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Douglas Preston

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Beschreibung

Grausame Morde geschehen in einem New Yorker Museum. Stehen sie in Verbindung mit einer Austellung, bei der ein brasilianischer Monstergott gezeigt wird? Liegt ein Fluch auf dem Museum? Ein schlafraubender Thriller der Extraklasse!

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Douglas Preston / Lincoln Child

Relic

Museum der Angst Thriller

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Thomas A. Merk

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Über dieses Buch

Grausame Morde geschehen in einem New Yorker Museum. Stehen sie in Verbindung mit einer Austellung, bei der ein brasilianischer Monstergott gezeigt wird? Liegt ein Fluch auf dem Museum?

Ein schlafraubender Thriller der Extraklasse!

Inhaltsübersicht

Widmung

Einleitung

1. Kapitel

2. Kapitel

Teil 1

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Teil 2

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Teil 3

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

Epilog

63. Kapitel

Danksagung

Für Charles Crumly

D. P.

 

*

 

Für Luchie – du hast dich auf die Geschichte eingelassen.

 

Und zum Andenken an Nora und Gaga.

L. C.

Einleitung

1

Im Amazonasbecken, September 1986

Als am Mittag die Wolken um den Gipfel des Cerro Gordo aufrissen und verschwanden, konnte Whittlesey hoch über sich sehen, wie das Sonnenlicht den Blätterkronen des Urwalds eine goldene Färbung verlieh. Irgendwelche Tiere – vermutlich Klammeraffen – tobten und schrien über seinem Kopf, und ein Makao flatterte obszön kreischend herab.

Whittlesey blieb neben einem umgestürzten Jaranda-Baum stehen und wartete, bis Carlos, sein schwitzender Helfer, zu ihm aufschloß.

»Hier halten wir«, sagte Whittlesey auf spanisch. »Baja la caja. Setz die Kiste ab.«

Whittlesey ließ sich auf dem Stamm des umgestürzten Baumes nieder und zog seinen rechten Stiefel und Socken aus. Dann zündete er eine Zigarette an und machte sich mit der Glut über die vielen kleinen Zecken her, die ihm wie ein dunkler Pelz Schienbein und Knöchel überzogen.

Carlos stellte ein altes Armeetragegestell ab, auf das umständlich eine hölzerne Kiste gebunden war.

»Öffne sie bitte«, sagte Whittlesey.

Carlos löste die Stricke, machte ein paar kleine Messingverschlüsse auf und nahm den Deckel der Kiste ab.

Innen war sie mit den Fasern einer einheimischen Pflanze gut ausgepolstert. Whittlesey entfernte eine Lage dieses Packmaterials und brachte zwei Gegenstände zum Vorschein, eine kleine, hölzerne Pflanzenpresse und ein in fleckiges Leder gebundenes Tagebuch. Er zögerte einen Augenblick, dann nahm er aus der Tasche seiner Feldjacke eine kleine, aber wunderschön geschnitzte hölzerne Tierfigur. Einen Augenblick lang hielt er das Kunstwerk in der Hand und bewunderte noch einmal, wie meisterhaft gearbeitet und unnatürlich schwer es war. Dann legte er es widerstrebend in die Kiste zurück, bedeckte alles mit den Fasern und befestigte den Deckel.

Danach holte Whittlesey aus seinem Rucksack ein leeres Blatt Papier, legte es sich auf die Knie und begann mit einem abgewetzten vergoldeten Kugelschreiber, den er aus der Brusttasche seines Hemdes zog, zu schreiben:

Oberlauf des Xingú

17. Sept. 1986

Montague,

ich habe mich entschlossen, Carlos mit der letzten Kiste zurückzuschicken und die Suche nach Crocker allein weiterzuführen. Carlos ist vertrauenswürdig, und ich will nicht riskieren, daß die Kiste verlorengeht, falls mir etwas zustoßen sollte. Besonders solltest du die Schamanenrassel und die anderen Ritualobjekte beachten. Sie scheinen einzigartig zu sein. Die kleine Holzfigur aber, die ich in einer verlassenen Hütte hier in der Nähe gefunden habe, ist der Beweis für das, wonach ich gesucht habe. Schau dir bloß die übertrieben großen Krallen an, die reptilischen Merkmale, die Haltung des Tieres, die darauf hindeutet, daß es auf zwei Beinen geht. Die Kothoga existieren, und die Mbwun-Legende scheint keine bloße Erfindung zu sein.

Alle meine Aufzeichnungen befinden sich in meinem Tagebuch, das darüber hinaus eine umfassende Darstellung der Vorfälle enthält, die zum Auseinanderbrechen dieser Expedition geführt haben, von dem du natürlich schon erfahren haben wirst, wenn diese Zeilen dich erreichen.

Whittlesey schüttelte den Kopf und dachte an die Szene, die sich am Tag vorher abgespielt hatte. Dieser idiotische Bastard Maxwell! Nur daran interessiert, seine dummen Proben, über die er durch Zufall gestolpert war, so rasch wie möglich zurück ins Museum zu bringen. Whittlesey lachte leise vor sich hin. Uralte Eier, dachte Maxwell. Dabei waren sie nichts weiter als irgendwelche wertlosen Samenkapseln. Maxwell hätte vielleicht eher Paläobiologe als Anthropologe werden sollen. Was für eine Ironie, daß die anderen ihr Zeug eingepackt hatten und gegangen waren, als sie nur wenige Kilometer von seiner Entdeckung entfernt gewesen waren.

Nun, jedenfalls war Maxwell jetzt fort und die anderen ebenfalls. Nur Carlos und Crocker und zwei eingeborene Führer waren bei ihm geblieben. Und jetzt war nur noch Carlos da. Whittlesey wandte sich wieder seinem Schreiben zu.

Verwende mein Tagebuch und die Kunstgegenstände nach deinem Gutdünken und sieh zu, daß du damit meinen guten Ruf beim Museum wiederherstellen kannst. Vor allem aber kümmere dich um die kleine hölzerne Figur. Ich bin mir sicher, daß sie für die Anthropologie von unschätzbarem Wert sein wird. Wir haben sie gestern durch Zufall gefunden. Sie scheint mir das Herzstück des Mbwun-Kultes zu sein, obwohl nirgendwo in der Nähe der Fundstelle Zeichen von weiteren menschlichen Behausungen zu finden waren. Das kommt mir merkwürdig vor.

Whittlesey hielt inne. Er hatte die Entdeckung der Figur in seinem Tagebuch nicht beschrieben, und selbst jetzt sträubte sich sein Gehirn, sich daran zu erinnern.

Wenn Crocker sich nicht vom Weg entfernt hätte, um einen Jakamar besser beobachten zu können, hätten sie niemals den verborgenen Pfad entdeckt, der zwischen glitschigen, moosbewachsenen Felswänden steil bergab führte. Dann tauchte in dem feuchten Tal, in das fast kein Tageslicht mehr drang, verborgen unter uralten Matamata-Bäumen diese krude hingebaute Hütte auf … Die beiden Botocudo-Führer, die ständig auf Tupian miteinander geschwatzt hatten, wurden plötzlich still. Als Carlos sie fragte, was los sei, murmelte einer von ihnen etwas vom Wächter der Hütte und einem Fluch, der jeden treffen würde, der es wagte, ihre Geheimnisse zu verletzen. Whittlesey hörte zum ersten Mal, wie sie das Wort Kothoga sagten. Kothoga. Die Schattenmenschen.

Whittlesey war skeptisch. Natürlich hatte er schon mal von diesem oder jenem ähnlichen Fluch gehört – mit schöner Regelmäßigkeit meistens dann, wenn die Träger mehr Bezahlung herausschinden wollten. Aber als er um die Hütte herumgegangen war, waren die beiden Führer spurlos verschwunden.

… und dann diese alte Frau, die aus dem Urwald gestolpert kam. Sie war vermutlich eine Yanoama, auf jeden Fall keine Kothoga. Aber sie kannte die Kothoga. Sie hatte sie gesehen. Auch sie brabbelte etwas von einem Fluch … und als sie gleich darauf wieder verschwand, schien sie mit dem Wald zu verschmelzen wie ein einjähriger Jaguar und nicht wie eine uralte Frau.

Danach wandten sie ihre Aufmerksamkeit der Hütte zu.

Die Hütte … Ganz behutsam erlaubte sich Whittlesey, sich daran zu erinnern. Sie war flankiert von zwei Steintafeln, auf denen das gleiche, auf seinen Hinterläufen sitzende Tier eingemeißelt war. Es hielt etwas in seinen Klauen, aber die Tafeln waren zu verwittert, um zu erkennen, was es war. Hinter der Hütte lag ein verwilderter Garten, eine bizarre Oase von leuchtenden Farben vor der grünen Eintönigkeit.

Der Boden der Hütte war etwa einen Meter in die Erde eingelassen, so daß Crocker sich fast den Hals gebrochen hätte, als er hinunterfiel. Whittlesey folgte ihm vorsichtig, während Carlos am Eingang kniete und wartete. Im Inneren war es dunkel und kühl, und es roch nach verrotteter Erde. Whittlesey knipste seine Taschenlampe an und bemerkte die hölzerne Figur, die auf einem großen Erdhaufen in der Mitte der Hütte stand. Zu ihren Füßen lagen etliche flache, scheibenförmige Steine, in die merkwürdige Zeichen eingeritzt waren. Und dann richtete Whittlesey das Licht der Taschenlampe auf die Wände der Hütte.

