Religion ohne Religionen - Adrian Naef - E-Book

Religion ohne Religionen E-Book

Adrian Naef

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Beschreibung

Daran kann auch Papst Franziskus, der Papst der Reformen, nichts ändern: Das Christentum wird wie alle Weltreligionen abtreten. Warum? Das Inventar der alten Religionen ist für den modernen Menschen nicht mehr nachvollziehbar, auch wenn es für die menschliche Seele keine neuen Themen gibt.

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Über dieses Buch

Daran kann auch Papst Franziskus, der Papst der Reformen, nichts ändern: Das Christentum wird wie alle Weltreligionen abtreten. Warum? Das Inventar der alten Religionen ist für den modernen Menschen nicht mehr nachvollziehbar, auch wenn es für die menschliche Seele keine neuen Themen gibt.

Der Autor

Adrian Naef war geboren 1948 in Wallisellen (Schweiz), lebt in Zürich. Nach dem Studium der Ökonomie arbeitete er in der Jugend- und Erwachsenenbildung, als Religionslehrer, Journalist, Musiker und Schauspieler, als Körpertherapeut, Spitalpädagoge und Bildredakteur.

Adrian Naef Religion ohne Religionen

Essays über das, was wir hinter uns lassenund über das, was wir mitnehmen wollen

Herausgegeben von Bernd Zocher

Elster Verlag · Zürich

Inhalt

Einleitung

I. Wo es herkommt

Ewige Verdammnis oder himmliche Befreiung

Die Weltsicht des Wissenden

Warum wir glauben

Religiosität

Rituale

Religion gegen die aktuellen Gefahren der Welt

Das Ritual und sein Sinn

Die zwanzig Empfehlungen des Dalai Lama beim Übertritt ins dritte Jahrtausend

II. Die Bibel und ihre Bilder

Mein Gott

Kein Gott

Kein Gottesbeweis

Bibel: Die Sieger schreiben die Geschichte

Altes Testament: Auf so etwas beruft man sich

Die Apokryphen, das sind die Aussortierten …

Über die archaischen Grenzen der Religionen

Nachweis der Religiosität

Überholtheit der Religionen

III. Das Bodenpersonal des Herrn

Christus würde aus der Kirche geworfen

Adam – von der Evolution entlassen

Eva – Gott war einmal eine Frau

Kain und Abel oder: Immer sind die Sieger die Guten

Rahel oder: Was für dich gut ist, weiß nur deine Seele

Josef und seine Brüder – der erste Wirtschaftskrimi

Apostel – nichts für Frauen

Hatte Jeses eine Amour fou mit Maria Magdalena?

Franziskus von Assisi: Wo fängt das Tier an?

Durch Intrigen zu Gott

Pfarrer – ein übles Konstrukt

Babel oder: die CEOs in den heutigen Wolkentürmen

Jerusalem oder: Die Stunde schlägt bald zwölf

IV. Christlicher Macht und ihr Verfall

Kreuz – das lukrative Rezept des Boulevards

Mission – Antworten, die nach Fragen suchen

Die Macht des Gestus – der Gestus der Macht

Kathedralen – ein Eindruck von Größe

Wo hängt ein Toulouse-Lautrec in der Kirche?

Kloster – Mehr brauchte es nicht

Rituale sind am Ende noch das Einzige, das trägt

Theologie – to big to fail?

Man kann es nicht reparieren

Jüngstes Gericht – Gott straft sofort

Reformation – Calvin träfe der Schlag

V. Die Seele und falscher Segen

Vom Wirken der Seele

Falscher Segen – Kinder, die Eltern belehren

VI. Glauben kontra Staunen

Vom Glauben

Vom Glauben II

Von der Hoffnung

Hoffnung und Wille

Vom Staunen

Beten – Appell an das Unbewusste

Rituale des Opferns

Was ist mit Barmherzigkeit?

Demut – eine ungeliebte Tugend

Mitgefühl contra Mitleid

Pilgern – auch mal weg?

VII. Vom Heiligen und Teuflischen

Was ist schon heilig?

Keine Ökumene

Der kirchliche Glaube

Aberglaube

Das Übernatürliche in den Religionen

Luzifer – who the hell is Lucifer?

VIII. Schuld und Sühne

Erbsünde und Schuldhaftigkeit

Der Fluch – Wie Menschen zu Fröschen werden

Opfer

Über die Sünde

Der Teufel – wir hatten ihn schon mal

IX. Wohin mit den Religionen?

Religionen und Ökumene

Kulturelle Synthese

Ist Philosophie eine Alternative?

Psychologie zur Sinnfrage

Fallen die Feste, wie wir sie feiern – als Ritual?

Über Agnostiker

Toleranz ist kein religiöser Begriff

Versöhnung oder: von Ohrfeigen

Impressum

Ich sträube mich sogar gegen Wahrscheinliches … Unsere Religion ist geschaffen, die Laster auszurotten; doch sie beschirmt sie, zieht sie groß, und spornt sie an. Montaigne

Vorwort des Herausgebers

Das Thema hat ihn umgetrieben: Seit Jahren schon beschäftigt sich Adrian Naef mit den institutionalisierten Religionen. Und seit Jahren ist er sich darüber im Klaren, dass die dem Menschen innewohnende Fähigkeit zur Religiosität und zum mystischen Erfassen ganz sicher nicht an einen personalen Gott gebunden ist, an einen Herrn im Himmel mit langem Bart und Schlüssel zum Himmelstor am Bund.

Nun ist es nicht seine Sache, in der Auseinandersetzung darum ein nach wissenschaftlichen Kriterien geschlossenes Werk zu liefern. Eigentlich geht es ja um das Leben, um die Zufriedenheit des Menschen, um das kontemplative Versenken, um das Staunen über die Schöpfung und über das Staunen über das Universum, ohne dass dazu wieder große Theoriegebäude aufgehäuft werden müssen.

Der vorliegende Band macht den Versuch, verschiedene Essays von Adrian Naef thematisch zu bündeln – soweit das überhaupt möglich ist.

Er ist der Vorgriff auf ein noch umfangreicheres Buch, dass alle bisher von Naef geschriebenen Texte zu Religion und Religionen wiedergibt.

Aber auch hier gilt der Ratschlag für die Lesenden: Es besteht keine wirklich inhaltliche Notwendigkeit, sich mit den Inhalten linear zu beschäftigen. Es ist ausreichend, an einer beliebigen Stelle anzufangen und sich mit irgendeinem Thema zu beschäftigen. Das Inhaltverzeichnis soll eine Hilfe sein, sich zu orientieren.

Deutlich werden sollte auch, dass in den Texten eine ganz wichtige Sache zum Tragen kommt: Religion meint die Denkfähigkeit des Menschen und seine Fähigkeit zum mystischen Empfinden; Religionen sind jene erstarrten Institutionen, die das menschliche Leben und den individuellen Geist mit ihrer organisierten Struktur einzuengen versuchen. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei vor allem auf die christlichen Institutionen eingegangen wird, denn sie haben in den letzten Jahrhundert Mitteleuropa mitgeprägt.

Zürich, im Dezember 2014Bernd Zocher

Einleitung

Wir befinden uns möglicherweise im größten Umbruch der letzten zwei Jahrhunderte. Es könnte auch der größte Umbruch aller Zeiten sein; wer kann das wissen? Und weil wir mitten in ihm umgetrieben werden, merken wir ihn nicht einmal – so wenig, wie ein Fisch das Wasser wahrnimmt, in dem er schwimmt. Oder so wenig, wie die Menschen zu Gutenbergs Zeiten wissen konnten, was diese Handwerker in den «Garagen» ihrer Zeit gerade anstießen, als sie aus den Pressen der Weinbauern Druckerpressen entwickelten und das Wissen explodierte. Heute zeigen neue biologische, medizinische und technische Möglichkeiten, weitergetragen von einem Kommunikationsnetz fast in Lichtgeschwindigkeit, Perspektiven, die unsere bisherigen Gesellschafts- und Generationenverträge umpflügen werden wie nie zuvor. Es sind nicht allein die Umwälzungen, die das zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat« es ist vor allem der Eintritt der Gesellschaften in die globalisierte Gesellschaft.

Beängstigend ist nicht das Neue, sondern das Tempo, das wir uns zumuten und das uns immunisiert gegen Ungeheuerlichkeiten wie das Ausspionieren unserer Privatsphäre bis in die Schlafzimmer hinein. Werden wir es schaffen? Wird der Weltmeister der Anpassung – der Mensch – es schaffen, die Turbulenzen der Reibung zwischen dem Althergebrachten und dem Neuen, den Ethnien und Klassengegensätzen, den Naturkräften und den Betonmischern, zu verkraften?

