Regenerationsfaktor 361 - Ference Ametrin - E-Book

Regenerationsfaktor 361 E-Book

Ference Ametrin

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Beschreibung

Eine skrupellose Ärztin, eine Probandin auf der Flucht und ein Jäger, der sich nicht von seinem Ziel abbringen lässt. Unter dem Deckmantel seriöser Forschung führt Dr. Weisz in ihrem geheimen Labor verbotene Experimente an Menschen durch. Der Versuchsperson Marla – durch genetische Modifikation mit fast unbegrenzter Regenerationsfähigkeit versehen – gelingt die Flucht. Doch der sadistische Jäger Hauer ist ihr auf den Fersen und wird nicht ruhen, bis er sie in seiner Gewalt hat. Nur Nika, eine ehemalige Mitarbeiterin des Labors, kann Marla in dem ungleichen Kampf einen Vorteil verschaffen …

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Ähnliche


 

HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

11/2022

 

Regenerationsfaktor 361

 

© by Ference Ametrin

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Lektorat: Emilia Laforge, Matthias Schlicke

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: privat

 

Coverbild › Mein ist die Strafe‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Regenesis – Die dunkle Seite‹

© 2021 by Creativ Work Design

Stock-Fotografie-ID: 1297146235, Bildnachweis: Shutter2U

Stock-Fotografie-ID: 1138371379, Bildnachweis: Andy

Coverbild ›Aljizar – Das Folterhaus‹

© 2021 by Creativ Work Design

Coverbild: Datei-Nr. 192894435 Portrait of beautifulgirl, Bildnachweis: olly

Coverbild ›Auf Null gesetzt‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-178-2

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Printed in Germany

 

 

Ference Ametrin

 

Regenerationsfaktor 361

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thriller

 

 

Regeneration

Selektion

10 Jahre später

Jenseits des Zauns

Der Jäger

Vorsicht

Das Moor

Unsichtbarer Begleitschutz

Überlebende

Auf Leben und Tod

Nach dem Fall

Zuversicht

Zwillinge

Aufklärung

Gefahr

Vergangenheit

Entwirrung

Vorbereitungen

Ein unfairer Kampf

In Sicherheit

Ein neues Leben

Der Schläfer

Danksagung

Der Autor

Hybrid Verlag

 

Regeneration

 

Hauer

 

Der allgegenwärtige Gestank nach Tod, dem Staub von Jahrzehnten und der Pisse unzähliger Dingos waberte wie eine Wolke über die knochentrockene Erde. Hauer steuerte gemächlich sein Ziel an — ein von Kugeln durchsiebtes Gebäude, dessen linke Hälfte bereits eingestürzt war. Das ehemalige Restaurant gab eine jämmerliche Erscheinung ab. Genau wie alle Bauten an diesem gottverlassenen Ort mitten in einem stark umkämpften Kriegsgebiet. Die schlanken Beine einer Frau ragten aus dem Schutthaufen heraus. Daneben der bleiche Arm eines Mannes. Stumme Zeugen des Bombenangriffes in den frühen Morgenstunden.

Nur hier in Zone F gab es noch Wasser und Strom. Um die Energieversorgung musste er sich keine Sorgen machen. Noch nicht. Der große Blonde mit den stahlblauen Augen betrat sein Zuhause durch den Hintereingang und schloss die löchrige Tür hinter sich. Das erwartete Piepen des altersschwachen Geschirrspülers ertönte in der Küche. Hauer ging grinsend darauf zu.

»Heiß oder tot?«

Er öffnete das Gerät und eine Dampfwolke stieg hoch. Der Geruch erhitzten Fleisches entlockte ihm ein Lachen. Sauberkeit ist das A und O. Er nahm einen Haken von der Wand und zog den dampfenden, mit Eisenstreben verstärkten Geschirrwagen heraus. Mit zuckenden Mundwinkeln betrachtete Hauer den heißgespülten Körper des Mannes. Dessen grotesk verrenkte Gliedmaßen kippten teilweise aus dem Rollwagen. Offenes Fleisch präsentierte sich an den Stellen, an denen der kräftige Wasserstrahl der Industriemaschine einem Sandstrahler gleich die krebsrote Haut weggefräst hatte. Tot. Ein Fall für die Dingos. Hauer knirschte mit den Zähnen.

