Reise in den Innerkosmos - Julian Wangler - E-Book

Reise in den Innerkosmos E-Book

Julian Wangler

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Beschreibung

Die Totale von Los Angeles in der Zukunft. Der Himmel ist nach dem Atomkrieg ewig verdunkelt, allenthalben regnet es, Kraftwerksschlote speien Qualm und Feuer, Blitze entladen sich. Es ist keine Stadt mehr, die man sieht, sondern der Albtraum eines urgewaltigen Molochs. So fremdartig bereits das erste Bild von Blade Runner ist, so irritierend und verstörend geht der Film weiter. Blade Runner ist kein Science-Fiction-Vertreter, der es einem allzu leicht macht. Er fordert einen - bis zum Schluss. Dieses Buch ist eine Reise in den Innerkosmos von Blade Runner - hinein in die inneren Gedanken-, Motiv- und Gefühlswelten der Figuren, die uns im Film oft verborgen bleiben oder rätselnd zurück lassen; in das, was wahr und was falsch ist und was überhaupt Realität genannt werden kann; in die Implikationen der präsentierten Menschheit; in die Vermutungen und Spekulationen, die man in Bezug auf den gesamten Stoff entwickeln kann. Sicherlich ist es nur eine Auswahl der unerschöpflich großen Zahl an Themen, die Blade Runner anreißt, und doch ist es der Versuch, eine Schneise der Deutung zu schlagen...

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Seitenzahl: 134

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Die Totale von Los Angeles in der Zukunft. Der Himmel ist nach dem Atomkrieg ewig verdunkelt, allenthalben regnet es, Kraftwerksschlote speien Qualm und Feuer, Blitze entladen sich. Es ist keine Stadt mehr, die man sieht, sondern der Albtraum eines urgewaltigen Molochs. So fremdartig bereits das erste Bild von Blade Runner ist, so irritierend und verstörend geht der Film weiter. Blade Runner ist kein Science-Fiction-Vertreter, der es einem allzu leicht macht. Er fordert einen – bis zum Schluss.

Dieses Buch ist eine Reise in den Innerkosmos von Blade Runner – hinein in die inneren Gedanken-, Motiv- und Gefühlswelten der Figuren, die uns im Film oft verborgen bleiben oder rätselnd zurück lassen; in das, was wahr und was falsch ist und was überhaupt Realität genannt werden kann; in die Implikationen der präsentierten Menschheit; in die Vermutungen und Spekulationen, die man in Bezug auf den gesamten Stoff entwickeln kann. Sicherlich ist es nur eine Auswahl der unerschöpflich großen Zahl an Themen, die Blade Runner anreißt, und doch ist es der Versuch, eine Schneise der Deutung zu schlagen...

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

„Ich kann Dich sehen!“ – Augensymbolik in

Blade Runner

„If you’re not cop you’re little people!“ – Dehumanisierung als Motiv in

Blade Runner _

Bloßer Zufall oder volle Absicht? – Das Tiermotiv in

Blade Runner

und seine (mögliche) Bedeutung

Keine Verbindung – Das versprengte Individuum in

Blade Runner

Die Zukunft ist die Vergangenheit – Lebens-, Architektur- und Modestile in

Blade Runner

als Ausdruck von zivilisatorischer Stagnation?

Was ist wahre Menschlichkeit? – Die große Frage

Was ist Wahrheit? – Über das Brüchig-Werden von objektiver Realität in

Blade Runner

Die Sache mit den Emotionen – ein Blick ins Innenleben der Replikanten

„What do I need help for?“ – Die Frage von Verantwortung am Beispiel Rick Deckards

Träumen

Blade Runner

von elektrischen Einhörnern? – Die Frage nach Deckards Identität

Ein einziges großes Experiment? – Deckard als Replikant

Eldon Tyrell – Eine Figur voller Ambivalenzen

Warum rettet Roy Deckard? – Die Frage nach dem Sinneswandel

Komplexe (Re-)Inkarnationen –

Blade Runner

-Erlebnisse am PC

Nützliche Literatur

Vorwort

Blade Runner hat eine filmische Karriere hingelegt wie nur wenige andere Kinoproduktionen. Von den Kritikern nach seiner Premiere im Science-Fiction-Jahr 1982 allzu rasch als eher durchschnittliche und unausgegorene Melange aus düsterer Zukunftsdarstellung und Film noir abgetan, avancierte Ridley Scotts eigenständige Inkarnation von Philip K. Dicks Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (Do Androids Dream of Electric Sheep?, 1968) schon bald zu einem der meistinterpretierten Filme seiner Zeit, der nicht nur aufgrund seines Status als Kultklassiker besondere Erwähnung verdient.

