Recht - David G.. Weiss - E-Book

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David G.. Weiss

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Beschreibung

Verrat, Rache und Selbstjustiz Ermordete Banker in Frankfurt, ein brutal hingerichteter Toter in Wien. Auf den ersten Blick haben diese Fälle nichts miteinander zu tun - bis Josephine Mahler und Gernot Szombathy ins Spiel kommen. Weitere grausame Morde folgen, und jedes Mal erhalten die beiden merkwürdige alarmierende Hinweise. Die Bedrohung kommt nicht aus der Vergangenheit, sondern ist erschreckend real und gegenwärtig. Zusammen mit Chefinspektor Ernst Wotruba aus Wien und Kriminalhauptkommissar Sebastian Kniewasser aus Frankfurt versuchen sie, Licht ins Dunkel zu bringen. Doch als sie beginnen klarer zu sehen, stellen sie fest, dass sie selbst zu Hauptverdächtige geworden sind - und die Grenzen zwischen Recht und Unrecht zusehends verschwimmen.

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www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2015 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: plainpicture/Millennium

eBook-Produktion: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

ISBN 978-3-7844-8219-4

Präambel

Den Namen des Rechts würde man nicht kennen, wenn es das Ungerechte nicht gäbe.

(Heraklit von Ephesus)

Das einzige, das mich hochhält, ist die Hoffnung auf den Tag der Rache, auch wenn er noch so fern ist.

(Rudolf Heß an seine Eltern 1919)

Einleitung.

Von den schlimmen Vorzeichen, die sich aus der Vergangenheit ergeben.

Las Vegas, 3. Mai 2013.

Ewald Steuben troff ein Speichelfaden aus dem halb geöffneten Mund. Über der Brust wurde es kalt und nass. Träume und Visionen quälten ihn zwischen den Medikamentengaben, sie schmeckten nach Blut, Schweiß und Tod. Erinnerungsfetzen, zu dem Quilt zusammengenäht, in dem der Doktor aus Deutschland lebendig aufgebahrt lag. Ewald Steuben war am Leben wie das Schimmelgeflecht an der Zimmerdecke. Das Licht der Neonlampen blendete, unter der Weste war es heiß. Steuben vegetierte vor sich hin, tagein und tagaus. Rannte er mit der Stirn gegen die Wand, in der Hoffnung, die Endlosschleife in seinem Kopf zu verfinstern und die Tonspur zu überbrüllen, neutralisierten Schaumstoff und Kunstleder der Zellenpolsterung den Befreiungsschlag. Ewald Steuben stürzte dann auf den Boden zurück und blieb ganz still auf dem Rücken liegen, stumm und duldsam wie ein Mistkäfer in der eigenen Scheiße.

Der Pfleger überprüfte durch das Sichtfenster die Lage im Kriseninterventionsraum und entriegelte dann die Tür. Er drängte in die Weichzelle, packte den Insassen am Schlafittchen und zog ihn auf die Füße. Nicht zu glauben, dass dieses Häufchen Mensch ein Doktor der Naturwissenschaften gewesen war, ein Kybernetiker von Weltruf aus Berlin. Nirgends war man so am Ende wie im Babel inmitten der Mojave-Wüste von Nevada. Hunter S. Thompson hatte das Kind beim Namen genannt: For a loser, Vegas is the meanest town on earth. Fear and Loathing in Las Vegas. Der Kraut in der Gummizelle war dafür der beste Beweis.

Steuben gluckste voll Vergnügen, als er den Krankenpfleger wahrnahm. »Guten Tag, emsiges Bienchen des Hippokrates!« Er rollte mit den Augen und suchte das Gesicht des Besuchers, der ihn am Kragen gepackt auf Distanz hielt. »Colmenita, fleißiges Bienchen, kommst du mich holen?« Steubens Kopf pendelte von einer Schulter zur anderen, doch die Visage des Pflegers blieb im toten Winkel. Wollte sich nicht noch mal beißen lassen, der Schlaumeier. Steuben grinste. Mit etwas Glück war diese Visite die letzte.

