Reinheitsverbot - Veronika Reischle - E-Book

Reinheitsverbot E-Book

Veronika Reischle

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nachdem Paul Klinger angeschossen wurde, kommt auch sein Doppelleben ans Tageslicht. Die Mafia ist hinter ihm her, weil er sich mit den Konzernen der Kosmetik-Branche angelegt hat. Kommissar Bösinger wird der Fall anvertraut und er wäre überfordert, wenn er nicht anonyme Unterstützung von hochbegabten Senioren erhalten würde. Seine Spur wird immer heißer und führt ihn hinter die dunklen Kulissen der skrupellosen Bosse der mächtigen Kosmetikindustrie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 334

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Veronika Reischle, Klaus Kröhnert

Reinheitsverbot

© 2020 Veronika Reischle, Klaus Kröhnert

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-7497-9769-1

Hardcover:

978-3-7497-9770-7

e-Book:

978-3-7497-9771-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1

Er verlor den Halt. Eigentlich war es mehr ein Wegrutschen. Sein rechter Fuß glitt vom Sims auf die erste Ziegelreihe. Er fragte sich, warum er barfuß war, warum es dunkel war. Er ruderte mit den Armen und verlor schließlich die Kontrolle. Er fiel. Mit dem Kopf schlug er auf den darunter liegenden Ziegelreihen auf. Alte, brüchige Ziegel. Der Aufprall ließ ihn aufschreien. Dann verlor er das Bewusstsein.

Eine warme Hand streichelte seine Hand. Wem gehörte sie? Nichts war ihm vertraut. Es roch nach Krankenhaus und nach Medikamenten. Er öffnete kurz das rechte Auge, das linke verweigerte seinen Dienst. Wahrscheinlich war es kaputt. Doch die gute Nachricht war: Er lebte. Er wusste nur nicht, in welchem Zustand.

Die streichelnde Hand war verschwunden. Er hörte, wie jemand den Raum verließ und wieder hineinkam. „Schwester, er ist aufgewacht.“

Marianne, seine Lebensgefährtin, wischte sich die Tränen aus den Augen. Es waren Tränen des Glücks und der Erleichterung. Das Schwanken zwischen Hoffen und Bangen hatte ein Ende. „Paul, ich bin es, Mary. Kannst Du mich verstehen?“ Mit einem Auge sah er in zwei Augenpaare. „SSSS, geehht sooo nigermaasen.“ 1 Million Fragen schwirrten durch seinen Schädel. Als erstes versuchte er seinen Zehen zu befehlen, sich zu bewegen. Aus diversen Quellen wusste er: Wenn er die Zehen nicht mehr bewegen konnte, dann war es etwas ganz Schlimmes. Er jagte den Befehl durch seinen verbundenen Körper. Sie ließen sich bewegen. Er hätte vor Freude schreien können.

Nach einigen Lippen- und Mundbewegungen versuchte er sich erneut im Reden: „Mary, was ist passiert? Wo bin ich?“

Statt einer Antwort hörte er eine fremde Frauenstimme sagen: „Sie sollten ihn jetzt lieber noch in Ruhe lassen. Er darf sich nicht anstrengen. Wenn er in seinem Zustand weiß, dass jemand da ist und ihm beisteht, dann ist das fürs Erste genug. Ich werde umgehend den Stationsarzt informieren. Der Patient ist noch sehr schwach, nach allem, was er durchgemacht hat.“ Er hörte, wie die zwei Menschen den Raum verließen.

Er war wieder allein und versuchte seine Finger zu bewegen. Es funktionierte. „Was ist mir nur passiert?“ Seine Gedanken schwirrten umher – ohne Lösung, ohne Antwort.

2

Sie war auf dem Weg von Italien nach Hause. Den Arlberg hatte sie schon lange hinter sich gelassen. Der Nebel hatte sich dicht über die immer noch leicht verschneite Landschaft gelegt.

Langsam, ganz langsam fuhr sie mit ihrem in die Jahre gekommenen Auto die kurvige nasse Straße entlang. Eigentlich müsste sie sich ein neues Auto kaufen, doch sie konnte sich nur schwer von ihrem liebgewonnenen Golf trennen. Es dämmerte bereits und sie machte sich Sorgen, ob sie rechtzeitig in der gebuchten Pension ankommen würde.

Sie fragte sich, ob er schon dort war. Das Radio spielte alte Hits aus den Siebzigern. Ob er sich über die aktuelle CD der Rolling Stones „blue and lonesome“ freuen würde, die sie in Innsbruck für ihn gekauft hatte? Als glühender Fan der Stones, der noch nie ein Konzert seiner nicht mehr jungen Idole verpasst hatte, freute er sich bestimmt sehr, dass sie trotz ihrer Vorliebe für Klassik daran gedacht hatte.

Sie hatte auch das neue Kleid im Gepäck, das er so an ihr liebte. Sie wurde nervös, als sie an den Glanz in seinen Augen dachte. Da war etwas Sanftes in seinem Blick, wenn er sie betrachtete.

Früher, als sie noch jünger war, konnte sie ohne viel Sport mühelos ihre zierliche Figur halten. Heute war das anders. Es kostete sie sehr viel Mühe, frühmorgens aufzustehen, um ihr Laufpensum zu schaffen. Und das alles, damit sie in Form blieb. Manchmal würde sie am liebsten die Decke über den Kopf ziehen und sich gehen lassen. Aber dann reißt sie sich zusammen. Sie wollte nicht riskieren, dass er sich einer Jüngeren zuwendet. Auch heute war sie vor ihrer Abreise tapfer gewesen, trotz des nassen Wetters.

In Gedanken fuhr sie weiter. Die Heizung lief auf vollen Touren. Sie merkte, dass sie müde wurde und überlegte, ob sie kurz anhalten sollte. In der Zwischenzeit hatte es angefangen zu regnen, als sie sich dem vereinbarten Treffpunkt langsam näherte. Eine Katze saß vor einem menschenleeren Café. Sie war froh, dass sie die weite Strecke bald hinter sich hatte.

Plötzlich klingelte ihr Telefon. Sie wühlte mit einer Hand in ihrer Handtasche. War er das? Hoffentlich war ihm nichts dazwischengekommen, dachte sie. Endlich hatte sie das Handy gefunden. Gerade wollte sie auf die grüne Taste drücken, als wie aus dem Nichts ein Schatten vor ihr auftauchte. Alles was sie hörte war ein Knall und ein Schrei. Etwas fiel vor ihr auf die Straße. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie fragte sich, was passiert war und ob sie aussteigen sollte.