Sie bestanden praktisch aus menschlichen Schädeln. Als Whittlesey sich ein paar davon in seiner unmittelbaren Nähe genauer ansah, bemerkte er tiefe Kratzer im Knochen, deren Herkunft er sich nicht erklären konnte. An der Oberseite der Schädel gähnten gezackte Löcher, und bei vielen war auch der Hinterkopf zerschmettert und der hintere Teil der Schädeldecke nicht mehr vorhanden.

Whittleseys Hand zitterte, und die Taschenlampe ging aus. Bevor er sie wieder anschaltete, sah er, wie das Tageslicht durch Tausende von Augenhöhlen hereindrang und Staubflöckchen träge durch die dicke Luft schwebten.

Als sie die Hütte wieder verlassen hatten, sagte Crocker, er wolle einen kurzen Spaziergang machen – er müsse jetzt eine Weile allein sein. Aber er kam nicht mehr zurück.

Die Vegetation hier ist höchst ungewöhnlich. Die Zykadazeen und die Farne erscheinen mir fast urzeitlich, als hätte es sie schon vor dem Übergang von der Kreidezeit zum Tertiär gegeben. Schade, daß ich nicht mehr Zeit habe, um sie genauer zu untersuchen. Eine besonders faserige Art davon haben wir als Packmaterial für die Kisten verwendet. Wenn Jorgensen daran interessiert ist, kannst du ihn gerne einen Blick darauf werfen lassen.

In einem Monat werde ich hoffentlich mit dir im Explorer’s Club sitzen und unseren Erfolg mit ein paar trockenen Martinis und einem guten Macanudo feiern. Bis dahin, das weiß ich, kann ich dir dieses Material und meinen guten Ruf getrost anvertrauen.

Dein Kollege Whittlesey

Er packte den Brief noch mit in die Kiste.

»Carlos«, sagte er dann, »ich will, daß du diese Kiste zurück nach Pôrto de Mós bringst und dort auf mich wartest. Wenn ich in zwei Wochen nicht zurück bin, dann verständige Colonel Soto. Sag ihm, daß er diese und die anderen Kisten wie vereinbart per Luftfracht ans Museum schicken soll. Er wird dir auch dein Geld auszahlen.«

Carlos sah ihn an. »Ich verstehe nicht, Señor«, sagte er. »Wollen Sie denn allein hierbleiben?«

Whittlesey lächelte, zündete sich eine weitere Zigarette an und fuhr mit dem Töten der Zecken fort. »Jemand muß die Kiste zurückbringen. Wenn du dich beeilst, müßtest du Maxwell eigentlich noch vor dem Fluß einholen können. Ich möchte noch ein paar Tage weiter nach Crocker suchen.«

Carlos schlug sich aufs Knie. »Es loco! Ich kann Sie nicht allein lassen. Si te dejo atras, te moririas. Sie werden hier im Urwald sterben, Señor, und die Brüllaffen werden mit Ihren Knochen spielen. Wir müssen zusammen zurückgehen, das ist am besten.«

Whittlesey schüttelte ungeduldig den Kopf. »Gib mir das Jod und das Chinin und das getrocknete Rindfleisch aus deinem Sack«, sagte er, während er sich seine schmutzige Socke wieder anzog und den Stiefel zuschnürte.

Carlos packte inzwischen, immer noch protestierend, aus. Whittlesey schenkte ihm keine Beachtung, kratzte gedankenverloren an den Insektenstichen an seinem Nacken herum und starrte hinauf zum Cerro Gordo.

»Maxwell wird sich wundern, Señor. Er wird denken, ich hätte Sie im Stich gelassen. Das wäre sehr schlecht für mich«, sagte Carlos nervös, während er die gewünschten Dinge in Whittleseys Rucksack verstaute. »Die Cabouri-Fliegen werden Sie bei lebendigem Leib auffressen«, fuhr er fort, ging zu der Kiste und verschloß sie wieder. »Sie werden wieder Malaria bekommen, und dieses Mal werden Sie daran sterben. Ich bleibe bei Ihnen.«

Whittlesey betrachtete den schneeweißen Haarschopf, der teilweise an Carlos’ schweißnasser Stirn klebte. Noch gestern, bevor Carlos in die Hütte geblickt hatte, war dieses Haar tiefschwarz gewesen. Als Carlos Whittleseys Blick bemerkte, schlug er die Augen nieder.

Whittlesey stand auf. »Adios«, sagte er und verschwand im Urwald.

 

Am späten Nachmittag bemerkte Whittlesey, daß die dichten, tiefliegenden Wolken um den Cerro Gordo wieder da waren. Die letzten paar Meilen war er einem Weg ungewisser Herkunft gefolgt, der als ein schmaler Trampelpfad durchs Unterholz führte, aber sicher durch die Fiebersümpfe am Fuße des Tepui, des feuchten, dschungelüberzogenen Plateaus, auf das er jetzt zusteuerte. Es mußte ein von Menschen angelegter Pfad sein, dachte Whittlesey, denn er führte irgendwie logisch auf irgendein noch verborgenes Ziel zu. Tierpfade verliefen oft kreuz und quer, mal in diese oder jene Richtung. Außerdem kam Whittlesey auf diesem Pfad einer steilen Schlucht in der Wand des Tepui immer näher. Diesen Weg mußte Crocker genommen haben.

Whittlesey blieb stehen und nahm unwillkürlich seinen Talisman in die Hand – ein Amulett aus zwei gekreuzten Pfeilen, der eine golden, der andere silbern, das er schon seit seiner Kindheit um den Hals trug. Whittlesey und seine Leute hatten seit mehreren Tagen keine menschliche Behausung mehr gesehen, außer einer lange verlassenen Ansiedlung von Wurzelsammlern – und dann die Hütte, natürlich. Nur die Kothoga konnten also diesen Pfad angelegt haben.

Als Whittlesey sich dem Plateau näherte, konnte er erkennen, daß ein paar Rinnsale an dessen steilen Flanken herabflossen. Diese Nacht würde er hier unten biwakieren und dann am Morgen die gut tausend Höhenmeter in Angriff nehmen. Der Anstieg würde steil, schlammig und möglicherweise gefährlich werden. Und wenn Whittlesey dabei auf die Kothoga stieß – nun, dann saß er ganz schön in der Falle.

Aber er hatte eigentlich keinen Grund zu der Annahme, daß der Stamm der Kothoga nicht friedlich sein sollte. Schließlich war es Mbwun, eine rätselhafte Kreatur, der die einheimischen Mythen alles Böse und Mörderische zuschrieben. Angeblich war er ein seltsames Lebewesen, das von den Kothoga unter Kontrolle gehalten wurde und das noch nie ein Außenstehender zu Gesicht bekommen hatte. Sollte es diesen Mbwun am Ende wirklich geben? fragte sich Whittlesey. Ein kleiner Rest einer unbekannten Tierart konnte vielleicht wirklich in diesem riesigen Regenwald über Jahrmillionen hinweg überlebt haben; schließlich war dieses Gebiet von den Biologen praktisch unerforscht. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Whittlesey, daß Crocker ihm nicht seinen Revolver weggenommen hätte.

Am wichtigsten war es jetzt für Whittlesey, daß er zuerst einmal Crocker fand. Danach erst konnte er sich auf die Suche nach den Kothoga machen und beweisen, daß sie nicht, wie allgemein behauptet wurde, seit Hunderten von Jahren ausgestorben waren. Er würde berühmt werden – der Entdecker eines uralten Volkes, das tief im Amazonasbecken in einer Art Steinzeitidylle auf einem Plateau hoch über dem Dschungel lebte. Irgendwie erinnerte das an Conan Doyles Roman Die vergessene Welt.

Es gab keinen Grund, die Kothoga zu fürchten. Bis auf diese Hütte …

Auf einmal drang ein scharfer, ekelerregender Geruch in seine Nase, und Whittlesey blieb stehen. Es gab keinen Zweifel – da mußte ein totes Tier liegen, und zwar ein ziemlich großes. Nach etwa einem Dutzend weiterer Schritte wurde der Geruch intensiver. Vor Erwartung schlug Whittleseys Herz jetzt rascher: Vielleicht hatten die Kothoga in der Nähe ein Tier erlegt. Möglicherweise war an der Stelle noch etwas zu finden, Werkzeuge oder vielleicht sogar irgendwelche Kultgegenstände.

Langsam pirschte sich Whittlesey an. Der süßliche, widerwärtige Geruch wurde stärker. Durch eine Lücke im Blätterdach drang etwas Tageslicht, ein untrügliches Zeichen dafür, daß sich in der Nähe eine Lichtung befinden mußte. Whittlesey blieb stehen und zog die Riemen seines Rucksacks stramm. Für den Fall, daß er fliehen mußte, sollte ihn sein Gepäck so wenig wie möglich behindern.

Der schmale, vom Unterholz gesäumte Pfad lief jetzt flach dahin und gab nach einer überraschenden Biegung den Blick auf eine kleine Lichtung frei. Dort, an der gegenüberliegenden Seite, lag das tote Tier unter einem Baum, in dessen Stamm jemand eine rituelle Spirale geritzt hatte. Auf dem ausgeweideten, fettigbraun schimmernden Brustkasten des Kadavers lag ein Büschel hellgrüner Papageienfedern.

Erst als Whittlesey sich dem toten Tier weiter genähert hatte, bemerkte er, daß es in einem khakifarbenen Hemd steckte.