Im Unterschied zu vielen anderen Genre-Entwürfen ist Blade Runner über die Dekaden gereift wie ein guter Wein und besitzt heute mehr Aktualität und Relevanz denn je. In Zeiten von Klimawandel und Umweltzerstörung, schrankenlosem Kapitalismus, global wirkmächtigen Digitalkonzernen, autoritären und überwachungsstaatlichen Regimen sowie scharfer gesellschaftlicher Polarisierung kann Blade Runner rückwärtig als Pionier einer Entwicklung angesehen werden, auf die viele aktuelle Science-Fiction-Produktionen selbstverständlich einschwenken.

Die größte Besonderheit des Films ist jedoch die Art und Weise seiner Darbietung und Erzählung. Im Zuge dessen eröffnet Blade Runner hinter seiner genreüblichen Oberfläche bei genauer Betrachtung vielschichtige Bedeutungsebenen, ständige Ambivalenzen und oftmals im Detail steckende Entdeckungen, die das Gesamtverständnis des Films erheblich verändern können. Ein Markenzeichen von Ridley Scotts Film, durch das er gewiss zu einer der meist diskutierten Produktionen des 20. Jahrhunderts wurde, liegt nicht nur in seinen Stärken, sondern auch diversen Schwächen und Inkonsistenzen.

In Verbindung mit seiner bildgewaltigen Erzählung, den wortkargen Dialogen und der Abstraktheit der Darstellung ergeben Ungereimtheiten bei Drehbuch und Umsetzung ganz neue Implikationen auf der Bedeutungsebene. Hinzu kommt, dass die verschiedenen Versionen des Films, die seit seiner erstmaligen Ausstrahlung erschienen sind (u.a. 1992: Director’s Cut, 2007: Final Cut), durch gezieltes Hinzufügen bzw. Entfernen von Szenen einen abweichenden Blick auf das Geschehen von Blade Runner nahe legen.

Sicherlich ist Blade Runner kein Science-Fiction-Film, der es einem als Zuschauer allzu leicht und bequem macht. Nein, im Gegenteil: Er fordert einen – und das bis zur letzten Minute. Durch die visuell dominierte Narration und die vielen Verfremdungen und Irritationen, die er im Laufe seiner dystopisch angehauchten Handlung präsentiert, wird der Zuschauer zum Nachdenken und ständigen Interpretieren angehalten. Es ist kaum möglich, Blade Runner „einfach nur so“ zu schauen. Oder um es in Anlehnung an Andrej Tarkowskij auszudrücken: Man kann diesen Film nicht schauen, sondern man muss ihn sehen. Bezeichnenderweise ist in ihm ständig vom Sehen die Rede.

Im Laufe der Zeit, in der ich mich mit Blade Runner beschäftige, sind verschiedene Essays entstanden, die ich im Rahmen dieses kleinen Buches aufbereitet habe. Zweifellos ist es nur eine Art, den Film zu interpretieren – meine ganz persönliche Deutung der Dinge. Reich und vielgestaltig wie Blade Runner aber ist, gibt es verschiedene Standpunkte, die man in Bezug auf seine Akteure, Geschehnisse und Bilder einnehmen kann. Das Gute ist, dass jede Interpretation ihre eigene Berechtigung hat und das Gesamtensemble der individuellen Ausdeutungen bereichert. Subjektivität ist für das Betrachten dieses Werks geradezu eine Voraussetzung.

Für mich ist das vorliegende Buch eine Reise in den Innerkosmos von Blade Runner – hinein in die inneren Gedanken-, Motiv- und Gefühlswelten der Figuren, die uns im Film oft verborgen bleiben oder rätselnd zurück lassen; in das, was wahr und was falsch ist und was überhaupt Realität genannt werden kann; in die Implikationen der präsentierten Zivilisation (sprich was die Menschheit in der Zukunft geworden ist); in die Vermutungen und Spekulationen, die man in Bezug auf den gesamten Stoff entwickeln kann. Sicherlich ist es nur eine Auswahl der unerschöpflich großen Zahl an Themen, die Blade Runner anreißt.