Es ärgerte ihn. Nicht nur, dass der Typ das sanfte 45 Grad ECO-Programm nicht überlebt hatte, nein, es war viel mehr als das. Er verfluchte sein Leben. Die Experimente in Dr. Weisz’ Labor. Seine Verbesserungen. Regenerationsfaktor 299 erwies sich mehr als Fluch denn Segen. Stich- und Schusswunden heilten bei ihm in weniger als dreißig Sekunden. Der perfekte Jäger. Er hasste seinen Status, diese beschissene Situation, einfach alles. Am meisten hasste er die Nebenwirkungen seiner schnellen Regeneration — allen voran seine zitternden Hände. Würde er Dr. Weisz nicht regelmäßig neue Probanden liefern, müsste er auf die wohltuende Wirkung der Injektionen verzichten, welche dieses lästige Symptom linderte. Manchmal fragte er sich, ob sie ihm diese Nebenwirkung nicht absichtlich eingepflanzt hatte, um ihn gefügig zu machen.

Es quälte ihn, hier festzusitzen und beinahe täglich angeschossen zu werden. Seit 2012, mitten im Krieg in der dunkelsten Ecke von Afghanistan, am Arsch der Welt, umgeben von einem breiten Gürtel aus Landminen. Dummerweise war Hauer nicht gegen Explosionen immun. Fetzte ihm eine Mine den Kopf weg, starb er wie alle anderen auch. Seine Attribute — attraktiv und beinahe unsterblich — zählten hier nicht. Jemand wie er sollte seine Zeit mit einer Handvoll hübscher, leichtbekleideter Mädchen am Strand verbringen, statt als gefürchteter und einsamer Außenseiter zu leben. Frustriert verpasste er der Leiche einen kräftigen Tritt.

Die Härte unterhalb seiner Gürtellinie trieb seine düsteren Gedanken in eine andere Richtung.

»Zeit für Laster«, murmelte er. Die zierliche Brünette, die mit beeindruckender Hartnäckigkeit die Grenze zu Zone F verteidigte, kam ihm in den Sinn. Jung, schlank, hübsch. Seine bevorzugte Beute. Leider schwer aufzutreiben. Dazu wehrhaft. Egal, er verfügte über eine perfekte Strategie: Ablenkung. Ein ansehnlicher Mann wie er musste seine Auserwählte nur überrumpeln und ausreichend verwirren, das reichte vollkommen. Der allgegenwärtigen Gefahr wegen überdreht, völlig übermüdet und ausgezehrt, ließen sich seine Opfer leicht manipulieren. Ein sanfter Griff an der richtigen Stelle und ein schüchterner Kuss — schon vergaßen die Frauen für einen Moment, sich zu wehren. Und ein Moment reichte völlig aus. Er war in ihnen, ehe sie begriffen, was er da tat. Damit sparte er sich das lästige Strampeln, und oftmals auch die Schreie. Zu verwirrt über seine gepflegte Erscheinung und sein widersprüchliches Verhalten hielten manche sogar still, bis er mit ihnen fertig war. Seine Taktik funktionierte immer.

Ehe er sich aufmachte, nach draußen zu gehen, stattete er dem begehbaren Schrank im Hinterzimmer einen Besuch ab. In dem stockdunklen, modrigen Holzverbau stank es nach Verwesung. Hauer tupfte sich etwas Minzöl unter die Nase und machte das Licht an. Er nickte den neun nackten, weiblichen Schaufensterpuppen zu, die darin standen. Von der Nase abwärts spannte menschliche Haut über dem rissigen Plastik, mit Wachs vor allzu schneller Zersetzung geschützt. Es glänzte im Schein der Glühlampe. Die roten Lippen der Frauen schienen ihm zuzulächeln.

»Ladys.« Er deutete eine Verbeugung an. »Ich habe eine Verabredung. Wir sehen uns später.«

Mit einem siegessicheren Grinsen verließ er sein Zuhause, in der Hand eine Blendgranate.

 

 

An seinem Ziel — einer roten Backsteinmauer mit unzähligen Einschusslöchern von Granaten — angekommen, duckte er sich tief in die Schatten eines ausgebrannten Panzers. Siegessicher grinsend beobachtete er seine Beute, die kleine Brünette. Sie sah immer wieder verzweifelt auf die andere Straßenseite, wischte sich unablässig die schweißnassen Hände an der Hose ab, um ihr AK besser im Griff zu haben. Auf die Verstärkung konnte sie lange warten, die hatte Hauer schon vor Stunden kaltgemacht.

