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Lisa hat sich in das Ferienhaus ihrer Familie auf Rügen zurückgezogen. Die junge Autorin hatte eine Panikattacke und versucht nun in der Stille, den Grund dafür zu finden. Sie reflektiert ihre Kindheit, in der sie schließlich die Ursache für ihre innere Zerrissenheit sieht. Während eines Spaziergangs begegnet ihr Benedict, und weitere Fragen tun sich auf. Jene nach Herkunft, Identität, Gesellschaftsnormen und die große Frage nach wahrem Lebensglück. Jede Begegnung, jedes gesprochene Wort bringt Lisa und Benedict einander näher. Irgendwann bricht Lisa endlich ihr Schweigen und spricht aus, was sie lange verdrängt hat. Und Bendict ereilt eine bittere Erkenntnis: Er spielt eine Rolle bei ihrem inneren Konflikt.
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Seitenzahl: 287
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Regen an sonnigen Tagen
Neuanfang auf Rügen
Claudia Iwer
NEUANFANG AUF RÜGEN
Panik
Rügen
Das Schmidt-Paradoxon
Im Nebel
Antonio
Benedict
Knack
Leuchtturm
Grenzerfahrung
Feuer
Adlerholz
Der Fan
Narben
Small Talk
Helikopter Mutter
Miesmuschel
Schuld
Scham
Selbstzweifel
Die Wahrheit
Unsinn
Optimismus
Keine Handys
Das Duell
Armin
Die Liebe
Showdown
Das Outing
Panic-Come-Back
Adé Komfortzone
Inaktiv
„Was soll das heißen? Meine Tochter ist doch nicht verrückt.“
Das hing vielleicht davon ab, wie man Verrücktsein definierte. Lisa beobachtete schweigend, wie ihre Mutter zum wiederholten Male auf den Arzt einwirkte, der ihre Entlassung genehmigen sollte. Ihre Mutter. Leonora Schmidt. Aufrechter Stand. Hände in die Hüften gestemmt. Ausdrucksstark geschminkte Lippen. Unbeugsamer Blick. Niemand stellte sich ihrer Autorität in den Weg. Jedes noch so gewichtige Argument entkräftete sie mit einem Wimpernschlag. Der Arzt zeigte sich trotz seines jungen Alters sattelfest. Er konnte kaum älter als dreißig sein.
Wahrscheinlich Assistenzarzt. Erkannt hatte Lisa den Namen auf seinem Schild nicht. Leonora hatte ihre Kontaktlinsen auf dem Weg ins Krankenhaus aus den Augen gepult, weil sie gefährlich rote Äderchen bemerkt haben wollte.
„Das EKG ist unauffällig. Es gibt keine Anzeichen für ein Herzproblem. Eine Panikattacke würde die Symptome erklären.“ Sein Rücken war ihr zugedreht. Er hantierte mit etwas, das Lisa nicht sehen konnte. Ihre Mutter schüttelte resigniert den Kopf. Ihr akkurater, blonder Bob schwang mit. Diese kurze verneinende Geste war typisch für sie. Das tat sie immer, wenn ihr Gegenüber nicht begriff, worum es ging. Das Problem war oft nicht die Sache an sich, sondern das Gerede der Leute.
Als ihre Mutter sie heute Nachmittag auf dem Küchenboden gefunden hatte, mehr tot als lebendig, erlebte sie mindestens zwei Stunden bitterer Angst. Eine, in der sie das Schlimmste befürchtet hatte. Eine, die sie für kurze Zeit verzweifeln ließ. Und dann, als aus Angst Sorge wurde und aus Sorge Erleichterung, kam die Erkenntnis: Was würden die Leute sagen? Die Presse. Die Leser. Die Kritiker.
Panikattacken waren schlecht für das Image. Schlechtes Image war schlecht für den Bücherverkauf. Vielleicht auch nicht, aber das Außenbild musste trotzdem stimmen.
Lisa fuhr mit dem Finger die feine, blaue Linie ihres Unterarmes entlang, die in einer weiteren, größeren Linie mündete. Das Netzwerk, das sie am Leben hielt, hatte vorhin kurz ausgesetzt.
Sie hatte in einer Rotweinpfütze gelegen. Eine unbedachte Handbewegung, einen gedanklichen Aussetzer hatte es gebraucht, um ein Rotweinglas zum Abstürzen zu bringen. Der Inhalt war in sämtliche Himmelsrichtungen gespritzt. Hastig wollte sie die großen Scherben aufsammeln. Wie all das Zerbrochene, das kompromisslos beseitigt wurde. Defektes, Altes, Verbrauchtes. Alles musste raus, um Platz für Neues zu schaffen. Lisa spulte die ewig gleiche Routine ab. Erst holte sie Handfeger und Schippe hinter dem Küchenschrank hervor. Kniete sich auf den kalten Boden. Nahm eine große Scherbe in den Zangengriff. Dann erkannte sie die Ausweglosigkeit. Lisa konnte sie aufsammeln, fegen, den Ursprung wiederherstellen. Und dennoch würde alles wie immer bleiben. Das Hoffnungslose hatte sie wie ein Mähdrescher überfahren und all das Positive zerhäckselt, was von ihr übrig geblieben war. Sie war nun Morast. Nichts weiter. Also hatte sie sich kraftlos fallengelassen in das rote, aussichtslose Meer.
Dann kam die Enge in ihrer Brust. Die Luft blieb weg. Alles in ihr schnürte sich zusammen. Sekunden später glaubte sie sicher, dass sie sterben würde. Es war ihr Herz, das wie das Glas in tausend Einzelteile zerbrach.
Wie eine Ertrinkende hatte sie auf dem kalten, gefliesten Küchenboden gekauert, den ihre Mutter ausgesucht hatte.
Praktisch und trotzdem elegant.