Eine dichte Wolke von Fliegen summte und brummte über dem offenen Brustkasten. Nun sah Whittlesey, daß ein einzelner, abgetrennter Arm mit einem faserigen Seil an den Stamm des Baumes gebunden war. Die Handfläche war aufgerissen. Um die Leiche herum lagen mehrere leere Patronenhülsen. Und dann entdeckte Whittlesey den Kopf. Er lag, mit dem Gesicht nach oben, unter der Achsel der Leiche. Der Hinterkopf war nicht mehr vorhanden, und die Augen, die über aufgedunsenen Wangen ins Leere starrten, waren von einem trüben Film überzogen. Whittlesey hatte Crocker gefunden.

Instinktiv zog er sich zurück, und während er noch rückwärts stolperte, sah er, daß scharfe Krallen Crocker mit obszöner, unmenschlich erscheinender Kraft zerschunden hatten. Es sah so aus, als wäre die Leichenstarre bereits eingetreten. Vielleicht – wenn Gott Whittlesey gnädig war – waren die Kothoga bereits wieder fort.

Wenn es überhaupt die Kothoga gewesen waren, die das getan hatten.

Dann bemerkte Whittlesey, daß der Regenwald, der normalerweise von lebhaften Geräuschen widerhallte, totenstill war. Whittlesey schreckte zusammen, drehte sich um und blickte in den Dschungel. Etwas bewegte sich in den hohen Büschen am Rande der Lichtung, und zwei kleine Augen, die die Farbe von flüssigem Feuer hatten, nahmen hinter den Blättern Gestalt an. Whittlesey schluchzte unwillkürlich auf und fuhr sich fluchend mit dem Ärmel übers Gesicht. Als er noch einmal hinsah, waren die Augen verschwunden.

Er hatte keine Zeit zu verlieren, er mußte den Weg zurück, mußte diesen Ort verlassen, koste es, was es wolle. Der Dschungelpfad lag direkt vor ihm. Er brauchte ihn bloß entlangzulaufen.

Dann sah er etwas auf dem Boden, was ihm vorher nicht aufgefallen war, und er hörte, wie etwas Massives, das aber auf eine fürchterliche Weise geschmeidig wirkte, direkt durch das Unterholz auf ihn zukam.

2

Belém, Brasilien, Juli 1987

Dieses Mal war sich Ven ziemlich sicher, daß ihm der Vorarbeiter auf die Schliche gekommen war.

Während er sich in den Schatten zwischen den Lagerhallen herumdrückte, sah Ven sich um. Sanfter Regen verwischte die massigen Silhouetten der am Kai festgemachten Frachtschiffe und ließ die Lampen des Docks auf Stecknadelkopfgröße zusammenschrumpfen. Wo die Tropfen auf die heißen Decksplanken der Schiffe trafen, stiegen leichter Dampf und ein schwacher Geruch nach Kreosot auf. Hinter sich hörte Ven die nächtlichen Geräusche des Hafens: das abgehackte Bellen eines Hundes, leises Gelächter, durchsetzt mit ein paar portugiesischen Worten und Calypso-Musik aus den direkt am Wasser gelegenen Bars an der Avenida Antonio Machado.

Bisher war alles so gut gelaufen. Als Miami für ihn zu heiß geworden war, war er auf dem langen Weg über Kolumbien, Venezuela und Französisch Guyana in diesen schwach frequentierten Hafen gekommen, den lediglich kleine Küstenfrachter anliefen. An den Docks wurden fast immer Schauerleute gebraucht, und Ven hatte schon früher Schiffe be- und entladen. Als er seinen Namen mit Ven Stevens angab, fragte niemand nach. Sie hätten sowieso nicht geglaubt, daß jemand mit Vornamen Stevenson hieß.

Hier gab es alles, was er brauchte. In Miami hatte er viel Zeit gehabt, um seine Instinkte zu schärfen, und das machte sich hier bezahlt. Absichtlich sprach er holperiges Portugiesisch mit vielen Fehlern und studierte dabei die Augen seiner Gesprächspartner, so daß er sie besser einschätzen konnte. Und so hatte er Ricon gefunden, den zweiten Assistenten des Hafenmeisters, den er für seine Arbeit unbedingt benötigte.

Wenn wieder mal eine Lieferung den Fluß herunterkam, wurde Ven benachrichtigt. Normalerweise nannte man ihm zwei Namen: den des ankommenden und den des auslaufenden Schiffes. Ven wußte immer, wonach er suchen mußte, denn die Kisten sahen immer gleich aus. Er kümmerte sich darum, daß sie sicher von Bord kamen und in einer Lagerhalle verstaut wurden. Dann mußte er nur noch dafür sorgen, daß sie die letzten Frachtstücke waren, die auf ein bestimmtes, in die Vereinigten Staaten fahrendes Schiff verladen wurden.

Ven, der ein von Natur aus vorsichtiger Mensch war, hatte immer ein waches Auge auf den Vorarbeiter. Ein, zwei Mal hatte er anfangs das unbestimmte Gefühl gehabt, der Vorarbeiter hätte Verdacht geschöpft, und in seinem Kopf war ein Alarm losgegangen. Aber dann hatte Ven sich gleich wieder beruhigt, und nach ein paar Wochen hatte die Alarmglocke nicht mehr geschrillt. Er sah auf seine Uhr. Es war elf Uhr abends. Er hörte, wie um die Ecke eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Ven preßte sich eng an die Wand. Er hörte schwere, polternde Schritte auf hölzernen Planken, dann sah er im Licht einer Straßenlaterne die Gestalt des Vorarbeiters vorbeigehen. Als die Schritte leiser wurden, lugte Ven um die Ecke. Das Büro war dunkel und verlassen wie immer um diese Zeit. Er blickte sich noch einmal um, dann drückte er sich um die Mauerecke und ging aufs Dock zu.

Bei jedem Schritt klatschte ein leerer Rucksack feucht gegen seinen Rücken. Im Gehen griff Ven in die Hosentasche, holte einen Schlüssel heraus und hielt ihn fest in der Hand. Dieser Schlüssel war seine Lebensversicherung. Bereits zwei Tage nach Beginn seiner Arbeit hier auf dem Dock hatte er sich einen Abdruck davon gemacht.

Ven ging an einem kleinen, am Kai liegenden Frachter vorbei, von dessen schweren Tauen schwarzes Wasser auf die verrosteten Poller tropfte. Das Schiff schien verlassen, nicht einmal eine Hafenwache befand sich an Deck. Ven verlangsamte seine Schritte. Direkt vor ihm, am Ende des Hauptpiers, befand sich die Tür der Lagerhalle. Ven warf einen raschen Blick über seine Schulter. Dann schloß er schnell die Metalltür auf und schlüpfte in die Halle.

Nachdem er die Tür leise wieder zugezogen hatte, wartete er, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Hälfte war geschafft. Jetzt mußte er nur hier drin fertig werden und dann die Halle wieder verlassen.

Und zwar so schnell wie möglich. In letzter Zeit nämlich war Ricon immer gieriger geworden, denn die Cruzeiros rannen ihm wie Wasser durch die Finger. Das letzte Mal hatte er im Spaß an der Höhe seines Anteils herumgenörgelt, und heute vormittag hatte Ven beobachtet, wie Ricon und der Vorarbeiter miteinander ein paar leise Worte gewechselt hatten. Dabei hatte der Vorarbeiter herüber zu Ven geblickt. Und dem sagte nun sein Instinkt, daß es Zeit war, von hier zu verschwinden.

Das Innere der dunklen Lagerhalle war eine verschwommene Landschaft aus Frachtcontainern und Packkisten. Ven konnte es nicht riskieren, eine Taschenlampe zu benützen, aber er brauchte auch keine. Er kannte sich hier so gut aus, daß er auch im Schlaf seinen Weg gefunden hätte. Vorsichtig suchte er sich zwischen Bergen von Frachtgut seinen Weg.

Schließlich blieb er vor einem Stapel abgewetzter Kisten in einer Ecke der großen Halle stehen. Es waren eine kleine und sechs große Kisten, von denen auf einige mit Schablone die Buchstaben MNH NEW YORK geschrieben waren.

Schon vor Monaten, als Ven sich nach diesen Kisten erkundigt hatte, hatte der Lehrling des Hafenmeisters erzählt, was es mit ihnen auf sich hatte. Sie waren im vergangenen Herbst von Pôrto de Mós den Fluß herab gekommen. Eigentlich hätten sie per Luftfracht an ein Museum in New York gehen sollen, aber dann war irgend etwas mit den Leuten, die diese Vereinbarung getroffen hatten, geschehen – der Lehrling wußte nicht genau, was. Jedenfalls waren die Frachtkosten nicht rechtzeitig bezahlt worden, und in dem komplizierten Wirrwarr der hiesigen Zollbestimmungen waren die Kisten irgendwann einmal einfach vergessen worden.

Ven allerdings vergaß die Kisten nicht, denn hinter ihnen war genügend Platz, um seine Lieferungen so lange zu verstecken, bis der auslaufende Frachter, den man ihm genannt hatte, beladen wurde. Durch ein zerbrochenes Fenster hoch oben in der Wand drang die warme Nachtbrise herein und strich Ven über die schweißbeperlte Stirn. Er lächelte in der Dunkelheit. Erst vor einer Woche hatte er erfahren, daß die Kisten demnächst schließlich doch in die USA geschickt werden würden. Sollten sie ruhig, denn er war dann bestimmt schon längst nicht mehr hier.

Er brauchte nur noch seinen Schatz hier zu heben, der diesmal lediglich aus einer einzigen, kleinen Kiste bestand, deren Inhalt gut in seinen Rucksack paßte. Ven wußte genau, wo die Abnehmer waren und wie er das Zeug verkaufen mußte. Bald würde er damit die dicke Kohle machen – und zwar sehr weit weg von hier.