Unvermittelt ging sie auf alle Viere und kroch die massive Mauer entlang, die ihr als Deckung diente. Ganz langsam, von einem Guckschlitz zum nächsten. Sie wirkte extrem angespannt, perfekt. Breit grinsend warf Hauer den handlichen Sprengkörper in Richtung Straße. Weit genug, um selber keinen Schaden zu nehmen, nah genug, um sein Opfer in einen Zustand völliger Handlungsunfähigkeit zu bringen.

3, 2, 1, …

Als die Granate explodierte, lief Hauer los. Die kleine Brünette zuckte zusammen und nahm schützend die Arme über den Kopf, das AK fiel in den Staub. Er nutzte den Moment, um sich auf sie zu stürzen. Ehe er ihren Körper fixieren und für sein Vorhaben in Position bringen konnte, traf ihn etwas Hartes auf den Kopf. Stechender Schmerz im Nacken gesellte sich dazu. Es fühlte sich an wie die Klinge eines langen Messers.

Kugelhagel setzte ein, eine Explosion. Der überlaute Knall ließ seine Ohren klingeln. Die Erde erbebte. Es regnete Trümmerteile. Staubwolken fluteten die gesamte Umgebung wie eine verschüttete Flüssigkeit. Unfassbar zornig über den vereitelten Angriff und den widerlichen Schmerz schoss er hoch, um zu sehen, wer es gewagt hatte, ihn zu stören.

Ein junger Mann, ausgemergelt und schmutzig von Kopf bis Fuß. Wohl der Ersatz für den Kerl, der Hauers Opfer ablösen sollte. Der Typ griff nach dem AK, das direkt neben ihm lag.

Reflexartig drehte Hauer sich um und suchte Schutz hinter dem Panzer.

»Dafür wirst du büßen!«, rief er wutentbrannt über seine Schulter. »Du kriegst das Intensivprogramm. 65 Grad, extra lang.«

Die Staubwolke lichtete sich ein wenig, die feinen Partikel kratzten dennoch unangenehm in den Atemwegen. Der Geruch nach verbrannter Haut und frischem Blut tränkte die Luft.

 

 

Hauer mahlte vor Zorn mit dem Kiefer. Die kleine Vogelscheuche hatte ihn um seinen Genuss gebracht. Dafür musste sie bezahlen. Er lief zurück zu dem verfallenen Restaurant, um seine Waffe zu holen.

Die nunmehr abgekühlte Leiche im Geschirrwagen schien ihn zu verspotten. Er glaubte, in dem entstellten Mund ein Grinsen zu erkennen.

»Glotz nicht so bescheuert! Ich wollte nicht kämpfen, nur vögeln. Geht schlecht mit Waffe im Hosenbund.«

Aus Frust spuckte er dem Toten ins Gesicht, während er seine Pistole lud. Wenn er seinen Rachefeldzug beendet hatte, musste er den verschrumpelten Mann schleunigst loswerden.

 

 

Die Tür flog schwungvoll auf und die kleine Brünette rauschte in den Raum. Sie funkelte ihn zornig aus zusammengekniffenen Augen an, riss das AK hoch und jagte ihm mehrere Kugeln in den Körper. Übelkeit erregendes Stechen schoss ihm durch Brust und Bauch. Er keuchte, taumelte. Der reflexartige Griff seiner Hand nach etwas, woran er sich festhalten konnte, ging ins Leere. Hauer knallte rücklings auf den Boden. Die Wunden heilten bereits. In geschätzt anderthalb Minuten konnte das Miststück was erleben. Er blieb reglos liegen und wartete ab.

»Was zum Teufel …« Sie fixierte die Einschusslöcher, welche sich zügig schlossen. Er grinste hämisch.

»Regenerationsfaktor 299, Schätzchen.«

Blitzschnell sprang sie zu ihm und beugte sich über seinen Oberkörper. »Dein Regenerationsfaktor interessiert mich einen Scheißdreck!«

Hastig positionierte sie das AK direkt über seinem Herzen und drückte ab. In seiner Brust explodierte glühender Schmerz. Alles wurde schwarz.