Das Gut-böse-Denken und das Links-rechts-Schema der politischen Debatten erscheinen vor diesem Hintergrund geradezu vernachlässigbar. Neue Positionen werden bereits schüchtern bezogen. Wo sich früher Parteien nach klassischen ideologischen Mustern des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts organisierten, haben heute kulturelle und soziale Bewegungen in lockeren Verbindungen Zulauf

– die «Piraten» in den mittel- und osteuropäischen Ländern sind, trotz ihrer Wahldebakel und ihres Niedergangs, ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sich neue geistige Bewegungen schnell formieren: Sie tauchen auf und verschwinden vielleicht auch wieder, doch die durch sie verkörperte soziale Kraft kann sich ebenso schnell wieder neu organisieren und veränderte soziale Gruppierungen bilden. Sie organisieren sich nicht mehr nach den Mustern der klassischen Soziologie, also nach produktionsorientierten Schichten (aus der Bauernschaft, der Arbeiterklasse oder den herkömmlichen Mittelschichten), sondern mit ihren digitalen Hilfsmitteln nach ihren ideologischen Interessenlagen.

Am meisten durchgeschüttelt werden die alten Weltreligionen, auch wenn diese Altherrenbastionen noch heftig verteidigt werden. Gleichwohl ahnen ihre Führer, dass sie ohne radikale Reformen keine Zukunft haben werden. Aber reichen Reformen noch aus? Wie können Häuser renoviert werden, deren Fundamente inzwischen auf Sand gebaut erscheinen, während sie sich früher auf den Felsen verordneter absoluter Glaubensgewissheit abstützen konnten?

Unsere Antwort auf die Herausforderungen dieser Zeit wird vorerst eine politische sein müssen. Gott oder andere Götter haben zwar über Jahrtausende ein moralisches Regelwerk zum Erkennen von Gut und Böse geliefert, und das System hat trotz aller menschlichen, sozialen und militärischen Katastrophen als Kompass für das eigene Verhalten funktioniert. Doch es reicht nicht, «es» gut zu meinen, Freiwilligenarbeit zu leisten, barmherzige Spenden zu geben und zu einem personalen Gott zu beten. Die technischen und medialen Umwälzungen haben alle menschlichen Vorgänge derart beschleunigt, dass gesellschaftliches Fehlverhalten nicht mehr mit moralischen oder religiösen Appellen behoben werden kann. Die Schamlosigkeit verschiedener Medien, die Arroganz arrivierter Forscher, die Zügellosigkeit einiger Wirtschaftskapitäne kann nur politisch in Schranken gewiesen werden.

Früher konnten Kaiser und Könige durch die Drohung der Exkommunikation durch den Papst in die Knie gezwungen werden. Davon ist in der kollektiven Erinnerung nur noch der Spruch vom «Gang nach Canossa» übrig geblieben, jener Buß- und Bittgang des deutschen Königs Heinrich IV. im Jahr 1077. Drei Tage musste der Salier-König im Büßerhemd vor der Burg Canossa stehen, bis ihn Papst Gregor am vierten Tag vom Kirchenbann erlöste. So mächtig war der Glaube, dass er Könige in den Staub drücken konnte.

Doch die Allmacht der zentralen religiösen Autorität ist gebrochen. Der zivilisierende Impuls der großen Religionen, den sie trotz schlimmer Verirrungen allerortenlange Zeit hatten, ist verpufft. Der Verstand muss uns eingeben, dass zum Wohle unserer Kinder und Enkel auch gegen die eigenen kurzfristigen Interessen entschieden werden muss.

Heute ist der Wille nach Wachstum mit allen Mitteln zur Religion geworden, neben vielen anderen Ersatzreligionen, die auch nichts taugen. Aber ihr Aufkommen zeigt, dass Glauben auch mit anderen Mythen verbunden sein kann als mit einem einzigen Gott – oder mit mehreren Göttern. Oder auch ganz ohne einen personalen Gott, wie der Buddhismus zeigt.

Wenn islamische Konfessionen aufeinander schießen und es drei christliche Konfessionen seit Jahrhunderten nicht einmal fertigbringen, ein sakrales Abendmahl gemeinsam einzunehmen (so sieht Ökumene aus), ist jede Hoffnung verloren und jede ihrer schönen Behauptungen widerlegt; ihre Oberhoheit über den menschlichen Geist haben sie längst verloren.

Es gibt bislang nur eine Konsequenz: die Orientierunglosigkeit des Menschen in den modernen Dienstleistungs- und Industriegesellschaften. Der Zweifel in die Wirkungsmächtigkeit in die bestehenden Glaubenssysteme frisst den moralischen Kern unserer Gesellschaften an und beeinflusst sogar Männer und Frauen, die in den religiösen Institutionen tätig sind. Sie zweifeln am System der Wissens- und Glaubensvermittlung, aber nicht an Gottes Existenz an sich. Bereits gibt es in der Schweiz eine Pfarrerin, die offen bekennt, dass sie nicht an einen Gott glaubt. Und in England sollen es sogar fünfhundert Geistliche sein.

Das klassische Inventar der monotheistischen Religionen ist in weiten Teilen nicht mehr nachvollziehbar, auch wenn es im Kern keine neuen Themen geben kann auf dem Gebiet, das man gemeinhin «Seele» nennt. Seit dem Entstehen der ersten der drei abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) vor rund dreitausend Jahren ist weder beim Judentum noch ihren Folgereligionen eine wesentliche Anpassung an den Zeitgeist vorgenommen worden. Zwar führte die Reformation zu einer notwendigen, reinigenden Rückwendung an das Wort. Das Wort aber blieb das Gleiche, Gottvater blieb im Himmel und auch der protestantische Teufel durfte weiterhin sein Unwesen treiben. Frauen und Zweifler wurden weiterhin auf die Scheiterhaufen gestellt oder im Zürich des Huldrych Zwingli (1484–1531) in der Limmat ertränkt. Ob der Scheiter von der alten oder neuen Kirche angezündet wurde, das Ertränken von einem Scharfrichter der Neu- oder der Altgläubigen durchgeführt wurde, macht letztlich keinen Unterschied.

Im Glaubensgebäude der jüngsten der Weltreligionen, dem Islam, liegen selbst für Steinigungen noch entschuldigende Glaubenssätze parat. Im Vatikan und nicht nur in Niederbayern werden noch fröhlich Dämonen exorziert. Bisher hat sich der neue Papst Franziskus nicht daran gestoßen, im Gegenteil. Solchen aus barer Trägheit des Geistes und unverzeihlicher Ignoranz erwachsenden Ungeheuerlichkeiten kann nur durch Empörung begegnet werden, ein Begriff, den der französische Essayist Stéphane Hessel (1917–2013) in seinem fulminanten Essay «Empört Euch!» erst kürzlich mit gutem Recht wieder zur Debatte gestellt hat.

Immerhin stamme ich noch aus einer Zeit, als Empörung einiges in Bewegung gebracht hat. Ich werde mich nicht zurückhalten, wo sie mich ergreift, und ich hätte mir nicht die Mühe gemacht, dieses Buch zu schreiben, wenn Enttäuschung und Empörung vor dem Versagen der Kirchen nicht die Triebfeder wäre. Denn nichts hätten wir in Zeiten zunehmender Anonymität nötiger als Räume der Zusammenkunft und des Kennenlernens, wofür Kirchen und Kathedralen mit ihren Glockentürmen zum Zusammerufen der Festgemeinde geradezu bestens geeignet wären …

Aber die einfache, scheinbar auf Vernunft basierende Alternative – der völlige Atheismus – erweist sich auch nicht als Alternative. Vor fünfunddreißig Jahren wunderten sich meine linken Genossen, warum ich mich mit Religion auseinandersetzte. Im real existierenden Sozialismus sei dieses Thema ohnehin vom Tisch. Wie man sich irren kann: Der real existierende Sozialismus hat sich verflüchtigt, nicht aber die christliche Religion. Das ändert nichts daran, dass wir hier das letzte Aufbäumen eines Todkranken beobachten.

Und so dümpeln wir dahin mit unserer unbestreitbaren Sehnsucht nach Halt und Ritualen, suchen Halt bei Ersatzreligionen, die das Zeug zur gleichen Inbrunst nicht haben, oder klammern uns aneinander, dass die Handys rauchen.

Gläubige, die glauben, nun nicht mehr zu glauben, nur weil sie aus der Kirche ausgetreten sind, irren sich gewaltig. Ich kann in fünf Minuten aus der Kirche austreten, aber bis die Kirche aus mir austritt, kann ich lange warten. Sie hat über meine Vorfahren Jahrhunderte Zeit gehabt, sich im menschlichen Leben, im gesellschaftlichen kollektiv zu verankern.

Die neuen Glaubensfragen, der Katholizismus der ästhetischen Apple-Kirche mit ihren Ritualen und dem angebissenen Apfel-Logo, und der nüchtern belehrende und nie mehr verzeihende Protestantismus namens Google plündern fleißig das religiöse Inventar der Alten und zeigen in ihrer Begeisterungsfähigkeit selbst hier Anzeichen unseres unabdingbaren Bedürfnisses nach Religion.