Neben ihr lag die Zeitung, die die Lawine ins Rollen gebracht hatte. Aufgeschlagen noch immer jene Seite, mit der ihr emotionaler Absturz begann. Die Ironie war so bitter wie Aperol Spritz. Nur ohne Spritz.
Es waren doch immer die kleinen Dinge, die das große Ganze ausmachten. Die sie ausmachten. Aber interessierte das irgendwen? Den Journalisten des Artikels nicht. Der tat nur seine Arbeit. Und sonst?
Ihre Mutter hatte geschrien. Lisa hatte gekeucht. Nach Luft. Nach Leben. Nach Sicherheit.
Jetzt lag Lisa auf dem Krankenbett und beobachtete den grauen Kasten, der ihre Herzfrequenz überwachte. Stabile Werte. Zumindest, was ihr Herz betraf.
Ein absonderlicher Ekel überkam sie. Gar nicht so sehr wegen des Kastens. Es war ein Ekel, den sie sich selbst gegenüber empfand und für ihr Tun. Sie war anders. Dabei wollte sie doch immer sein, wie alle anderen.
Ihre Mutter stöckelte energisch zum kleinen Krankenhaustisch, auf dem ihre Aktentasche stand. Ihre hohen Absätze dröhnten wie Anklagen in Lisas Ohren und wohl auch in denen des Arztes. Sie zog die Zeitung heraus, die sie seit ihrem Erscheinen vorhin mit sich herumgetragen haben musste. Zeigte ihm die Überschrift: Johanne Nielsen. Von Arroganz und Selbstäberschätzung.
„Hier.“ Sie tippte wie eine Richterin auf das zusammengefaltete Papier. Ihr gestreckter, schmaler Zeigefinger wirkte durch den akkuraten Nagellackanstrich noch länger. Wie der Zeigestock eines Lehrers. „Das ist der Grund. Das war der Auslöser. Meine Tochter ist nicht verrückt. Und sie ist keine schlechte Autorin.“
So war sie immer. Wann immer jemand die Integrität oder Qualität ihrer Tochter kritisierte, wurde sie zur Löwin, bereit, dem Gegner den Garaus zu machen. Selbst dann, wenn Lisa gar keine Hilfe verlangt hatte. Leonoras Mutterliebe war obligatorisch. Nicht abwählbar.
Lisa wusste, dass sie es gut meinte. Und was den angesprochenen Punkt betraf, waren sie durchaus einer Meinung. Lisa war keine schlechte Autorin. Sie war eine gute. Nicht nur bei Krimis und Thrillern, ihren Standardgenres. Diesmal hatte sie endlich etwas Neues ausprobieren wollen. Etwas, das nichts mit Mord oder Totschlag zu tun hatte. Und sie war gut darin. Lisa wusste das. Es war eine gute Geschichte. Perfekt recherchiert. Hervorragend ausgearbeitet. Das dachte sie nicht, weil sie abgehoben war. Sie wusste, was sie konnte, davon war sie überzeugt. Und dann diese Kritik: Johanne Nielsen. Von Arroganz und Selbstäberschätzung. Der Artikel war Mist. Er entbehrte jedweder Logik.
In dem Moment, in dem sie im Rotweinmeer lag, blickte sie vor allem auf den Namen. Johanne Nielsen. Ihr Pseudonym. Sämtliche Romane wurden darunter veröffentlicht, weil er sich besser machte als Lisa Schmidt. Das zumindest war die Meinung ihrer Agentin und wohl auch die der großen Verlage. Sie mochte ihren Namen. Er war eine der wenigen verlässlichen Konstanten in ihrem Leben. Eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten innerhalb ihrer Familie. Lisa Schmidt. Leonora Schmidt. Armin Schmidt. Der Name hielt sie zusammen, wie die Karosserie das Auto. Rahmen, Bolzen, Schrauben, Achsen, Reifen. Nichts bewegte sich ohneeinander. Nur miteinander wurden sie zu einem vollfunktionsfähigen Fortbewegungsmittel. Verbeult hier und da, tiefe Kratzer an den Seiten. Aber es rollte.
Gemeinsam führten ihre Eltern den Immobilienriesen Schmidt & Schmidt. Der hatte etwas zu bedeuten. Nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland, sondern über die Grenzen hinaus. Die Firma stand für Verlässlichkeit und Qualität. Lisa war immer stolz darauf gewesen, diesen Namen zu tragen. Selbst wenn er weit verbreitet war.
Leonora dribbelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Sie dribbelte oft. Entweder mit dem Fußballen auf dem Boden oder mit Fingern auf Tischen. So entlud sie sich. Das funktionierte aber nicht immer.
„Ich behaupte auch nicht, dass ihre Tochter eine schlechte Autorin wäre. Ich sage, dass sie Hilfe braucht. Das schaffen Sie nicht allein“, sagte der Arzt.
„Wir schaffen das nicht?“ Die Schärfe in Leonoras Stimme zerschnitt beinahe das dünne Eis zwischen den Kontrahenten. Damit hatte er sie an eine ihrer empfindsamsten Stellen getroffen. Seit Jahrzehnten war ihr Antrieb, dass sie alles schaffen konnte. Es war ihr Mantra. „Wissen Sie, was wir alles geschafft haben? Wir haben aus einer Zwei-Mann-Firma ein Imperium geschaffen.“ Schon wieder dieser Finger, der bei jedem ihrer Worte mitschwang. Die Aussage selbst war vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Bescheidenheit war nie die Stärke ihrer Mutter gewesen.
„Kennen Sie Immobilien Schmidt & Schmidt?“, fragte sie lauernd. Ihr Kopf war zur Seite geneigt wie bei einer Hyäne kurz vor dem Angriff.
Der Psychiater nickte zögerlich.
