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Meena Kandasamy erzählt von dem Massaker in Kilvenami (Süd-Indien), bei dem 1968 vierundvierzig Dorfbewohner - landlose Dalit (›Unberührbare‹) - in einer Hütte verbrannt wurden. Sie hatten sich der Kommunistischen Partei angeschlossen und das Undenkbare gewagt: die Stimme zu erheben für eine halbe Portion Reis mehr am Tag. Der Roman bezeugt den Justizskandal, in dem Polize, Politiker und Richter zum Erhalt der Macht der Grundgesitzer beitrugen. Aber was heißt, Kandasamy erzählt? Kann sie das, die 16 Jahre nach dem Massaker Geborene, der die Geschichte nur durch mündliche Berichte, Zeitungsartikel und Gerichtsakten zugänglich ist? Kandasamy zerstört lustvoll alle Erwartungshaltungen an Form und Sprache, kokettiert nicht mit Exotismus oder geübtem Storytelling.
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Seitenzahl: 277
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des AuswärtigenAmts unterstützt durch Litprom - Gesellschaft zur Förderung der Literaturaus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis Literaturübersetzer e.V. für einArbeitsstipendium, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung undKunst Baden-Württemberg ermöglicht wurde.
Titel der Originalausgabe:
The Gypsy Goddess
© 2014 Meena Kandasamy
Originalausgabe 2014 bei Atlantic Books Ltd.
© 2016 Verlag Das Wunderhorn GmbH
Rohrbacher Straße 18
D-69115 Heidelberg
www.wunderhorn.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftlicheGenehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendungelektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN 978-3-88423-521-8
Meena Kandasamy
Aus dem Englischen und mit einem Glossarvon Claudia Wenner
Wunderhorn
Für Amma, Appa und Thenral, die mich zusammenhalten
Mord und Terror konnten sie nicht aufhalten. Wie kann man einem Manne Angst machen, dessen Hunger nicht nur in seinen eigenen verkrampften Gedärmen rumort, sondern auch in den armseligen Bäuchen seiner Kinder? Man kann ihm nicht Angst machen – er hat eine Angst durchlebt, die jede andere überwiegt.
John Steinbeck, ›Früchte des Zorns‹
[Deutsch von Klaus Lambrecht, München: dtv, 16. Aufl. 2007, S. 275]
Lang lebe die Landwirtschaft! Die Landwirtschaft ist Dienst an der Nation!!Wir werden die Reisproduktion steigern!Wir werden die Hungersnot an der Wurzel beseitigen!!
DER REISERZEUGERVERBAND NAGAPATTINAM TALUK
42/2, Mahatma Gandhi Salai, Nagapattinam, Tanjore Distrikt
MEMORANDUM EINGEREICHT AN DENMINISTERPRÄSIDENTEN VON MADRASMIT DER BITTE UM SOFORTIGE BEHEBUNG DERMISSSTÄNDE IN DER REISLANDWIRTSCHAFT
Seien Sie gegrüßt!
Schweren Herzens ersucht der Bittsteller Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Ihre gütige Aufmerksamkeit auf das Leid der Reisanbauer von Nagapattinam zu lenken, das diese infolge der bösartigen Politik und falsch aufgefassten Propaganda, die die Kulis ergriffen hat, durchgemacht haben.
In den letzten zehn Jahren haben Kulis in der Landwirtschaft ständig höhere Tageslöhne gefordert. Immer wenn man sie ihnen verweigerte, organisierten sie Streiks und lähmten das Leben in unserem Distrikt. So genannte Kommunistenführer, selbst ziemlich wohlhabend, sind auch verantwortlich für illegale Landnahmen. Sie missachten nicht nur die Rechte der Grundbesitzer, sondern verfahren wie militante Naxaliten, indem sie die Arbeiter dazu anzetteln, dieses widerrechtlich angeeignete Land zu bebauen. Es reicht, festzuhalten, dass sie faktisch die Felder anderer Leute abernten und die landwirtschaftlichen Erzeugnisse mitnehmen, von denen ein Großteil bei ihren Führern landet.
Die zunehmende Pein der Land besitzenden Mirasdars hat uns gezwungen, den Reiserzeugerverband ins Leben zu rufen, von dem wir zweierlei erwarten: die Kulis in der Landwirtschaft aus der schlimmen Gesellschaft dieser fragwürdigen Führer zu befreien, und eine Beziehung des gegenseitigen Wohlwollens und Verständnisses zwischen Grundbesitzern, Pachtbauern und den Kulis in der Landwirtschaft, die beim Reisanbau eine äußerst wichtige Rolle spielen, herzustellen.