Es brauchte Jahrtausende, um ein geistiges Gebäude zu errichten – gefallen ist es in ein paar Jahrzehnten. Viele Orte im katholischen Glaubensgebiet sind bereits ohne Pfarrer. Die Protestanten haben zwar genügend Hirten, aber zu wenig Schafe. Sie überlegen sich, wie sie ihre überflüssigen Kirchen verscherbeln könnten, als ob diese nicht für wunderbare Zusammenkünfte aller Art zur Verfügung stünden. Beide Kirchen sind finanziell aufgrund automatischer und individueller Steuerzuwendungen und Grundbesitz noch gut dotiert, aber wie lange noch?

Der verrottete Charakter der alten Glaubenssysteme ändert allerdings nichts daran, dass der Übergang in eine menschlichere und ökologischere Zukunft ohne Religion im Sinne eingestandener Religiosität nicht gelingen kann, ja Religion der entscheidende Taktgeber sein wird.

Religion kommt erwiesenermaßen ohne Religionen aus, sie braucht nicht einmal Kirche, geschweige Glauben. Trotz aller Altlasten – es wird von der Religion abhängen, ob wir die Kurve schaffen oder nicht. Denn Demokratie ist gut und recht und muss die konkrete Arbeit tun, aber wie stimmen wir ab, wofür und aus welchen Motiven? Hinter den meisten politischen Entscheidungen lauert der Wille zur Macht, das potenteste Gift auf dem Weg zu mehr Menschlichkeit unter uns Menschen und Völkern. Der Wille zu mehr Menschlichkeit nährt sich aus einer anderen Quelle. So lange sich Menschen nicht verändern, werden sich auch Königreiche nicht verändern, soll jener Revolutionär des Geistes gesagt haben, der nach der Legende in Palästina als Wanderprediger von theokratischen Rabbinern ans römische Kreuz geliefert wurde. «Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland», sagte auch der Schweizer Schriftsteller Jeremias Gotthelf (1797–1854). Um diese Quelle geht es, ums Wasser geht es hier, nicht um die Brunnen mit ihren bunten Fähnchen und Standarten.

Die wohl segensreichste und genialste Frucht philosophischen und politischen Denkens, die Gewaltenteilung, ist eine machtvolle historische Errungenschaft. Die Aufklärer John Locke (1632–1704) und Montesquieu (1689–1755) wendeten sich beispielsweise gegen die Machtkonzentration und die Willkür im Absolutismus. Welche innere Einstellung aber hat die Denker der Aufklärung dazu getrieben, statt das Gute zu wollen, das Böse zu teilen und damit einzuschränken? Die Anliegen der Aufklärer und die Versprechen der Priester lagen nämlich nicht weit auseinander, einige Aufklärer waren sogar tiefreligiös, und nicht alle Priester waren nur konservativ. Selbst der Astronom Nikolaus Kopernikus (1473–1543), der das mittelalterliche Weltbild revolutionierte, indem er nachwies, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, wollte die Kirche nicht widerlegen.

Will heißen: Obgleich der gesellschaftsgestaltende Akt ein politischer sein muss, ist der Impuls dazu seinem Wesen nach ein religiöser, zumindest eine Gewissensfrage, eine Frage der persönlichen Einstellung.

Der Gedanke der Gewaltenteilung geht davon aus, dass der Mensch in der Welt mit maßlosem Eigeninteresse agiert und ein Stück weit auch so agieren muss. Allerding sollten die individuellen Allmachtsfantasien durch ein kluges gesetzgeberisches Regelwerk begrenzt werden. In einer modernen, in verschiedene Gewalten geteilten Gesellschaft sollten die Jurisprudenz die Politiker in Schranken halten, die Parlamentarier die Regierenden und die freie Presse durch Offenlegung von Missbräuchen («Vierte Gewalt») und ihrer Macht der Ächtung und Denunziation alle zusammen.

Aber als Dach über allem figuiert das Transzendente – nicht wie bisher der bloß geglaubte und daher machtlos gewordene personale Gott, sondern die Religiosität aufgrund der Einsicht in das reale Mysterium des Lebens und des Universums, das uns der Sternenhimmel in seiner Wucht und Pracht eröffnet, auch wenn wir nicht verstehen, was sich dahinter verbirgt.

Demokratie hat sich bisher als die beste aller schlechten politischen Systeme erwiesen, ihr Erhalt ist allerdings nicht von Natur aus gegeben, sondern ein Produkt Jahrtausende alten, ständigen Kampfes. Aber der Impuls für den Kampf um größtmögliche Selbstbestimmung, Freiheit genannt, hat neben der rationalen Einsicht um dessen Notwendigkeit auch irrationale, moralische und damit mystische Gründe.

Selbst die in der Logik der Vernunft beheimateten aufklärerischen Regeln sind nichts als moralische Appelle, wünschbares Wollen. Der kategorische Imperativ, mit dem der Philosph Immanuel Kant (1724–1804) das gesellschaftliche Denken revolutioniert hat, ist einfach gesetzt, er leitet sich allein aus dem Bedürfnis nach Menschenwürde ab, die einen tiefreligiösen Ursprung hat. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) wiederum hat das System der organisierten Religiosität als Bestandteil eines gesellschaftlichen Herrschaftssystems durchschaut, und die Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts sind ihm darin gefolgt – um sofort ein neues geistiges System zu errichten.

Doch das geistige Dach über uns allen sollte nicht löchrig sein wie das der Geburtskirche Jesu in Jerusalem, sondern eine stabile geistige Grundlage haben, wie sie unter anderem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 entwirft. Das haben die Religionen natürlich nicht. Zwar verspricht ihr moralisches Regelwerk Glück und Frieden für jeden Menschen – noch nur, wenn man sich Regeln und Hierarchie unterwirft. Aber wir haben keine Wahl. Der Mensch ist mit der Begabung zu Religion geboren; er kann sie nur unterdrücken und zudröhnen, aber sie rumort in seinen Unbewussten, ob er will oder nicht.

Es ist ja auch nicht anders in säkularen Dingen: Was uns den Abstimmungs- und Wahlzettel so und nicht anders ausfüllen lässt, gründet nicht im rationalen Denken. Es ist nicht der Verstand, der uns die Hand führt, es ist auch nicht Jesus oder der personale Gott, es ist unser Unbewusstes, das ohnehin unsere wichtigsten Entscheidungen fällt.

Ein zum Denken fähiger Mensch kann nicht anders als zum Mystischen befähigt zu sein, hat er erst einmal den Kopf zu den Sternen erhoben. Religionen sind das Produkt der Angst vor dem Nichts, Religion ist das Produkt des Staunens vor dem Alles. Da wir ohne Andere nicht überleben könnten und somit Gemeinschaftswesen sind, drängt sich der Ausdruck unserer Religiosität in einer Gemeinschaft auf, auch wenn es allein ginge und geht. Religion ist nun einmal ein Produkt des aufrechten Gangs; wir können dahinter nicht zurück, wie es die Atheisten glauben.

Wer unsere gegebene Spiritualität negieren wollte, müsste vor tausenden Pyramiden, Tempel, Statuen von Ägypten bis zur Osterinsel die Augen verschließen, die schlicht das Größere meinen. Religiosität aber hat mit Gott, Glaube und Kirche erst einmal nicht das Geringste zu tun, vielmehr mit Staunen und Erkennen, auch wenn unsere religiösen Bedürfnisse auf eine organisierende Institution hin tendieren, ob man sie Kirche nennt oder anders. Was erstaunlich wenig bekannt scheint – immer schon gab es Religionen, die ohne dieses nach menschlichen Projektionen gestaltete Inventar auskamen.

Es geht hier um diesen erweiterten religiösen Hintergrund, der Gott im ganzen Universum erkennt und als Begriff somit überflüssig macht – ja sogar seit Anbeginn der Schriften ausdrücklich verboten ist und somit den Ungläubigen zum legitimierten «Bewahrer» ernennt, was die Glaubensverwalter in ihren Ämtern auf den Tod nicht hören wollen, macht es sie doch überflüssig.

Man kann die Geschichte der Religionen auch als reine Kriminalgeschichte sehen, wie es einige Historiker (unter anderem der Religionskritiker Karlheinz Deschner) getan haben. Andere siedeln Gott in den Genen an. Wieder andere glauben an die Nüchternheit des Atheismus. Doch wenn wir die Ausübung unserer religiösen Bedürfnisse nicht selbst an die Hand nehmen, tun es andere gern für uns.

Hatten die Kommunisten der ersten Stunde in ihrer Selbstüberschätzung Religion per Federstrich abgeschafft, kam die Staatsreligion mit Gott Stalin und Himmlischem Kaiser Mao durch die Hintertür wieder herein, mit allen schrecklichen Folgen, die Massenbewegungen mit sich bringen, seien sie politisch oder religiös motiviert. Gemeinschaften über siebzig Personen werden zur Masse, und Masse ist eine gleichgültige Walze, die eigenen Gesetzen gehorcht.