„Ich bin Schmidt!“, rief sie. „Leonora Schmidt.“ Sie sagte es nachdrücklich, als hätte er das zuerst Gesagte nicht verstanden haben können. Dann drehte sie ihm den Rücken zu, lief zum Krankenbett und setzte sich mit der linken Gesäßhälfte darauf. Dass sie in ihrem engen Bleistiftrock auf der Bettkante überhaupt Halt fand, war erstaunlich. „Ungeheuerlich!“ Leonora fand die Dinge immer ungeheuerlich. Oder absurd. Manchmal auch hanebüchen. Ein Schwall ihres Parfüms wehte zu Lisa herüber. Immer etwas zu viel, um ihre Dominanz zu unterstreichen. Aber nie von der strengen Sorte. Sie hatte den Duft ihrer Mutter geliebt. Egal, ob zu Hause, am Strand oder beim Joggen. Ihr haftete dieser prägnante und dennoch zarte Vanilleduft an. Mit einem Hauch Tonkabohne und Ambra. Als Lisa ein kleines Mädchen war und die Sicht auf Leonora unschuldig, hatte sie manchmal etwas von dem Parfüm aus dem Schlafzimmer stibitzt und auf sich selbst gesprüht. Wenn sie dann in der Schule war, hatte sie ihre Mutter den ganzen Tag lang bei sich getragen.
Leonora strich über Lisas linkes Schienbein. Einerseits, um ihre Wut in den Griff zu bekommen. Lisa sah aber noch immer Angst in ihrem Blick.
„Tut mir leid, Mama.“ Und das tat es wirklich. Als ein Teil in ihr ausgesetzt hatte, waren ihre Denkareale besetzt gewesen. Nämlich jene, die abwägten.
Für einen Moment hatte sie sich auflösen wollen. Nicht mehr existieren, sodass sich gleichzeitig alle Probleme lösten.
Doch was wären die Konsequenzen? Die Antwort war vielschichtig. Ihre Ängste wären ebenso verschwunden, so viel war sicher. Aber was machte es mit jenen, die übrig blieben? Was machte es mit ihren Eltern? Bei all dem hatte Lisa ihre Familie außer Acht gelassen. Ein fragiles, selbstzerstörerisches Konstrukt voller Geheimnisse, das trotzdem auch viel zu geben hatte. Vor allem Liebe. „Du kannst doch nichts dafür, Liebes. Es ist ja nicht so, dass du das geplant hättest.“ Ihre Mutter presste die rotbemalten Lippen aufeinander.
Genau das war der Punkt, in dem Leonora irrte. Lisa hatte dafür gebetet, sich auflösen zu können. Es war ein innerer, sehnsüchtiger Wunsch gewesen. Und dann hatte Gott entschieden, sie mitzunehmen. Vielleicht hatte er ihr aber auch nur eine Warnung schicken wollen: Sei vorsichtig, bei dem, was du dir wänschst.
Dank der Effizienz ihrer Mutter war der Krankenwagen rechtzeitig da gewesen. Erst im Krankenhaus hatte Lisa erfahren, dass sie dem Tod nie nahe gewesen war. An einer Panikattacke starb man nicht. Selbst wenn man noch so überzeugt davon war, dass der Tod unmittelbar bevorstehen musste.
Lisa nickte trotzdem. Es war ein Nicken, das eigentlich auch ein Schulterzucken hätte sein können. In den Momenten, in denen die Gedanken plötzlich nicht mehr zu einem gehörten, konnte alles passieren.
„Musstest du ihn so angehen?“ Lisa deutet mit dem Kopf zu der Stelle, an der vor einer Minute noch der junge Arzt gestanden hatte. Der war leise gegangen.
„Musste er sich so bedeutungsschwanger aufblähen? Ein kluger Arzt weiß, wann er einzugreifen hat und wann nicht.“
„Er hat sich nicht aufgebläht. Er wollte mir helfen. Genau wie du.“ „Ich will einfach nur sichergehen, dass es deinem Herzen wirklich gutgeht. Und wenn ich auf zu viel Widerstand stoße, bin ich gezwungen, meinen großen, bösen Besen aus dem Putzschrank zu holen.“ Lisa schmunzelte. Ihre Mutter war immerhin ehrlich genug, sich als das zu sehen, was sie war: eine boshafte, manchmal intrigante, meist zynische Hexe. Versteckt in einem Zuckerhaus. Mit dem Punkt, dass es Lisa bei ihren Eltern zu Hause am besten gehen würde, war Lisa nicht d’accord. Nicht umsonst war sie kurz nach dem Abitur ausgezogen. Sie wollte weg. Weg von Illusion und Zerrbild. Hin zu mehr Aufrichtigkeit.
Also war sie von Lovenhagen, bei Greifswald, nach Stralsund gezogen. Wohlwissend, dass sie schon längst einen Studienplatz in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Greifswald hatte. Die Pendelei nahm sie in Kauf. Eigentlich war sie sich, was das Studium betraf, gar nicht sicher gewesen. Es war eher eine Auswegmöglichkeit. Ein Ausweg, den ihre Eltern empfohlen hatten. Besser als Nichtstun. Das hatte auch Lisa eingesehen, weil sie selbst orientierungslos war. All das – die Orientierungslosigkeit, die Hoffnungslosigkeit, die Traurigkeit – sollte sich in Stralsund ändern. Anders als erhofft, hatte sich jedoch nichts geändert, als sie endlich frei war. Die traurigen, einengenden Gedanken waren geblieben, hefteten sich an sie wie klebriger Harz. Nichts wurde besser, nach unten hin war die Grenze offen.
Sie sah wieder auf den grauen Kasten, der das volle Ausmaß ihres Alleinseins offenbarte. Sie war kaputt.
Leonora neigte fragend den Kopf zur Seite. „Was hältst du davon, ein paar Tage bei uns zu verbringen?“
Der Tisch vibrierte. Oder vielmehr das Handy darauf.