Esteban Sanchez verdrehte die Augen. Der Chicano verstand außer »Bienchen« kein Wort. Esteban musste wegen der Sprache und dem Blondhaar des Patienten immer an die deutschen Offiziere in den Hollywoodfilmen denken. An die selbstgefälligen Nazis mit Seitenscheitel, die Kippe verrückterweise zwischen Mittel- und Ringfinger. Stereotypen, genau wie die Mariachi-Musiker mit Schnauzbart und Sombrero. »Gringos otarios!« Sanchez schnalzte mit der Zunge und meinte mit den »blöden Ausländern« nicht nur die Patienten des Rawson Neal Psychiatric Hospital. Die Blödheit war eine Konstante der Unendlichkeit. Esteban seufzte. Er hielt die Riemen der Leinenweste umklammert und bugsierte Steuben aus der Weichzelle. Das sabbernde Weißbrot verströmte im Moment wenig Herrenrasse. »¡Dios mío!« Sanchez stockte der Atem. Er wedelte sich den Körpergestank des Krauts aus dem Gesicht, wandte sich ab und presste sich die Faust vor die Lippen. »¡Date prisa!« Er musste schnell machen, den Problemfall wegschaffen, Anweisung der Krankenhausleitung.

Ewald Steuben strauchelte über Krankenhausgänge und landete auf weißem Kachelboden. Er rollte über die Fliesen und kam auf der Seite zum Liegen. An Wänden und Decke machte er den Abfluss, Brauseköpfe und Duscharmaturen aus. Der Chicano-Pfleger war über ihm, pfriemelte mit unbewegter Miene an den Verschlüssen der Zwangsjacke herum. Die Härchen an Armen und Beinen richteten sich auf. Steuben fröstelte. Er atmete tief ein und aus, streckte sich und bewegte die Handgelenke. Da dämmerte ihm, die Keramik unterm Kreuz, dass er nackt war. Er rappelte sich hoch und schlang die Hände um die Brust. Er bibberte und blickte sich nach allen Seiten um. Wo war der Pfleger? Der Instinkt kämpfte sich durch den Medikamentennebel. Steuben tastete mit den Zehen nach dem Kunststoffgitter und wechselte von Glasur auf rauen Grund. In der nächsten Sekunde blieb ihm die Luft weg, Muskeln verkrampften, der Körper bäumte sich auf. Steuben wirbelte herum, heulte vor Schmerz und Wut und hob die Arme vors Gesicht. Die Zähne klapperten. Er rang um Klarsicht, schlug um sich und funkelte in alle Richtungen. Vergebens. Der eiskalte Wasserstrahl traf ihn überall.

Esteban Sanchez berührte das Toben nicht. Er drehte den Hahn zu, frottierte den Zappelnden und zog ihm trockene Sachen an. Esteban schubste Steuben auf den Plastikhocker, klemmte sich den Kopf unter den Arm und zückte Rasierer und Kamm. Der Pfleger machte einen Schritt zurück, betrachtete das Werk und schnalzte zufrieden. Mit dem Kraut war er ein für alle Mal fertig.

Ewald Steuben trottete an der Hand des Chicano-Pflegers an der Rezeption und den Lederfauteuils in der Empfangshalle vorbei. Er blickte die weißen Wände entlang in den sonnendurchfluteten Dachstuhl hinauf. Steuben spürte einen Stoß im Rücken und stolperte durch die Glastür auf den Parkplatz. Wüstensand wirbelte unter den Sohlen seiner Pantoffeln auf, der Asphalt war warm. Steuben hob den Blick und kniff die Brauen zusammen. Die Sonne stand hoch über Las Vegas. 82 Grad Fahrenheit, 28 Grad Celsius, ein kühler Frühlingstag im Clark County.

Esteban hakte sich bei dem Deutschen unter, führte ihn zu dem Dodge der staatlichen Krankenhausverwaltung und setzte ihn auf den Beifahrersitz.

Steuben erfasste das Klicken des Sicherheitsgurtes, das Zufallen der Autotür und das Starten des Motors. Er schmunzelte und schloss die Augen, nahm Abschied vom Leben, von der geschlossenen Abteilung, von den ocker- und sienafarbigen Rabatten, den durstigen Bäumchen und Grasbüscheln und dem Mäuerchen mit der Aufschrift Rawson Neal Psychiatric Hospital.

Sanchez schaltete das Autoradio ein und folgte dem Highway bis zur Main Streetim Süden der Stadt. Die Fahrt dauerte keine Viertelstunde. Die Entsorgung musste schnell gehen, ohne Aufsehen zu erregen. Esteban schwitzte. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und schielte zur Seite. Der Patient auf dem Beifahrersitz döste vor sich hin. Sanchez zündete sich eine Zigarette an und ließ das Seitenfenster herunter. Das injizierte Neuroleptikum, die chemische Zwangsjacke, zeigte Wirkung. Der Kraut war wehrlos.

Sanchez stellte den Geländewagen auf dem Parkplatz vor dem Hotel Golden Nugget ab und verriegelte die Türen. Er schnippte die Zigarette weg, sah sich aufmerksam um und hastete über die vier Fahrstreifen der Main Street. Esteban drängte an Touristen vorbei, schob sich durch die Glastüren und verschwand.