Deshalb sollten wir den Zerfall der Religionen nicht schulterzuckend hinnehmen, sondern sollten unsere Zeit als eine Interimszeit begreifen, in der wir zum Wohle unserer Seele und unserer Kinder im überschaubaren Rahmen unser per se gegebenes religiöses Bedürfnis ausleben, und zwar mit dem noch brauchbaren Inventar der alten Religionen – welche es auch seien – und dem Neuen, das noch niemand deutlich erkennen kann.

In Autobahnkirchen, Bahnhofskirchen und Flughafenkirchen, gedacht für alle Religionen, ist bestimmt der erste Atem einer globalen Ökumene zu orten. Einige «Simultankirchen», also Kirchen beider christlicher Konfessionen, haben sogar seit den Anfängen der Reformation überlebt.

Häufig werden neue religiöse, ungebundene Formen abschätzig als Patchwork-Religion bezeichnet. Aber welche der großen Religionen hat nicht mit Patchwork angefangen und ist ein geistiger Patchwork-Teppich geblieben? Auch die christliche ist eine Melange aus jüdischen, griechischen, römischen und mittelalterlichen Vorstellungen. Ob das neue globale Bewusstsein dereinst eine neue globale Religion hervorbringen wird, steht in den Sternen und ist dort auch gut aufgehoben.

Was aber ist jetzt mit unserer Religiosität in einer Welt, in der sich die beiden jüngsten der Religionen, das Christentum und ungleich heftiger, der Islam, noch Rückzugsgefechte liefern, als gebe es keine wichtigeren Themen als Engel, Paradiese und Jungfrauen? Das Thema des richtigen oder falschen Glauben bleibt offensichtlich weiterhin eine Ursache für Mord und Krieg, immer eng verbunden mit Fragen der Macht und Herrschaft und Unterdrückung.

Religion kommt also so oder so mit in unsere Zukunft, gerade deshalb ist es ist nicht egal, ob wir sie bewusst leben oder unbewusst. Denn Missbrauch an und mit ihr ist nirgendwo schneller zu Hause als im Feld des Religiösen. Auf keinem anderen Gebiet werden Menschen, wenn sie sich nur geschickt hinstellen, mit Ermächtigungen zur Macht geradezu beworfen. Auch beim Religiösen wäre eine Art Gewaltenteilung fällig, die einem selbstgefälligen Priestertum den Riegel vorschiebt. Zu durchschauen wären auch die angeblichen Effekte des Religiösen, die sich – nicht anders als in der Medizin – allein dem profanen Placeboeffekt verdanken. Religion ist auf Wunder nicht angewiesen, Erkennen genügt. Staunende Ergriffenheit fängt von alleine an zu singen.

Damit ist umrissen, um was es hier nicht gehen kann, und um was es hier gehen sollte.

Es wird an dieser Stelle keine weitere Philosophie über das Ende der Religionen entwickelt werden – das haben die vorhin genannten Philosophen bereits ausgiebig getan. Sie haben – jeder auf etwas andere Weise – das Herrschaftssystem der organisierten Religion durchleuchtet und nachgewiesen, dass es für die menschliche Entwicklung nicht brauchbar ist.

Es kann also deshalb nur um die Frage gehen, wie das religiöse Bedürfnis der Menschen in der Zukunft zufriedengestellt werden kann. Dafür mag dieses Buch ein paar Anstöße geben. Mehr will es nicht. Mehr wäre Anmaßung vor der Größe des Themas. Denn das Wesentliche kam schon immer aus dem Unerwarteten heraus. Gottes Wege sind unergründlich, würde ein Gläubiger sagen. Wir beschränken uns also darauf, die Überholtheit der bestehenden Dogmen für unsere Zukunft nachzuweisen und – dies vor allem – über einige Elemente der Spiritualität, die unseren Bedürfnissen entspricht, nachzudenken.

Es liegt in der Natur der Sache, dass Religiositä gleichzeitig auch in gewissem Sinne «vermintes Gelände» ist. Nach meinen drei religionspädagogischen Büchern zur Zeit meiner Tätigkeit als ungläubiger Religionslehrer im Dienste des Schulamtes der Stadt Zürich in den Siebziger- und Achtzigerjahren, weiß ich, wovon ich spreche. Der Vorwurf der «Verletzung religiöser Gefühle» – also ob das möglich wäre und diese durch Angriffe nicht vielmehr gestärkt würden – ist diesem Buch so sicher wie das Amen in der Kirche. Sei‘s drum.

Zürich, im August 2014 Adrian Naef

I. Wo es herkommt

Ewige Verdammnis oder himmliche Befreiung

Fangen wir mit dem Einfachsten an: Das Wort Religion leitet sich aus dem lateinischen Wort relegere ab und bedeutet laut Wikipedia «bedenken», «achtgeben»; ursprünglich sei damit die «gewissenhafte Sorgfalt in der Beachtung von Vorzeichen und Vorschriften» gemeint gewesen. Das kann man sich bei den nüchternen Römern gut vorstellen. Ihren Kern hatten sie in Vegetationskulten der bäuerlischen Gesellschaft.

Damit ist der Begriff geklärt, aber nicht sein Zweck. Regeln und Vorzeichen beachten und einhalten setzen voraus, dass ihre Befolgung Kräfte, die außerhalb des menschlichen Einflusses stehen, das menschliche Leben positiv beeinflussen.

Die Römer hatten Auguren, also Beamte, die aus dem Vogelflug oder dem Geschrei der Vögel schlossen, ob bestimmte Unternehmungen von guten Vorzeichen begleitet waren oder nicht. Der Glaube an außermenschliche Kräfte war offensichtlich bereits in Urzeiten vorhanden, und so hat es seine Folgerichtigkeit, dass mit der Menschwerdung an eine Welt geglaubt wurde, die es nach dem «ersten» Leben geben müsse. Den Toten wurden Essen und ihre Lieblingsaccessoires mit ins Grab gegeben – in Erwartung der Auferstehung oder der Weiterexistenz nach dem Tod; sie sind ein Bestandteil fast aller Religionen.

Durch den Sündenfall des sich selbst bewussten Denkens hat der Mensch Gott das Schöpferwerkzeug entrissen und uns sein «Paradies», die Natur, untertan gemacht. Man könnte es als unsere «Ursünde» bezeichnen. Aber uns ist nicht ganz wohl dabei, so einsam auf unserem Wachtturm über allem, was kreucht und fleucht. Das Allerschlimmste und Treibstoff wie Schlüssel zum Verständnis des Meisten, insbesondere des Religiösen ist, dass wir erkannt haben, dass wir endlich sind. Keine Pflanze, kein Tier scheint der Tod zu kümmern. Der Grund unserer gut versteckten Dauerpanik heißt aber nicht Tod – wer sollte sich kümmern im großen Schlaf –, sondern Angst: Angst vom Leben ausgeschlossen zu sein, auf ewig getrennt von seinen Lieben, von der üppigen Natur, vom gewohnten Alltag, von der Welt, es ist die Angst vor dem Sterben, nicht vor dem Tod. Ausgeschlossen sein, also nicht länger verbunden zu sein, ist uns offensichtlich das Schlimmste, daher Relegio das Naheliegende und die Hinwendung zu Religionen und Ersatzreligionen geradezu logisch.

Ohne Relegio muss ein Sippenwesen früher oder später eingehen. Selbst der einsamste Indianer und Trapper muss ab und zu in die Menschenwelt zurück. Özi, der Gletschertote von Similaun, war nicht einsam; er war unterwegs, vielmehr wurde er verfolgt.

Nach Essen und Trinken und nach sexuellen Bedürfnissen kommt umgehend «die Moral», kommt die Religion. «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein», sagt Jesus Christus (Matthäus 4,17). Wir benötigen Religion – ob mit oder ohne Kirche und Gott. Appetit ist das Korrektiv des Körperlichen, Seele das Korrektiv des Psychischen und Religion ist das zwangsläufige Korrektiv zu unserem Unverständnis der Welt. Sie ist die Vorstellung einer höheren Ordnung, der das Universum zugrunde liegt. Wir haben keine andere Wahl als zu glauben.

Schlimmer als Tod ist der Untod: weder tot noch lebendig, weder auf dieser Welt noch in einer andern, nicht einmal in der Hölle, wo wenigstens geheizt wäre und man immerhin erwartet würde. Untoten werden Minuten zu einer qualvollen Ewigkeit. Ewigkeit ist durchaus eine reale Erfahrung. Denn Zeit ist ein Produkt der Hoffnung und löst sich in Nichts auf, wenn die Hoffnung verschwindet, und das kann uns von einer Sekunde zur andern passieren. «Mein Gott, warum hast du mich verlassen» – jener Satz von Jesus am Kreuz (Markus 15,24), dem alle Zensoren offenbar nichts anhaben konnten, benennt diese Erfahrung in aller Deutlichkeit.

Wenn schon eingetreten ist, was du stets befürchtet hattest – deinen Ausschluss von den Menschen, sogar der Natur, dein Herausfallen aus der Zeit, wie es offenbar auch Hiob passierte –, dann hilft auch Religion nichts mehr. Man kann das Bedürfnis nach Religion von dieser anderen Warte aus nur umso deutlicher wahrnehmen. Was dann aber erkennbar wird, kann man Seele nennen, die Instanz, die uns diese Lektion eingebrockt hat, damit wir umkehren, wie es immer wieder in der Bibel heißt. Dann helfen nur noch Rituale – oder seien es schlicht Gewohnheiten oder nenne man es Struktur.