Ihre Mutter stutzte. „Papa schon wieder.“
Ihr Vater hatte sich vorhin telefonisch für den Nachmittag angekündigt. Lisa hatte das überrascht, weil er, seitdem er vor vielen Jahren seine Schwester nach einem Autounfall verloren hatte, nicht mehr in einem Krankenhaus war. Selbst einen Armbruch mit Mitte zwanzig hatte er ambulant behandeln lassen.
Nun hatte er Angst, seine Tochter verlieren zu können und das ganze Telefonat über geweint. Lisa hatte kaum etwas von dem verstanden, was er gesagt hatte, und sich insgeheim gewünscht, er würde nicht kommen. Aber sie wollte ihn auch beruhigen. Ihm sagen, dass sie an sich arbeiten würde. Auch, wenn sie noch nicht wusste, wie. Vielleicht mit Entspannungssport wie Qui Gong oder Yoga?
„Armin?“, fragte ihre Mutter ins Smartphone.
Ihr Vater sagte irgendetwas, das Lisa nicht verstand. Seine Stimme war nicht mehr gebrochen, wie vorhin, sondern laut und klar.
„Sie hat was? Sind denn nun alle komplett verrückt geworden? Gib sie mir mal, ich beende das Thema ein für alle Mal.“
„Was ist passiert?“, fragte Lisa.
Leonora winkte ab. „Generation Z. Wollen alles haben und hetzen uns ihre Anwälte auf den Hals. Ich hab’s satt.“
„Redest du von Nia?“ Lisa hatte diese Nia nie selbst getroffen, aber sie war oft Gesprächsthema. Am Anfang wegen Kleinigkeiten. Sie wünschte sich kostenlose Säfte. Ein Wunsch, den ihre Eltern noch schulterzuckend erfüllt hatten. Dann brauchte sie ein Diensthandy. Ein iPhone bestenfalls – wegen des besseren Eindrucks bei ihren vornehmlich wohlhabenden Klienten. Ihr Vater war dagegen gewesen. Gewährt wurde es trotzdem. Zuletzt wollte sie mindestens drei Homeoffice-Tage pro Woche, obwohl sie in der Immobilienfirma umständehalber regelmäßig Auswärtstermine wahrnehmen musste. Da war mit Homeoffice nicht viel zu machen. Sie hatten sich dann – mit Hilfe von Nias Anwalt – auf zwei Tage in Heimarbeit geeinigt. Offenbar war das immer noch nicht genug.
Ihre Mutter nickte. „Jetzt will sie ihr Hausschwein mit zur Arbeit bringen.“
Lisa lachte. „Sie will was?“
Leonora schloss resigniert die Augen.
Ein leises, fragendes Hallo? war zu hören.
„Hallo Nia. Ich habe gehört, dass Sie das Erlenbeck-Anwesen vermitteln konnten. Meinen Glückwunsch. Wir müssen Sie trotzdem gehen lassen. Es tut mir leid. In unserer Firma ist leider kein Platz für Hausschweine.“
Nia sagte etwas. Wahrscheinlich etwas wie Wie bitte?, weil es ihr die Sprache geraubt haben musste. Das war bei Lisa nicht anders. „Ich betone: Sie sind eine fähige Maklerin und es tut mir sehr, sehr leid.“
Einen guten Job musste sie tatsächlich erledigt haben. Leonora hatte sie ihrem Mann gegenüber immer verteidigt, wenn es um ihre Extrawünsche ging. Jemand, der solche Arbeit leistete, dürfe auch mal den ein oder anderen Wunsch äußern. Doch jetzt war das Maß offenbar ausgeschöpft, weil ihre Mutter erschöpft war.
„Was wollen Sie dagegen tun? Mich verklagen? Das haben Sie doch schon. Sagen Sie ihrem eifrigen Rechtsbeistand, dass er noch eine unrechtmäßige Kündigung auf die Liste unserer Verfehlungen setzen soll. Keine Schweine bei Schmidt & Schmidt. Es sei denn, Sie brauchen ein Blindenschwein.“
Dann legte sie auf und setzte sich wieder auf das Krankenbett. „Tut mir leid, Liebes. Meine Nerven sind zum Zerbersten gespannt.“
Daran zweifelte Lisa keinen Moment. Die Erschöpfung zeichnete sich deutlich in ihrem Gesicht ab. Hängende Lider, wässriger Blick, als stünde der Ausbruch unmittelbar bevor.
„Also?“, fragte Leonora, um zum Ursprungsthema zurückzukehren. Lisas Unterbringung. In puncto Effektivität machte ihrer Mutter niemand etwas vor.
„Ich weiß nicht, ob es mir bei euch besser geht. Meine eigenen vier Wände sind mir gerade das Liebste.“
„Schön und gut. Aber allein kannst du nicht bleiben. Wie wäre es mit Rügen?“
Auf Rügen hatten sie ein Sommerhaus, in dem sie früher immer zusammen die Ferien verbracht hatten. Es waren Lisas glücklichste Kindheitserinnerungen. Leonora wusste das. Wenn sie schon die nächsten Tage an der Seite ihrer Mutter verbringen würde, dann wenigstens auf ihrer Insel.
Lisa öffnete die Terrassentür und ließ das Rauschen herein und die salzige Luft. Vor allem die Luft. Sie schloss die Augen und sog sie tief ein. Jeder Atemzug brachte ein wenig Heilung. Sie war zu Hause.
„Wollen wir uns, bevor wir auspacken, ein bisschen auf die Terrasse setzen?“, fragte Leonora.
Lisa nickte und holte zwei Wolldecken vom Sofa. Eigentlich war es kein kalter September. Bisweilen sogar noch sommerlich warm. Doch der Wind auf der Insel gaukelte einem selbst im Sommer manchmal Spätherbstwetter vor. Sie setzten sich auf Holz-Liegestühle, zogen die Decken bis knapp über ihre Brust und sahen durch die Dünen hindurch auf das Meer.