Als Ven sich gerade hinter die großen Kisten zwängen wollte, blieb er abrupt stehen. Da war ein seltsamer Geruch, irgendwie erdig, ziegenartig, verrottet. Durch diesen Hafen gingen ja weiß Gott merkwürdige Frachtstücke, aber bisher hatte keines davon derartig fürchterlich gerochen.

In Vens Kopf schrillte eine ganze Serie von Alarmglocken los, aber er konnte nichts entdecken, was ihm falsch oder ungewöhnlich vorgekommen wäre. Und so zwängte er sich schließlich doch zwischen die Kisten für das Museum und die Hallenwand.

Hinter den Kisten blieb Ven stehen. Irgend etwas stimmte hier nicht, stimmte absolut nicht.

Er hörte, mehr als daß er sah, wie sich etwas in dem engen Raum bewegte. Der ekelhafte, verrottete Gestank kam auf ihn zu und hüllte ihn bald vollständig ein. Plötzlich wurde er mit unglaublicher Kraft gegen die Wand geschleudert. Ein flammender Schmerz raste ihm durch Brust und Bauch. Ven öffnete den Mund, um zu schreien, aber in seiner Kehle brodelte ein heißer Schmerz, der ihm gleich darauf wie ein greller Blitz durch den Schädel schoß. Danach war alles dunkel.

Teil 1

Museum des Grauens

3

New York, heute

Juan sah ruhig zu, wie der rothaarige Junge auf das Podest kletterte, seinen jüngeren Bruder einen Feigling nannte und nach dem Fuß des Elefanten griff. Erst als der Junge mit der Hand das Ausstellungsstück berührte, trat Juan vor.

»Hey!« rief er und trabte auf den Jungen zu. »Elefanten berühren verboten!« Der Bub erschrak und zog die Hand zurück; er war in einem Alter, in dem man noch Respekt vor Uniformen hat. Jugendliche von fünfzehn, sechzehn Jahren zeigten Juan auch schon mal den schlimmen Finger. Sie wußten, daß er nur ein Museumswärter war. Was für ein lausiger Job. Hoffentlich würde er eines Tages doch noch die Aufnahmeprüfung für die Polizeischule schaffen.

Mißtrauisch sah Juan zu, wie der rothaarige Junge und sein kleiner Bruder in der abgedunkelten Halle weiter zu den Schaukästen gingen, in denen die ausgestopften Löwen zu sehen waren. Als sie dabei an den Schimpansen vorbeikamen, spielte sich der Bub vor seinem Bruder auf, indem er johlende Schreie ausstieß und sich unter den Armen kratzte. Wo, zum Teufel, waren bloß die Eltern?

Dann zog Billy, der Rotschopf, seinen kleinen Bruder in einen Raum mit afrikanischen Gegenständen. Aus einem Schaukasten grinste sie eine Reihe von hölzernen Masken mit flachen, geschnitzten Zähnen an. »Toll!« staunte Billys Brüderchen.

»Das ist doch doof«, sagte Billy. »Komm, laß uns zu den Dinosauriern gehen.«

»Wo ist Mommy?« fragte der Kleine und sah sich um.

»Ah, die hat sich verlaufen«, sagte Billy. »Jetzt komm schon.«

Sie gingen los durch einen großen, hallenden Raum voller Totempfähle. Am anderen Ende hielt gerade eine Frau, die die letzte Gruppe des Tages durch das Museum führte, ein rotes Fähnchen hoch und sagte etwas mit schriller Stimme. Billys kleiner Bruder fand, daß die Halle irgendwie unheimlich nach Rauch und alten Baumwurzeln roch. Als die Gruppe um die Ecke verschwand, war es wieder still.

Als sie das letzte Mal hier gewesen waren, erinnerte sich Billy, hatten sie den größten Brontosaurus der Welt und einen Tyrannosaurus gesehen. Zumindest glaubte er, daß er so geheißen hatte. Die Zähne dieses Tyrannosaurus mußten drei Meter lang gewesen sein. Er war das tollste Ding gewesen, das Billy bisher in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Aber an die Totempfähle konnte er sich nicht mehr erinnern. Vielleicht waren die Dinosaurier in der nächsten Halle. Aber die war leider bloß die langweilige »Halle Asiatischer Völker«, voller Jade- und Elfenbeinschmuck, Seide und Bronzestatuen.

»Da, schau, was du angerichtet hast«, sagte Billy.

»Was denn?«

»Du bist schuld, daß ich mich verlaufen habe«, antwortete Billy. »Mommy ist bestimmt furchtbar böse«, sagte der kleine Junge. Billy schnaubte verächtlich. Sie sollten ihre Eltern erst nach Schließung des Museums auf der großen Treppe am Ausgang treffen. Und die würde er ohne größere Probleme finden.

Sie gingen durch ein paar verstaubte Räume und kamen, nachdem sie eine enge Treppe hinuntergestiegen waren, in einen langen, düsteren Gang. An den Wänden waren bis hinauf zur Decke Tausende von kleinen, ausgestopften Vögeln aufgereiht, aus deren toten Augen weiße Watte hervorschaute. Der menschenleere Korridor roch nach Mottenkugeln.

»Ich weiß schon, wo wir sind«, sagte Billy mit falscher Zuversicht und blickte sich im Dämmerlicht um.

Der Kleine begann leise zu weinen.

»Hör auf!« sagte Billy. Das Geschniefe verstummte.

Der Gang machte einen scharfen Knick und endete in einer dunklen Sackgasse voller verstaubter, leerer Schaukästen. Es gab keine erkennbaren Ausgänge, nur den Weg zurück in den langen Gang voller toter Vögel. Weit entfernt von den anderen sonntäglichen Museumsbesuchern hallten die Schritte der beiden Kinder hohl von den Wänden des Ganges wider. Eine Wand der kurzen Sackgasse bildete ein Paravent aus Holz und Stoff, der nur auf den ersten Blick wie eine massive Mauer aussah. Billy ließ die Hand seines Bruders los und schob den Paravent ein wenig zur Seite.

»Hier war ich schon einmal«, sagte er deutlich überzeugter. »Jetzt ist es versperrt, aber das letzte Mal war es offen. Ich wette, daß wir direkt unter den Dinosauriern sind. Laß mich mal sehen, ob man da irgendwo nach oben kommt.«

»Du darfst da nicht hinein«, warnte sein kleiner Bruder.

»Hör zu, du Dummkopf, ich gehe jetzt. Und du wartest gefälligst auf mich.« Billy verschwand hinter dem Paravent, und ein paar Sekunden später hörte sein Bruder ein Quietschen, als würde eine alte Metalltür geöffnet.

»Hey«, hörte er Billys Stimme. »Da ist eine Wendeltreppe. Sie geht zwar nur nach unten, aber das ist echt cool. Ich schau mal, wo sie hinführt.«

»Billy! Tu das nicht!« schrie der Kleine, vernahm aber anstatt einer Antwort nur das Geräusch sich rasch entfernender Schritte.

Der Kleine fing zu heulen an, und seine schwache Stimme verlor sich in dem düsteren Gang. Nach ein paar Minuten bekam er einen Schluckauf, zog lautstark den Rotz hoch und setzte sich auf den Boden. Er fing an, an der locker gewordenen Gummikappe seines Turnschuhs herumzuzupfen und hatte sie bald ganz abgerissen.

Plötzlich blickte er auf. Die Luft in dem stillen Gang schien zu stehen. Die Lichter in den Schaukästen warfen dunkle Schatten auf den Boden. Irgendwo rumpelte und zischte es in der Klimaanlage. Billy war fort. Vielleicht für immer. Der Kleine fing wieder zu weinen an, diesmal lauter.

Vielleicht sollte er Billy einfach nachgehen. Vielleicht war das ja gar nicht so unheimlich, wie er glaubte. Vielleicht war Billy vorausgegangen und hatte die Eltern gefunden, und jetzt warteten sie alle auf ihn, drüben, auf der anderen Seite. Aber er mußte sich beeilen. Denn bald wurde das Museum geschlossen.

Er stand auf und schlüpfte hinter den Paravent. Der Gang ging auf der anderen Seite weiter und war voller staubiger Schaukästen mit fast vergessenen Ausstellungsstücken. Eine alte Metalltür an einer Wand des Ganges stand einen Spalt weit offen. Der Kleine ging darauf zu und spähte hinein. Er sah den obersten Absatz einer nach unten führenden Wendeltreppe. Hier war es noch staubiger als draußen, und ein seltsamer Geruch ließ ihn die Nase rümpfen. Er wollte nicht auf diese Stufen treten. Aber Billy war irgendwo da unten.

»Billy!« rief der Kleine. »Billy, komm wieder rauf. Bitte!«

Ein Echo aus dem tiefen Treppenhaus war die einzige Antwort. Das Kind schniefte, dann hielt es sich am Treppengeländer fest und stieg langsam hinab in die Finsternis.

4

Montag

Als Margo Green um die Ecke der Zweiundsiebzigsten Straße West ging, schien ihr die frühe Morgensonne voll ins Gesicht. Einen Augenblick lang blickte sie zwinkernd nach unten, dann warf sie ihre braunen Haare in den Nacken und überquerte die Straße. Das New York Museum of Natural History ragte mit seiner riesigen neuromanischen Fassade wie eine Burg vor ihr auf und reckte seine runden Türme und grünen Kupferdächer hoch über den Wipfeln einer Reihe von Gingko-Bäumen in den Himmel.