Rituale sind älter als Religionen, auch Tiere kennen Rituale. Was Hänschen einmal gelernt hat, oder was Hänschen dann befohlen bekommt, wenn er im Loch steckt, trägt als Einziges noch durch die Nacht. Wer in einer schweren Depression Hoffnung und Wille verliert, fällt nicht von Religion ab – auch wenn sie nicht tröstet –, er erkennt nur ihren Sinn im Ganzen deutlicher denn je. Nein, er fällt vom Glauben ab, von den Religionen, denn er fällt aus der Illusion, vor allem aus der Illusion der Zeit. Unser Zeitbegriff ist mit der Hoffnung im Bunde, dass es eine Zukunft gebe.

Der Gefallene hat aber keine Hoffnung mehr, darum fällt er in die real erfahrbare Ewigkeit der Gegenwart. In der Depression erst erkennt man, worauf Glaube gründet und wie trügerisch Glaube ist. Wer noch glaubt, gehört zu denen, die sich durch Handeln ablenken können vor der furchtbaren Wahrheit, dass jeder allein vor der Unendlichkeit steht. Sich umbringen, um die als Ewigkeit empfundene Qual zu beenden, hieße auch noch, handeln zu können. Aber der Untote, der Zombi, kann es nicht mehr, er hat keinen Willen mehr und fühlt sich in alle Ewigkeiten zum Leiden verdammt. Daher der auf Erfahrung mit Angst besetzte Begriff: ewige Verdammnis. (So konnte man sich im angeblich finsteren, aber religiösen Mittelalter nicht vorstellen, jemanden lebenslänglich in eine Zelle wegzusperren, so unmenschlich durfte man doch nicht sein, ihn zum Untoten zu machen, also besser ihn gleich hinrichten …)

Ewige Verdammnis ist das nihilistische Gegenteil zu einer Spiritualität, die sich eingebunden in eine universale Ordnung glaubt. Ewige Verdammnis beruht, wie auch andere Begriffe aus dem religiösen Vokabular, durchaus auf begründetem Wissen.

Unsere schlimmste Ahnung ist berechtigt, Hiob aus dem Alten Testament (Buch Hiob) könnte es bestätigen. Ihm geschieht Unglück über Unglück, und er hat nur sein Gottvertrauen. In unserem Alltag sind deshalb Hiobsnachrichten bad news. Aus Erfahrung in dieser Welt sind wir darum sehr besorgt um wenigstens ein bisschen Struktur und gesellschaftliche Ordnung. Und das ist der unschlagbare Trumpf der Religionen, die spielend ein Machtimperium darauf errichten können.

Einen stärkeren Antrieb für ein lukratives Verwaltungsgebilde als unsere Grundangst gibt es nicht. Der Kirchenlehrer Augustinus (354–430) entwickelte die Grundstimmung der christlichen Religion als «Logik des Schreckens», um darauf seine Heilslehre aufbauen zu können. Die Pilgerstadt Mekka und der Vatikan gründen sich nicht auf einer frohen Botschaft, sondern auf der Furcht. Denn welcher vernünftige Mensch sollte nicht fürchten, allein vor diesem Nichts zu stehen! Und welcher Mensch hat schon die Stärke, ohne ein gewisses Maß an Hoffnung und Erwartung, ohne Drogen, ohne Glauben diese fürchterliche Wahrheit auszuhalten. Religionen existieren in der Angst vor dem Teufel, Diktaturen in der Angst vor dem Geheimdienst, mehr braucht es nicht für eine Logik des Schreckens.

Aber wollen wir hier stehen bleiben? Und gab es nicht immer auch andere Ansätze?

Auch die meisten theologischen Begriffe sind auf die weiße Leinwand des Himmels oder im «Kino» der Hölle projizierte Erfahrungen. Erfahrungen, die die einen Menschen sammeln (freiwillig oder unfreiwillig), machen vielleicht nur paar Momente aus, werden aber manchmal in Sekundenschnelle wieder verdrängt. Andere bleiben so lange im Fegefeuer einer Lebensprüfung, dass sie die Erfahrung des Alleinseins nicht mehr verdrängen und vergessen können. Wieder andere haben Glück, relativ unbekümmert durch die Labyrinthe eines Menschenlebens zu finden, bei anderen schlägt das Schicksal derart fürchterlich zu, dass man man zu Recht sagt, er sei «durch die Hölle gegangen».

Die Weltsicht des Wissenden

Nur wenige Menschen scheinen trotz des ganzen Auf und Ab auf eine überzeugend gelassene Art wenig betroffen zu sein. Sie waren vielleicht «im Fegefeuer» gewesen, hatten ein «Todestal» durchquert, sind «in der Wüste» geprüft worden und werden von vielen als Erleuchtete, Gurus, heiligmäßige Personen wie Jesus, Buddha oder ähnliche Heilsbringer angesehen. Sie kehren zwar hinterher zur Hoffnung und in die Zeit zurück, nicht aber mehr zum Glauben. Ihre Autorität ist fortan auf Erfahrung begründet, nicht Resultat theologischen Spekulierens. Die meisten Theologen spekulieren mit dem Wissen anderer, darum überzeugen sie nicht. Wer weiß, spekuliert nicht mehr. Millionen theologischer Bücher können nicht auf Wissen beruhen, denn Ausufern ist ein Produkt der Illusion Hoffnung.

Der Wissende hingegen lebt in gelassener Hoffnungslosigkeit. Was soll ihm noch passieren können! Eine schöne Anekdote berichtet, man habe den weisen Lao-tse zwingen müssen, seine Weisheit niederzuschreiben; freiwillig hätte er es nicht getan. Über seine vierundachtzig Sprüche, vor rund zweitausendfünfhundert Jahren verfasst, ist bisher nichts an Theologie hinausgegangen. Es ist vor diesem Hintergrund fraglich, ob wir mit dem herkömmlichen Instrumentarium der alten Religionen in dieser Zeit noch zu brauchbaren Erkenntnissen kommen können. Alles ist in Fluss geraten, die Zeichen der Zeit stehen auf Umbruch – wie wollen wir uns darin zurechtfinden, welche Werte sollen weiterhin gelten, welche sollten wir dankend dem Strudel des Verschwindens überlassen?

Gerade vor diesem, zugegeben beängstigenden Hintergrund bleibt letztlich nur eine Schlussfolgerung: Jeder Mensch ist religiös, ob er will oder nicht – nicht aufgrund des Glaubens, sondern aufgrund der Erkennens. Die kalte Großartigkeit dieses Weltenspektakels ist erkennbar, der Sternenhimmel ist eine Realität, keine Glaubenssache; wir sind nicht nicht, die erstaunlichste Tatsache überhaupt und mehr Antwort als Frage. Wenn wir uns umwenden, statt zu fliehen, wenn wir hinsehen, statt zu glauben, wenn wir hindurchgehen, statt bittend niederzuknien, wäre zumindest ein anderer Ansatz angezeigt. Prüfe jeder, was er taugt. Das Alte kennen wir ja, das Inventar der alten Religionen wird uns – wenn auch mit Ablaufdaten – noch lange zur Verfügung stehen.

Babys bringen dieses Staunen vor der schieren Existenz schon mit und würden es behalten, lehrte man sie nicht es zu verlieren, lehrte man sie nicht glauben. Die beste aller Nachrichten heißt nicht: Jesus wird dich erlösen, sondern: Selbst im finstersten Tal, wo man Hoffnung, Glaube und Wille verliert, ist das ewige Gesetz sichtbar, ja dort deutlicher denn je. Wer am Tag nicht religiös wird, der wird es mit Sicherheit in der Nacht. Man sieht sich dem «Gesetz Gottes» ausgeliefert mit Haut und Haar, aber auch inbegriffen mit Haut und Haar.

Vor diesem Gott, dem Gott der gnadenlosen Gesetze, die Hiob niederdrückten aber auch wieder aufsteigen machten, wie keine Menschenhilfe es könnte, gibt es kein Entrinnen. Aber auch kein Entfallen.

Eine frohe Botschaft dieses Kalibers ist allein geeignet, es mit dem Kaliber unserer Grundängste aufzunehmen. Ich maße mir an zu vermuten, dass das Wort Evangelium vormals diese Einfärbung hatte, bevor im vierten Jahrhundert die Verwaltungskirche kam. Ketzer wie Giordano Bruno, Galilei und viele andere bis heute ließen daran nie einen Zweifel.

Warum wir glauben

Religion gründet auf Einsicht in größere Zusammenhänge und dem Bedürfnis, sich in ihnen hinzugeben, so wie sie Menschen in ihrer Zeit erfahrbar ist. Wir wissen intuitiv, dass nur völlige Hingabe igeeignet ist, dieses Leben in Einklang mit dem Entwicklungsgebot der Seele einigermaßen würdig zu durchlaufen. Denn finden wir nicht wirklich den Kontakt zum Ultimativen, bleibt nur Panik, die Quelle von Glauben.