3

Paul erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Er sah Schläuche und einen Infusionsbeutel. Der Haltegriff über ihm erinnerte ihn an ein Dreieck.

Er lag in einem Einzelzimmer. War das noch die Intensivstation? Ein Dreieck. Wieso dachte er wieder an ein Dreieck? Er versuchte sich zu erinnern.

Da ging die Tür auf und ein Mann in einem weißen Kittel trat vor ihn. „Ich bin Dr. Michels, Ihr Stationsarzt, wie geht es Ihnen …?“ Er sah auf die Patientenkarte: „… Herr Klinger.“

„Sagen Sie es mir. Ich kann die wichtigen Körperteile bewegen und habe kaum mehr Schmerzen. Haben Sie mir Schmerzmittel eingeflößt?“

„Hier steht, dass Sie vor zwei Tagen nach einem Sturz von einem Dach eingeliefert wurden. Ihre Schulter war ausgerenkt und Ihr linkes Knie mussten wir mit einer Schiene ruhigstellen. Außerdem haben Sie noch eine leichte Gehirnerschütterung. Sind Sie Sportler?“

„Nicht wirklich, aber ich versuche durch Krafttraining und etwas Ausdauersport fit zu bleiben. Wieso?“

„Anders kann ich es mir nicht erklären, dass Ihr Körper nicht noch mehr Blessuren davongetragen hat. Sie müssen sich beim Aufprall geschickt abgerollt haben und ein Schutzengel, der mit Ihnen geflogen ist, war wohl auch mit im Spiel.“

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Sagen Sie, haben Sie Feinde?“ Paul überlegte einen Moment. Was sollte denn diese Frage? „Puh, ich gehe mal davon aus, dass mich nicht jeder mag. Aber, ob ich die gleich als Feinde bezeichnen würde? Da tue ich mich echt schwer.“

„Sie hatten nämlich doppeltes Glück“, gab Dr. Michels ihm zu verstehen. „Ihren Streifschuss am rechten Oberschenkel konnten wir mit wenigen Stichen nähen. Ein paar Zentimeter weiter links und es hätte Ihnen den Knochen zerfetzt. Etwas höher und mittiger und der Schuss wäre im Genitalbereich gelandet. Das wäre es dann gewesen. Sie hatten also unverschämtes Glück.“

„Meine Güte. Jemand hat auf mich geschossen? Paul steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Das ist ja entsetzlich, ich verstehe die Welt nicht mehr. Mir fehlen noch die Ereignisse der letzten Tage, ich hoffe, mir fällt bald alles wieder ein.“ In ihm brodelte es wie in einem Vulkan. Welcher Feind trachtete ihm nach dem Leben? Fassungslos starrte er Dr. Michels an.

„Das ist nicht mehr mein Fachbereich.“, sagte Dr. Michels. „Sie sind meines Erachtens vernehmungsfähig. Draußen wartet nämlich ein Kommissar von der Kripo.“

Kommissar Franz Bösinger wartete geduldig im Krankenhausgang auf grünes Licht von Dr. Michels, um den verunglückten Patienten zu vernehmen.

Er hasste es, bei diesem nassen Wetter auch noch den Geruch von Krankenhäusern ertragen zu müssen.

Seit seinem Fahrradunfall vor einigen Jahren, der ihm einen mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt beschert hatte, war er auf diese Häuser nicht mehr gut zu sprechen. Was hatte er sich alles anhören müssen wegen seines Missgeschicks, das ihm passiert war. Nach dem Motto: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Markus, sein Sohn, ein begeisterter Sportler, hatte sich damals ein todschickes und dem neuesten Trend entsprechendes Mountainbike geleistet. Und er, obwohl er wusste, dass Sport nicht gerade seine Stärke ist, hat es nicht lassen können, dieses Bike auszuprobieren.

Also hat er sich in Markus’ Abwesenheit auf das Rad geschwungen und war in Richtung Wald gefahren. Es war früher Abend gewesen und die Sonne stand schon tief im Westen. Trotz Sonnenbrille hat er kaum etwas sehen können. Die Hauptstraße Richtung Wald war leicht ansteigend und die Hitze machte ihm zu schaffen.

Er fuhr also bergauf und fluchte, weil er merkte, dass seine Kondition ganz schön nachgelassen hatte. Er wollte deshalb den Gang wechseln und war unkonzentriert. Er kannte sich mit diesem Bike nicht wirklich aus. Auf die Gangschaltung konzentriert, hatte er übersehen, dass ein parkendes Auto am Straßenrand stand und war mit voller Wucht ins Heck des Kombis gekracht.

Anscheinend hatte er den Helm nicht richtig festgezurrt, sodass dieser davonflog. Er flog mit dem Kopf voraus über den Lenker ins Heckfenster, die Brille zerbrach, die Brillengläser ramponierten sein Gesicht und mit dem Brillenbügel hatte er sich zu guter Letzt auch noch den Nasenflügel aufgerissen. Er schlug auf der Straße auf mit dem Ergebnis: zwei gebrochene Rippen, ein gebrochener Arm, eine Gehirnerschütterung, mehrere Schnittwunden im Gesicht und ein Körper voller Abschürfungen. Nicht zu vergessen: der jämmerliche Zustand des Bikes.

Die Häme seiner Kollegen hatte er bis heute nicht verdaut. Allein deshalb nicht, weil aus Umweltgründen im Kommissariat für Kurzstrecken kürzlich ein E-Bike angeschafft wurde.

„Entschuldigen Sie, sind Sie eine Angehörige von Paul Klinger?“ Kommissar Bösinger sah, wie eine Krankenschwester und eine jüngere Frau aus dem Zimmer kamen. Während sich die Krankenschwester mit dem Hinweis verabschiedete, dass sie zum Stationsarzt musste, antwortete Mary: „Ja, nein, wieso, wer sind Sie?“

„Ich bin von der Kripo, mein Name ist Bösinger.“ Er zeigte ihr seinen Dienstausweis. Während er ihn wieder in seiner Jackentasche verstaute, dachte er: Klasseweib, blondes, gepflegtes Haar, tolle Kurven, riecht gut und dieses Gesicht mit den blau-grünen Augen, beneidenswert.

Er gönnte sich noch eine Nase voll des betörenden Eau de Toilette, indem er die übliche Distanz zum Verhörenden um 20 cm verkürzte. Im Gegensatz zu vielen anderen Befragungen in den sozialen Brennpunkten seiner Stadt, bei denen er oftmals die Distanz gerne um einen Meter oder mehr vergrößerte. So gleicht sich alles wieder aus, dachte er.