Ein Stängel des wilden Wald-Engelwurz war durch den Wind abgeknickt und lag auf dem sandigen Weg, der zur Ostsee führte. Ihr Vater mochte Engelwurz. Deshalb hatte er roten neben die Terrasse gepflanzt. Er hatte es sogar geschafft, sich zwischen dem dominanten Efeu-Meer zu behaupten.
Das sanft vom Wind umspielte Riedgras, die gegen den Widerstand kämpfenden Möwen, die wellenbrechenden Holzbuhnen. All das brachte Lisa ihre Ausgeglichenheit zurück, die ihr in den letzten Monaten mehr und mehr abhandengekommen war. Ungeachtet des Windes hörte sie das vertraute Geschrei der Möwen, die ihm zu trotzen versuchten. Dabei musste ihnen klar sein, dass dieser Kampf aussichtslos war. Dass sie auf der Stelle blieben, war ihr Flügelschlag auch noch so dynamisch.
„Du warst schon lange nicht mehr mit uns hier. Ich find’s schön, dass du da bist.“ Ihre Mutter lächelte sie an. Liebevoll. Diesen Blick bekam sonst niemand zu sehen. Nicht einmal ihr Vater. Den roten Lippenanstrich hatte Leonora gegen einen in Hautfarben eingetauscht. Einige zarte, blonde Strähnen ihres Bobs wehten über ihr Gesicht. Sie sahen sich ähnlich, ihre Mutter und sie. Beide waren blond, beide hatten blaue Augen, beide waren gleich groß. Auf den Zentimeter genau. Äußerlich war sie die jüngere Version ihrer Mutter. Mal abgesehen davon, dass Lisa ihre Haare lang trug. Charakterlich war sie nach ihrem Vater geraten. Ruhig, genügsam und zu oft humorlos. Sie hatte nicht viel zu lachen. Im Gegensatz zu ihrem Vater wusste sie aber wenigstens warum. Lisa zog die hellgraue Decke bis unter ihr Kinn und atmete tief durch den Mund. Schmeckte die salzige Meeresluft. „Vielleicht komme ich jetzt öfter ...“
„Das wäre schön.“
Am späten Nachmittag hatten sie ausgepackt. Lisa die Koffer und Leonora die Einkäufe. Als Lisa die Treppe vom oberen Stockwerk herunterkam, in dem sich die Schlafzimmer befanden, schälte ihre Mutter Kartoffeln, um eine deftige Herbstsuppe zuzubereiten. Die Karotten lagen schon in kleinen Würfeln im Topf. Der Kohlrabi ungeschnitten daneben. Kochen konnte sie einigermaßen. Allerdings nicht so gut wie ihr Vater. Er war ein Küchenvirtuose und überließ nichts dem Zufall. Wenn Teile des Hackfleisches angebrannt schienen, dann nur, weil er es so wollte. Karamellisieren nannte er es. Lisa wusste nicht, ob man es wirklich so bezeichnete oder es nur schöngefärbte Worte waren. Tatsache war, dass das Resultat bei ihm stimmte. Es war mehr als stimmig. Es war exzellent.
„Kann ich dir helfen, Mama?“
„Ich mach das. Genieß doch noch die Sonne.“ Ihre Mutter stöpselte ihren Kopfhörer ins rechte Ohr und suchte eine Nummer heraus. Wenn sie schon nicht bei der Arbeit sein konnte, musste sie wenigstens telefonisch die Stellung halten. Ihr Effektivitätsmodus lief wieder auf Hochtouren.
Lisa nahm ihren dunkelgrünen Parka vom Kleiderständer. Während sie ihre Jacke im Gehen anzog, fiel ihr Blick auf die Zeitung, die ihre Mutter gekonnt so auf dem Esstisch platziert hatte, dass man sie sehen musste. Als läge sie zufällig da, doch nicht unscheinbar genug, um sie übergehen zu können. Die Überschrift lautete diesmal Buch der Woche. Johanne Nielsen. Neben dem Artikel die Spiegel-Bestseller-Liste. Johannes Roman war wieder die Nummer eins. Die Botschaft ihrer Mutter war klar: Alle mögen dein Buch, Liebes. Es gibt keinen Grund, länger Träbsal zu blasen.
Wie immer hatte Leonora nicht zugehört, als der Arzt ihr etwas zu sagen versucht hatte. Ihm hatte sie nämlich auch schon den Erfolgsartikel unter die Nase gehalten, als Beweis dafür, dass es keine Gründe mehr für panische Attacken seitens ihrer Tochter gab. Das neue Buch war wieder ein Bestseller. Gefahr gebannt. Die Unfähigkeit ihrer Mutter, die Warnung des Mediziners anzunehmen, lag wohl in ihrer Ambivalenz, ihrer inneren Zerrissenheit, begründet. Sie wollte nicht wahrhaben, dass ihr eigenes Kind, ihr Autorensternchen, ein Problem mit seinem Leben haben könnte. Und erst recht wollte sie sich nicht eingestehen, selbst ursächlich für dieses Problem sein zu können. Bei ihr sollte Lisa sich gut fühlen. Wie früher als sie gemeinsam in der Ostsee wellengesprungen sind. Lisas waren stets die höchsten. Oder wie glücklich sie auf dem Tennisplatz gewesen waren, zu treffunsicher, um ein gelungenes Spiel entstehen zu lassen. Doch nie war es befreiender gewesen, sich über die eigene Schwäche zu amüsieren. Oder ihre anregenden Gespräche über Merkels Sinn oder Unsinn der Klimapolitik seit den Neunzigern oder dem Einzug der Elektromobilität, wahlweise in Cafés oder abends in Bars bei einem Cocktail. Sie erlebten inspirierende, gemeinsame Stunden miteinander, wie sie auch andere Töchter mit ihren Müttern verbrachten. Stunden, in denen Lisa ausblendete, was auszublenden ging.