Religionen setzen Grenzen, Religion überwindet Grenzen. Religion ist im Wesen freudig, offen, einladend, verbindend weil ekstatisch auf dem Vulkan und unter dem grenzenlosen Sternenhimmel, der alle Abgrenzungen zwischen Ethnien, Rassen und Geschlechterorientierungen in ein großes Lachen auflöst. Das ist paradoxer Weise gerade jener Religon nicht anzumerken, die sich auf das Evangelium beruft, was «frohe Botschaft» heißt.

Das Klavier ist nicht die Musik. Das Klavier macht Musik nur hörbar. Das Klavier anzubeten ist jedoch einfacher, weil nicht zu übersehen. Der Übergang von Religion zu Religionen ist verständlich, jedoch fatal. Die Angst vor dem Unfassbaren hat noch jedes Mal aus Religion Religionen gemacht, aus Symbol den Fetisch. Kirchen, die Fetische anbieten, statt Fetische verbrennen – wie es doch Moses schon vormachte mit dem Einschmelzen des goldenen Kalbs, das sein Volk umtanzen wollte, ja sogar das Aussprechen eines Namens für das Unnennbar Große verbot – wachsen schneller. Aber es gäbe doch Vorbilder für die «via negativa», für Religion, die nicht ansammelt, sondern ausräumt, damit die Sicht frei bleibt oder erst wird für das Wesentliche: die schiere immaterielle Großartigkeit der Existenz.

Die buddhistischen Mönche Tibets kennen eine überaus vielsagendes Ritual. Sie bilden aus farbigem Sand über Wochen ein wunderschönes Mandala – um es wieder zu verwischen und den Sand in alle Winde zu zerstreuen.

Die Musik ist nicht das Klavier, sie ist immer im Raum, durchdringt den Raum, wie die Gravitation. Echte Musiker machen denn auch nicht Musik, sie machen Musik hörbar. Gute Religionslehrer, wenn es sie den überhaupt braucht, machen Religion erfahrbar, nicht fassbar. Musik ist hörbar gemachtes Gesetz (Naturtöne des Alphorns), Religion glaubensfrei vermittelt, ist fühlbar gemachtes Gesetz. Darum ist Religion immer mit Musik einhergegangen.

Religiosität

Religion wächst mit dem Grad des Bewusstseins für das Ganze, darum kann kein einigermaßen bewusster Erdenbürger sagen, er sei nicht religiös. Ob gewisse Säugetiere bereits religiöse Gefühle entwickeln, ist schwer zu sagen. Zu beobachten ist, dass sie Ansätze zu Ritualen zeigen.

Phantastische Erkenntnisse über unsere Welt und des Universums liegen hinreichend vor, um Religiosität heute frei von dumpfem Götterglauben und groben Sinnestäuschungen zu leben. Religiosität auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist nicht nur möglich und zu wünschen, sondern nach meinem Verständnis ein Gebot der Stunde. Einzig eine Religiosität auf der Höhe der Zeit und der Wissenschaften kann das zerstörerische Potential der technischen Möglichkeiten in Grenzen halten.

Ein Buddhismus, der noch die Erde als Scheibe lehrt, ein Christentum, das noch an Wunder glaubt, ein Islam, der einem Allah die ganze Verantwortung delegiert, ein Judentum, das von Auserwähltheit ausgeht, und eine Esoterik, die sich narzisstisch um sich selbst dreht – sie alle sind nicht nur unfähig, zeitgemäße Antworten auf unsere spirituellen Fragen zu geben, sondern eine echte Gefahr für das Überleben der menschlichen Rasse geworden. Zivilisation kann ohne Religionen leben, aber nicht ohne zeitgemäße Religion, denn so wie wir sind, brauchen wir stimmige Rituale, die den Gefahren der Übergänge in neue Lebensalter oder Zeitalter gewachsen sind.

Rituale

Rituale – und im Zusammenhang mit Religion auch Zeremonien genannt – sind zentral in einem religiös verstandenen Leben. Wo Glaube versagt, geben Rituale noch einen verlässlichen Rahmen vor. Rituale geben Halt, über den Verstand und die flatterhaften Gefühle hinaus. Menschen, die den Verstand oder ihre Gefühle verloren haben (Depression) sind geradezu nur noch mit Ritualen beschäftigt. Kleine und größere Rituale sind der letzte Anker vor der weiten See. Die Kirchen wissen um die Macht der Rituale und Zeremonien. Die katholische Kirche erstickt geradezu in Ritualen. Auch das Abendmahl ist ein Ritual, und hätte die protestantische Konfession nicht zumindest einige Rituale belassen, sie stünde noch einsamer da mit ihrem «Wort».

Rituale feiern die Zugehörigkeit, und niemand kann sie abstreiten, niemand muss sie glauben, sie feiern (bloß) das große Spektakel. Wo Glaube auf Zweifel beruht, beruht das Ritual auf Tatsachen. Das Ritual ist das Pendant zu den Naturgesetzen, und Naturgesetze wie Rituale kennen eine Hierarchie (griechisch: «heilige Ordnung»). Zweifellos sind Initiationen wie die Konfirmation, die Taufe oder auch die Hochzeit gesellschaftlich zur Kenntnis gegebene Einstiege in eine höhere «Verantwortungsklasse». Auch Ausschlüsse haben ihre Dringlichkeitsstufen: der Tadel, die Relegation, das Gerichtsurteil, die Hinrichtung, das Begräbnis, wohl der Ursprung aller Rituale.

Religion gegen die aktuellen Gefahren der Welt

Das Thema Religion für unsere Gegenwart und Zukunft wird unterschätzt. Ökologie und die Abwendung von der Gefahr eines Atomkrieges oder der totalen Beherrschung des Individuums durch Geheimdienste braucht einen neuen Meta-Rahmen, eine «heilige Ordnung» (früher im personalen Gott gesehen, siehe Präambeln der meisten Verfassungstexte).

Die rationale Einsicht in diese Gefahren hat heute schon jedes Kind, sie ist aber kraftlos. Es braucht einen religiösen Rahmen im Sinne von intelligentem Rahmen, der Intellekt, das Unbewusste, die Emotionen und unsere Körperlichkeit im zeitgemässen Ritual zusammenfasst und auf die Waagschale legt. Auf der Ebene der Politik allein ist es nicht zu richten, sie ist Partei. Selbst über der Gewaltenteilung muss eine höhere Gewalt herrschen, nicht Glaube aber Religion.

Heute erleben wir einen Umbruch von nie da gewesener Geschwindigkeit und Dichte. Werden wir den Mut haben, die alten religiösen Konzepte abzuschütteln und neu Formen zu wagen, die dem globalen Verständnis, der Hirnforschung und der atemberaubenden Erkenntnissen der Mikro- und Makrowelten in und um uns entsprechen?

Das Ritual und sein Sinn

Jedoch führt kein Weg am religiösen Ritual vorbei, dem Akt vor dem Gedanken, der Tat vor dem Gespräch, dem Bild vor dem Wort. Die Frage, wie wir das Mysterium leben wollen, geht vor der Frage, wie wir uns das Mysterium erklären. Es bleibt nur die Feier. Nie wird die Zeremonie überboten werden können, das ist der Trumpf der Religionen, namentlich des Katholizismus mit seinem Gold, seinen Gewändern und Weihrauchwolken.

Auch wenn man den Wertekanon der Menschenrechte als neue Religion nehmen wollte (was doch auch denkbar wäre), bleibt offen, wie man Menschenrechte singen und tanzen will.

Und Zeremonien, das ist das Gute, muss man nicht hoffen und glauben, man kann sie zelebrieren nach dem eigenen Bedürfnis nach Ausdruck gegenüber den Fragen des Lebens. Allerdings müssen Rituale mit den Umständen der Zeit übereinstimmen. Das ist der Haken bei den Ritualen der Religionen, denn sie zelebrieren und wissen gar nicht mehr warum. Darum überzeugen ihre Feiern nicht mehr – selbst wenn sie Pfingsten feiern – jenes Fest, an dem der Heilige Geist auf die Apostel niederkommt, der Gründungsakt der Kirche –, glaubt man sich an einer Totenmesse, von Heiligem Geist keine Spur.

Mich hat Religion von klein auf interessiert; ich habe aber bis heute nie mit Lust in einem theologischen Werk gelesen. Mir stand stets das Wozu im Wege: Wozu muss Religion System haben? Wozu braucht Staunen und Begeisterung (im Wortsinne) eine Belehrung? Und wenn ich Bemerkenswertes von Theologen gelesen hatte, waren das stets vielmehr Philosophen, die es nur haarscharf nicht lassen konnten, ihre Sätze aus dem theologischen Schatten ihrer Zeit herauszuhalten, was zu Zeiten der Inquisition auch klug war. Meist hatte das auch familiäre oder persönliche Gründe. Oder sie starben zu früh, als dass sie den Schritt in die größere Denkfreiheit noch hätten wagen können.