 

 

Als er wieder zu sich kam, lag er nicht mehr in der Nähe der Tür, sondern befand sich in sitzender Position direkt neben dem Geschirrspüler. Das knallrote Gesicht des verhassten Toten kaum eine Armlänge entfernt. Er spürte ein undefinierbares, brennendes Ziehen an der rechten Schulter. Sein Blick glitt zur Quelle des Übels. In seinem Fleisch steckte der eiserne Haken, den er normalerweise zum Herausziehen des heißen Geschirrwagens benutzte.

Um den quer zum gebogenen Teil verlaufenden Griff des Hakens waren mehrere dicke Kabel gewickelt, die stramm saßen. Er wollte mit der Linken danach greifen, aber sein Arm ließ sich nicht bewegen. Die Schulter schien gebrochen.

»Starkstromkabel sind echt stabil«, tönte es nah an seinem rechten Ohr. »Je mehr du dich wehrst, desto schlimmer wirst du dich verletzen.« Die zuckersüße Stimme der Frau löste unbändige Wut in ihm aus. Zudem grinste ihn die verdammte Leiche spöttisch an. Eine Welle aus tiefschwarzem Zorn brandete durch Hauer. Begleitet von dem widerwärtigen Gefühl der Hilflosigkeit. Die Frau trat in sein Sichtfeld.

»Du bist zäh.« Sie legte den Kopf schief und musterte ihn. »Einer der Verbesserten?«

»Kann schon sein.« Er grunzte unbestimmt. Seine Schulter kribbelte wie verrückt. Gut so. Ein paar Minuten noch, bis der Bruch verheilt war.

Sie deutete auf die Leiche und verzog angewidert das Gesicht.

»Warum hast du das getan?«

»Um ihn von Makeln wie ranzigem Schweißgeruch und fettigen Haaren zu befreien. Sieh nur, wie es nun glänzt. Er riecht jetzt auch viel besser.«

»Was?«

»Sauberkeit ist das A und O.«

»Sauberkeit …?«

»Hat meine Mom gesagt.«

»Du bist verrückt.«

»Sie stand in der Küche … als ich von der Schule nach Hause kam. Ihr Hals war übersät mit Würgemalen, ihr linkes Auge komplett zugeschwollen und blau.« Hauer starrte an die Decke und seufzte. »Dad nannte seine rechte Faust nicht umsonst Thors Hammer. Er lag hinter ihr am Boden. In Stücke zerteilt. Sie steckte die Teile in den Geschirrspüler und sagte: Sauberkeit ist das A und O, mein Junge. Merk dir das.«

»Du bist der Junge aus der Eagle-Street, der vor 12 Jahren …«

Hauer nickte und zitierte den Zeitungsartikel:

»Nachbarn hatten sich über anhaltenden Verwesungsgeruch beschwert. Als die Beamten das Haus betraten, bot sich ihnen ein Bild des Schreckens. Hauer Junior (8) saß in der Küche bei einer Schüssel Cornflakes. Seine Mutter baumelte neben ihm, den Kopf in einer Schlinge, die von einem Querbalken hing. Im Geschirrspüler fand man den fast zur Unkenntlichkeit zerfallenen Körper eines Mannes, der später als Thomas Hauer identifiziert werden konnte — der Vater des Jungen.« Er sah sie spöttisch an. »Den Rest kennst du ja bestimmt.«

»Du bist verrückt«, wiederholte sie mit brüchiger Stimme. Hauer schnaubte belustigt durch die Nase. Die Regeneration seiner Schulter war abgeschlossen, das lästige Kribbeln der Heilung verebbte. »Du hast dich mit dem Falschen angelegt.« Er lachte verächtlich, griff nach dem Haken und zog ihn langsam heraus. Das Zittern seiner Hände setzte ein. Der Preis für die schnelle Heilung.

Scheiß auf Laster, Dr. Weisz belohnt mich garantiert gebührend für ein zusätzliches Forschungsobjekt.

Sein Blick bohrte sich in den der Brünetten; der Haken fiel scheppernd zu Boden. Entsetzt wich sie zurück und hastete hinaus.

