Rekrut am Rande eines Völkermords - Volker Schoßwald - E-Book

Rekrut am Rande eines Völkermords E-Book

Volker Schoßwald

2,1

Beschreibung

Ein junger Soldat des deutschen Heeres kam im zweiten Kriegsjahr des ersten Weltkriegs in die türkische Armee. Das führte ihn in eine abenteuerlich fremde Welt, konfrontierte ihn aber auch unvermittelt mit dem Völkermord, der in der Türkei im Vorfeld der Staatsgründung an über einer Million Christen verübt wurde. Sein Großneffe dokumentiert die Kriegstagebücher von Peter Engel und stellt sie in den Kontext heutigen Wissens.

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INHALT

1 Ein abenteuerlustiger Müllersohn

1.1 Der Autor: Peter Engel und sein familiäres Umfeld

1.2 Der engere kulturelle Kontext

1.3 1916: Die Türkei an der Seite Deutschlands

2 1914 als Teil des 19. Jahrhunderts

2.1 Ein freudiger Kriegsteilnehmer

2.2 Wehrdienst des Vaters 1875

3 Erstes Kriegstagebuch 1915: Ahnungslos zum Genozid

3.1 Eine Abenteuerfahrt in den Völkermord

3.2 Verzweifelt und verloren: Der Aufstand in Urfu

3.3 Hintergrund: Urfa, Karen Jeppe und die Armenier

3.4 Christliche Hilfsbereitschaft gegen das Böse im Menschen

3.5 Deutsche, Diplomaten und die Christenverfolgung

3.6 „Die Würde des Menschen ist antastbar“

3.7 Haare als Dokument des Genozids 12.7.1915

3.8 Die materiellen Interessen hinter dem Genozid

3.9 Angebliche Gräuel der Armenier

4 Zweites Kriegstagebuch: September 1916

4.1 Thema Zwangsehe

5 Drittes Kriegstagebuch: Oktober 1916

5.1 Oktober 1916 im türkischen Segrad

5.2 Ausgezeichnet mit dem Eisernen Halbmond

5.3 Kriegsnachrichten und türkische Bedingungen

5.4 Der Nikolaus aus Deutschland kommt in die Türkei

5.5 Zwiespältige Feldweihnacht

6 Das neue Jahr 1917

6.1 Nachrichten von der Südfront

6.2 Hintergrund: Aleppo und die Jungtürken

6.3 Kaisers Geburtstag und Neues vom Westen 1917

6.4 Superlaune im türkischen Ferienlager März 1917

6.5 von Bagdad nach Stambul (2.-9.4.17)

6.6 Rücksturz zur Erde oder Heim ins Reich

6.6.1 In Konstantinopel auf dem Schiff

6.6.2 Hintergrund: deutsche Marine im Schwarzen Meer

6.7 Quer durch den Balkan zu den deutschen Tannen

6.8 Daheim 1917

7 Ausblicke: Emotionen, Ethik und Gegenwart

7.1 Ein junger Mannes aus behüteten Verhältnissen

7.2 Krieg als Mittel der Politik 1914 und heute

7.2.1 Exkurs: Der Golfkrieg: mit einer Lüge

7.3 Die Kräfte hinter den Kriegen

7.4 Hundert Jahre später

8 Schlussbemerkung

8.1 Drei Bilder zum familiären Finale:

1 Ein abenteuerlustiger Müllersohn

Abkommandiert in die Türkei schrieb der deutsche Soldat Peter Engel am 6. April 1915 in sein Tagebuch1:

Ein Müllersohn aus dem hessischen Pfungstadt, ein Gymnasiallehrer, der 1913-14 in Frankreich unterrichtete, kam im patriotisch stimulierten ersten Weltkrieg 1915 ins südöstliche Kriegsgebiet: als deutscher Soldat zum türkischen Heer. Für Peter Engel war dies zugleich aufregend und exotisch; im Vordergrund stand das Abenteuerliche, weniger das Gefährliche. Er schrieb Briefe nach Hause und führte Tagebuch. Leider ist nicht alles erhalten, weil auch damals bereits Zensur bei den Soldaten durchgeführt wurde. Doch drei Tagebücher sind gerettet. Das Lesen macht etwas Mühe, denn er hat sie mit Bleistift klein gefüllt. 2014 tauchten sie zwischen alten Familiendokumenten wieder auf und können nun einen eigentümlichen Einblick in eine Welt geben, die ansonsten in deutschen Geschichtsbüchern kaum erscheint, vermutlich, weil sie zu weit weg war und auch nicht kriegsentscheidend schien. Angesichts der weltpolitischen Rolle, die die Türkei in unseren Jahrzehnten aufgrund ihrer geopolitischen Lage spielt, könnte man die Bewertung jener Gegend auch modifizieren.

Ein handgeschriebenes Tagebuch ist nicht leicht zu lesen, noch dazu, wenn die Schrift immer wieder leicht verwischt ist. Auch die Ortsnamen waren oft nicht auf dem Atlas wieder zu finden. Vieles war nach dem Gehör geschrieben, oft genug wurden altertümliche Ortsnamen verwendet; kein Wunder, denn nach dem Krieg und bei der „ethnischen Umgestaltung“ der gesamten Region wurden auch die Namen verändert, oft genug ein Beleg für vorausgegangene brutale Kämpfe zwischen ethnischen Gruppierungen oder gar Genoziden. Immerhin kann man Eskişehir oder Adana auf der Landkarte auch heute entdecken. Und wenn man den Verlauf der Bagdadbahn rekonstruiert, dann ergibt sich manch plastisches Bild, nicht zuletzt bei der gewundenen Fahrt durch die hundert Tunnels.

Heftig war der technische Kontrast am Jahrhundertbeginn. Von Büffeln ist die Rede, wenn man unterwegs ist. Ochsen ziehen Karren oder auch Geschütze. Zugleich wird die Bahn gebaut mit einer unglaublichen Zahl von Tunnels. Straßen werden für Autos fertig gestellt und die Elektrizität hält Einzug. Flugzeuge kommen zum Einsatz. Von Frankreich ist die Rede, das der eigenen Erfahrung viel näher ist als die derzeitige räumliche Umgebung, und von Bagdad, das eine Symbolbedeutung hat. Russland mit dem Bürgerkrieg und den revolutionären Umbrüchen findet Erwähnung und Beirut, der arabische Nachbar. Das Thema „Unabhängigkeit Deutschlands durch Rohprodukte“ kommt ebenso zur Sprache wie die „Armenier als Sündenbock der Türken“. Die Landschaft schildert Peter Engel und man spürt die Faszination eines jungen Mannes, der im dörflichen Kontext in der Nähe des weltoffenen Darmstadt aufwuchs, in der Fremde, die er mit seinen eigenen Kategorien zuordnen will.

1.1 Der Autor: Peter Engel und sein familiäres Umfeld

Peter Engel gehörte zu den aktiven Wandervögeln der zweiten Generation, den jungen Revolutionären2 und zu den Mitbegründern des Jugendherbergswerkes. Er war der älteste Sohn des Müllers Ludwig Engel aus Pfungstadt beim hessischen Darmstadt. Am 12. Juni 1889 geboren, studierte er nach seiner Matur in Gießen und München. Nach dem Abschluss besuchte er zunächst in Darmstadt die Realschule, dann die Oberrealschule in Offenbach.

An der Bergstraße in Hessen gab es schon immer eine kulturelle Nähe zu Frankreich: Peters Vater Ludwig wurde Louis genannt, ein Regenschirm war ein Parapluie und statt auf dem neuzeitlichen Bürgersteig bewegte man sich auf dem Trottoir. Frankreich war präsent, auch wenn es in manchen Köpfen noch der „Erzfeind“ war, den man 1871 besiegt hatte. Peter Engel ging als Lehrer nach Frankreich (Ecole d’Acquitaine, Paris, Boulogne sur mer, Lamotte a Beuvon (ca. 170km südlich von Paris)). Unmittelbar vor Kriegsbeginn kehrte er wieder ins Deutsche Reich zurück.