Ewald Steuben kam zu sich und rieb sich die Augen, Schweißtropfen hatten Lider und Wimpern benetzt. Er gähnte und fand sich im Innenraum des Dodge wieder, abgestellt auf einem Hotelparkplatz. Steuben löste den Sicherheitsgurt, und sein Blick wanderte über die Autoreihen, das Parkdeck und die Türme des Golden Nugget. Mehr Stil und Farbe der Kulisse wären ihm in seiner finalen Szene lieb gewesen. Die Häuser, die Autos und die Menschen, alles monochrom und verbrannt. Die Sonne brachte es an den Tag, das Darben der Wüstenstadt in Rot und Braun. Nachts war Las Vegas gnädiger und durchtriebener. Das Gold, das auf der Straße lag, brachte dann die Casinos zum Strahlen. Doch jetzt nutzte die Realität die Galgenfrist, bis zum Sonnenuntergang dauerte es noch sechs Stunden. Steuben sank in den Sitz zurück und lachte bitter. Er spürte das Ende näher kommen.

Sanchez drückte die Fernbedienung, entriegelte die Autotüren und hob den Kraut aus dem Dodge. Er kontrollierte die Uhrzeit, legte sich Steubens Arm über die Schultern und zog den Mann mit sich fort. Er schleppte den Fremden durch den Verkehr und wurde nervös, die Zeit lief ihm davon. Der Gringo verhielt sich wie eine Gliederpuppe, wie eine Marionette, der man die Schnüre durchtrennt hatte.

Steuben legte sein ganzes Gewicht auf den Krankenpfleger. Der Chicano schnaufte, dicke Schweißperlen glänzten in seinem Bronzegesicht. Leicht wollte Steuben es dem haselnusshäutigen Hombre nicht machen. Er lallte die Lyrics von The Star-Spangled Banner, stolperte über die eigenen Füße und ließ den Kopf hin- und herkullern. Innerlich grinste er. Der Kerl wünschte sich jetzt bestimmt den General Santa Anna zu seiner Rettung herbei, den mehrfachen mexikanischen Staatschef und Bezwinger von Fort Alamo mit all seinen texanischen Helden.

Esteban erreichte den Treffpunkt rechtzeitig. Unter der Betondecke der Garageneinfahrt war es kühl, im Schatten ging alles schneller. Sanchez balancierte den Ausländer und drosch mit der flachen Hand gegen die Scheibe. Es zischte, die Bustüren öffneten sich.

Steuben schliff über den Teppichboden im Mittelgang und plumpste wie ein Mehlsack auf eine der hinteren Sitzreihen. Der Chicano wuchtete ihn zurecht und richtete ihn auf. Steuben ließ es über sich ergehen, bis der Chicano an ihm herumfummelte. Er öffnete die Augen, schielte an sich hinunter und atmete erleichtert aus. Der Krankenpfleger stopfte ihm das One-Way-Ticket und etwas Bargeld unter den Hosenbund.

Sanchez ächzte und rieb sich den Rücken. Er stützte sich auf die Rückenlehnen der vorderen Sitzreihe und schickte ein Dankgebet zur Heiligen Jungfrau Maria von Guadalupe. »¡Vaya con Dios, Muchacho! Adios!«, stöhnte er und warf dem Kraut einen letzten Blick zu. Er trocknete sich mit dem T-Shirt das Gesicht und machte kehrt. Auf Nimmerwiedersehen! Sanchez übergab dem Busfahrer das Kuvert mit der vereinbarten Summe. »¡Mucha suerte!«, wünschte Esteban dem Chauffeur Glück und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Ohne sich noch einmal umzudrehen, sprang Sanchez aus dem Bus. »¡Si sales de esta, solo saldrás de milagro!«, murmelte er und trabte zurück auf den Hotelparkplatz. Es war so, wie er es zu dem Mann gesagt hatte: Wenn es der Fahrer dieses Mal schaffte, dann kam das einem Wunder gleich. Der Patient war eine tickende Zeitbombe. Esteban hörte Musik und wartete im Wagen, bis der Greyhound-Linienbus die Betriebsgarage verlassen hatte. Sanchez folgte den Rückleuchten, bis sie auf der schnurgeraden Straße im Dunstflimmern verschwunden waren. Zufrieden zündete er sich eine Zigarette an, fuhr los und bog in den Oakley Boulevard nach Westen ab. Der Kraut war nicht mehr sein Problem.