»Lauf, Süße«, flüsterte er in den Raum. »Lauf, so schnell du kannst. Ich liebe die Jagd.«

Selektion

 

Marla

 

Unerwartet erwache ich in sitzender Position. Wie merkwürdig, normalerweise schlafe ich nie im Sitzen. Mein schmerzender Rücken verkündet, dass ich mich schon länger zusammengesunken auf dem harten grauen Plastikstuhl befinde. Einem von vielen. Reihe um Reihe säumen sie absteigend ein kahles, mit beigem Sand bedecktes Oval. Sieht aus wie ein gigantisches Stadion. Nur das Spielfeld in der Mitte fehlt. Statt grünem Rasen und herumflitzender Sportler gibt es unzählige Bildschirme. Von meiner Warte aus, ganz oben, habe ich einen guten Überblick. Jede zweite Reihe ist besetzt, die dazwischen sind leer. Es müssen Tausende Menschen sein.

Niemand unterhält sich, keiner guckt auf sein Handy. Alle sitzen wie hypnotisiert auf ihren Plätzen. Sie sehen aus, als hätte man sie direkt aus dem Leben gerissen. Die Frau vor mir, bekleidet mit grünfleckiger Kochschürze über einem kleinen Schwarzen, wirkt wie vom Herd abgeholt. Der Anzugträger mit Krawatte und Aktentasche auf dem Schoss, der neben mir sitzt, war wohl auf dem Weg zur Arbeit. Links von mir klammert sich ein Pärchen aneinander. Er in Badeshorts, sie im Bikini, beide barfuß. Die waren bestimmt am See, als sie eingesammelt wurden. Auch ich hatte heute Morgen mit dem Gedanken gespielt, nach Feierabend das prächtige Sommerwetter zum Schwimmen zu nutzen. Das letzte, dessen ich mich bewusst entsinnen kann, ist das kleine Wartehäuschen des Busses, den ich für die Fahrt zur Arbeit nutze. Danach gähnt Leere in meinem Kopf.

Die Leute um mich herum wirken apathisch. Keiner von ihnen wundert sich über seine Anwesenheit hier, alle sitzen brav da und sehen fern als wäre es das Normalste der Welt. Ich lasse den Blick schweifen. Bauarbeiter in voller Montur, eine Ballerina in weißem Spitzentutu, ein Metzger mit blutbesudeltem Arbeitsmantel …

Sie alle sehen zugedröhnt aus, als stünden sie unter Drogen. Zwei Reihen vor mir sitzt ein Teenager, nur in Unterhose, dem ein langer Speichelfaden aus dem Mundwinkel hängt. Nicht zugedröhnt — sediert heißt das Wort, wie mir einfällt. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken runter. Ich fühle mich wie in einem Horrorfilm. Mein Blick streift den Bildschirm. Eine Doku über Affen läuft. Eine einlullende Stimme dröhnt aus den Lautsprechern zwischen den Rängen.

»Wie alle Menschenaffen sind sie tagaktiv. Höhepunkte ihrer Aktivitäten …«

Die Menschen um mich herum gucken wie hypnotisiert zu. Damen und Herren in weißen Kitteln streifen durch die leeren Reihen und beobachten die Leute aufmerksam. Vier Reihen weiter unten steht eine Frau auf, schüttelt sich und sieht sich hilfesuchend um. Mehrere Weißkittel umzingeln sie und nehmen sie mit. Leise, unspektakulär. Die anderen Menschen scheinen es überhaupt nicht zu bemerken. Sie glotzen weiter unbeteiligt auf die Bildschirme. Widerwillig gucke auch ich neuerlich hin, unfähig, zu reagieren oder die Situation einzuordnen. In meinem Kopf scheint dichter Nebel zu wabern, der sämtliche Emotionen unterdrückt.

»Der Bonobo unterscheidet sich äußerlich vom Gemeinen Schimpansen durch deutlich längere Beine, …«

Die Kamera schwenkt über verschiedene Tiere. Eines der Männchen entdeckt die Kamera und guckt direkt hinein. Es starrt mich an. Seine dunklen Augen wirken intelligent.

Plötzlich streift mich ein Gedankenblitz. Eine alte Erinnerung.