Die Kommunistenführer tauchen immer nur mit einer Liste von Forderungen auf und stacheln ihre Anhänger zum Streik an. Wenn ihren unvernünftigen Forderungen nicht nachgegeben wird, treten sie an die Regierung heran, die Gespräche mit den sich bekriegenden Grundbesitzern und Arbeitern führt, woraufhin vorübergehend eine Einigung erzielt wird. Der Bittsteller ist wie die anderen Landwirte der Meinung, dass jedes Treffen die Privilegien der Kulis in der Landwirtschaft vergrößert hat, wodurch die Kommunistenführer bestärkt und ermutigt wurden, eine Hungersnot zu schaffen, um dieses Land in eine Brutstätte für den Maoismus zu verwandeln.
Als Bittsteller möchte ich darauf hinweisen, dass die Kulis weiterprotestieren werden, damit neue Abkommen zustandekommen. Alle diese Abkommen waren bisher eine Bedrohung für den Frieden und Recht und Ordnung. Immer wenn die Regierungsbeamten beschlossen haben, Dreiergespräche zu führen, erscheinen diese Führer mit einer Liste unmöglicher Forderungen. Der Bittsteller, selbst Grundbesitzer aus Irinjiyur und Vertreter der Mirasdars, ist stur geblieben und hat sich geweigert, auf irgendeine dieser Forderungen einzugehen, und dies mit der Nichtumsetzbarkeit dieser Forderungen begründet, wobei er dieselbe Hartnäckigkeit zeigte wie seine unbeugsamen Gegner. Die Kompromisslosigkeit des Bittstellers und seine Entschlossenheit, sich nicht von ein paar Kommunisten erpressen zu lassen, hatten zur Folge, dass er als ihr größter Feind betrachtet wird. Sie meinen, irreparablen Schaden anrichten und alle ins Elend stürzen zu müssen und haben mehrmals gedroht, den Bittsteller und seine Verwandten umzubringen. Damit diese Drohungen Früchte tragen, haben sie zudem vor dem Haus des Bittstellers gewaltsame Agitationen organisiert. Da der Bittsteller seinem Selbsterhaltungsinstinkt gefolgt ist und sich niemals von ihnen hat provozieren lassen, ist es ihm gelungen, sich vor körperlichem Schaden zu bewahren. Mit ihren kindischen Aktionen und politischen Tricks vermochten die Kommunisten weder die Entschlossenheit noch die Weltanschauung des Bittstellers zu erschüttern. Folglich haben die verzweifelten Kommunisten auf eine andere schockierende und gefährliche Strategie umgeschwenkt.
Zurzeit haben ihre Führer einen ihrer pflichtgetreuen Handlanger namens Chinnapillai an einen geheimen Ort geschickt und Anzeige erstattet, der Bittsteller habe diesen Mann umgebracht und alle Beweismittel für diesen Mord vernichtet. Aus sicherer Quelle wurde in Erfahrung gebracht, dass dies am 15. Mai 1968 auf dem Polizeirevier von Keevalur, Nagapattinam, als ›Vermisstenanzeige‹ abgeheftet wurde, und wegen dieser Falschmeldung momentan von der Polizei ermittelt wird. An dieser Stelle ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass vor drei Jahren eine ähnliche Verschwörung ausgeheckt worden war, in die der Bittsteller damals verwickelt war. Ein Mann namens Sannasi ging in ein Dorf bei Karaikkal und sofort ging das Gerücht um, dass dieser Mann von den Grundbesitzern ermordet worden sei. Doch bevor diese Geschichte die Gestalt einer böswilligen Anzeige annehmen konnte, wurde bekannt, dass Sannasi in jenem Dorf an Alkoholvergiftung gestorben war, weil er schwarzgebrannten Arrak getrunken hatte. Die obengenannte Anzeige offenbart die böse Absicht der Kommunistenführer, die verbissen versuchen, den Bittsteller ins Gefängnis zu bringen, weil er für ihre schändlichen Aktivitäten die größte Bedrohung darstellt.
Sie haben nicht nur wie beschrieben Anzeige erstattet, sondern auch öffentliche Versammlungen abgehalten und die sofortige Festnahme des Bittstellers verlangt. Als die Führer trotz größter Mühen nicht das gewünschte Resultat erzielten, änderten sie ihren Angriffsplan. Als Teil dieser neuen Strategie organisieren sie Aufmärsche direkt vor dem Haus des Bittstellers, skandieren provozierende Parolen und verurteilten den Bittsteller auf höchst diskreditierende Weise. Sie überhäuften ihn mit Flüchen und haben insgeheim erwartet, er würde vor sein Haus treten, damit sie mit ihm machen konnten, was sie wollten. Unter solch bedrohlichen Umständen blieb der Bittsteller aus Vorsicht hinter abgeriegelten Türen und bewahrte sich so vor einem verhängnisvollen Schicksal.