Sie steckte ihre Hände in die Taschen und ging nach draußen. Der Wind hatte nachgelassen, die Sonne schien unvermindert. Kurz überlegte sie, die Jacke wieder auszuziehen, entschied sich jedoch dagegen. Sie bedeutete auch Schutz. Nicht vor dem Wetter, sondern vor ihren Gefühlen und der Meinung anderer. Im Moment fühlte sie sich so verletzlich, dass jede zusätzliche Schicht half, Stabilität aufzubauen. Nach all der Zeit als Autorin glaubte ihre Mutter immer noch, dass es Lisa an Anerkennung fehlte. Dass ihr die zwölf Bestseller in den letzten neun Jahren in Johanne Nielsens Namen als Seelenstreichler nicht genügten. Dass ein weiterer Erfolg notwendig war, um Lisas fragile Nervendecke zu flicken. Ihre Fangemeinde war groß. Das musste doch auch ihr etwas bedeuten.
Vielleicht sollte es das.
Aber was, wenn kaum einer Lisas echte Identität kannte? Ihre Ängste. Ihre Lieben. Keiner ihrer Leserinnen und Leser wusste, was Lisa seit ihrem zwölften Lebensjahr durchmachte.
Als sie die Haustür vor über zwanzig Jahren geöffnet hatte, markierte dies den Beginn eines anderen Lebens. Eines mit Geheimnissen und Verboten, bestehend aus Ängsten und Verlusten. Lisa wünschte sich seit dieser Zeit, sie wäre an diesem Tag nicht früher nach Hause gefahren. Hätte in der Schule noch mit ihren Freundinnen gespielt, die auf den Zwei-Uhr-Bus warten mussten. Lisa musste nie warten, weil sie mit dem Rad nur zehn Minuten bis nach Lovenhagen brauchte. Ihre Mutter war immer dagegen gewesen, dass sie mit dem Rad zur Schule fuhr. Aber Lisa hatte sich durchgesetzt.
Wenn ihre Eltern da waren, war sie immer nach Hause gefahren, weil das nicht oft passierte. Sie waren häufig auswärts. Manchmal mehrere Tage am Stück. War dann mal einer von ihnen da, mit Glück sogar beide, gab es nichts Schöneres, als heimzukommen. Besonders, wenn gekocht wurde. Ihrer Mutter gelangen die Gerichte damals nicht immer; gelegentlich waren sie angebrannt oder die Nudeln weit entfernt von al dente. Aber das alles war egal!
An jenem Tag, als sie die Haustür geöffnet hatte, war das Essen wieder verbrannt – zusammen mit Lisas Vertrauen.
Vorne am Meer blies der Wind kräftiger. Lisa zog ihr Kinn wie eine Schildkröte in den Aufschlag ihres Parkas. Feine Haarsträhnen lösten sich aus dem Zopf und wirbelten vor ihrem Gesicht herum. Trotz des Ostseewindes nutzten auch andere das ansonsten milde Wetter für einen Spaziergang oder den Bau weitläufiger Burganlagen aus Sand. Ein Junge, etwa acht, hatte verschiedene Hölzer wie eine Warnung rings um die Anlage gesteckt, die selbst auf Lisa abschreckend wirkten. Sie würde dieser Festung sicher nicht zu nahekommen.
In der Ferne beobachtete sie einen Mann, der umringt von seinem Hund, einen Stock hin und her fuchtelte. Bei Hunden war das eine einfache Angelegenheit. Man hielt ihnen ein Stöckchen vor die Nase und sie parierten willig dem Wunsch des Herrchens, diesem Stock zu folgen. Ihr selbst konnte das nicht gelingen. Unbedingte Gefolgschaft. Schreiben, wenn die Timeline drückte. Lächeln, wenn es die Situation erforderte. Lesungen abhalten, bei denen man nur gehört wurde, nicht gesehen. Von allen wurde sie mit Johanne angesprochen. Aber wer war diese Johanne?
Der Stock des Mannes fiel, vielleicht versehentlich, in die schäumende Gischt. Den Vierbeiner störte das nicht. Gehorsamkeit kam vor trockenen Pfoten. Also stürzte er sich in die bäumende Welle.
Ein bisschen beneidete Lisa den Hund darum. Manchmal verspürte sie auch den Drang, sich irgendwo hineinzustürzen, ohne die Konsequenzen bedenken zu müssen.
Der Mann wirkte aufgeregt. Wahrscheinlich hatte er selbst auch nicht mit der unbedingten Fügsamkeit seines Vierbeiners gerechnet. Oder er hatte damit gerechnet und nun Mitleid bekommen, weil die darauffolgende Welle seinen Freund fast mitzog. Lisa vermutete, dass das Herrchen gleich seine Schuhe ausziehen und hinterherspringen würde, um den nassen Kerl zu retten. Doch das war nicht nötig. Das Tier fand den Stock.
„Jaaaa“, rief der Mann, hockte sich hin und ließ sich von seinem durchweichten Hund umreißen. Er landete auf dem Rücken, der schlabbernde, triefende Vierbeiner auf ihm, darauf aus, jede trockene Stelle seines Herrchens mit Meerwasser und Sabber zu benetzen.
Der Mann lachte.
Lisa lachte mit.
„Es sind die Unterschiede zwischen uns, die mein Hiersein erforderlich machen.“ Offenbar telefonierte ihre Mutter gerade mit Armin. Lisa verschloss die Terrassentür hinter sich und legte ihre Jacke ab. Dann zog sie den Haargummi von ihrem Zopf, sammelte die losen Haarsträhnen ein und verband alles wieder zu einer festen Einheit.