„Ich bin die Freundin von Paul Klinger. Wir leben erst seit wenigen Wochen zusammen. Mein Name ist Marianne Semel.“

„Haben Sie eine Erklärung, was Herrn Klinger dazu bewogen haben könnte, auf das Dach der Pension Lichtblick zu klettern? Wieso wurde auf ihn geschossen?“

Trotz Ratlosigkeit und Erschütterung versuchte sie so unverfänglich wie möglich zu antworten: „Dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen. Paul ist beruflich oft tagelang unterwegs. Er hat sich von mir vor vier Tagen verabschiedet und sagte, dass er geschäftlich nach Hamburg und anschließend noch nach Bremen muss. Wir haben täglich telefoniert, aber von einer Pension hier am Bodensee hat er nichts erwähnt. Er hatte immer eine Visitenkarte und ein Bild von mir im Geldbeutel, aufgrund dieser Karte, hat mich die Polizei informiert.“

Der Stationsarzt kam auf Franz Bösinger zu und gab ihm ein Signal, dass er Paul Klinger nun befragen könne. Er gab Mary seine Visitenkarte mit dem Hinweis, sich für weitere Fragen bereit zu halten und sich unverzüglich zu melden, wenn ihr etwas Sachdienliches einfiele.

Bösinger war sich nicht sicher, wie er die Reaktion von Marianne Semel einschätzen sollte, als er erwähnte, dass Paul angeschossen wurde. Hinter seinen vordergründigen erotischen Gedankenspielchen machte sich ein nicht zu erklärendes Unbehagen breit. Manchmal verfluchte er sich dafür, dass er hinter allem und jedem irgendetwas Verdächtiges vermutete. Er verdrängte seinen Gedanken, ohne ihn zu vergessen und klopfte an die Tür des Krankenzimmers.

„Guten Morgen Herr Klinger, darf ich reinkommen? Mein Name ist Franz Bösinger von der Kripo.“ Auch ihm zeigte er seinen Dienstausweis. „Geht es Ihnen schon etwas besser?“

Paul Klinger lag in seinem Bett. Sein Blick schweifte durch das Fenster, so als würde er angestrengt nachdenken. Verunsichert drehte er seinen verbundenen Kopf Richtung Bösinger und antwortete nach einigem Zögern.

„Ja, danke, Herr Kommissar, es geht einigermaßen. Worüber ich aber sehr schockiert bin, ist, dass angeblich jemand auf mich geschossen hat. Mary, meine Lebensgefährtin, ängstigt sich seither zu Tode. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was passiert ist. Ich muss wohl vor jemandem geflohen sein.“

„Haben Sie denn Feinde oder haben Sie in der letzten Zeit bemerkt, dass Sie verfolgt oder bedroht wurden? Können Sie mir sagen, was Sie in dieser gottverlassenen Gegend in dieser Pension gemacht haben?“

Paul Klinger überlegte krampfhaft, so als kramte er in seiner Vergangenheit. Langsam drehte er den Kopf zum Haltegriff seines Bettes, betrachtete diesen angestrengt und antwortete:

„Herr Kommissar, ich weiß, es klingt komisch, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es irgendetwas mit einem Dreieck zu tun hat. Aber mir will einfach nicht einfallen, warum. Es ist zum Verzweifeln, aber mein Hirn ist wie leer. Ich weiß absolut nichts mehr, was die letzten Tage anbelangt.“

„Weiß denn Ihre Lebensgefährtin Frau Semel, was Sie in dieser Gegend wollten? Haben Sie Geheimnisse vor ihr? Wenn ja, sollten Sie uns einweihen, Sie sind in akuter Gefahr!“

„Nein, das ist es ja gerade. Wir sind erst vor kurzem zusammengezogen. Wir kennen uns zwar schon lange, aber ein Paar sind wir erst seit wenigen Monaten. Ihr Vater ist mein Chef. Ihm gehört das Unternehmen, für das ich als Vertriebsleiter tätig bin. Ich kann Ihnen sagen, er war nicht gerade erfreut, dass seine einzige Tochter mit einem ,Angestellten‛ liiert ist. Er hätte es lieber gesehen, wenn sie den jungen Stefan Frankenberg, den Sohn seines größten Konkurrenten, erhört hätte. Er hat sich schon vorgestellt, die Unternehmen durch eine Hochzeit zu vereinen. Quasi nach dem ,Habsburger Modell‛.

4

In Gedanken versunken saß Marianne in ihrem 911er Porsche. Der neuste Song von Adele hat es ihr besonders angetan. Sie stellte die Bose-Lautsprecher noch zwei Stufen lauter. Sie dachte an die romantischen Stunden, die sie mit Paul verbracht hatte. Vieles rauschte an ihr vorbei, wie die Häuser- und Baumreihen in den Straßen. Und nun, dieses abrupte Ende mit Krankenhaus und Schussverletzung. Marianne beschloss kurzerhand noch einen Abstecher in den Supermarkt zu machen. Es galt, die Bestände an Obst, Gemüse und Joghurt etwas aufzufrischen.

Danach fuhr sie in die gemeinsame Wohnung. Dass sie sich diese Wohnung am noblen Stadtrand überhaupt leisten konnten, hatte sie vor allem ihrem Vater zu verdanken. Er hat sie ihr Leben lang immer finanziell unterstützt, immerhin, denn er hatte fast nie Zeit für Sie, auch nicht als Kind. Auch der Porsche hatte nicht auf ihrer Must-Have-Liste gestanden. Ihr sportlich eingestellter Vater hatte sie zu ihrem 28. Geburtstag mit dem Porsche überrascht: „Du hast nun 10 Jahre lang bewiesen, dass du eine gute Autofahrerin bist. Wobei ich nie verstanden habe, dass du dich in so einem Mini-Fuzzi-Car bei 150 km/h auf der Autobahn noch wohlfühlen konntest. Für mich kommt sowas einem Himmelfahrtskommando gleich.“

Auf dem kurzen Teilstück vom Supermarkt nach Hause, wo noch 70 km/h erlaubt sind, gab es plötzlich einen Knall und Mary verlor für einen Augenblick die Kontrolle über ihr Fahrzeug. Sie schlingerte gefährlich nah an den rechten Fahrbahnrand und kam knapp an einem Baum vorbei. Gerade noch rechtzeitig riss sie das Steuer herum und konnte das Auto zum Stehen bringen. Die Anzeige an der Armatur meldete, dass der linke Hinterreifen kaputt war.