Ohne geringsten Zweifel glaubt der Bittsteller, dass die Kommunisten ihn zum Ziel ihrer Agitation erkoren haben und dass sie dieses Ziel erreichen werden. Falls die Kommunisten nicht in Schranken gehalten werden, falls keine dauerhaften rechtlichen Maßnahmen ergriffen werden, um dieses Problem zu lösen, dann wird kein Grundbesitzer mehr in Sicherheit sein. Der Bittsteller ist der Meinung, dass, falls dieses Ärgernis nicht im Keim erstickt wird, es in Nagapattinam zu noch nie dagewesenen Problemen kommen wird.
Obwohl die Kommunistenführer und ihre leichtgläubige Gefolgschaft unser Land widerrechtlich betreten haben, unsere Frucht unbefugt geerntet haben und uns hierdurch immenses Leid zugefügt haben, sehen wir uns als Mitglieder des Reiserzeugerverbands einer Politik des strikt gewaltlosen Widerstands verpflichtet. Um uns in Zukunft vor einer solch organisierten Erpressung und unsinnigen Angriffen zu schützen, obliegt es dem Bittsteller, Sie, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, inständig zu bitten, für Gerechtigkeit zu sorgen. Der Distrikt Ost-Tanjore braucht ganz dringend Schutz, um seiner ehrenvollen und traditionellen Aufgabe als Korn- und Reisspeicher des Landes weiterhin nachkommen zu können. Wenn den Kommunisten freie Hand gelassen wird, droht eine Hungersnot, die sich für das Volk als Katastrophe erweisen wird.
In Ihrem geschätzten Buch Thee Paravattum haben Sie, verehrter Herr Ministerpräsident, geschrieben, dass das Feuer der Vernunft das Dogma des Aberglaubens zerstören würde. Es ist nun an der Zeit, das Dogma des Kommunismus zu zerstören, das die Menschen in Klassen spaltet und gegeneinander aufhetzt. Wenn wir dieses Unkraut in unserer Gesellschaft weiter gedeihen lassen, wird es die Hoffnung auf zukünftige Ernten ersticken.
Es wird respektvoll darum gebeten, dass Eure Exzellenz sich als Ministerpräsident schnellstmöglich mit dieser ernsten Angelegenheit befassen und die nötigen Schritte veranlassen wird, um den vom Terror heimgesuchten und in ständiger Furcht lebenden Grundbesitzern das verlorene Vertrauen zurückzugeben und Nagapattinam auf diese Weise aus den Klauen der Kommunisten zu befreien, damit Gewalt und Blutvergießen verhindert werden.
Mit vorzüglicher Hochachtung bin ich, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, Ihr ergebenster und gehorsamster Diener
Datum: 1. Mai 1968
GOPALAKRISHNA NAIDU
Ort: Irinjiyur
Verbandsvorsitzender
In einem Land, in dem despotische Barden über tausend Jahre dafür sorgten, dass nur die Dichtung als Literatur galt – Alliteration unter der Achselhöhle, Algebra um reimende Versfüße –, ist es schwierig, einen Roman zu schreiben. Das Versmaß war alles, worauf es ankam. Doch jede Sprache bringt ihre Luthers und Linden und so weiter hervor , die tamilische Prosa war geboren. Als Schauspielerin im Kindesalter trat sie zuweilen hier und da öffentlich auf, doch da es damals noch kein Reality-TV gab, wurde die kleine Rebellin zur Einsiedlerin, die bald jegliches Sprechen und Singen verweigerte und sich stattdessen für die Einzelhaft entschied. Ein paar Jahre später zeigten sich die ersten Barthaare und Brüste, und Haar kräuselte sich spiralig nach unten, ohne großes Tamtam kam die Prosa in die Pubertät. Von Teenagerängsten geplagt und mit einer androgynen Stimme belastet, merkte dieses Kid sehr bald, dass sich die Dichtung nie würde verdrängen lassen. Die Prosa, die sich selbst verurteilt hatte, tauchte aus einer von Fledermäusen heimgesuchten Bibliothek auf, und brach, Lob als Vorwand benutzend, auf krummen Wegen ins System ein. Ausführliche kritische Kommentare wurden zu den Werken der oben erwähnten tyrannischen Dichter geschrieben und, schlimmer noch, auch gelesen. Dichtung wurde zum multiversalen Megastar; die Prosa begann ihre bescheidene Laufbahn als dubiose philologische Kommentatorin. Hinterhältigkeit und Verrat gehörten in eine andere Zeit, griffbereit, aber verborgen. Jahrhunderte später würden Dedestruktivisten dieses Phänomen studieren und ihre Entdeckungen twittern – die Dichtung: versaut durch schmeichlerische Schönfärberei; die Prosa: bewies, den Wert ungebundener Rede, lief rot an und wurde den Hang zum Kommentar nie los.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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