Peter Engel als Student

Obwohl er gerade noch in Frankreich gelebt hatte, meldete sich der 25-jährige als Kriegsfreiwilliger und damit gegen Frankreich. Zahllose seiner Altersgenossen – unter ihnen sein Studienfreund und späterer Schwager Eugen Trümmer – taten dies auch. Infolge dieses Andrangs konnte man Peter Engel zunächst wegen körperlicher Bedenken zurückstellen – zu seiner großen Enttäuschung. Vorerst arbeitete er als Gymnasiallehrer in Alsfeld und Gießen. Sein Bruder Karl, immerhin der jüngere, hatte bereits seit dem 2. August 1914 das große „Glück“, zu den (nach ihrer Sicht) „Auserwählten“ zu gehören, die für den Kaiser kämpfen durften. Immerhin hatte auch Karl im Ausland, sprich in England gelebt, war 1912 aus London zurückgekehrt und hatte sein Einjähriges bei den Fliegern gemacht. Auch Peters Schwager Eugen war im Feld, zunächst im Osten, dann gegen die Franzosen, sogar vor Verdun. Er hatte noch mehr „Glück“, er durfte auf dem „Feld der Ehre“ bleiben3.

Bei den Engländern und den Franzosen hatten die Brüder Engel gelebt, und doch waren sie sofort bereit, gegen diese in den Krieg zu ziehen. Was für sie Pflicht und Ehre war, ist aus heutiger Sicht schändlich: Wie kann man „Hurra“ schreien, wenn man gegen die ehemaligen Gastgeber die Waffen richtet?

Im September 1915 wurde Peter erneut gemustert und kam jetzt ins III. Fußartillerieregiment in Mainz. Dann lockte das Abenteuer; er meldete sich zu einer Batterie, die dem türkischen Militärverband eingeordnet war. Mit seiner Einheit zog er folglich in die Türkei und war schwerpunktmäßig im Osten und Südosten stationiert. Unter anderem wurde er mit dem türkischen Halbmond dekoriert. Noch vor Kriegsende kehrte er krankheitsbedingt zurück. Als er seine Malaria in Mainz auskuriert hatte, wurde er dort wieder Lehrer. Noch im Juli 1918 heiratete er Maria Thiel, die er aus Frankreich kannte.

Studienrat Engel nach dem Krieg

1.2 Der engere kulturelle Kontext

Peter Engel stammte aus einer weltoffenen Familie. Er war Lehrer in Frankreich gewesen, sein Bruder Karl hatte in London gewohnt und seine Schwester Betti war als Au-pair-Mädchen einer reichen deutschstämmigen Familie in Mailand gewesen. Später arbeitete sie als Erzieherin in der Odenwaldschule, also nach reformpädagogischen Methoden, die sie in Italien in einer Montessori-Einrichtung4 auch quasi original kennenlernen konnte.

Der Vater hatte eine zentral gelegene Mühle in Pfungstadt, war auch Kirchenvorsteher und zeitweilig Bürgermeister des Ortes. Die Mutter kam ebenfalls aus einer angesehenen Familie, ein Schwager gründete das später überregionale erfolgreiche Unternehmen „Spar“. Pfungstadt liegt nahe bei Darmstadt, einem kulturellen Mittelpunkt um die Jahrhundertwende.

Großherzog Ernst Ludwig von Hessen hatte Kunst und Kultur in Darmstadt sehr gefördert; auf die Jugend der Familie Engel machte besonders der Jugendstil großen Eindruck, das Ornamentale5. Seit 1899 gab es dort auch eine Künstlerkolonie mit sieben aufstrebenden jungen Menschen. Die Überschrift über diese Aktion hieß „Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst“. Der Schwerpunkt lag auf der Architektur, neuen Formen des Zusammenlebens. Mit Kriegsbeginn brach diese Aktion ab. In der jungen Generation der Müllersfamilie blieb die Liebe zum Jugendstil lebendig.

Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erschien als Zeit des Friedens mit dem Selbstbewusstsein, ein hohes kulturelles Level erreicht zu haben. Die Jugend fand eigene Richtungen und Peter Engel engagierte sich beim angesagten Wandervogel, war bei den Begründern der Jugendherbergen in Deutschland. Wanderlieder, zur Klampfe gesungen gehörten zu den Treffen der jungen Menschen. Und auch die Familie – nach damaligen Selbstverständnis ging das weit über die Kleinfamilie hinaus – traf sich zu fröhlichen, jugendbewegten Festen im befreiten Stil. Anthroposophische Gedanken und Praktiken wurden ebenso goutiert wie aufkommende neue Kunst. Weltoffen und freiheitlich schien alles zu blühen, bis der Kaiser zu den Waffen rief. Freilich hatten auch die Wandervögel Wurzeln in der Romantik, die in eine nationalistische Richtung gingen. War Nationalismus noch 80 Jahre zuvor revolutionär, weil er die Kleinstaaterei bekämpfte, wurde er nun reaktionär, weil er den Blick scheuklappenmäßig auf das „Reich“ verengte.

Das nahe gelegene Darmstadt war ins Weltgeschehen stärker eingebunden als seine Größe nahelegt. So war die frühere Großherzogin Alice6 eine Tochter der Queen Victoria, starb allerdings bereits 1878 mit 34 an Diphtherie. Am 6.6.1872 war ihre Tochter Alix7 in Darmstadt geboren worden. Alix heiratete 1894 den späteren Zar Nikolaus II8 und wurde damit die letzte Kaiserin von Russland. In der Zeit, in der Peter Engels Tagebuch spielt, war die Zarin in Russland sehr umstritten, weil sie eine Deutsche und zudem eine Enkelin von Queen Victoria war. Manche hielten sie für eine Spionin, sie war aber mehr eine Spiritistin und unterhielt eine geistige, zugleich politisch relevante Beziehung zu Rasputin. Immerhin hatte der „Wunderheiler“ vor dem Kriegseintritt Russlands gewarnt und gar gesagt: „Der Krieg ist eine schlechte Sache …. Mögen die Deutschen und die Türken sich gegenseitig zerfleischen: sie sind blind, denn es ist zu ihrem Unglück.“9 Freilich stießen seine Warnungen außer bei der Zarin auf taube Ohren.

Nachdem Nikolaus II im Februar 1917 abgedankt hatte, wurde die Familie im August nach Sibirien deportiert – Cousin George V von England hatte sich geweigert, sie aufzunehmen. Im Zuge der Oktoberrevolution wurden sie nach Jekaterinburg verschleppt und am 17.7.18 ermordet. Soviel zu Darmstadt, der Weltgeschichte und der Behauptung, Blut sei dicker als Wasser.

Darüber ist im Tagebuch des Pfungstädter Müllersohnes nichts zu finden; viele Hintergründe wurden freilich erst viel später, manche gar erst nach dem Ende der Sowjetunion, bekannt.

Die Familie feiert jugendbewegt eurythmisch ein Fest.

Der junge Engel im Umfeld von Wandervögeln mit den unvermeidlichen „Klampfe“

1.3 1916: Die Türkei an der Seite Deutschlands

Wenn vom ersten Weltkrieg berichtet wird, dann fallen Stichworte, die an Frankreich denken lassen, Belgien oder Österreich, ebenso an Russland. Aber die Türkei…? Der Orient! Das klingt fast schon exotisch – und vor allem: abseits des Weltgeschehens. Berlin, Paris, London und vielleicht noch Moskau sind im Gespräch, aber Konstantinopel? Dass die Türkei die Rolle eines Verbündeten für unser zentraleuropäisches Land spielen sollte – irritierend.

Dass ein Müllersohn aus dem Hessischen 1916 ein Kriegstagebuch in der Türkei führt, erwarten wir nicht. Aber schon im 19. Jahrhundert, ist jene Gegend durchaus im politischen Blickfeld des Deutschen Reiches. Das lässt sich etwa mit einer militärisch exponierten Person verbinden: Helmuth von Moltke.

