. Alles andere wäre nicht unbedingt hilfreich, um bei der Arbeit irgendwem in die Augen sehen zu können.
Entschlossen, heute wieder August, der Vernünftige zu sein, wische ich mir den Schweiß von der Stirn, dann lockere ich die Schultern und setze mich in Bewegung. Ich überquere die Elbe auf der historischen Augustusbrücke, die mich immer wieder daran erinnert, wem ich nicht nur meinen Namen, sondern auch die schier unerschöpflichen Wortspiele damit verdanke. Von dort jogge ich auf der Altstädter Seite wieder stromaufwärts. Ein paar Raddampfer der Weißen Flotte liegen am Kai, das Wasser plätschert leise um sie herum. Der Radweg verläuft unter einer weiteren Brücke hindurch und dann erneut durch sattgrüne Wiesen. Er ist hier schmaler als auf der anderen Seite, immer wieder überholen mich Radfahrer, vereinzelte Skater, ein paar andere Jogger kommen mir entgegen. Im Vorbeilaufen nicken wir uns zu. Ich wähle die lange Route, folge dem Bogen bis zum Waldpark, der seinem Namen mit den alten, in wachsamer Stille emporragenden Bäumen alle Ehre macht. Normalerweise würde ich mir hier noch einen Moment gönnen, um die Atmosphäre in mich aufzunehmen. Durchzuatmen, bevor mich die Hektik des Tages einholt.
Müde, Herr Wachtmeister?
Beinahe stolpere ich über meine eigenen Füße. Warum hat sie mich so genannt? Und warum werde ich es nicht los?
Nein, es ist definitiv sicherer, wenn ich weiterlaufe. Und schneller! Je weniger Sauerstoff in meinem Gehirn ist, desto weniger unangemessene Gedanken kann ich haben.
Statt also wie sonst unter den Buchen und Kiefern stehenzubleiben, sprinte ich regelrecht durch den Park und anschließend durch Nebenstraßen bis nach Hause. Vor mir selbst fliehen – das konnte ich schon immer am besten.
Meine Wohnung liegt im Dachgeschoss eines Mehrfamilienhauses. Sie ist eigentlich zu groß für mich allein, sodass sie mich jedes Mal daran erinnert, dass Iris sich im letzten Moment entschieden hat, ihr Leben ohne mich weiterzuführen. Es war purer Trotz, dass ich den Mietvertrag schließlich von der Ablage auf meinem Schreibtisch nahm und ihn in den dafür vorgesehenen Ordner heftete. Ohne zweite Unterschrift. Warum ich mich für stark genug hielt, zu bleiben, ist mir heute noch manchmal ein Rätsel. Vielleicht habe ich lediglich die Illusion geschaffen. Starker Körper, starker Geist – heißt es nicht so?
Statt ihrer Staffelei befindet sich nun im dafür vorgesehenen Zimmer eine Trainingsecke: ein paar Kurzhanteln, eine kleine Bank, eine Matte. An der Wand habe ich eine Klimmzugstange montiert. Für Schlechtwettertage. Wann immer ich kann, trainiere ich draußen. Und wenn mein Kopf so richtig leer ist, dann glaube ich mir sogar selbst, dass es die richtige Entscheidung war, die Wohnung zu behalten. Dass es nicht an mir lag, dass Iris gegangen ist. Dass ich frei bin, alles zu tun, was ich möchte, und gleichzeitig vollkommen zufrieden mit dem, was ich habe. Mit meinen Routinen. Mit einem Leben, das nur mir gehört.
Frisch geduscht bereite ich mir ein spätes Frühstück. Das Geschirr spüle ich direkt danach, trockne es ab und verstaue es wieder im Schrank. Ich schreibe auf den kleinen Zettel am Kühlschrank, was ich verbraucht habe und für die nächste Woche einkaufen muss. Anschließend hole ich den Wäscheständer vom Balkon und verbringe den Rest des Vormittags damit, meine Wäsche zu falten, Hemden zu bügeln und spontan meinen Kleiderschrank aus- und wieder neu einzuräumen. Dabei mache ich mir eine gedankliche Notiz, dass ich für Frankas Hochzeit noch einen neuen Anzug brauche, denn der, den ich habe, wurde zuletzt getragen, als mein Vater … Nein, den kann ich unmöglich anziehen.
Als ich die Wohnung verlasse, befindet sich alles dort, wo es hingehört. Nur ich selbst fühle mich immer noch unsortiert.
Der Anblick von Frankas schwarz-blauem Trekkingrad, das mich vor dem Revier empfängt, macht den Tag schlagartig besser. Ich stelle meins daneben und werfe einen Blick auf die Uhr. Genau eine halbe Stunde bis zum Dienstbeginn. Ab hier habe ich einen klaren Fahrplan und allein der Gedanke lässt mich ruhiger werden. In der Umkleide schlüpfe ich aus meiner Alltagskleidung und ziehe die Uniform an. Darüber kommen eine Schutzweste und der Gürtel mit meiner Ausrüstung: Pfefferspray, Handfesseln und das Holster, in dem die Dienstwaffe steckt. Ich habe diese Bewegungen schon so oft ausgeführt, und trotzdem prüfe ich am Ende noch einmal alles. Keine Fehler. Heute werde ich funktionieren.
Deutlich leichter bekleidet als am Montag verlasse ich den Umkleideraum, um meine Spätschicht anzutreten. Ich finde Franka am Schreibtisch, wo sie die gestrigen Lageberichte checkt. Als ich neben sie trete, hebt sie den Kopf und lächelt mir zu.
»Hey«, begrüßt sie mich.
»Hey.« Ich nicke in Richtung des Bildschirms. »Du bist früh dran.«
»Phil und ich waren noch brunchen. Hätte sich nicht gelohnt, noch einmal nach Hause zu fahren.« Sie schließt den Bericht, den sie gerade gelesen hat, mit einem Mausklick und fährt den PC herunter. »Wollen wir?«