Nach einem Anruf beim nächstgelegenen Autohaus kam auch schon der Abschleppwagen. An eine Weiterfahrt war nicht mehr zu denken. Die Felge hätte keine hundert Meter mehr gehalten. Der Reifen war völlig zerfetzt. Dass der Reifen manipuliert worden ist, sagte ihr der KFZ-Meister. Irgendjemand hatte einen spitzen Gegenstand ins Profil gesteckt. Es war anzunehmen, dass der Reifen nach 3–10 km platzen musste.

Zu Hause angekommen nahm sie die gekauften Lebensmittel aus ihrem Einkaufskorb. Gerade wollte sie das Obst im Kühlschrank verstauen, da fiel ihr Blick auf die in Folie gehüllten roten Trauben. Darauf war ein Aufkleber angebracht, auf dem in Druckbuchstaben stand: „Ich mach dich kalt, du Schlampe.“

Es fuhr ihr eiskalt den Rücken herunter. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie zum Telefonhörer griff. Die Karte von Kommissar Bösinger lag noch auf dem Küchentresen. Auch hier war ihr Vater sehr großzügig gewesen. Die Küche war mit allen Schikanen ausgestattet. Eine freitragende Kochinsel mit edlem Granit, Lackfronten und Edelstahlelemente, High-End-Geräte, selbst einen Weinschrank gab es. Manchmal fragte sie sich, was gewesen wäre, wenn sie nur von zwei durchschnittlichen Gehältern hätten leben müssen. Sie wusste, dass ihr Vater es lieber gesehen hätte, wenn sie mit Stefan zusammengekommen wäre. Aber Paul hatte sie sofort fasziniert, sein Hang zu exquisiten Dingen, seine sportliche Figur und seine Hobbys, seine Art, eine Frau spüren zu lassen, dass sie etwas ganz Besonderes ist. Das war es, was ihn ausmachte. Obwohl er im nächsten Jahr 45 wurde, war er äußerst attraktiv.

Stefan hingegen war bodenständig. Sie sind zusammen zur Schule gegangen. Er ist für sie immer so etwas wie ein guter Freund gewesen. Jemand, mit dem man in der Kindheit Streiche ausgeheckt und durch die Gegend gestreift ist. Bei Paul, der ihr den Hof machte, gleich nachdem er als Vertriebsleiter bei ihrem Vater anfing, hatte sie immer das Gefühl, sie könne fliegen.

Gedankenverloren bemerkte sie, dass eine unbekannte Nummer zwei Mal versucht hatte, sie zu erreichen. Sie gab die Nummer von Kommissar Bösinger in ihr Smartphone ein. Er nahm sofort ab. Sie schilderte ihm den Unfall mit dem Porsche und die Manipulation des Reifens. Ebenso erzählte sie ihm von dem Aufkleber mit der furchteinflößenden Nachricht.

Auf sein Nachfragen, ob sie denn jemanden gesehen habe, der diesen Aufkleber angebracht haben könnte, überlegte sie, ob sie etwas bemerkt hatte. Doch sie war noch so durcheinander wegen des Vorfalls, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Kommissar Bösinger versprach, sogleich vorbeizukommen und einen Kollegen in den Supermarkt zu schicken, der dort versuchen sollte, Zeugen zu finden, die etwas beobachtet haben könnten. Möglicherweise gab es in diesem Bereich sogar eine Videoüberwachung. Er bat sie, die Lebensmittel nicht anzufassen, eventuell gab es brauchbare Spuren für eine DNA-Analyse.

Nachdenklich setzte sie sich auf den Barhocker und wartete auf die Polizei. Wer war derjenige, der versuchte, sie und Paul auszulöschen? Hatte Paul Geheimnisse? Gab es etwas, das sie nicht wusste? Warum war er hunderte Kilometer weit weg von Hamburg, wo er hätte sein sollen, und was hat er in dieser Pension gewollt?

5

Reflexartig riss sie das Steuer herum. Sie glaubte nicht, dass ihr Auto etwas abbekommen hatte. Sie blickte in den Rückspiegel und bemerkte, dass etwas, das aussah wie ein menschlicher Körper, zwischen Straße und Bürgersteig lag. Bei der nächstbesten sich bietenden Gelegenheit fuhr sie rechts ran. Nachdem sie eine Parklücke gefunden hatte, stieg sie aus, um zumindest aus der Ferne zu schauen, um vielleicht etwas zu erfahren, um vielleicht zu helfen.

Bereits aus dieser Entfernung sah sie, wie sich eine Menschentraube um den am Boden Liegenden gebildet hatte. Vermutlich kniete ein Arzt oder ein Sanitäter, der zufällig im Café gesessen hat, vor dem Verletzten. Seine Handgriffe wirkten professionell. Einige Passanten wandten sich bereits wieder ab. Zu wenig Blut, kein Toter, uninteressant. Sie gaben den Blick frei und Sophia sah, dass da ein gänzlich Fremder lag. Ein Koloss, ein Ungetüm in Schwarz. Er hatte so viel Fett am Körper, dass dadurch der Aufprall wohl abgemildert worden war. Ein lautes Stöhnen drang an ihr Ohr. Das spekulative Gemurmel der herumstehenden Gaffer war kein Deut leiser.

Über dem Café erkannte sie in der Dunkelheit einen kleinen Balkon. Zu klein, um sich hinzusetzen. Wahrscheinlich hatte der Erbauer ihn vor über hundert Jahren lediglich als Fassadenzierde anbringen lassen. Heute diente er vor allem Rauchern, denen die gestrenge Hausfrau verbot, in der Wohnung zu rauchen. Und wenn die fetten Männer zu faul waren, nach unten ins Freie zu gehen, dann erwies sich so ein Minibalkon auch noch als nützlich.

Sophia reimte es sich jedenfalls so zusammen, dass sich da vielleicht eine von der nicht mehr vorhandenen Erotik ihres Mannes derart enttäuschte Ehefrau, zu einem folgenschweren Schubser hat hinreißen lassen. Und da auch Dicke bekanntlich nicht fliegen können, stürzte er mitsamt seiner Zigarette auf den Vorsprung des Cafés und rollte dann weiter nach unten. Zwischen Bürgersteig und Straße blieb er liegen. Einen Meter weiter und er wäre von ihrem Auto überrollt worden. Besonderes Lob verdiente der Erbauer des schrägen Vorsprungs über dem Café. Es hatte keinen erwähnenswerten Schaden davongetragen.