Der äußerst populäre Generalfeldmarschall10 war als militärischer Berater bereits 1836-39 im Osmanischen Reich. So beteiligte er sich etwa 1838 am Feldzug gegen die Kurden und ein Jahr später gegen Ägypten. Dass der Sultan seine Schlacht gegen die Ägypter verlor, kreidete man hundert Jahre später11 aus deutsch-nationaler Sicht den Osmanen an, weil der Oberbefehlshaber „die Ratschläge Moltkes und seiner Kameraden nicht befolgte.“ 12 Später äußerte sich Moltke außenpolitisch klar: „Es ist lange die Aufgabe der abendländischen Heere gewesen, der osmanischen Macht Schranken zu setzen. Heute scheint es die Sorge der europäischen Politik zu sein, ihr das Dasein zu fristen.“ Wie auch im 21. Jahrhundert geht es nicht um Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit, sondern klare Machtpolitik: Wie sind die Gewichte in Europa verteilt? Krim und Bosporus etwa zeigen selbst in unserem Jahrzehnt, dass sie wichtig genug sind, den Weltfrieden aufs Spiel zu setzen. Putin hat bestimmt keine Gut-Mensch-Attitüden, wenn er die Krim 13 der russischen Föderation einverleibt – ebenso wenig, wie es den Westmächten in der Unterstützung der Ukraine letztlich um Demokratie ging.

An der Geschichte der Krim lässt sich einiges über die europäische Geschichte beobachten. Immerhin war das Khanat der Krim Teil des Osmanischen Reiches. Das änderte sich erst durch die „Befreiung“ im russisch-türkischen Krieg (1768-1774). Damals wie heute war es mit einer heftigen Migrationsbewegung verbunden: viele Tataren, also Angehörige eines Turkvolkes, emigrierten in den Süden, die heutige Türkei. Katharina, die Zweite erklärte wenig später, dass die Krim „für alle Zeiten“ russisch sei. Freilich tobte einige Jahrzehnte später (185356) der Krimkrieg, der nicht zuletzt durch ein modernisiertes Nachrichtensystem auch in Mitteleuropa verfolgt werden konnte 14 . Russland blieb einflussreich, auch nach dem ersten Weltkrieg, da der russischstämmige Anteil der Bevölkerung zum einen durch Flucht und Deportation von Tartaren und zum anderen durch russische Einwanderung die Oberhand gewann. Ähnliche ethnische Verschiebungen kennen wir aus der Gegenwart.

Das Osmanische Reich wurde in Anspiel auf eine Sentenz von Zar Nikolaus I. auch als „kranker Mann am Bosporus“ bezeichnet. Selbst die Winnetou-Trilogie von Karl May beginnt so. „Man spricht von dem Türken kaum anders als von dem 'kranken Mann', während Jeder, der die Verhältnisse kennt, den Indianer als den 'sterbenden Mann' bezeichnen muß.“ 15 May relativiert damit die Problematik des Osmanischen Reiches zu Recht, denn für die Türkei sieht man noch Chancen. Die Wahrnehmung dieser Chancen ist für die Türken heute mit dem Namen Atatürk („Vater der Türken“) verbunden. Wenn man realisiert, was nach dem Todes Titos mit dem Vielvölkerstaat Jugoslawiens geschah, nämlich das Auseinanderbrechen der durch diesen Partisanen verbundenen Völker und in Folge davon unglaubliche Völkermorde, dann scheint Atatürk trotz aller Kämpfe zwischen Türken und Kurden in seinem Vielvölkerstaat eine relative Stabilität geschaffen zu haben. Das ist freilich insofern trügerisch, als seine Vorgänger einen lange totgeschwiegenen Völkermord und unmenschliche Deportationen initiierten.