Ich bin sehr dankbar, dass es diesen einzigartigen Film gibt, denn er hat meine Sicht auf Science-Fiction, Filmästhetik, zivilisatorischen und technologischen Fortschritt entscheidend mitgeprägt. Das Schöne ist, dass Blade Runner Warnung und Hoffnung zugleich anbietet.

Anmerkung: Dieses Buch ist nicht im Auftrag oder durch Unterstützung bzw. Veranlassung von Produzenten der Blade Runner-Filme oder mit den Filmen zusammenhängenden Merchandise-Artikeln entstanden.

„Wenn Du

mit Deinen Augen

sehen könntest,

was ich gesehen habe

mit Deinen Augen.“

- Roy Batty

„Ich kann Dich sehen!“ – Augensymbolik in Blade Runner

Das Auge – wie kaum ein anderes Symbol durchzieht es Blade Runner, und das wiederkehrend in verschiedensten Kontexten und Bedeutungszusammenhängen. Neben der dystopischen, ruinierten Welt und dem kulturellen Mischmasch, das sie birgt, ist es vermutlich der ästhetische Ausdruck des Films, der am stärksten in Erinnerung bleibt.

Tatsächlich ist Blade Runner reich an Szenen, in denen Augen zur Geltung kommen. Wenn man sich einmal die Mühe macht und chronologisch zusammenzählt, kommt man auf ein Dutzend optischer Inszenierungen der Augensymbolik und auf eine Reihe bedeutungsschwerer Zitate. Beginnen wir mit der visuellen Ebene:

Das große Auge zum Auftakt des Films, in dem die Welt sich spiegelt

Leons glühende Augen in der Verhörszene (VK-Test 1)

Die Augen der Eule (mehrmals im Film)

Tyrells gigantische Brille, die seine Augen so verzerrt, das sie kaum einsehbar sind

Rachaels glühende Augen während ihrer ‚Überführung‘ als Replikantin (VK-Test 2)

Besuch beim Augenhersteller Chew (

Eye World

)

Leon versucht, Deckard zu ermorden, indem er seine Finger in dessen Augen drückt

Rachaels glühende Augen während ihres Aufenthalts in Deckards Wohnung

Pris‘ glühende Augen während ihres Aufenthalts in Sebastians Appartement; zudem bemalt sie sich die Augen

Roy spielt in Sebastians Appartement mit Glasaugen

Roy drückt seine Finger in Tyrells Augen und ermordet seinen Erschaffer

Pris rollt ihre Augen, bis nur noch der Augapfel zu sehen ist (Versuch, sich in eine ‚Puppe‘ zu verwandeln und zu ‚verschwinden‘, doch dies gelingt ihr nicht)

Nahaufnahme von Roys Augen, bevor er Deckard vor dem Sturz bewahrt

[Indirekt: Die zahlreichen Lichtstrahlen, die von draußen ins Innere von Gebäuden und Wohnungen fallen und an suchende Augen erinnern. Diese Lichter erwecken den Eindruck, es gebe kaum einen Platz, um sich vor dem vereinnahmenden Blick der Welt (des Systems?) zu verstecken]

Einige dieser Aspekte möchte ich nun genauer betrachten.

Beginnen wir beim Auge in der Eröffnungsszene, in dem sich die Welt mit ihren Flammenkataklysmen reflektiert; eine Welt aus Dunkelheit, Feuer und Schmutz. Wir erfahren nie, wessen Auge wir hier sehen. Man könnte natürlich mutmaßen, es handelt sich um Roys Auge – vielleicht in jenem Moment, als er mit dem Pendler die Erde und Los Angeles erreicht, die Stätte seiner Geburt zum ersten Mal mit eigenen Augen sieht. Auch wäre begründbar, dass es sich um Deckards Auge handelt – etwa im Moment der Erkenntnis, die am Ende des Films über ihn kommt und ihn erleuchtet. Doch vieles lässt auch die Deutung zu, dass wir es nicht mit dem Auge einer Person zu tun haben. Vielmehr könnte es ein alles sehendes Auge sein. Die metaphysischen Anspielungen, die den Film durchziehen, machen diese Möglichkeit durchaus plausibel.