Als Esteban Sanchez auf das Gelände des Rawson Neal Psychiatric Hospital fuhr, belagerten die Medien bereits die Klinik. Kamerateams lokaler und nationaler Fernsehstationen reckten die Hälse und kesselten den Dodge ein. Sanchez stemmte die Schulter gegen die Fahrertür und drückte sie auf. Kaum aus dem Wagen geschlüpft, hatten ihn die Reporter in der Mangel. Esteban wurde hin und her gerempelt und bekam mehrere Mikrofone ins Gesicht. Er erkannte unter anderem das Logo der Tageszeitung Sacramento Bee und von Channel 13 Action News. Ganz Las Vegas konnte ihn jetzt live auf den Bildschirmen sehen. Esteban klingelte es in den Ohren, die Konturen verschwammen. Ringsum forderte man lauthals einen Kommentar zu den Vorwürfen gegen das psychiatrische Krankenhaus von Nevada. Esteban fürchtete, in dem Gewimmel zu versinken. Er stellte sich taub. Er war nur ein einfacher Pfleger, er wusste nichts über Kranke, die aus dem Rawson Neal Psychiatric Hospital mit Greyhound-Bussen über die Staatsgrenze gebracht worden waren. Nichts über die Hilfsbedürftigen, die aus Nevada in andere Bundesstaaten wie Kalifornien abgeschoben wurden. Sanchez pflügte durch die Meute vor dem Eingang, stieß die Glastüren auf und erstarrte. Die Journalisten waren nur der Rattenschwanz. Die Kommission der Akkreditierungsagentur wartete in der Empfangshalle, die Polizei befragte das Personal hinter dem Empfangstisch. Eine unangekündigte Inspektion fand statt. Sanchez hob die Hand vors Gesicht und huschte an den Bundesbeamten und Deputies vorbei durch die Lobby.

Doktor Robert Zimmermann trat vor die Medien. Der State Medical Director zeigte sich der Presse betroffen. Er dankte den Centers for Medicare and Medicaid für die Gewährung der zehntägigen Frist, um die Missstände im Rawson Neal Psychiatric Hospital zu beseitigen, und präsentierte Zuversicht, das Ziel bis Montag zu erreichen und die Finanzierung zu sichern. Die Journalisten applaudierten. Zimmermann schnaufte durch. Die Anrufe hatten genutzt, die Goldene Regel gewirkt: What happens in Vegas stays in Vegas.

Robert Zimmermann traute seinen Sinnen nicht. Er zitterte und starrte auf das leere Bett der Weichzelle. JETZT hatte er ein Problem! Dieser mexikanische Vollidiot hatte den Falschen nach Kalifornien abgeschoben! Wie sollte er das seinen Auftraggebern und Oberen erklären? Zimmermann fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und sank zu Boden. Er schlug den Hinterkopf mehrmals gegen die Zellenwand und schluchzte. Vor seinem geistigen Auge erschienen das Auto, das Haus, seine Frau und die Kinder. Alles futsch!

Ewald Steuben alias Bruder Aiakos erlangte auf dem Highway nach Los Angeles das Bewusstsein wieder und kletterte schließlich unter der Sonne Kaliforniens aus dem Bus. Er vertrat sich die Beine und begrüßte das Wiedererstarken seiner körperlichen und geistigen Kräfte. Als er in Pyjamahose und Pantoffeln an den Souvenir- und Verkaufsständen am Venice Beachentlangspazierte, störte sich niemand an seinem Aufzug. Er war nur ein Exemplar der schrillen Vögel, die sich an der Strandpromenade zwischen Venice und Santa Monica in Szene setzten und ihr Auskommen als Straßenkünstler suchten.

Aiakos stapfte barfuß durch den Sand zur Dünung des Pazifiks. Er hielt das Gesicht in den Wind und legte den Kopf in den Nacken, lauschte der Brandung und guckte den Möwen hinterher. Die Freiheit duftete köstlich. Er konnte endlich heim, zurück zu jenen, die ihm das Martyrium in der Klinik beschert hatten. Er wollte Gerechtigkeit … oder wenigstens Rache!

Erster Teil.

Von der Kränkung.

§ 1.

Vienna International Airport, 13. Dezember 2013.