Geopolitisch spielte das Gebiet der heutigen Türkei durchgehend eine substantielle Rolle, vorwiegend auch deswegen, weil der Bosporus die Durchfahrt vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer und damit zu den Weltmeeren ermöglicht. Menschheitsgeschichtlich ist die Besiedlung Europas durch Menschen über den Weg durch die heutige Türkei erfolgt. Auch bei den übrigen Völkerwanderungen, die Zentraleuropa betreffen, spielt diese Region als Durchgangsgebiet eine entscheidende Rolle. Für das vergangene Jahrtausend geht es zudem um die Einflussbereiche von Christentum und Islam. Im Neuen Testament gibt es einen „Brief des Paulus an die Galater“. Die Galater sind, wie der Name verrät, aus dem Westen eingewanderte Kelten. Es gab immer ein Hin und Her an Völkerbewegungen und damit auch Vermischung der Kulturen.

Wenige Monate nach Beginn des Ersten Weltkrieges bahnte sich ein Eintritt des Osmanischen Reiches in die Auseinandersetzungen an. Auch hier sind die Gründe darin zu suchen, dass man in diversen Konflikten schlagkräftige Partner hatte. Zwar ging es für die Türken nicht „mit Gott für Kaiser und Vaterland“, aber immerhin in den Krieg für Allah: Scheichülislam Ürgüplü Mustafa Hayri Efendi rief am 14. November 1914 den Dschihad gegen die „Feinde des Osmanischen Reiches“ aus.

Für die Annäherung zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich gab es seit geraumer Zeit wirtschaftliche Gründe wie den Bau der Bagdadbahn. Zudem hatten die Deutschen Militärmissionen im Osmanischen Reich. Als zu Kriegsbeginn zwei Schlachtschiffe, die in Großbritannien geordert worden waren, trotz der Anzahlung beschlagnahmt wurden, suchte man als starken Alliierten das Deutsche Reich. Innenpolitisch war eine solche Verbindung umstritten, da die „jungtürkische“ Regierung auf Neutralität gesetzt hatte. Aber die führenden „Jungtürken“ erkannten die Notwendigkeit eines starken militärischen Partners; da bot sich Österreich-Ungarn verbunden mit Deutschland an. Enver Pascha setzte das Kriegsbündnis ohne einhelligen Beschluss der Regierungsmitglieder durch.

In den historischen Kontext gehört Mustafa Kemal16, der später den Ehrennamen Atatürk trug: „Vater der Türken“ (seit 1935). Kemal bestimmte die Grundlagen der Türkei ab den 20er-Jahren bis heute. Schon 1915 führt seine erfolgreiche Verteidigung von Gallipol gegen die Alliierten zum Rücktritt von Winston Churchill. Damit sind wir im Zeitraum von Peter Engels Tagebuch.17

1 Seine ersten beiden Tagebücher tippte Peter Engel nach seiner Rückkehr ab; davon werden immer wieder Faksimiles eingefügt.

2 Das waren die sog. Jungwandervögel, ab 1910

3 Das ist eine sehr bittere ironische Formulierung angesichts der Sprache, mit der der Tod von Soldaten verklärt wurde.

4 Seit 1908 gab es in Milano die erste „Casa dei bambini“ von Maria Montessori.

5 Betti Engels zweiter Mann Ottokar Henschel war Kunsterzieher und beherrschte zu ihrer Freude diesen Aspekt des Jugendstils.

6 Prinzessin Alice Maud Mary von Großbritannien und Irland (geb. 25. April 1843 in London; gest. 14. Dezember 1878 in Darmstadt) war die zweite Tochter Victorias. .

7 Alice bestand auf diesem Namen, weil ihr eigener von den Hessen Aliiice ausgesprochen wurde, was ihr verhasst war. Alix könne man nicht deformieren, meinte sie.

8 Es war eine Liebesheirat, die Queen Victoria gar nicht passte. Dass allerdings durch die englische Königsfamilie auch die Hämophilie ins Zarenhaus (und nicht nur dorthin, sondern in etliche europäische Adelshäuser) gebracht wurde, hielt man geheim.

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