Margo ging die kopfsteingepflasterte Zufahrt zum Eingang für Mitarbeiter hinunter, vorbei an einer Laderampe und auf den mit Granit verkleideten Tunnel zu, der zu den Innenhöfen des Museums führte. Als sie aus dem Eingang intermittierendes Rotlicht zucken sah, wurde sie langsamer. In dem Innenhof am anderen Ende des Tunnels standen wild durcheinander Kranken- und Streifenwagen und ein Fahrzeug des Katastrophenschutzes.

Margo betrat den Tunnel und ging auf die gläserne Pförtnerloge zu. Normalerweise hockte Curly, der alte Wachmann, zu dieser frühen Stunde noch mit einer schon ganz schwarz gewordenen Calabashpfeife vor seinem dicken Bauch in einem Stuhl und döste. Heute aber stand er hellwach da. »Morgen, Frau Doktor«, sagte er und öffnete die Tür. Curly nannte praktisch jeden »Doktor«, vom Studenten bis hin zum Museumsdirektor, egal, ob sie diesen Titel wirklich trugen.

»Was ist denn hier los?« fragte Margo.

»Ich weiß nicht«, antwortete Curly. »Sie sind erst vor zwei Minuten hier reingefahren. Aber ich schätze, ich sollte heute mal besser Ihren Ausweis kontrollieren.«

Margo wühlte in ihrer Umhängetasche herum und fragte sich, ob sie ihn überhaupt dabei hatte. Seit Monaten hatte hier niemand mehr ihren Museumsausweis verlangt.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn überhaupt eingesteckt habe«, sagte sie und ärgerte sich, daß sie seit dem Winter ihre Tasche nicht mehr ausgeräumt hatte. Ihre Freunde in der Anthropologischen Abteilung hatten sie erst kürzlich im Scherz für die »schlampigste Tasche des Museums« geehrt.

Das Telefon in der Pförtnerloge klingelte, und Curly hob ab. Margo fand ihren Ausweis und hielt ihn ans Fenster, aber Curly beachtete sie nicht, sondern hörte mit weit aufgerissenen Augen zu.

Als er auflegte, sagte er kein Wort, aber der Schreck war ihm sichtlich in die Glieder gefahren.

»Nun?« fragte Margo. »Was ist passiert?«

Curly nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ist besser, wenn Sie das nicht wissen«, sagte er. Das Telefon klingelte abermals. Curly wirbelte herum und nahm den Hörer ab.

Margo hatte den alten Wachmann sich noch nie so schnell bewegen gesehen. Sie zuckte mit den Achseln, steckte den Ausweis wieder in ihre Tasche und ging weiter. Das nächste Kapitel ihrer Dissertation wurde bald fällig, und sie hatte keine Zeit zu verlieren. Die vergangene Woche hatte sie ohnehin abschreiben müssen – da war die Beerdigung ihres Vaters gewesen und all die Formalitäten und Telefongespräche. Sie hatte eine Menge nachzuholen.

Margo schritt über den kopfsteingepflasterten Hof und betrat das Museum durch den Mitarbeitereingang. Dann wandte sie sich nach rechts und eilte einen langen Gang entlang zur Anthropologischen Abteilung. Die Büros der festangestellten Mitarbeiter waren alle noch dunkel, was sie bis neun, halb zehn Uhr normalerweise auch bleiben würden. Als der Korridor einen scharfen Rechtsknick machte, blieb Margo stehen. Quer über den Gang spannte sich gelbes Plastikband, auf dem sie lesen konnte: »POLIZEI VON NEW YORK – TATORT – BETRETEN VERBOTEN«. Jimmy, ein Aufseher, der normalerweise die Halle mit dem peruanischen Gold bewachte, stand zusammen mit Gregory Kawakita, dem jungen stellvertretenden Kurator der Abteilung für Evolutionäre Biologie, vor der Absperrung.

»Was ist denn hier passiert?« fragte Margo.

»Ein Musterbeispiel für die Effizienz dieses Museums«, sagte Kawakita mit einem trockenen Grinsen. »Man hat uns ausgesperrt.«

»Mir haben sie nur gesagt, daß ich niemanden durchlassen darf«, sagte der Wärter nervös.

»Hören Sie, guter Mann«, sagte Kawakita. »Ich muß morgen einen wichtigen Vortrag vor der National Science Foundation halten und habe deshalb einen langen Tag vor mir. Wenn Sie mich jetzt bitte weitergehen lassen würden –«

Jimmy sah aus, als wäre es ihm nicht besonders wohl in seiner Haut. »Ich mache hier nur meinen Job, okay!«

»Na los, kommen Sie«, sagte Margo zu Kawakita. »Lassen Sie uns einen Kaffee trinken. Vielleicht weiß ja jemand von den anderen, was hier gespielt wird.«

»Erst muß ich noch auf die Toilette, falls ich eine finden kann, die noch nicht versiegelt ist«, antwortete Kawakita gereizt. »Ich treffe Sie dann im Aufenthaltsraum.«

 

Die Tür zum Aufenthaltsraum der Angestellten, die sonst immer sperrangelweit offen stand, war heute zu. Mit der Hand am Türknopf fragte sich Margo einen Moment, ob sie wohl auf Kawakita warten sollte. Aber dann öffnete sie entschlossen die Tür. Wenn sie erst mal auf den angewiesen war, dann war schon alles zu spät.

Zwei Polizisten drehten ihr den Rücken zu und unterhielten sich. »Wie oft ist das nun schon passiert? Das sechste Mal?« fragte einer mit einem Kichern.

»Ich habe nicht mitgezählt«, antwortete der andere. »Aber viel von seinem Frühstück dürfte er nicht mehr im Magen haben.« Als die beiden Polizisten zur Seite traten, konnte Margo in den Aufenthaltsraum blicken.

In dem großen, leeren Raum beugte sich jemand an der hinteren Wand über ein Spülbecken. Nach einer Weile richtete der Mann sich auf, wischte sich den Mund ab und drehte sich um. Margo erkannte ihn als Charlie Prine, den Konservator, der bei der Anthropologischen Abteilung einen sechsmonatigen Zeitvertrag bekommen hatte, um Objekte für die neue Ausstellung herzurichten. Sein Gesicht war aschfahl und ausdruckslos.

Einer der Polizisten hob seine Hand in Richtung Margo, mußte sich dann aber um sein Funkgerät kümmern, das auf einmal loskrächzte. Dann sagte er leise etwas zu seinem Kollegen, der Prine sanft in Richtung Tür schob.

Margo trat zur Seite und ließ die Gruppe passieren. Prine ging steif wie ein Roboter. Margo senkte instinktiv den Blick.

Prines Schuhe waren voller Blut.

Er blickte mit leeren Augen auf Margo und bemerkte, wo sie hinstarrte. Dann sah auch er an sich herab und blieb so abrupt stehen, daß der Polizist von hinten auf ihn auflief.

Prines Augen wurden groß und weiß. Er schluchzte und stöhnte in Panik auf, und die Polizisten mußten ihn packen und aus dem Raum schieben.

Margo lehnte sich an die Wand und versuchte, ihr wie rasend schlagendes Herz zu beruhigen, als Kawakita hereinkam, gefolgt von mehreren anderen. »Das halbe Museum ist abgesperrt«, sagte er kopfschüttelnd und goß sich eine Tasse Kaffee ein. »Niemand kommt mehr in sein Büro.«

Als hätte sie nur auf dieses Stichwort gewartet, plärrte die altersschwache Lautsprecheranlage des Museums plötzlich los: »ACHTUNG, ACHTUNG. ALLE ANGESTELLTEN, DIE NICHT VON DER POLIZEI ANDERSWO BENÖTIGT WERDEN, MÖCHTEN BITTE SOFORT IN DEN AUFENTHALTSRAUM KOMMEN.«

Margo und Kawakita setzten sich und sahen zu, wie immer mehr Kollegen in Zweier- oder Dreiergruppen hereinkamen. Hauptsächlich waren es Labortechniker und Assistenzkuratoren ohne festen Vertrag; für die wirklich wichtigen Leute war es noch zu früh. Margo betrachtete sie geistesabwesend. Kawakita sagte etwas, aber sie hörte nicht zu.

Innerhalb von zehn Minuten war der Raum voller Leute. Alle redeten durcheinander und waren wütend, weil sie nicht in ihre Büros durften. Man beschwerte sich, daß niemand irgend etwas erklärte, und lauschte mit schockiertem Gruseln jedem neuen Gerücht, das die Runde machte. Dies hier war mit Abstand das Aufregendste, was seit langem in diesem langweiligen, verstaubten Museum passiert ist.

Kawakita schüttete seinen Kaffee hinunter und verzog das Gesicht. »Was ist, werden Sie nun einen Blick auf das Sediment werfen oder nicht?« fragte er und sah Margo direkt in die Augen. »Was ist los, Margo, sind Sie auf einmal mit Stummheit geschlagen? Seit wir hier sitzen, haben Sie noch kein einziges Wort gesagt.«

Stockend erzählte Margo ihm ihr Erlebnis mit Prine. Kawakita verzog sein gutaussehendes Gesicht. »Mein Gott«, sagte er schließlich, »was meinen Sie wohl, daß passiert ist?«

Weil sein Bariton plötzlich durch den ganzen Raum zu schallen schien, bemerkte Margo, daß sämtliche andere Gespräche in dem Aufenthaltsraum verstummt waren. In der Tür stand ein kräftig gebauter Mann mit Halbglatze. Er trug einen schlechtsitzenden, braunen Anzug, aus dessen Jackettasche ein Handfunkgerät ragte. Zwischen den Zähnen des Mannes, der jetzt, gefolgt von zwei uniformierten Polizisten, langsam zwischen den Tischreihen hindurchschritt, steckte eine unangezündete Zigarre.