„Weil du, wenn du hier wärst, die Beine hochlegen würdest.“
Eigentlich waren sie ein gut eingespieltes Team. Ihre Mutter und ihr Vater. Aber es war klar, wer die Führungsrolle innehatte.
„Ich weiß, dass du ungern telefonierst. Deswegen übernehme ich das ja.“ Leonora nahm den Kochlöffel und probierte von der Suppe. Ihr skeptischer Blick verriet Lisa, dass sie noch zu fade war. Gleich würde sie die schweren Geschütze ausfahren. Erst den Pfeffer, und wenn der nichts brachte, bei Gott, dann musste der Chili herhalten. Oder direkt der Chili. Das hing ganz vom Ursprungszustand ab.
Ihre Mutter griff direkt zum Chili. Das verhieß nichts Gutes.
„Willst du probieren?“, fragte Leonora.
Lisa plusterte ihre Wangen zu Hamsterbacken auf. „Ach, weißt du.“ „Nicht?“, fragte ihre Mutter. „Könnte gut werden. Ich weiß nur noch nicht, wann.“ Sie probierte selbst, verzog keine Miene und griff zu Maggie. Ihre Mutter gab nie auf. Nicht einmal beim Essen.
Es folgte ein weiterer Brühwürfel, drei Umdrehungen Pfeffer, eine Prise Salz, eine halbe Tasse Kochsahne, etwas geraspelte dunkle Schokolade auf Geheiß ihres sich noch immer in der Leitung befindlichen Ehemannes und ein Löffelchen Crème fraîche als Topping mit Basilikumblättern obendrauf. Dann konnte serviert werden. Die letzten Worte ihre Mutter waren kaum als solche wahrnehmbar. Sie ähnelten eher einem Grunzen. Hörbar war ein abschließendes „Von mir aus.“, bevor sie auflegte.
Der Tisch war inzwischen gedeckt.
Lisa verteilte die Suppe auf den Tellern. „Wann will Papa kommen?“
„Er will, dass wir tauschen. Ich soll ins Büro, damit er bei dir sein kann.“
„Und das wirst du tun?“ Sie war aufrichtig überrascht. Ihre Mutter überließ die Kontrolle über die wirklich wichtigen Dinge ungern anderen. Die Gesundheit ihrer Tochter zählte zu den wirklich wichtigen Dingen. Vielleicht zu den Wichtigsten. Dagegen kam nicht einmal ihr Schmidt-Imperium an.
Leonora setzte sich zu Lisa. „Auf gar keinen Fall. Er kommt uns besuchen. Freitag bis Montag. Dann haben wir vier Tage.“
Das klang schön. Vordergründig. Es erweckte den Eindruck, als wären sie eine normale, durchschnittliche Familie, in der jeder jeden liebte. Das mit der Liebe stimmte. Aber vom Normalen, vom Durchschnitt waren sie weit entfernt.
Lisa wollte die latente Normalität durchbrechen. Vielleicht sogar Streit provozieren oder zumindest Verwirrung. „Ich werde zukünftig nicht mehr als Johanne Nielsen schreiben.“
Leonora setzte zum Trinken an, verharrte mit dem Glas für einen Moment an der Unterlippe und nahm dann einen kleinen Schluck. Sie stellte es ab, griff zur Serviette und tupfte Tropfen von der Oberlippe, die gar nicht da waren. „Gibt es einen Grund dafür?“
Lisa rührte mit dem Löffel in der Suppe, die ebenfalls Normalität vorzugaukeln schien. „Ich bin nicht Johanne. Vielleicht war ich es nie.“
Ihre Mutter legte den Arm neben den Suppenteller. Offenbar wich der Eintopf ihr inzwischen auch zu sehr von der Normalität ab. „Die menschliche Identität ist mehr als die Schnittpunkte der Rollen oder auch Beziehungen, die wir eingehen oder in die wir geboren werden. Viel mehr. Ich verstehe, dein Bedürfnis nach Identität. Aber definiere dich nicht nur über deinen Namen. Du bist mehr.“ Das sagte ausgerechnet jene Frau, die dem Arzt gegenüber im Krankenhaus gestern verkündet hat, wer und vor allem was Schmidt ist. Ihr Name ging ihr über alles. Aber offenbar galt das nur für sie selbst. Lisa sollte in dieser Hinsicht flexibler sein. Vielleicht verhielt es sich wie bei quarzenden Eltern, die das Rauchen für sich selbst immer als eine Art Luxus-Equipment betrachteten, das man sich regelmäßig oder gelegentlich gefahrlos gönnen konnte. Ihren Kindern wollten sie diesen Luxus hingegen verwehren.
Rauchen macht abhängig.
Rauchen macht krank.
Rauchen stinkt.
Das alles galt nie für sie selbst. Oder insgeheim doch, aber sie nahmen es in Kauf. Bei ihren Kindern wollten sie nichts dem Zufall überlassen. Vielleich sah auch Leonora ihre eigene Schmidt-Obsession kritisch. Vor allem war es wohl ein Luxus, den sie sich hin und wieder gönnte. Um anderen zu zeigen, was sie erreicht hatte. Jetzt gab es für ihre Tochter also eine Lisa-Schmidt-Fürsprache statt eines Johanne-Plädoyers.
„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin.“
„Nicht nur du, jeder von uns ist auf der Suche nach Identität und Orientierung.“
Lisa blickte, die Augenbrauen hochgezogen, auf. „Du auch?“
„Aber ja.“ Fast täglich schmidtete Leonora jemanden mit ihrer Autoritäts-Keule über den Haufen. Dennoch hatte sie Zweifel? Sie, die selbstbewusste, alles überschauende Leonora, brauchte Orientierung?