In einem Video über entführte Menschen hatten alle Betroffenen von einem Affen erzählt, der sie angestarrt habe. Männer und Frauen berichteten von einer Art Blackout, den sich niemand erklären konnte. Ein junger Typ sagte, er hätte sich mittags nur ein Sandwich aus dem Kühlschrank holen wollen, wäre aber am späten Abend hungrig und völlig desorientiert auf der Couch liegend erwacht. Und eine Frau gestand unter Tränen, dass sie mit ihrem Mann einen Ausflug zum See gemacht habe, wo er spurlos verschwand. Sie wüsste aber nicht, wie das passieren konnte. Eben noch ging sie mit ihm ins Wasser und gleich darauf erwachte sie am Ufer des Sees auf einer Decke sitzend. Dazwischen lagen mehrere Stunden, an die sie nur eine einzige Erinnerung hatte: einen starrenden Affen.

Diverse Spekulationen über eine Entführung durch Aliens zogen die Sache ins Lächerliche und ich hatte mir den Rest des Videos nicht mehr angeguckt. Ich glaubte, die Leute wollten nur Aufmerksamkeit und hätten sich das Ganze ausgedacht. Die Vorstellung, dass Außerirdische Lichtjahre durchs Universum fliegen, um uns eine langweilige Doku über Affen zu zeigen, war einfach zu absurd. Jetzt weiß ich, was ihnen zugestoßen ist — dasselbe wie mir und den vielen Menschen um mich herum. Jemand hat uns entführt und mitgenommen. Aber es sind garantiert keine Aliens.

Ich will sofort hier raus. Mein Blick schweift hastig umher auf der Suche nach dem Ausgang. Er liegt links von mir. Die rettende Tür zu erreichen sollte ein Leichtes sein. Es sind nur wenige Schritte bis dahin. Entschlossen springe ich auf, renne den schmalen Gang zwischen den Sitzreihen entlang und durch die breite Tür. Direkt dahinter fassen mich kräftige Hände an den Handgelenken und halten mich fest. Ich schreie und wehre mich aus Leibeskräften, aber ich habe überhaupt keine Chance. Jemand drückt meinen Körper bäuchlings zu Boden und ich spüre einen Stich im Nacken. Arme und Beine werden augenblicklich schwer. Ebenso wie meine Augenlider, die ich keine Sekunde länger offenhalten kann.

Dunkelheit.

Stille.

 

 

Schmerz durchzieht meine gesamte Vorderseite und meinen Kopf. Ein rhythmisches Pochen. Als hätte ich drei Tage am Stück durchgesoffen. Nicht, dass ich das jemals getan hätte, aber so stelle ich mir das bittere Erwachen nach einer ausgedehnten Zechtour vor. Dämmriges Zwielicht umgibt mich. Der penetrante Gestank nach chemischer Lavendelseife steigt mir in die Nase.

Mein Körper hängt bäuchlings über dem breiten Rand eines riesigen schwarzen Containers. Arme und Beine baumeln frei in der Luft. Kaltes Metall drückt mir schmerzhaft gegen die Rippen. Das Ding ist so groß wie ein halbes Fußballfeld. Mehrere Meter trennen mich vom Boden, auf dem sich außer einer trockenen braunen Masse nichts befindet. Könnte Lehm sein, dessen Oberfläche völlig ausgedörrt ist. Fingerdicke Risse lassen darauf schließen. Runterzuspringen erscheint mir zu riskant. Ich will meine Arme und Beine hochziehen und aufstehen, aber meine Gliedmaßen gehorchen mir nicht. Sie sind gefühllos und wiegen scheinbar eine Tonne.

Es gelingt mir erst nach mehreren verzweifelten Versuchen, meinen Körper auf den breiten Rand des Containers zu hieven. Vorsichtig stehe ich auf und sehe mich um. Zu meiner Linken erstreckt sich eine graue Wüste. Eine schier endlose flache Weite, in der es nichts als Sand gibt, überschattet von einer geschlossenen dunklen Wolkendecke. Das helle Grau erinnert mich an meinen Urlaub auf Costa Rica. Leider ist es hier weder warm noch gemütlich. Vor und hinter mir stehen in zwei Reihen Container Wand an Wand. Es müssen hunderte sein. Vorsichtig balanciere ich den Rand entlang und gucke in den nächsten. Der Boden ist hüfthoch mit ausgetrockneten Leichen bedeckt, deren Haut wie die von Mumien aussieht. Der Anblick bringt mein Herz aus dem Takt und Hilflosigkeit nimmt mir jegliche Kraft. Wo zum Teufel bin ich? Und wer hat mich hierhergebracht?