Als er vorn angekommen war, baute er sich breitbeinig vor den versammelten Angestellten auf, zog seine Hose hoch, nahm die Zigarre aus dem Mund und bohrte mit der Zunge ein Stückchen Tabak aus den Zähnen. Dann räusperte er sich laut und vernehmlich. »Würden Sie mir bitte für einen Moment Ihre Aufmerksamkeit schenken«, begann er. »Ich fürchte, Sie werden es wohl noch eine Weile mit uns aushalten müssen.«

Von hinten im Raum erhob sich eine vorwurfsvolle Stimme: »Entschuldigen Sie bitte, Mr. – wie war doch Ihr Name?« Margo hob den Kopf und blickte in die Menge. »Das ist Freed«, flüsterte Kawakita ihr zu. Margo hatte schon von Frank Freed, dem leicht reizbaren Kurator der fischkundlichen Abteilung, gehört.

Der Mann im braunen Anzug sah Freed an. »Ich bin Lieutenant D’Agosta«, bellte er. »Von der New Yorker Polizei.«

Diese Antwort hätte wohl viele andere zum Verstummen gebracht, aber Freed, ein ausgezehrter Mann mit langen, grauen Haaren, zeigte sich unbeeindruckt. »Vielleicht«, sagte er mit sarkastischem Unterton, »hätten Sie die Güte, uns darüber aufzuklären, was hier eigentlich vor sich geht? Ich denke, wir haben ein Recht, zu erfahren –«

»Ich würde Sie ja gerne über alles informieren«, schnitt D’Agosta ihm das Wort ab, »aber momentan weiß ich selbst nicht mehr, als daß hier im Gebäude eine Leiche gefunden wurde, deren nähere Todesumstände wir gegenwärtig ermitteln. Wenn –«

Alle Anwesenden redeten plötzlich wild durcheinander. D’Agosta hob müde die Hand.

»Ich kann Ihnen nur sagen, daß die Mordkommission im Haus ist und daß die Untersuchungen laufen«, fuhr er mit lauter Stimme fort. »Ab sofort ist das Museum geschlossen. Momentan darf es niemand betreten und auch niemand verlassen. Wir hoffen, daß es sich hierbei nur um eine vorübergehende Maßnahme handeln wird.«

D’Agosta machte eine Pause. »Wenn es sich wirklich um einen Mord handeln sollte, dann gibt es die Möglichkeit – die Möglichkeit, habe ich gesagt –, daß sich der Täter noch immer im Gebäude aufhält. Wir möchten Sie lediglich bitten, eine oder zwei Stunden hierzubleiben, bis wir alles durchsucht haben. Ein Beamter wird später Ihre Personalien aufnehmen.«

In der verblüfften Stille, die dieser Ansprache folgte, verließ D’Agosta den Raum und schloß die Tür hinter sich. Einer der zurückgebliebenen Polizisten holte sich einen Stuhl und setzte sich demonstrativ vor die Tür. Langsam wurden die Gespräche wieder aufgenommen. »Soll das heißen, daß wir hier eingesperrt sind?« rief Freed. »Das ist ja ungeheuerlich.«

»Du meine Güte«, hauchte Margo. »Meinen Sie, daß Prine der Mörder ist?«

»Schrecklich, nicht wahr?« sagte Kawakita. Er stand auf und ging hinüber zu der Kaffeemaschine, wo er sich mit einer energischen Handbewegung die letzten Tropfen aus der Kanne einschenkte. »Aber nicht mal halb so schrecklich wie die Vorstellung, daß ich morgen womöglich unvorbereitet meinen Vortrag halten muß.«

Margo wußte, daß junge Überflieger wie Kawakita niemals wirklich unvorbereitet waren.

»Ein gutes Image ist heutzutage einfach alles«, fuhr Kawakita fort. »Mit Wissenschaft allein läßt sich so gut wie kein Forschungsauftrag mehr an Land ziehen.«

Margo nickte mechanisch. Sie hörte Kawakita, hörte das Gemurmel der vielen Stimmen um sie herum, aber nichts von alledem schien ihr wichtig. Sie mußte ständig an das Blut auf Prines Schuhen denken.

5

»Alle mal herhören«, sagte der Polizist eine Stunde später. »Sie können jetzt gehen. Aber halten Sie sich von den Bereichen fern, die mit einem gelben Band gekennzeichnet sind.«

Als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte, hob Margo mit einem Ruck den Kopf. Vor ihr stand Bill Smithback, groß und schlaksig, und hielt zwei spiralgebundene Notizbücher in der anderen Hand. Wie immer sahen seine braunen Haare so aus, als wäre er eben erst aus dem Bett gestiegen. Hinter ein Ohr hatte er einen abgekauten Bleistiftstummel geklemmt, der Kragen seines Hemdes stand offen, und der Knoten seiner schlampig gebundenen Krawatte hing auf Halbmast. Er war die perfekte Karikatur eines hart arbeitenden Journalisten, und Margo hatte den Eindruck, als pflege er dieses Aussehen auch noch bewußt. Smithback sollte im Rahmen der anstehenden Hundertjahrfeier ein Buch über das Museum schreiben, unter besonderer Berücksichtigung der Ausstellung zum Thema »Aberglaube«, die nächste Woche eröffnet werden sollte.

»Geheimnisvolle Dinge tun sich im Naturhistorischen Museum«, murmelte Smithback düster in Margos Ohr und ließ sich in einen Stuhl neben dem ihren sinken. Er knallte seine Notizbücher auf den Tisch, aus deren Seiten sich eine Flut von handbeschriebenem Papier, Computerdisketten ohne Etikett und fotokopierte Artikel, bei denen er mit gelbem Leuchtmarker bestimmte Stellen angestrichen hatte, auf die Resopalplatte ergoß.

»Hallo Kawakita!« sagte Smithback jovial und klopfte dem Wissenschaftler auf die Schulter. »Haben Sie vielleicht in letzter Zeit irgendwelche Tiger hier durch die Gänge schleichen sehen?«

»Nur Papiertiger«, antwortete Kawakita trocken.

Smithback wandte sich wieder an Margo. »Sie haben ja sicherlich von der Sache gehört. Ganz schön blutrünstige Geschichte, was?«

»Uns haben sie überhaupt nichts gesagt«, entgegnete Margo. »Lediglich, daß irgend jemand umgebracht wurde. Vermutlich war Prine der Täter.«

Smithback lachte. »Charlie Prine? Der Bursche kann doch nicht einmal einen Sechserpack Bier killen, von einem Menschen ganz zu schweigen. Nein, Prine hat nur die Leiche entdeckt. Oder, wie ich besser sagen sollte, die Leichen.«

»Die was? Wovon reden Sie überhaupt?«

Smithback seufzte. »Wissen Sie denn wirklich nichts? Ich habe eigentlich gehofft, Sie hätten irgendwas gehört, wo Sie doch schon seit Stunden hier sitzen.« Er sprang auf und ging hinüber zur Kaffeemaschine. Er kippte und schüttelte die Kanne und kam dann fluchend ohne Kaffee zurück. »Sie haben die Frau des Direktors ausgestopft in einem Schaukasten in der Affenhalle entdeckt«, sagte er, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. »Sie steht dort schon seit zwanzig Jahren, aber bisher hat es niemand bemerkt.«

»Nun rücken Sie schon endlich mit der wirklichen Geschichte raus, Smithback«, stöhnte Margo.

»Okay, okay«, seufzte er. »Gegen halb acht Uhr heute früh wurden im alten Keller die Leichen von zwei kleinen Jungen gefunden.«

Margo hielt sich die Hände vor den Mund.

»Wie haben Sie das erfahren?« wollte Kawakita wissen.

»Während Sie beide hier auf Ihren vier Buchstaben herumsaßen, standen sich normalsterbliche Leute da draußen auf der Straße die Beine in den Bauch«, fuhr Smithback fort. »Man hat uns einfach die Tore vor der Nase zugemacht. Auch die Presse war da draußen, und zwar in ziemlich großer Anzahl. Man sagt, daß Wright um zehn Uhr in der Großen Rotunde eine Pressekonferenz geben und zu den ganzen Zoogeschichten, die man sich mittlerweile erzählt, Stellung nehmen wird. Wir haben noch zehn Minuten.«

»Was für Zoogeschichten?« fragte Margo.

»Dieses Museum hier soll der Zoo sein. Ganz schön wilde Storys sind da im Umlauf.« Smithback gefiel es sichtlich, seine Informationen nur Stück für Stück preiszugeben. »Es scheint so, als wären die Leichen ziemlich bestialisch zugerichtet worden. Und Sie kennen ja die Presse, die mutmaßt doch schon seit längerem, daß ihr in eurem Museum irgendwelche wilden Tiere haltet.«

»Ihnen scheint die Sache ja direkt Spaß zu machen«, sagte Kawakita mit einem Lächeln.