Womit haben wir es zu tun? Ist es das Auge Gottes? Oder das symbolisierte Auge der Natur, des Universums (die ästhetisierte Darstellung der Iris lässt an ein Sternenmeer denken und an die Urgewalten, die im Kosmos toben). Wenn wir uns der Interpretation anschließen, es handele sich um ein alles sehendes Auge, dann gilt eine Besonderheit: Die Ewigkeit selbst ist hier, während der Geschehnisse von Blade Runner, Zeuge. Die Platzierung dieser Szene ganz zu Beginn des Films und der Verzicht auf einen Umschnitt auf eine konkrete Person legt einen Schluss nahe: Diese höhere Macht sieht, was sich abspielt. Und sie wird alles, was sie sieht, ihrerseits in Erinnerung behalten. Es gibt den Ausspruch: Nichts ist je vergessen – wiederum ein sehr biblischer Satz. Denkt man beispielsweise an das, was die Menschheit der Umwelt, den Replikanten und letztlich auch ihrer eigenen zivilisatorischen Moral angetan hat, drängt sich einem der Eindruck auf, sie könnte eines Tages die Strafe für all ihre Sünden erhalten. Sünden, die auf sie herabregnen wie der saure Regen von L.A.

Die Augen der Replikanten weisen eine orangene Illumineszenz auf. Dieser Effekt ist den Figuren in der Wirklichkeit des Films ganz offensichtlich verborgen, denn könnte man Replikanten so leicht erkennen, wäre ein aufwändiger Test wie der Voight Kampff gar nicht erforderlich. Das Leuchten in den Augen der Replikanten ist also etwas, das nur wir als Publikum wahrnehmen. Aber warum? Die Augenfixierung des Films erlebt bei den Replikanten zweifellos ihren Höhepunkt. Mehr noch: Sie sind das Zentrum der Augensymbolik. Und das nicht von irgendwoher. Es gibt das geflügelte Wort, die Augen seien das Tor zur Seele. Zwischen den Augen und dem Charakter, dem Wesen einer Person besteht also eine direkte Verbindung. Sie sind der Zugang, der individuelle Ausdruck und der Beweis für ihre Existenz – allem voran für die Echtheit ihres Seins.

Ich sehe es so: Das orangene Leuchten in den Augen der Replikanten ist die Vorwegnahme dessen, was wir am Ende des Films mit unumstößlicher Gewissheit erkennen. Replikanten, hoch entwickelte künstliche Lebensformen, haben Seelen. Seelen nicht unbedingt im metaphysischen Sinne, obwohl es auch darauf Anspielungen gibt (man denke an die weiße Taube, die am Ende zum Himmel aufsteigt). Ich für meinen Teil würde es dabei bewenden lassen, dass es um Identität geht. Um Wirklichkeit, Echtheit, darum, tatsächlich am Leben zu sein und somit als eigenständiges Wesen zu denken und zu fühlen, Wünsche zu haben und zu träumen. Eine Würde zu besitzen, die unveräußerlich ist.

Es geht aber mindestens genauso sehr um Emotion und Mitgefühl – Eigenschaften, die der VK-Test den Replikanten nicht zugesteht und zum (scheinbar) objektivierbaren Nachweiskriterium für Menschlichkeit erhebt. In diesem Zusammenhang erscheint mir der VK als ein Ausdruck eines falsch verstandenen Szientismus. Er steht für den menschlichen Irrglauben, alles mit den Mitteln von (vermeintlicher) Wissenschaft und Technik erklären zu können. Früh im Film wird klar, dass der VK zwar etwas misst, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass das ganze Verfahren, welches ihm zugrunde liegt, ein großer Irrtum ist. Man kann mit ihm nicht messen, ob jemand eine Seele hat, ob jemand wirklich am Leben ist, ja nicht einmal zum Empathienachweis taugt er. Der Test kratzt nur an einer Oberfläche; er ist wertlos, nein, er ist sogar falsch.

Das Leuchten in den Augen der Replikanten ist in einigen Szenen beinahe als ein Glühen inszeniert – ein Glühen von innen heraus, weniger von außen. Ich betrachte dies als eine unterschwellige Symbolisierung, wie stark die Replikanten dafür brennen, zu leben, mehr Leben zu erlangen, das Leben zu umarmen. Sie haben Gefühle, sind getrieben von Liebe, Sinnsuche und der Angst vor dem Tod. Die Ironie im Film ist, dass sie die Einzigen zu sein scheinen, denen die Existenz wirklich etwas bedeutet – ausgerechnet Jene, die als unmenschlich gelten und denen die Lebenskraft nach kurzer Zeit unerbittlich entzogen wird. Das erinnert mich an ein unvergessliches Zitat aus der Science-Fiction-Serie Babylon 5 (Episode: Into the Fire). Es wird von einem salomonisch alten Lebewesen ausgesprochen, das die Völker im All über Jahrmillionen beobachtet hat. Am Ende stellt es fest, dass nur die, deren Leben äußerst begrenzt ist, wirklich zu schätzen wissen können, was Dinge wie Liebe, Freundschaft, Träume, Ideale oder Glauben bereithalten. Sie, die vermeintlich von schnellem Altern und frühem Tod Gestraften, sind es, die für etwas Gutes brennen können, die als Einzige unangetastet und unkompromittiert von der Lebensbühne abtreten können. Das ist keine Bürde, sondern ein Geschenk.