Ohne eine Möglichkeit zum Abstieg bleibt mir nichts übrig, als weiter zu gehen. In der Hoffnung, eine Leiter oder Sprossen zu finden. Meinen rebellierenden Magen ignorierend tapse ich weiter zum nächsten Container. Der Boden ist mit geronnenem Blut bedeckt, ansonsten leer. Entgegen meiner Erwartung riecht es nicht nach Verwesung. Der penetrante Gestank nach chemischer Seife erstickt alle anderen Gerüche. Im nächsten Container stapeln sich wieder mumifizierte menschliche Leichen. Verstümmelt und nackt. Manchen fehlen die Beine, anderen die Arme. Einige besitzen weder Augen noch Ohren. Nicht auszumachen, ob die Teile vor oder nach ihrem Tod entfernt wurden. Gelbliche Maden winden sich aus dem offenen Fleisch der austrocknenden Toten.

Tiefschwarze Angst hangelt sich in meinem Inneren hoch. Das formlose Grauen schlägt seine Klauen unbarmherzig in meine Eingeweide. Für einen Moment nehme ich nur meinen jagenden Herzschlag wahr, der in meinem Kopf hämmert. Zu ungeheuerlich ist die Entdeckung, die ich eben gemacht habe. Sie wirft hässliche Fragen auf. Wer experimentiert an Menschen herum? Sind es die Weißkittel, die ich im Stadion gesehen habe? Was haben sie mit mir gemacht? Haben diese Leute die Toten wie Müll in die schwarzen Container geworfen? Wer sind die überhaupt?

Das Surren einer Drohne, die sich genau hinter meinem Kopf positioniert, dringt als Hintergrundgeräusch zu mir durch. Unwichtig, ich drehe mich nicht um. Ein Fehler.

Etwas Spitzes dringt in meinen Nacken ein. Der piekende Schmerz währt nur kurz. Schwarze Sternchen tanzen vor meinen Augen und mir wird schlecht. Ich verliere das Bewusstsein.

 

10 Jahre später

 

Marla

 

Ich erwache auf dem kalten Boden eines Vans, der mächtig hin und her schaukelt. Liegend, aber frei. Keine Fesseln schnüren meine Handgelenke ein. Auch meine Beine sind nirgends festgebunden. Anders als sonst hindert mich nur das Blech des fensterlosen Wagens an der Flucht. Kaltes Licht aus Neonröhren erhellt das in Weiß gehaltene Innenleben. Links von mir stehen flache Käfige, die mit Transportklammern auf dem Boden fixiert sind, damit sie nicht herumrutschen. Darin wimmelt es von handtellergroßen Spinnen. Eiskalte Schauer jagen meinen Rücken hinunter. Warum ausgerechnet Spinnen? Konnten die verdammten Forschungsheinis nicht Meerschweinchen oder Hamster nehmen?

T9 steht auf dem ersten Käfig. Dahinter folgen T10 und T11. Die nachfolgenden Nummern laufen auf der rechten Seite weiter. Zu meinen Füßen steht ein Behältnis aus Glas mit einer grün blinkenden Sonde oben darauf. Das darin gefangene Exemplar ist doppelt so groß wie die anderen. Aus seinem schwarz behaarten Hinterleib, der aussieht, als würde er demnächst platzen, ragt ein kleiner Sender. Ein winziges grünes Lichtlein blinkt im Gleichklang mit der Sonde. GPS? Wäre möglich.

Ich stehe auf, halte mich an den Seitenwänden fest und sehe mich um. Eine langgezogene Kurve drückt meinen Körper gegen die kalte Wand aus weißem Blech. Hauer hat es anscheinend eilig. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass er sich nicht mal die Zeit genommen hat, mich zu fesseln. Ich durchforste meinen Kopf nach Erinnerungen an die Ursache für den übereilten Aufbruch. Eine Szene im Labor tut sich auf.

Plötzlich explodiert das Bild in tausend Einzelteile wie ein zerbrechender Spiegel. Gleißende Helligkeit zwingt mich, die Augen zu schließen. Schmerzhaft lautes Sirenengeheul malträtiert meine Ohren. Ein Teil meiner Vergangenheit überrollt mich mit der Wucht einer Flutwelle.

 

Eine weißhaarige, hagere Frau im Arztkittel.

---ENDE DER LESEPROBE---