Denken und Glauben schließen sich für mich im Wesen aus («Wer will der Verstandeskraft und der Erfindergabe des Menschen Grenzen vorschreiben?» Galilei). Denken muss schweifen, Glauben muss fokussieren. Der Glaubende weiß am Anfang schon, zu welchem Resultat er kommen soll. Darum kann es wohl fortschrittliche Universitäten, jedoch keine fortschrittlichen Religionen geben. Die Erkenntnis des Dalai Lama steht ungeheuer und zukunftsweisend in der geistigen Landschaft: Wenn die Wissenschaft zu Erkenntnissen komme, die der Religion widersprächen, müsse die Religion revidiert werden, nicht die Wissenschaft. Nicht umsonst sagt das ein Buddhist, ein Vertreter einer Religionsgemeinschaft, die zunehmend Zulauf aus dem Westen erhält, weil sie von den alten Weltreligionen noch die liberalste darstellt.

Er hielt auch fest, es sei nicht nötig, vom Christentum zum Buddhismus überzutreten, jeder solle bleiben wo er sei (hat man das schon jemals von einem religiösen Oberhaupt gehört, von Oberhirten, die doch stets an Eintritten von Gläubigen in ihre Machtsphäre interessiert sind?!). Seine zwanzig Empfehlungen fürs dritte Jahrtausend sind frei von jedem archaischen Schwulst. Es geht tatsächlich nicht mehr darum, von einer Religion in die andere zu wechseln.

Die zwanzig Empfehlungen des Dalai Lama beim Übertritt ins dritte Jahrtausend

Beachte, dass große Liebe und großer Erfolg immer mit großem Risiko verbunden sind.

Wenn du verlierst, verliere nie die Lektion.

Habe stets Respekt vor dir selbst, Respekt vor anderen, und übernimm Verantwortung für deine Taten.

Bedenke: Nicht zu bekommen, was man will, ist manchmal ein großer Glücksfall.

Lerne die Regeln, damit du sie richtig brechen kannst.

Lasse niemals einen kleinen Disput eine große Freundschaft zerstören.

Wenn du feststellst, dass du einen Fehler begangen hast, ergreife sofort Maßnahmen, um ihn wieder gut zu machen.

Verbringe jeden Tag einige Zeit allein. Öffne der Veränderung deine Arme, aber verliere dabei deine Werte nicht aus den Augen.

Bedenke, dass Schweigen manchmal die beste Antwort ist.

Lebe ein gutes, ehrbares Leben.

Wenn du älter bist und zurückdenkst, wirst du es noch einmal genießen können.

Eine liebevolle Atmosphäre in deinem Heim ist das Fundament für dein Leben.

In Auseinandersetzungen mit deinen Lieben sprich nur über die aktuelle Situation.

Lasse die Vergangenheit ruhen.

Teile dein Wissen mit anderen. Dies ist eine gute Möglichkeit, Unsterblichkeit zu erlangen.

Gehe sorgsam mit der Erde um.

Begib dich einmal im Jahr an einen Ort, an dem du noch nie gewesen bist.

Bedenke, dass die beste Beziehung die ist, in der jeder Partner den anderen mehr liebt als braucht.

Miss deinen Erfolg daran, was du für ihn aufgeben musstest.

Widme dich der Liebe und dem Kochen mit ganzem Herzen.

II. Die Bibel und ihre Bilder

Mein Gott

Wer nicht glaubt, hat es logischerweise auch nicht mit einem Gott. Denn Gott, wie ihn die Kirchen lehren, den Personalen, Einzigen, den Ansprechbaren, kann man nicht wissen, man muss ihn glauben. Ja, man muss ihn sich täglich frühmorgens und vor dem Schlafengehen in Erinnerung rufen, er würde er sich sonst verflüchtigen wie das «Ich» vor dem Einsinken ins Unbewusste, den Schlaf, sonst wäre nicht er und wäre nicht ich, es wäre weder «Ich» noch «Über-Ich», wie es die Psychologen sagen würden. Gott muss man täglich wieder aufbauen, wie das Ich.

In Klöstern repetieren sie Gott sogar mehrmals auch nachts, damit das künstlich errichtete kollektive Gottes- und Menschenbild, das Oben und Unten nicht falle. Man nennt es Klosterregel.

Man kann sich fragen, was so viel Furcht vor dem friedlichen Einsinken ins ganze natürliche «Stirb und Werde» mit Spiritualität zu tun haben kann. Viele Gläubige verwechseln Angstphantasmen vor den weltlichen Ansprüchen (Sex) und Visionen aus Mangel an Nahrung (Askese, Fasten) mit Spiritualität. Spiritualität aber kann nicht ohne bedingungslose Bejahung der weltlichen Bedingungen des Alltags einher gehen, mögen wir sie für unter oder über der Gürtellinie angesiedelt halten.

Wenn aber nicht Ich und nicht Gott als Autorität angesehen werden, sagen besorgte Kirchenväter, dann lauert der Abgrund, der Nihilismus, das Feld der Sünde und der Hölle auf die Seele. Unsere westliche, teilende Denkweise kann sich eine Welt ohne eingeredete Werte nicht vorstellen, Ich und Über-Ich haben letztelich eine gewaltige Bedeutung bekommen: «Ich denke, also bin ich», formulierte es der französische Philosoph René Descartes (1596–1650); umgekehrt heißt das: Denke ich mich nicht, bin ich nicht.

Bin ich nicht? Man muss diese enorme intellektuelle Anstrengung, eine Ordnung der Werte als Bollwerk gegen Verwilderung und Elend aufgrund Gier und Dummheit früherer Jahrhunderte zu installieren, mit Milde betrachten. Wir haben als Profiteure ihrer Anstrengungen gut reden.

Andererseits können wir uns eine Existenz ohne diese eingeredete Wichtigkeit des Individuums schlicht nicht mehr vorstellen – daher auch unsere enorme Angst vor dem Sterben, dem Verschwinden alles Individuellen, daher das dauernde Todesthema, die naiven Paradiesvisionen, die Koketterie mit Furcht und Verdammnis, daher die Flucht nach vorn in noch mehr Gebet und Gotteseinredung, bis man tatsächlich nicht mehr weiß, wer man eigentlich ist.

Im Denken und Zelebrieren des Ostens und in anderen Weltgegenden hatte das Individuum nie diese Wichtigkeit, wie wir sie im Westen kennen. Darum gab es dort auch nicht dieses Insistieren auf einen einzigen personalen Gott, den man überdies noch duzt, damit die Bindung besiegelt bleibe. Mit diesem im Vergleich zu anderen Religionen einmaligen «Du» hatte Gott definitiv 37,5° Menschentemperatur angenommen und ist geeignet, Tisch und Bett mit uns zu teilen.

Die animistischen Religionen der menschlichen Urzeiten hatten keine Götter, bestenfalls Geister, die in ihrem Auftreten dem Jahreslauf der bäuerlichen Zivilisationen folgten. Bei ihnen gab es eine körperliche und eine geistige Welt, die sich in der Umwelt vergegenständlichte; Ägypter, Griechen und Römer hingegen hatten Götter in großer Menge. Ihre Religionen hatten sich aus alten bäuerlichen Naturreligionen gebildet, bei denen jeder Baum, jeder Strauch Abbild einer Gottheit ist, und zumindest Griechen und Römer hatten ein recht praktisches Verhältnis zur Religion – und mit einer kleinen finanziellen Unterstützung des Priesters oder des Augurs konnte man Voraussagungen durchaus beeinflussen.

Der Zen-Buddhismus akzeptiert hingegen weder Gott noch ein Ich; seine Meditation ist ein Ausmisten von Projektionen. Was dann ist, ohne Gott und Ich, und auch ohne viele Götter und viele Ichs, kann nicht in Worte gefasst werden. Es ist jedenfalls nicht nichts und auch nicht Auflösung und Verderben, im Gegenteil, Menschen, die sich dem Zen verschrieben haben, sehen überzeugend gut aus ohne Gott und aufgeblähtes Ego. Darum steht bei ernstzunehmenden Religionen Schweigen im Mittelpunkt.

Wenn im Alten Testament geschrieben steht, man solle sich kein Bildnis machen, und ich im Neuen Testament von Pfingsten und den Urchristen lese, dann zeigt mir beides das Gleiche: Die Quelle allen religiösen Lebens ist eine mystische Erfahrung, ein Rausch, der zum Tanzen und Singen verführt, nicht zum Grübeln, es ist ein Auflösen von Kategorien und Trennungen, die sich die auf Furcht gegründeten Religionen täglich neu einprägen. Ein betender Mönch und ein meditierender Mönch – mag es das gleiche Bild abgeben, sie könnten verschiedener nicht sein: Der eine redet es sich ein, der andere aus.