Eldon Tyrells Augen scheinen – zumindest in der ersten Szene, in der er auftritt – die Antithese der Replikanten zu sein. Während man ihre Augen im Film sehr direkt, offen und leuchtend sieht, trägt Tyrell eine gigantische Brille, die seine Augen fast uneinsehbar macht und grotesk verzerrt. Für mich ist die subtile Botschaft dieser Erscheinung Tyrells klar: Dieser Mann ist böse. Zumindest hat er einen finsteren, abgeschotteten Geist. Womöglich hat er nicht einmal eine Seele. Eine Erinnerung, die er Rachael einpflanzt (offenbar von seiner Nichte stammend) ist die einer Spinne, die von ihren Kindern gefressen wird. Diese Reminiszenz scheint prophetisch zu sein: Er, Tyrell, ist der Spinnenkönig, der später von seinem Kind Roy gefressen wird.

Es fallen zudem verschiedene Zitate während des Films auf, in denen das Motiv des Sehens im Vordergrund steht:

„Wenn Du nur mit Deinen Augen sehen könntest, was ich gesehen habe mit Deinen Augen.“

(Roy zu Chew)

„Dies ist ein Mann, den man nicht so leicht sehen kann, schätze ich.“

(Roy zu Chew über Tyrell)

„Ich wollte Sie unbedingt sehen.“

(Rachael zu Deckard)

„Er würde mich nicht sehen wollen.“

(Rachael zu Deckard über Tyrell)

„Sehen Sie: Hier bin ich zusammen mit meiner Mutter.“

(Rachael zu Deckard, als sie ihm ein Foto hinhält)

„Deckard? Kennst Du meine Akte? Das Datum der Entstehung, die Lebensdauer... Diese Dinge. Hast Du sie gesehen?“

(Rachael zu Deckard)

„Ich kann Dich sehen, Deckard!“

(Roy zu Deckard)

„Ich habe Dinge gesehen, die Ihr Menschen niemals glauben würdet...“

(Roy zu Deckard)

Es ist auch im Fall des gesprochenen Wortes bezeichnend, dass die Augenfixierung eine Eigenart der Replikanten, insbesondere ihres Anführers Roy Batty, ist. Wenn er von ‚Sehen‘ redet, schwingt immer eine andere Bedeutungsebene mit. Es geht nicht bloß um Sehen im Sinne von ‚Wahrnehmen‘. Sehen ist für Roy gleichzusetzen mit Begreifen, Verstehen, Erkenntnis, Wahrhaftigkeit – über die Welt wie über seine ‚Mitmenschen‘ und sich selbst. Als er Deckard unerbittlich durch die apokalyptische Kulisse des Bradbury-Gebäudes jagt, ruft er einmal: „Ich kann Dich sehen, Deckard!“ Roys Ausruf ist doppeldeutig. Vermeintlich warnt der Jäger im Blutrausch seine Beute, dass er ihr auf der Spur ist – und möglicherweise kurz davor, einen endgültigen Sieg über sie zu erringen. Doch darunter scheint es Roy um etwas ganz anderes zu gehen: Subtil teilt er Deckard mit, dass er ihn sieht – ihn sieht, wie er wirklich ist. Roy sieht ihm in die Seele, die verstellt wurde mit der vorgeschobenen Identität des rauen Blade Runners. Hinweise darauf gibt es in anderen Zitaten („Bist Du nicht der gute Mann?“).

Ich glaube, dass Roy durch Deckards Fassade blickt. Und obwohl er zeitweilig vielleicht mit sich ringt, Rache an dem Mann zu nehmen, der ihm alles nahm, tötet er ihn am Ende ja nicht, sondern erteilt ihm eine moralische Lektion, die Deckards Leben für immer verändern wird („So ist es, wenn man ein Sklave ist“). Ich sehe Dich, wie Du wirklich bist – und Du sollst mich sehen, wie ich wirklich bin.