Erst jetzt erinnerte sie sich, dass vor einigen Minuten ihr Handy geklingelt hatte. Vor lauter Schreck hatte sie es fallen lassen. Es lag noch mitsamt dem Inhalt ihrer Handtasche im Fußbereich des Beifahrersitzes. Auf dem Display erblickte sie das Symbol für eine neue Nachricht auf der Mobilbox.

Ängstlich hörte sie die Mailbox ab. Es war ein Anrufer mit unterdrückter Nummer, der keine Nachricht hinterlassen hatte. Wer mochte das gewesen sein? Sie konnte sich keinen Reim auf all die Vorkommnisse machen.

Der Regen hatte aufgehört. Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte. Wurde sie als Zeugin benötigt oder konnte sie einfach weiterfahren? Zum vereinbarten Treffpunkt waren es keine 20 Kilometer mehr. Sie hoffte inständig, dass er schon dort angekommen war. Sie beschloss, ihn anzurufen. Am Telefon könnte sie ihm den Vorfall schildern und ihn um Rat fragen. Auf ihn konnte sie sich immer verlassen. Er tat in verzwickten Situationen stets das Richtige. Sie wählte seine Nummer.

Nach mehrfachen erfolglosen Versuchen gab sie enttäuscht auf. War ihm etwas zugestoßen? Warum ging er nicht ans Telefon? War er das mit der unterdrückten Nummer? Wenn ja, warum? Sie wurde immer unruhiger. Entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit beschloss sie, erst einmal eine Zigarette zu rauchen. Obwohl sie seit Jahren offiziell nicht mehr rauchte, hatte sie immer eine Schachtel Marlboro light und ein Feuerzeug im Handschuhfach. Alte Angewohnheit. Während sie die ersten Züge inhalierte, dachte sie nach.

Erneut versuchte sie, ihn anzurufen. Wieder nichts. Wo war er denn nur? Sie setzte sich in ihr Auto und überlegte, was sie tun sollte, als jemand an die Seitenscheibe ihres Golfs klopfte. Es war ein Polizist mit ernster Miene. Erschrocken ließ sie die Scheibe herunter. Er bat sie auszusteigen und ihm einige Fragen zu beantworten. Zitternd stieg sie aus.

Der Polizist fragte sie nach ihrem Namen und nach ihrem Ausweis und den Fahrzeugpapieren. Nachdem er alles inspiziert hatte, fragt er, ob sie etwas zum Unfallhergang des abgestürzten Mannes sagen konnte oder etwas beobachtet hatte. Da der Mann laut einer Zeugin aus dem Café direkt vor ihr Auto gefallen sei, wäre sie jetzt unmittelbar in den Unfall verwickelt.

Nervös antwortete sie und schilderte den Hergang aus ihrer Sicht. Dass ihr Handy geklingelt hatte, verschwieg sie. Sie wollte keinen unnötigen Ärger. Der Polizist bat sie, zur Aufnahme der Zeugenaussage mit in den Dienst-VW-Bus zu kommen. Er teilte ihr mit, dass ihre Aussage von hoher Wichtigkeit sei, da der Mann allem Anschein nach nicht aus eigener Entscheidung aus dem Fenster gestürzt war, sondern wahrscheinlich aus dem Fenster gestoßen wurde.

Sie erklärte dem Polizisten, dass sie auf der Durchreise war, und wie umständlich es wäre, wenn sie ihr Auto hier stehen lassen müsste. Einfacher wäre es, wenn sie mit ihrem Auto direkt aufs Revier fahren würde. Ihr Kennzeichen war ja bekannt und sie war auch bereit, ihm ihren Personalausweis zu geben. Ausschlaggebend für seine Zustimmung war sicher auch ihr gekünsteltes charmantes Lächeln, das dem Polizisten glaubhaft machte, dass keine Fluchtgefahr bestand.

Und so war es auch. Bei der Vernehmung wiederholte sie das bereits Gesagte. Lediglich auf die Frage nach dem Ziel ihrer Fahrt schwindelte sie etwas, indem sie behauptete, eine gute Freundin besuchen zu wollen.

Bereits zwei Stunden später saß sie wieder im Auto. In Beamtenkreisen ist das kurz. Für Verliebte, deren Körper und Sinne unter einer fast schon qualvollen Sehnsucht leiden, sind zwei Stunden eine Ewigkeit. Sie würde die vereinbarte Zeit in der Pension nicht mehr einhalten können. Die vorherige Angst und Unsicherheit holte sie wieder ein. Wer hatte versucht, sie anzurufen und warum?

Das Handy klingelte erneut. Sie zuckte zusammen. Unterdrückte Rufnummer. Sie ging ran. Mit zittriger Stimme hörte sie sich sagen: „Hallo, wer ist da?“ Die nächsten Sekunden kamen ihr unendlich lang vor, denn am anderen Ende hörte sie nur ein leises Schlucken, dann ein Räuspern, dann sagte eine Frauenstimme: „Sie kennen mich nicht. Ich bin seine Schwester. Ich will nicht, dass wir uns beim Namen nennen. Ich kenne Ihren Namen und ich weiß, wo Sie sich mit ihm treffen wollen. Wir müssen damit rechnen, dass wir abgehört werden. Es ist jedenfalls etwas Schreckliches passiert. Mehr kann ich nicht sagen.“

Schockstarre. Ihr Herz schlug in Höchstgeschwindigkeit. Was beabsichtigte diese Fremde? Wie kam sie an ihre Mobilnummer? „Ich halte es für ausgeschlossen, dass mein Handy abgehört wird. Wer sollte denn auf so eine schwachsinnige Idee …“ Sie wurde unterbrochen. „… Ja, das kann sein, aber bei mir ist das etwas anderes. Können wir uns irgendwo treffen? Es ist wichtig, verdammt wichtig.“ „Wie wollen wir das denn machen, wenn Sie abgehört werden?“

„Bleiben Sie einfach irgendwo stehen. Auf dem Parkplatz eines Supermarktes, eines belebten Einkaufszentrums oder in einem Parkhaus. Ich finde Sie dann.“

Ohne Ankündigung wurde das Gespräch unterbrochen. Eine fast schon hypnotische Ratlosigkeit machte sich bei Sophia breit.

6

Völlig perplex über die verworrene Situation fuhr Sophia in die nächste Haltebucht und hielt an. Ihre Knie waren so weich, dass sie nicht mehr in der Lage war, das Gaspedal, geschweige denn die Kupplung oder die Bremse zu betätigen.