Josephine Mahler sah auf dem Weg vom Parkplatz zum Flughafengebäude mehrmals nervös auf die Uhr. Sie lief, die Laptoptasche umgehängt und den Trolley hinter sich herziehend, durch die Glastüren des Terminal 3. Sie spürte die Schweißperlen ihren Körper hinunterkullern. Fröhlich schwatzende Reisende und ihre Begleiter verstopften die Drehtüren und blockierten die relativ schmalen Brücken, die durch die Ankunftshalle eine Ebene tiefer zu den Ticket- und Check-in-Schaltern in der Abfertigungshalle führten. Josephine unterdrückte das plötzliche Bedürfnis nach Aufstampfen und Kreischen. Stattdessen schob sie sich mit unzähligen »Entschuldigen Sie bitte« durch die Menschen, die scheinbar – anders als sie selbst – die Ruhe weg und alle Zeit der Welt hatten. Sie musste unbedingt in diesem Flieger sitzen, denn schon in drei Tagen, am Montag, musste sie wieder Seminare am Institut für Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt halten. Eine solide Vorbereitung der Lehrveranstaltungen war sie sich und ihren Studentinnen und Studenten schuldig. Direktflug OS131 nach Frankfurt am Main sollte planmäßig um 15:40 Uhr starten. Sie war wie immer eine Stunde zu früh am Airport.

Josephine trat an einen der in Reih und Glied vor der Gepäckaufgabe bereitgestellten Check-in-Automaten. Sie nestelte den Ausdruck der Buchungsbestätigung aus ihrer Handtasche, gab Namen und Buchungsnummer ein und hielt den Code über das Infrarot-Lesegerät. Bis hier ging alles bestens, doch dann erschien eine Meldung auf dem Display, die Josephine das Blut in den Adern gefrieren ließ: Flug OS131 der Lufthansa, ausgeführt von der Austrian Airlines, war überbucht, ihr Name wurde auf die Warteliste gesetzt, ein Sitzplatz und die Beförderung nach Frankfurt konnten nicht garantiert werden. »WAS?«, entfuhr es Josephine lautstark. Wie zum Kuckuck konnte ein Airbus A319 eine Stunde vor dem Ende der festgesetzten Check-in-Frist bereits überbucht sein?

Josephine schnaubte. Ihr wurde heiß und kalt bei dem Gedanken, heute in Wien festzusitzen und den gemessen an ihrem recht überschaubaren Gehalt als wissenschaftliche Mitarbeiterin nicht geringen Ticketpreis in den Wind schreiben zu können. Und das alles, obwohl sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles richtig gemacht hatte.

Sie schnappte den Griff des Rollkoffers und blickte sich nach allen Seiten um. Josephine suchte nach einem Ansprechpartner aus Fleisch und Blut, einem Ansprechpartner, der etwas mehr als blinkende Lichter, einen Touchscreen und ein paar Schaltkreise zur Verfügung hatte, um eine Lösung zu finden, die keinem vorformulierten Standardprozedere entsprach.

Josephine zog den Trolley durch das Labyrinth der Absperrbänder vor den Gepäckaufgabeschaltern der Economy Class, reihte sich in die Warteschlange ein und wartete geduldig, bis sie zu einer der feuerrot uniformierten Hostessen vorgehen konnte. An den nummerierten Arbeitsplätzen waren fünf jugendliche Mitarbeiterinnen und eine ältere Supervisorin, die dem Aussehen nach entweder aus Bangladesch oder Südindien stammte und laut ihrem Namensschild Frau Jahangir hieß. Die Mädchen saßen für gefühlte hundert Reisende bereit, während an den Schaltern direkt dahinter dieselbe Anzahl Hostessen und Stewards die vier Fluggäste der Business Class umsorgte. Nach ungefähr zehn Minuten und etlichen eingecheckten Koffern hatte Josephine endlich die Wartezone hinter sich, die ihr mehr denn je wie ein Viehpferch vorkam. Aber egal, von der Pole-Position bis zum Boardingpass waren es nur noch ein paar Schritte. Josephine verschränkte die Arme vor der Brust, winkelte ein Bein ab, balancierte den Fuß auf dem Absatz, schob die Unterlippe vor und verfolgte das Vergehen der Minuten auf der Wanduhr. Sie spürte schmerzhaft ihre Lebenszeit verrinnen.

Endlich! Die rote Lampe von Schalter 336 leuchtete grün. Das war das Zeichen für Josephine, der zirka Zwanzigjährigen in feuerroter Austrian Airlines-Uniform, ebensolchem Kraushaar und Sommersprossen auf Nase und Wangen, ihr längst ausformuliertes Anliegen vorzutragen. Josephine überreichte der jungen Dame die Buchungsbestätigung, den Personalausweis und erzählte ihre Geschichte.

Die Hostess rümpfte das Näschen und sagte, ohne vom Monitor aufzublicken oder Josephine anzusehen: »Sie sind zu spät. Der Flug ist überbucht. Sie stehen auf der Warteliste.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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