»Warum nicht? Eine solche Geschichte verleiht meinem Buch doch gleich eine ganz andere Dimension«, fuhr Smithback fort. »Der schockierende Bericht über die grausamen Museumsmorde. Von William Smithback Junior. Wilde, menschenfressende Tiere streifen des nachts durch die verlassenen Korridore. So was hat das Zeug zum Bestseller.«

»Das ist nicht lustig«, fauchte Margo, die daran denken mußte, daß Prines Labor sich nicht weit entfernt von ihrem eigenen Büro im Keller des alten Gebäudes befand.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Smithback beschwichtigend. »Natürlich ist die Sache furchtbar schrecklich. Die armen Kinder! Allerdings weiß ich noch immer nicht so ganz, ob ich die Geschichte wirklich glauben soll. Vielleicht ist sie ja auch bloß ein Werbetrick von Cuthbert, um der Ausstellung zu mehr Publicity zu verhelfen.« Er seufzte, bevor er schuldbewußt das Thema wechselte. »Hey, Margo – das mit Ihrem Vater hat mir wirklich leid getan. Ich wollte Ihnen eigentlich schon früher mein Beileid aussprechen.«

»Danke.« In Margos Lächeln lag wenig Wärme.

»Hört zu, ihr zwei«, sagte Kawakita. »Ich muß jetzt wirklich –«

»Ich habe gehört, daß Sie daran gedacht haben, mit Ihrer Arbeit hier aufzuhören«, sagte Smithback, noch immer an Margo gewandt. »Daß Sie vorhätten, Ihre Dissertation abzubrechen und in der Firma Ihres Vaters zu arbeiten, so ’n Zeug eben.« Er sah sie neugierig an. »Stimmt das? Ich dachte, Ihre Forschungen seien nun endlich an einem Punkt angelangt, wo sie wirklich Ergebnisse bringen.«

»Nun«, sagte Margo. »Die Antwort lautet ja und nein. Die Dissertation schleppt sich momentan ein wenig dahin. Heute habe ich meinen wöchentlichen Elf-Uhr-Termin bei Frock. Vermutlich wird er ihn wie üblich verpassen und dann irgendwann ansetzen, besonders heute, wo diese Tragödie passiert ist. Aber ich hoffe, daß ich ihn zu Gesicht bekommen werde. Ich bin nämlich bei der Art, wie die Kiribitu ihre Heilpflanzen klassifizierten, auf eine interessante Entdeckung gestoßen.«

Margo bemerkte, daß Smithbacks Augen bereits begonnen hatten, durch den Raum zu schweifen, und sie mußte wieder einmal erkennen, daß die meisten Menschen sich nicht sonderlich für Pflanzengenetik und primitive Arzneimittelkunde interessierten. »Nun, wie dem auch sei, wir sollten langsam in die Gänge kommen«, sagte sie und stand auf.

»Augenblick!« sagte Smithback und raffte seine Papiere zusammen. »Hätten Sie vielleicht Lust, mit mir zu der Pressekonferenz zu gehen?«

Als sie den Aufenthaltsraum verließen, beschwerte sich Freed noch immer bei jedem, der ihm zuhören wollte. Kawakita, der bereits vor ihnen den Gang entlangtrottete, winkte ihnen über die Schulter zu, bevor er um eine Ecke bog und verschwand.

 

Als Margo und Bill in die Große Rotunde kamen, war die Pressekonferenz bereits in vollem Gange. Reporter umringten Henry Wright, den Direktor des Museums, hielten ihm Mikrofone vors Gesicht und richteten Kameras auf ihn. Ihre Stimmen hallten in dem großen Kuppelbau gespenstisch wider. Neben Wright stand Ippolito, der Sicherheitschef des Museums, und aus einiger Entfernung beobachteten andere Angestellte des Museums und ein paar neugierige Schulklassen die Geschehnisse.

Wright stand sichtlich verärgert im Licht der Halogenscheinwerfer und beantwortete Fragen, die ihm zugerufen wurden. Sein normalerweise makelloser Anzug von einem der feinsten Herrenausstatter war verknittert, und seine schon etwas gelichteten Haare hingen ihm über ein Ohr. Wrights ohnehin blasses Gesicht hatte eine graue Farbe, und seine Augen waren gerötet. »Nein«, sagte der Museumsdirektor, »die Eltern dachten, die Kinder hätten das Museum bereits verlassen. Niemand hat uns vor heute früh verständigt … Nein, wir halten keine lebenden Tiere hier im Museum. Gut, wir haben Mäuse und auch ein paar Schlangen für Forschungszwecke, aber keine Löwen, Tiger oder ähnliches … Ich habe die Leichen nicht gesehen, und ich weiß nichts über die Art der Verstümmelungen, wenn es überhaupt welche gegeben hat … Dazu kann ich nichts sagen, dafür sind andere Leute zuständig. Sie werden sich wohl bis zum Ergebnis der Autopsien gedulden müssen … Ich möchte noch einmal betonen, daß es von der Polizei bisher keinen offiziellen Kommentar gibt … Wenn Sie nicht aufhören, so zu schreien, werde ich keine weiteren Fragen mehr beantworten … Das habe ich bereits vorhin gesagt, wir haben keine wilden Tiere im Museum … nein, auch keine Bären … Namen kann ich Ihnen nicht nennen … Wie sollte ich diese Frage wohl beantworten können? … Die Pressekonferenz ist jetzt vorbei … Ich habe gesagt, die Pressekonferenz ist vorbei … Ja, natürlich arbeiten wir auf allen Gebieten mit der Polizei zusammen … Nein, ich sehe keinen Grund dafür, warum wir die Eröffnung der neuen Ausstellung verschieben sollten. Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, daß die Ausstellung ›Aberglaube‹ pünktlich eröffnet werden wird … Wir haben ausgestopfte Löwen, das ist richtig, aber wenn Sie damit andeuten wollen, daß … Sie wurden vor fünfundsiebzig Jahren in Afrika geschossen, Himmel noch mal! Der Zoo? Wir haben keinerlei Verbindungen zum Zoo … Ich werde Ihnen auf weitere Suggestivfragen dieser Art keine Antwort mehr geben … Könnten die Herren von der Washington Post bitte zu schreien aufhören? … Die Polizei befragt die Wissenschaftler, die die Leichen gefunden haben, aber über den Verlauf dieser Gespräche weiß ich nichts … Nein, ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen, außer, daß wir alles in unserer Macht Stehende tun … Ja, es ist tragisch, natürlich ist es das …«

Die Gruppe der Presseleute löste sich auf und strömte an Wright vorbei in die eigentlichen Räume des Museums.

Als sie fort waren, wandte sich Wright ärgerlich an seinen Sicherheitschef. »Wo, zum Teufel, war denn die Polizei?« hörte Margo ihn fauchen. Als er sich umdrehte, sagte er über die Schulter: »Wenn sie Mrs. Rickman sehen, dann sagen Sie ihr, sie soll sofort in mein Büro kommen.« Mit diesen Worten verließ er die Große Rotunde.

6

Margo begab sich in die dem Publikum nicht mehr zugänglichen Bereiche des Museums, bis sie zu einem Korridor gelangte, der von den Mitarbeitern »Broadway« genannt wurde. Er erstreckte sich über die ganze Länge des Museums – das immerhin vier Blocks einnahm – und war angeblich der längste Gang in ganz New York. An den Wänden standen alte Schränke aus Eichenholz, die alle zehn Meter von einer Tür mit Milchglasscheibe unterbrochen wurden. Auf den meisten Türen standen in goldenen, schwarz umrahmten Lettern die Namen von Kuratoren.

Als Doktorandin hatte man Margo nur einen Schreibtisch aus Metall und ein Bücherregal in einem der Labors unten im Keller zur Verfügung gestellt. Aber immerhin besser als gar nichts, dachte sie, als sie von dem Korridor abbog und eine schmale Eisentreppe hinunterging. Eine ihrer Kolleginnen hatte nur eine winzige, verkratzte Schulbank zwischen zwei riesigen Kühlschränken in der Säugetierabteilung bekommen. Das arme Mädchen konnte sogar im Hochsommer nur im dicken Pullover arbeiten.

Ein Wachmann, der unten an der Treppe postiert war, winkte sie weiter, und Margo betrat einen schwach erleuchteten, tunnelartigen Gang, an dessen beiden Seiten Pferdeskelette in alten Glaskästen standen. Hier war kein gelbes Polizeiband zu sehen.

Im Büro angekommen, stellte Margo ihre Tasche neben den Schreibtisch und setzte sich. Das Labor, in dem sie arbeiten konnte, wurde zu einem großen Teil als Aufbewahrungsraum für Gegenstände aus der Südsee genutzt: Maori-Schilde, Kriegskanus, Blasrohrpfeile und Masken lagerten in grünen Metallregalen und -schränken, die vom Fußboden bis zur Decke reichten. Ein Fünfhundert-Liter-Aquarium, in dem die Abteilung für Verhaltensforschung künstliche Sumpfbedingungen geschaffen hatte, stand auf einem eisernen Gestell unter einer Reihe von Tageslichtlampen. Es war so voller Algen und Wasserpflanzen, daß Margo in dem trüben Wasser nur ab und zu einmal einen Fisch entdeckte.

Neben ihrem Schreibtisch befand sich ein langer Arbeitstisch voller staubiger Masken. Die Restauratorin, die an ihnen arbeitete, war eine griesgrämige junge Frau, die – übellaunig vor sich hinbrütend – höchstens drei Stunden am Tag etwas tat.

Margo kam es so vor, als bräuchte sie pro Maske gute zwei Wochen. Die Sammlung, an der sie arbeitete, umfaßte zwar etwa fünftausend solcher Masken, aber niemanden schien es sonderlich zu stören, daß die Restaurierung bei dem Arbeitstempo, das die gute Frau an den Tag legte, gut und gerne zweihundert Jahre in Anspruch nehmen würde.

Margo schaltete ihr Computerterminal ein und nahm Verbindung mit dem Hauptprogramm auf. Auf dem Bildschirm erschien eine Botschaft aus den Tiefen des Zentralrechners.