Ihr Herz klopfte immer noch bis zum Hals. Sie dachte an den Anruf. Was hatte das alles zu bedeuten? Instinktiv spürte sie, dass ihm etwas Furchtbares zugestoßen sein musste. Sie verbat sich aber den Gedanken, dass er tot sein könnte.

Sie dachte nach, wohin sie fahren sollte, um seine Schwester zu treffen. Warum hatte er nie erzählt, dass er eine Schwester hat? Was wäre, wenn das gar nicht seine Schwester war, die gerade angerufen hatte?

War das eine Falle? Aber von wem und warum?

Sie realisierte, dass sie eigentlich kaum etwas wusste über seine Familie, seine Freunde oder sein Umfeld. Sie wurde immer unsicherer. Verbarg sich hinter seiner Identität ein Geheimnis?

In welche Schwierigkeiten war er geraten? Sie beschloss, es zu wagen, diese ominöse Schwester zu treffen. Ohne dieses Treffen würde sie sonst nie erfahren, was geschehen war. Noch einmal versuchte sie ihn anzurufen. Zu ihrem Erstaunen meldete sich eine weibliche Stimme. Hatte sie sich verwählt? Erschrocken legte sie auf und prüfte dann nochmals die gewählte Nummer. Sie war richtig.

Nun war sie völlig aufgelöst. Die Stimme hatte sich sehr besorgt und ängstlich angehört. Völlig anders als die Stimme der angeblichen Schwester. Gab es etwa noch eine andere Frau in seinem Leben?

Er hatte ihr ein einziges Mal von seiner Exfrau erzählt. Und dass es einen Sohn gab, zu dem er aber keinen Kontakt haben durfte. Die Scheidung musste sehr unerfreulich und schwierig gewesen sein. Er hatte nie wieder darüber geredet und auch immer abgeblockt, wenn sie ihn darauf ansprach.

Sie gab sich einen Ruck und startete ihr Auto. Ihre innere Stimme sagte ihr, dass sie herausfinden musste, was vorgefallen war. Sie fuhr zum nächstgelegenen Supermarkt. Vielleicht hatte sie Glück und traf dort die Schwester.

Links vom Supermarkt war ein großes Textilkaufhaus und rechts davon prangte ein Baumarkt. Der Gemeinschaftsparkplatz bot Platz für ca. 1.000 PKWs. Sie stellte sich an eine von den Haupteingängen ziemlich entfernte und daher nicht so stark frequentierte Stelle und wartete.

Es dauerte keine 10 Minuten, da sah sie eine junge Frau auf sich zukommen. Sie deutete ihr mit einem Handzeichen an, dass sie sich auf den Beifahrersitz setzen wollte.

Sie war blass. Sie trug alte Jeans und Turnschuhe. Sophia schätzte sie auf circa 30 Jahre. Etliche Kilo Übergewicht verteilten sich gleichmäßig auf einer Körpergröße von etwa 1,80 m. „Fahren Sie bitte los. Irgendwohin.“

Ohne Fragen zu stellen, gehorchte sie. Sie war nicht vorbereitet auf das, was jetzt kommen würde. Sie klammerte beide Hände ums Lenkrad, den Blick starr nach vorne gerichtet. Nichtsahnend, dass die nächsten Minuten ihr Leben verändern würden.

„Wir sind eine kleine Truppe von, ich nenne es mal zum besseren Verständnis: Hacker-Genies. Wir sind weltweit vernetzt und haben Algorithmen erfunden, die komplexer sind als die von Google. Sie kennen Superman oder Batman? Das sind die Guten in einer verlogenen Welt, die in ihren Filmen die Menschheit retten. Sie machen das, weil sie nicht anders können. Weil sie an das Gute im Menschen glauben. Oder kennen Sie die Romane von Stieg Larsson? Dann kennen sie auch Lisbeth Salander, ein Computer-Genie, und sie hatte Demütigung und sexuelle Gewalt der schlimmsten Sorte erfahren müssen und sie hat anfänglich ausschließlich aus Rache die Kripo unterstützt. Unsere Organisation hat keinen Namen, wir lehnen den ausbeuterischen Großkapitalismus ab und wir helfen, wenn wir erkennen, dass jemand in Gefahr ist.“

Superman, Lisbeth Salander – Sophia hatte das Gefühl, als befinde sie sich in einer Parallelwelt.

„Problemlos können wir alle Nutzer von Smartphones ermitteln. Name, Adresse, alle Gespräche abhören, Nachrichten lesen, Vorlieben ermitteln und Kontostände ablesen. Wir können dafür sorgen, dass Nummern unterdrückt werden, ohne dass der Anrufer das merkt und umgekehrt. Wir können uns in jedes Gespräch einklinken und wir können Geräte ein- und ausschalten. Auch Ihr Smartphone ist jetzt ausgeschaltet.“

Sie starrte auf das in der Mittelkonsole liegende Smartphone. Das Display war gänzlich dunkel, ausgeschaltet.

„Und als Sie vor einigen Minuten versucht haben, Paul anzurufen, da war ich diejenige, die das Gespräch entgegengenommen hat. Pauls Smartphone befindet sich in einer Schublade an seinem Krankenbett im Krankenhaus. Aber wir haben es nicht nur ausgeschaltet, wir haben die Dateien komplett zerstört. Wir wollen nicht, dass es fremden Mächten oder der Polizei in die Hände fällt. Pauls Schwierigkeiten würden dann nur noch zunehmen.“

Sophia verlor jegliche Gesichtsfarbe. Sie wollte etwas sagen, aber sie schaffte nur, ihre Beifahrerin eine Sekunde lang mit großen Augen und halbgeöffnetem Mund anzustarren.

„Wussten Sie, dass es eine Kosmetikmafia gibt? Natürlich nicht. Sie agiert noch anonymer und geheimnisvoller als die Russenmafia. Finanziert wird sie aus dunklen Kanälen der großen Hersteller von Seifen, Lotionen und Kosmetika. In diesen Branchen wird nicht von Millionen, sondern von Milliarden gesprochen. Die Gewinnmargen sind gigantisch und bei einer normalen Kalkulation absolut nicht nachvollziehbar. Ein teures Eau de Toilette oder Parfum kostet beispielsweise 200 Euro. Der Inhalt selbst generiert Kosten von maximal 1,50 Euro pro Produkt. Am teuersten ist noch die Verpackung. Da kommen schon mal Herstellungskosten von 10–15 Euro dazu. Das Gleiche bei Lotionen. Einem Verkaufspreis von 10 Euro stehen Herstellungskosten von wenigen Cents gegenüber.“

Paul verkaufte genau diese Artikel, das wusste sie. Sie kannte das Unternehmen, denn sie hatte früher schon diese Marke verwendet. Seit sie Paul kannte, versorgte er sie immer wieder mit den neusten Produkten seiner Musterkollektion.