Wir seien nach dem Bilde Gottes geschaffen, heißt es über den jüdisch-christlichen Gott, und von Gott solle man sich kein Bildnis machen: Seit Tausenden von Jahren ist auch in der abendländischen Tradition bereits erkannt, was Hirn-und Verhaltensforscher inzwischen bestätigen: Ich und Gott sind Konstrukte der Lebensbewältigung, nicht die Wahrheit. Warum nehmen die abendländischen Religionen nicht wenigstens ihre gemeinsame Bibelpatriarchen zur Kenntnis, die viel mehr Götzen verbrannten als errichteten, ja sich sogar ein Bild von Gott rundum verbaten?

Die Tatsache, dass in unserem Gehirn das Vorderhirn dem Stammhirn beim Denken von Gott und Ich «zusehen» kann, also sich selbst auf die Schliche kommen kann, wenn man nur will, ist ungeheuer und öffnet den Ausblick auf einen Horizont und ein Menschenbild, in dem Unfehlbarkeiten jedwelcher Art keinen Platz mehr haben.

Der sich eingeredete, einzige, personale Gott und das sich eingeredete, einzige Ich werden uns wohl noch lange mit trügerischer Sicherheit versorgen, aber als Galilei 1610 bei seinen Beobachtungen die Jupitermonde um die Sonne kreisen sah und er damit feststellte, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, war es von einer Sekunde zur anderen vorbei mit dem alten Denken.

Um den abendländischen Gott ist es längst geschehen, wann das auch zum ersten Mal eingesehen worden mag. Dass er uns und unseren Kindern bestimmt noch hundert Jahre in den Knochen stecken wird, ist eine andere Sache.

Der angeblich gottlose Buddhismus zieht immer mehr Menschen aus dem Westen in seinen Bann, wenn auch nicht erkannt wird, welchen Fetischen auch diese noch ältere Religion zum Teil noch huldigt. Flugs wurde aus Buddha ein Gott gemacht – wie hätte es auch anders kommen können …

Man sollte aufhören, von Gott zu reden, denn kaum sprechen wir von Gott, wächst ihm ein Bart. Abstraktere theologische Gottesbegriffe sind mir bloß Denkspielzeuge, gemessen an der Wirkungsmacht der Verkündigung dieses am Sonntag zelebrierten «ptolemäischen Gottes», des flachen Gottes, des Gottes des Erdkreises, der im apostolischen Segen des Papstes bis heute nicht begriffen hat, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel ist.

Denn was wirkt von Religion in Volk und Alltag, ist bestenfalls der Gott des Kommunionsanzugs, der Hochzeiten und Beerdigungen, nicht die Abstraktionen, die Theologen für Theologen schreiben und sonst kein Mensch je lesen mag. Wenn katholische Theologen sagen, das ganze materielle Glaubensinventar, die goldenen Marien und Reliquien stünden bloß stellvertretend für innere Werte, wäre das in Ordnung, aber so wird Religion von den Kanzeln ja nicht vermittelt.

Ich versuche vielmehr diesen mich als Kind ungefragt gelehrten Gott sanft zu vergessen, in dem sich meine angelernten protestantischen Tugenden fokussieren. Wenn schon, ist Gott für mich das Universum selbst als ungeheure Tatsache. Ich habe nie verstanden, warum man Gott glauben muss. Es sollte jedem offensichtlich sein, dass eine ungeheure Intelligenz am Werk dieses Weltenspektakels ist, die alles lenkt, Zufälle inbegriffen, was immer wir auch von uns selber halten und von einem personalen Gott.

Der eifrigste Atheist wird das Mysterium Welt und Universum nicht bestreiten können. Hinter allen naiven Gottesprojektionen ist gleichwohl eine Macht am Werk, die sich am deutlichsten durch universelle Gesetze bemerkbar macht. Insofern stehen die Physiker Gott näher als die Priester, sie sind es, die uns das große Mysterium näher bringen – und sei es durch Zahlen und Formeln.

Aber wenn wir schon das Wort «Gott» in den Mund nehmen, sollten wir wissen, welcher gemeint ist. Mein Gott, der universelle, sage ich, lässt sich durchaus beweisen, und eine Theologie die nicht herleitet, wie man wissenschaftlich herleitet, gehörte nicht an Universitäten. Was gibt es aufgrund von Glauben zu lehren? Mein Gott wird an der technischen Hochschule gelehrt, wo Wunder entdeckt und hergestellt, nicht geglaubt werden. Natürlich ist ein Klavier nicht die Musik, aber ein Klavier ist geeignet, Musik hörbar zu machen. Theologie ist bloß Musik auf dem Papier, eine Behauptung; erst durch das Klavier, erst durch die Naturwissenschaften, die gestaltete Materie, kann das Göttliche ins Leben kommen, wird für Menschen erfahrbar, wie anders.

Es gibt unglaublich viele Vorstellungen, wer Gott denn sei, und alle haben etwas an sich. Nur Gewissheiten, wie sie gewisse Religionen geradezu befehlen – das ist absolut sicher

– können keine Gewissheiten sein. Wer Gewissheit befiehlt, weist nur darauf hin, dass dahinter nichts ist – wäre da etwas, würde es für sich selbst sprechen.

In alten Zeiten war die Angst vor dem ebenso Realen wie Unbekannten verständlich: Man wollte es sich mit den Göttern nicht verderben, die sich durch die Natur und Schicksalsgesetze auszudrücken schienen. Das Gewittergrollen imponierte gewaltig, der rätselhafte Vogelflug davor könnte ein Zeichen sein. Um sich mit den über-menschlichen Wesen gutzustellen, opferte man ihnen das Beste, notfalls auch Menschen. In der frühen Zeit Roms opferte man dem durch die Stadt ziehenden Fluss Tiber Menschen, vorzugsweise Kriegsgefangene, weil man sich den Fluss als Gottheit vorstellte.

Aus naheliegenden Gründen stellte man sich diese Über-Macht als menschenähnliche Wesen vor. Diese Vermenschlichung zieht sich durch die ganze Religionsgeschichte bis heute. Bereits die Bibel formuliert es im Alten Testament: «Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.» (Gen 1,26f.). Eine bemerkenswerte theologische Volte: Der Mensch fasst seinen Gottesbegriff in ein Bild und behauptet dann, er, der Mensch sei nur Gottes Abbild. Aus dieser Personalisierung erwuchs das Missbräuchliche, weil die Vertreter der Macht sich als Vertreter des Göttlichen auf Erden ausgeben konnten. Sie konnten im Namen Gottes sprechen und Untaten begehen, ohne die Verantwortung dafür übernehmen zu müssen – womit wir zu einem besonders heiklen Thema des Verständnisses von Gott kommen.

Im Namen Gottes wurden die schrecklichsten Genozide und Kriege gerechtfertigt. Der Gott der Kirchen und auch der Gott der modernen Theologie, den man erfinden müsste, würde er nicht schon behauptet, ist in jeder Hinsicht ein gefährlicher Gott. Darum sollte dieser Name Gott nicht mehr verwendet werden, es haftet zu viel Ungutes daran. Und was Millionen Menschen beweisen: Es gibt ein Leben ohne personalen Gott.

Ursprünglich wurde Gott als tierische, dann als weibliche Macht gesehen, weil von der Fruchtbarkeit alles abhing und noch keine Güter zu vererben waren. Doch mit der Entwicklung der Menschheit wandeln sich auch die Gottesauffassungen; die technischen Erfindungen zogen stets «geistige Erfindungen» nach sich. Aber am Anfang jeglicher Theologie und Philosophie stand und steht der Macher, der Bauer, der Techniker. Die Geschichte der Religionen ist im Grunde die Geschichte der realen Erfindungen durch den Menschen.

Gott ist die abhängige Variable des Fortschritts; die Philosophie spekuliert im Schlepptau der Früchte des Handwerks.

Erstaunlich ist, wie wenig man das «Selbstgestrickte» am Gottesbild des Menschen wahrhaben will. Tatsächlich glauben noch Hunderte von Millionen Menschen im Zeitalter interplanetaren Verkehrs an Gott in Menschengestalt, sprechen mit ihm, erhoffen sich von ihm, sprechen in seinem Namen, wissen genau, wie er denkt. Der frühere Papst Benedikt XVI., ein Theologieprofessor, sprach im Namen der göttlichen Mutter Maria, als säße er mit ihr auf dem Balkon seines Apostolischen Palastes. Und Papst Franziskus rief in der Osternacht 2013 aus: «Gott überrascht uns immer wieder!»

Der personalisierte Gott bleibt im Mittelpunkt, wie auch die katholische Nachrichtenagentur Zenit (www.zenit.org) entsprechende Bilder und Metaphern ohne jeden Schimmer von Humor wiedergibt. Würde ein anderer derart von mir sprechen, so wie Priester über Gott sprechen, ich würde ihn abkanzeln, im wahrsten Sinne – wäre ich Gott, ich würde mir diesen devoten und schleimigen Ton von Priestern und Pfarrern verbitten. Wenn es einen Gott gäbe, wäre ihm wohl zuzutrauen, dass er sich seine Freunde selber aussuchte …