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass Johanne nur Teil eines großen Handelsaustausches ist. Und ich selbst bin nicht mehr als eine ablösbare Rolle. Heute schreibe ich als Johanne und morgen tut’s vielleicht ‘nen Kerl namens Herbert.“
„Herbert?“
„Oder Markus.“
Leonora nickte. „Ich weiß, was du meinst. Aber in einem Punkt irrst du.“
„Und zwar?“
„Der Markt verleiht nicht willkürlich Namen oder Trophäen an x-beliebige Talentlose. Das heißt ...“ Sie hielt inne. „Manchmal tut er’s trotzdem. Aber das ist jetzt nicht der Punkt. Tatsache ist, dass dir ...“ Sie zeigte auf Lisa. „Dir, Lisa Schmidt, alias Johanne Nielsen, wurde kein Name verliehen. Du hast ihn selbst erschaffen, und du hast ihn selbst aufrechterhalten. Mit deinen Geschichten, deiner Sprache, mit deiner Botschaft. Mir ist egal, ob du morgen als Lisa Schmidt schreibst oder als -“ Sie vollführte mit der Hand eine windige Umdrehung. „Roberta Engelburg. Deine Geschichten werden dieselben bleiben. Tu, was Tiere tun. Streif deine Haut ab. Hab keine Angst, dich neu zu erfinden.“ Leonora nahm wieder ihren Löffel in die Hand. Ihr Standpunkt war klar. Mehr gab es nicht zu sagen. Mehr wollte Lisa ohnehin nicht hören, denn auch ihr wurde etwas klar. Jeder brauchte Orientierung. Selbst ihre Mutter.
Lisa griff ebenso zum Löffel, schöpfte Suppe darauf und aß. Lauwarm. Genau richtig.
„Schmeckt gut.“
„Dein Vater“, sagte Leonora, als würde das alles erklären. Früher hatte Armin auch oft das Essen gerettet.
Armin und Lisa waren oft stundenlang auf Vater-Tochter-Touren gewesen. Beobachteten Brandgänse, Haubentaucher oder Kraniche im flachen Wasser der Wiek. Bestaunten ihre anmutigen Tänze oder ihr aufgeregtes Trompeten-Orchester. Fast immer fanden sie dabei Muscheln oder Steine. Muscheln waren auf Rügen überall zu finden. Die Steine suchten sie immer in Schaabe, denn dort entdeckte man, mit Glück, Bernsteine. Wenn man hingegen Pech hatte, fand man das weniger begehrenswerte Katzengold. Sah ähnlich aus, hatte sich jedoch einmal auf ihrer heimischen Kommode verflüssigt und nach einiger Zeit einen üblen Gestank verbreitet. Es endete schließlich darin, dass ihre Mutter den Katzengoldrest einschließlich Kommode entsorgte. Wenn es um lästige Gerüche ging, war Leonora rigoros.
Manchmal waren Lisa und Armin den kompletten Tag auf Erkundungstour gewesen. Kehrten sie dann zurück, die Hosen vollgestopft mit Muscheln oder Steinen, stand zwar Essen auf dem Herd. Aber es schien nie fertig. Das Gemüse geschnitten, Fleisch beziehungsweise Fisch filetiert, eine Sauce vorbereitet. Doch nichts davon hatte je ein Gericht ergeben. Also hatte Armin die Zutaten virtuos zusammengefügt. Das gemeinsame Essen vor der untergehenden Sonne über der Ostsee war das Schönste an ihren Rügenurlauben gewesen. Dicht gefolgt von dem Moment, an dem Lisa sich nach dem Essen auf einer Liege mit Armin gekuschelt hatte. Angeschmiegt an seiner Schulter und auf seinem rundlichen Bauch liegend. Sein Bauch war immer ihr Kissen gewesen. Manchmal auch ihr Kompass. Wenn er gluckerte, brauchte Armin Schlaf. Wenn er knurrte, brauchte er Essen. Das passierte natürlich nie direkt nach dem Abendbrot – es sei denn der Magen verlangte nach Nachtisch. Wenn es still in ihm war, ganz still, schlief sie ein. Manchmal wachte sie auch wieder auf – wenn aus der Stille ein Schnarchen geworden war.
Am Abend saßen die beiden Frauen auf der Couch. Leonora hatte die Beine übereinandergeschlagen. Auf ihrem Schoß ein Roman von Bernhard Schlink über das Älterwerden. Eine Thematik, die ihre Mutter sonst gern aussparte. Aber sie war ein großer Fan seines Stils, deshalb machte sie in dieser Hinsicht Kompromisse. Auf ihre Nase eine Brille mit feinem ovalem Rahmen, fast parallel zu Leonoras akkurat gezupften Brauen ausgerichtet.
Die Flamme im Kamin flackerte eher mäßig. Wenn ihre Mutter anfeuerte, brauchte es immer ein wenig, bis die Glut in Schwung kam. Spänen, Holzwolle und Ethanol zum Trotz erlosch das Feuer meist nach zehn Minuten wieder. Das kleine Flackern jetzt war ein Erfolg.
„Willst du auch einen Wein?“ Normalerweise trank Lisa, während sie an einem wendungsreichen Thriller arbeitete, keinen Alkohol. Wenn Sie schrieb, wollte sie bei klarem Verstand bleiben. Aber sie war dabei, das Auffinden einer Leiche im nebligen Grambower Moor zu beschreiben. Da war es von Vorteil, tatsächlich ein wenig benebelt zu sein.
Leonora blickte sie über den Rand ihrer Brille hinweg an.
„Warum nicht.“
„Hervorragend.“ Lisa schob den Laptop auf die Sitzfläche der Couch und stand auf. Bevor sie eine Weinflasche öffnete, versuchte sie, dem Kaminfeuer mehr Leben einzuhauchen. Mit dem Schürhaken hob sie eine der Scheite an, um mehr Sauerstoff an das brennende Holz zu lassen. Funken sprühten.
„Du darfst es nicht zu sehr piesacken. Sonst geht es wieder aus“, prophezeite Leonora.