„Paul hat nun einen fatalen Fehler gemacht. Er hat nachgedacht. Und das ist in dieser Branche nur den großen Tieren, den Topmanagern und den Inhabern gestattet. In der westlichen, zivilisierten Welt bekommen die Verbraucher mittels eines Werbebudgets in Milliardenhöhe eingetrichtert, dass regelmäßige Körperpflege elementar wichtig ist. Frau und Mann haben heutzutage nicht nur sauber zu sein, sondern auch gut zu riechen. Was glauben Sie, was passiert, wenn man eine bestimmte Körperregion, für sagen wir mal 1 Jahr oder länger nicht aktiv mit Seife oder Lotion einreibt? Und sie außerdem frei bleibt von Eau de Toilette oder Parfum?“

Sophia war sich jetzt sicher, dass die Fremde irgendwo am Körper eine Kamera haben musste und alles aufnahm. Sie war sicher das Opfer eines großen Streichs geworden. Der Lockvogel würde die Sache in wenigen Minuten mit den Worten „Verstehen Sie Spaß?“ auflösen. Halb ernst, halb belustigt antwortete sie: „Wahrscheinlich bilden sich Ekzeme, geschweige denn der Geruch.“

„Prima. Sie ticken wie ein Großteil der Bevölkerung. Es muss heutzutage alles aktiv gereinigt werden, und gut riechen will man ja auch noch. Für die Hände trifft das natürlich schon aus Gründen der Desinfektion und Hygiene zu. Nun hat Paul herausgefunden, dass es eine Fläche am Rücken der Menschen gibt, die die wenigsten mangels Beweglichkeit aktiv reinigen können. Das ist ein circa kuchentellergroßer Bereich zwischen den Schulterblättern und der Mitte der Wirbelsäule. Diese Stelle wird so gut wie nie aktiv behandelt. Es fließt höchstens mal ausgespültes Haarshampoo darüber. Vielleicht besteht bei Frauen mit langen Haaren beim Auswaschen ein gewisser Bürsteneffekt, aber der ist vernachlässigbar. Da im Normalfall diese Stelle nur mit reinem Wasser in Berührung kommt, müsste sich diese Haut doch von der restlichen, stets gepflegten Haut unterscheiden und zwar negativ, oder?“

Die Story, so hanebüchen sie klang, nahm nun doch einen anderen Verlauf. Sophia antwortete, fahrend und den Blick nach vorn gerichtet: „Tja schon, tun sie aber nicht. Zumindest bei mir.“ Dabei fielen ihr auch Pauls zarte Hände ein. Immer wenn sie ein paar Stunden an einem Baggersee verbringen konnten, hatte er sich angeboten, ihr den Rücken mit Sonnenschutzmittel einzureiben. Und es stimmte, einen bestimmten Teil ihres Rückens konnte sie nicht selbst erreichen.

„Das ist genau der Punkt. Paul hat diese Erkenntnis in einem der Labore seines Arbeitgebers gewonnen. Hätte er nun gearbeitet wie zuvor, wäre für ihn auch weiterhin alles gut. Korrekterweise muss ich sagen, dass er weiterhin arbeitet wie zuvor. Gleichzeitig ist er aber gerade dabei, die großen Konzerne der Branche zu erpressen. Er fordert mehrere Millionen, andernfalls geht er an die Presse und droht damit, Laborergebnisse offenzulegen. Und um der ganzen Sache einen halbernsten Anstrich zu verleihen, nennt er sein Vorhaben ,Projekt Rückenstinker‛. Es ist wirklich zu befürchten, dass dadurch die Umsätze von Körperreinigungsartikeln und Körperpflegeprodukten spürbar zurückgehen, wenn sich die Menschen vom stets suggerierten Reinigungszwang befreien. Wenn eine Region des Körpers über Jahre hinweg ohne aktives Reinigen überlebt, dann muss man es mit den anderen Körperregionen auch nicht allzu genau nehmen.

Möglicherweise geht damit sogar die Anzahl der Allergieerkrankungen zurück. Dann wäre auch noch die Pharmaindustrie betroffen. Wir haben davon zufällig Wind bekommen, denn die Konzerne werden nicht zahlen, sondern haben ihre Mafia-Organisation übers Darknet aktiviert. Diesen Aktivierungsprozess haben wir mit unserer Software entdeckt. Der Auftrag lautet: Paul eliminieren. Die meinen es ernst. Ein paar Menschenleben bedeuten für diese Organisation nichts, rein gar nichts.“

Sophia fing an, das zu glauben. Sie war irritiert. Sie wollte Fragen stellen. Doch ehe sie etwas sagen konnte, fuhr die ominöse Schwester fort: „Wir haben ihm über einen verschlüsselten Kanal E-Mails geschickt. Wir haben ihn gewarnt. Doch er ist von seinem Vorhaben derart überzeugt, dass er davon nicht abrückt. Alle E-Mails verschwinden, nachdem er sie gelesen hat, sofort wieder. Sie löschen sich unmittelbar danach, auch von der Festplatte. Als Grußformel benutzen wir weltweit ein Dreieck. Wir haben ihn auch schon angerufen, doch sobald er das Wort Dreieck hört, legt er auf. Auch hier löschen wir jegliche Nachverfolgbarkeit sofort.“

Da Sophia nicht wusste, wie man ein ▲ auf dem PC erstellt, fragte sie nun mit leiser Stimme, wie eine Schülerin ihre Lehrerin.

Diese fuhr fort: „Mit Alt und den beiden Zahlen 3 und 0. Einfacher ist es, das Zeichen über das Symbolfeld einzufügen. Über Sie starten wir nun unseren letzten Versuch, Paul zu warnen. Er ist in Lebensgefahr. Möglicherweise wird seine Lebensgefährtin Marianne Semel verschont, denn sie ist die Tochter eines der Player auf der großen Bühne. Unser Gespräch hat nie stattgefunden. Selbst wenn Sie zur Polizei gehen, wird man eher an Ihrem Verstand zweifeln, als Ihnen zu glauben. Da vorne ist ein Taxistand. Lassen Sie mich bitte dort raus. Ich weiß nicht, ob wir nochmal mit Ihnen in Kontakt treten werden. Wenn ja, lesen Sie alle E-Mails, in denen ein Dreieck in der Betreffzeile steht.“

Als sie ausstieg, fügte sie noch hinzu: „Und übrigens, ich bin nicht seine Schwester. Er hat gar keine Schwester. Auf Paul wurde ein Attentat verübt. Die Täter sind schon ganz nah bei ihm. Sie sind ihm dicht auf den Fersen. Paul wurde angeschossen. Er lebt und liegt im städtischen Krankenhaus. Die Polizei hat ihn bereits verhört. Seine Freundin benutzen sie nur. Sie wollen sie einschüchtern. Sie wollen ihr Angst machen, in der Hoffnung, dass Paul von seinem Vorhaben ablässt. Bitte fahren sie unauffällig weiter.“

7

Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. War das gerade geschehen? War sie in einem schlechten Film? Hat diese Frau gerade wirklich in ihrem Auto gesessen?