HALLO MARGO GREEN@BIOTECH@STF

WILLKOMMEN IM MUSEUMSNETZ

DISTRIBUTED NETWORKING SYSTEM,

VERSION15–5

COPYRIGHT (c) 1989–1994NYMNH

UND CEREBRAL SYSTEMS INC.

CONNECTING AT10:24:06AM27. 03. 94

DRUCKERSERVICE AUF LJ56

 

SIE HABEN KEINE NACHRICHT(EN)

Margo ging in den Textverarbeitungsmodus und holte sich ihre Aufzeichnungen auf den Bildschirm, die sie vor dem Termin bei Dr. Frock noch einmal durchlesen wollte. Während ihrer wöchentlichen Treffen hatte sie häufig den Eindruck, daß ihr Doktorvater mit seinen Gedanken eigentlich ganz woanders war. Deshalb bemühte sich Margo sooft wie möglich, ihn mit neuen Arbeitsergebnissen zu überraschen. Das Problem war, daß sie normalerweise nichts Neues hatte – nur wieder ein paar Artikel mehr, die sie gelesen, analysiert und in den Computer gefüttert hatte; etwas Laborarbeit und vielleicht – vielleicht – drei bis vier neue Seiten für ihre Dissertation. Sie wußte jetzt, warum manche Leute nie mit ihrer Doktorarbeit fertig wurden und bis zum Pensionsalter an von der Regierung unterstützten Projekten herumforschten. Sie taten das, was man in Wissenschaftlerkreisen spöttisch als ABKD bezeichnete: Alles, bloß keine Doktorarbeit.

Als Frock sich vor zwei Jahren bereit erklärt hatte, als ihr Doktorvater zu fungieren, hatte Margo zunächst an ein Versehen geglaubt. Daß Dr. Frock, der Entdecker des Kallisto-Effekts, Inhaber des Cadwalader Lehrstuhls für Statistische Paläontologie an der Columbia University und Chef der Abteilung für Evolutionäre Biologie im Museum, sich ausgerechnet sie als Doktorandin herausgesucht hatte, war eine Ehre, die nur sehr wenigen zuteil wurde.

Frock hatte seine wissenschaftliche Karriere als Anthropologe begonnen. Obwohl er wegen einer Kinderlähmung seit seiner frühen Jugend im Rollstuhl saß, hatte er aufsehenerregende Feldforschung betrieben, die noch heute Grundlage vieler Lehrbücher war. Nachdem mehrere schwere Malariaerkrankungen ihm die Arbeit in der Feldforschung unmöglich gemacht hatten, hatte Frock sich mit seiner ungeheuren Energie auf die Evolutionstheorie verlegt. Mitte der achtziger Jahre war er dann mit einer radikal neuen Sichtweise an die Öffentlichkeit getreten, die stürmische Kontroversen unter seinen Kollegen ausgelöst hatte.

In seiner Hypothese, die die Chaosforschung und Darwins Evolutionslehre miteinander kombinierte, stellte Frock die allgemein gebräuchliche Annahme in Frage, nach der sich das Leben langsam und stetig entwickelt habe. Statt dessen behauptete er, die Entwicklung sei bisweilen geradezu sprunghaft fortgeschritten und habe dabei ab und zu kurzlebige Aberrationen – sogenannte »Monster-Spezies« – hervorgebracht. Nicht immer, so argumentierte Frock, sei die Evolution anhand von Selektion nach dem Zufallsprinzip fortgeschritten, sondern gewisse Umwelteinflüsse hätten bisweilen plötzliche, groteske Veränderungen und Aberrationen bei einer Spezies bewirkt.

Obwohl Frock seine Theorie mit einer Serie von brillant geschriebenen Artikeln und anderen Veröffentlichungen untermauerte, blieb ein Großteil der wissenschaftlichen Welt seiner Hypothese gegenüber skeptisch. Wenn es wirklich solche bizarren Lebensformen geben sollte, so argumentierten seine Kollegen, warum bekam man sie dann nicht zu Gesicht? Frocks Antwort darauf war, daß diese Aberrationen als sprunghafte Weiterentwicklungen der Evolution auch relativ kurzlebig sein dürften, da bei ihnen eine Generation rasch auf die andere folgte.

Nachdem immer mehr Experten Frock als fehlgeleitet, ja sogar als verrückt bezeichnet hatten, hatte sich die Boulevardpresse mit viel Enthusiasmus seiner Idee angenommen. Seine Theorie war bald als »Kallisto-Effekt« bezeichnet worden, nach dem griechischen Mythos von der Jagdgefährtin der Artemis, die von der zürnenden Göttin Hera in ein wildes Tier verwandelt worden war. Obwohl Frock die weitverbreiteten Mißinterpretationen seiner Idee nicht gefielen, verwendete er die daraus resultierende Berühmtheit geschickt für die Förderung seiner akademischen Arbeit. Wie viele brillante Kuratoren kannte Frock nichts anderes als seine Forschungen, so daß Margo manchmal den Eindruck hatte, alles andere, inklusive ihrer Arbeit, würde ihn maßlos langweilen.

Die Restauratorin am anderen Ende des Raumes stand auf und ging ohne ein Wort zum Mittagessen, was ein sicheres Zeichen dafür war, daß es langsam auf elf Uhr zuging. Margo notierte rasch ein paar Sätze auf ein Blatt Papier und legte es in ihr Notizbuch. Sie hatte ein paar neue Informationen über die Pflanzenklassifikation der Kiribitu, die vielleicht Frocks Interesse wecken könnten.

Dr. Frocks Büro befand sich am Ende eines eleganten Korridors aus der Zeit der Jahrhundertwende im Südwestturm des Gebäudes und kam Margo immer wie eine Art Oase vor, weit weg von den Labors, Computern und Aufzügen, die sonst den der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Teil des Museums dominierten. Auf der schweren Eichentür des inneren Büros stand einfach »Dr. Frock«.

Margo klopfte an.

Sie hörte, wie sich jemand ausgiebig räusperte und das dumpfe Geräusch eines fahrenden Rollstuhls. Die Tür öffnete sich langsam, und das ihr vertraute rötliche Gesicht hob erstaunt die buschigen Augenbrauen. Dann hellte sich Dr. Frocks Miene plötzlich auf.

»Ach, natürlich. Heute ist ja Montag. Kommen Sie rein«, sagte er mit leiser Stimme, drückte mit seiner etwas plumpen Hand die von Margo und wies sie zu einem mit Gegenständen beladenen Stuhl. Frock trug wie üblich einen dunklen Anzug und eine auffällige Krawatte mit Paisley-Muster. Sein dichter, weißer Haarschopf sah zerzaust aus.

Die Wände von Dr. Frocks Büro nahmen alte Bücherschränke mit Glastüren ein, in denen sich Fossilien und andere Seltsamkeiten aus seinen frühen Jahren der Feldforschung befanden. Neben der Tür waren Bücher in hohen, gefährlich windschiefen Türmen aufgestapelt. Zwei große Bogenfenster führten hinaus auf den Hudson River. Auf dem verblichenen Perserteppich standen viktorianische Polsterstühle, und auf Dr. Frocks Schreibtisch lagen mehrere Exemplare seines Buchs Die fraktale Evolution.

Daneben sah Margo ein großes Stück grauen Sandsteins, auf dessen Oberfläche sich eine tiefe Einbuchtung befand, die an einer Seite seltsam länglich ausfranste. Auf der anderen Seite der Einbuchtung befanden sich drei weitere große Kerben. Frock behauptete, dies sei der fossile Fußabdruck einer der Wissenschaft bisher unbekannten Kreatur: Der einzige greifbare Beweis, der seine Theorie von einer Evolution auf Abwegen untermauerte. Die Meinungen anderer Wissenschaftler über den Stein gingen weit auseinander: Manche glaubten, daß es sich dabei nicht um eine Versteinerung handelte und nannten ihn »Frocks Hirngespinst«. Die meisten von ihnen hatten ihn allerdings noch nie mit eigenen Augen gesehen.

»Tun Sie das Zeug da irgendwohin und setzen Sie sich«, sagte Frock und fuhr mit seinem Rollstuhl an seinen Lieblingsplatz vor einem der Bogenfenster. »Einen Sherry? Nein, natürlich, Sie trinken ja nie einen. Wie dumm von mir, daß ich das vergessen habe.«

Auf dem Stuhl lagen mehrere alte Exemplare der Zeitschrift Nature und das getippte Manuskript eines noch nicht ganz fertigen Artikels mit dem Titel Stammesgeschichtliche Transformationen des Tertiären Hirschgeweihfarns. Margo legte alles auf einen Tisch in der Nähe und fragte sich, während sie Platz nahm, ob Dr. Frock ihr gegenüber wohl den Tod der beiden kleinen Jungen erwähnen würde.

Frock sah sie einen Augenblick lang nachdenklich an. Dann zwinkerte er und seufzte: »Nun, Miß Green«, sagte er, »wollen wir anfangen?«

Etwas enttäuscht schlug Margo ihr Notizbuch auf. Einen Moment lang überflog sie ihre Aufzeichnungen, bevor sie Frock ihre Analyse der Pflanzenspezifikation der Kiribitu vortrug und erklärte, wie sie diese im nächsten Kapitel ihrer Dissertation verwenden wollte. Während sie sprach, sank Dr. Frocks Kopf langsam mit geschlossenen Augen auf seine Brust. Ein Fremder hätte vielleicht vermutet, Frock sei eingeschlafen, aber Margo wußte, daß er mit höchster Konzentration zuhörte.