Paul angeschossen? Seine Freundin benutzten sie nur … Paul hatte eine Freundin … Polizei, Darknet, Hacker-Genies und Körperpflegemafia? Hatte sie Wahnvorstellungen? E-Mails mit Dreiecken? Wollte sie hier jemand auf den Arm nehmen?

Seit sie in dieses Dorf gefahren ist, war nichts mehr wie vorher. Menschen, die von Dächern fallen, eine Zeugenvernehmung durch die Polizei und jetzt diese absurde Geschichte.

Sie musste unbedingt in dieses Krankenhaus fahren und nachsehen, ob Paul tatsächlich dort lag. Marianne Semel seine Freundin? Die Tochter des Chefs? Ihr Vater, Pauls Chef, Player einer Verbrecherorganisation? Paul ein Erpresser? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese ungeheuerlichen Dinge wahr sein sollten.

Paul arbeitete als Vertriebsleiter beim exklusiven Kosmetikhersteller „Mirage“. Hatte er ein Verhältnis mit dieser Marianne? Und wenn ja, seit wann? Die falsche Schwester musste sich geirrt haben.

Sie tippte bei Google Maps ihren Standort ein und suchte nach dem nächsten Krankenhaus. Es war ihr egal, ob dort eine Freundin oder die russische Mafia lauerte, sie musste wissen, was mit Paul los war. Langsam kehrte ihr Kampfgeist zurück. Falls Paul in Schwierigkeiten war, musste sie ihm helfen. Egal was dort auf sie warten würde, sie brauchte Gewissheit.

Das städtische Krankenhaus befand sich in einer schönen und gepflegten Umgebung mit altem Baumbestand. Alt sah aber auch das Gebäude aus. Es hatte schon bessere Zeiten gesehen. Die Jalousien hingen teilweise völlig schräg vor den Fenstern. Außer dem parkähnlichen Gelände war hier alles veraltet. Hoffentlich war wenigstens die medizinische Versorgung auf dem neuesten Stand. Überall wurde im Gesundheitswesen gespart.

Sie parkte auf einem der Besucherparkplätze und warf einige Münzen in den Parkautomaten. Abkassieren konnte man auch in Kleinstädten.

Insgeheim ärgerte sie sich, dass Vater Staat überall Kasse machte, aber im Gesundheitswesen die Augen verschloss. Kein Wunder, dass bei der gestrafften Organisation das Personal immer knapper wurde.

Sie ging in Richtung Eingang, entdeckte den Informationsschalter und lief darauf zu.

Eine blonde, sympathisch aussehende Dame saß hinter dem Tresen und war gerade dabei, genüsslich in ein Stück Apfelkuchen zu beißen, als sie bemerkte, dass Sophia auf sie zukam. Hastig legte sie das klebrige Teil beiseite und fragte Sophia, was sie für sie tun könne.

Jetzt raste ihr Herz. Wenn Paul wirklich hier lag, stimmte die Geschichte – zumindest in diesem Punkt. Nachdem sie der Dame seinen Namen gesagt hatte, warf diese einen Blick auf ihren Bildschirm. Nach einigem Suchen hatte sie ihn tatsächlich gefunden und nannte ihr die Zimmernummer.

Ihre Knie wurden ganz weich. Leider hatte sich die schlimmste Befürchtung bewahrheitet. Paul lag tatsächlich im Krankenhaus. Sie wollte gerade zum Aufzug laufen, als ein dunkelhaariger Mann schnellen Schrittes auf sie zukam. Er musste mit angehört haben, dass sie den Namen Klinger erwähnt hatte.

„Entschuldigen Sie, mein Name ist Franz Bösinger von der Kripo.“ Er hielt ihr seinen Dienstausweis hin. Der Alptraum nahm kein Ende – schon wieder ein Polizist! Fragend sah sie ihn an, als er weitersprach. „Sie möchten Herrn Paul Klinger besuchen? Sie wissen, was passiert ist?“

Zögernd schüttelte sie den Kopf. Was um Gottes Willen sollte sie diesem Polizisten denn jetzt antworten? Dass eine Schwester von Paul, die es gar nicht gab, sie angerufen und ihr haarsträubende Dinge erzählt hatte? Auf gar keinen Fall durfte sie jetzt unüberlegt handeln. Sie antwortete leise, dass sie einen anonymen Anruf erhalten habe und dass eine Frau ihr gesagt habe, Paul würde im nächsten Krankenhaus liegen. Angeblich hatte jemand auf ihn geschossen. Leider habe die Frau aufgelegt, als sie nachhaken wollte, was denn genau passiert sei. „Stimmt das denn?“, sah sie Bösinger fragend an und wartete auf seine Antwort. „Wir ermitteln hier noch. Ja, Herr Klinger wurde angeschossen. Leider darf ich Ihnen aber keine weiteren Details bekannt geben. Wer sind Sie denn? In welchem Verhältnis stehen Sie zu Herrn Klinger? Sind sie eine Verwandte?“

Sie antwortete ihm mit fester Stimme. „Nein, ich bin eine gute Freundin von Paul. Bitte sagen Sie mir, ob ich zu ihm darf und ob es ihm gut geht. Ich muss wissen, was mit ihm passiert ist!“

Er bat sie, sich kurz mit ihm in die nächste Sitzecke zu begeben, um noch ein paar Fragen zu beantworten. Müde stimmte sie zu und setzte sich auf einen der mit blauem Skyleder überzogenen Sessel. Bösinger setzte sich ihr gegenüber und sah ihr direkt ins Gesicht. Er dachte sich, dass auch diese Frau auffallend gut aussah. Sie war der eher dunkelhaarige, klassische Typ Frau. Gleichmäßige Gesichtszüge, hohe Wangenknochen und fast schwarze Augen.