Remember Mia - Alexandra Burt - E-Book + Hörbuch
SONDERANGEBOT

Remember Mia E-Book

Alexandra Burt

4,5
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Ich muss mich erinnern, um sie zu finden.« Eine junge Mutter kämpft darum, ihr Gedächtnis wiederzuerlangen – während die Welt sie für die Mörderin ihres Kindes hält. Nach einem Autounfall erwacht Estelle Paradise im Krankenhaus und kann sich an nichts erinnern. Man hat sie in einer tiefen Schlucht aus dem Wrack ihres Wagens geborgen – schwer verletzt. Doch nicht alle Verletzungen stammen von dem Unfall: Es hat auch jemand auf Estelle geschossen. Wer? Nur sehr langsam dringt die wichtigste Frage in ihr Bewusstsein: Wo ist Mia, ihre sieben Monate alte Tochter? Sie war nicht mit im Unfallwagen. In einem schmerzlichen Prozess kehrt Estelles Erinnerungsvermögen zurück: Mia war schon drei Tage vor dem Unfall aus ihrem Apartment in New York verschwunden. Und Estelle wird auf einmal vom Opfer zur Hauptverdächtigen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 467

Bewertungen
4,5 (90 Bewertungen)
58
18
14
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Alexandra Burt

Remember Mia

Thriller

Deutsch von Susanne Goga-Klinkenberg

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für alle Mütter, insbesondere meine.

Für alle Töchter, insbesondere meine.

1. Teil

»Ich fürchte, mich selbst erklären, das kann ich nicht, Sir«, sagte Alice, »denn, wissen Sie, ich bin nicht ich selbst.«

 

Lewis Carroll,

Alice im Wunderland

VERMISST: 7 MONATE ALTES BABY VERSCHWINDET AUS BETTCHEN

Brooklyn, NY. Die New Yorker Polizei bittet die Öffentlichkeit um Mithilfe bei der Suche nach der sieben Monate alten Mia Connor.

Die Anwohner von North Dandry in Brooklyn werden gebeten, sich als Zeugen zu melden, falls sie in der Nacht zum oder den frühen Morgenstunden des 1. Oktober etwas Verdächtiges bemerkt haben.

Mia Connor wurde zuletzt gegen Mitternacht von ihrer Mutter Estelle Paradise (27) gesehen, als diese das Kind ins Bett legte. Als die Mutter am nächsten Morgen aufwachte, stellte sie fest, dass das Kind verschwunden war. Der Vater war nicht in der Stadt, als der Säugling verschwand.

»Es ist eine sehr schwierige Situation«, sagte Eric Rodriguez, ein Sprecher der New Yorker Polizei, bei einer kurzen Pressekonferenz am Freitag. »Wir hoffen auf Hinweise aus der Bevölkerung, die uns helfen, das Kind ausfindig zu machen.«

Sollten Sie etwas über den Verbleib von Mia Connor wissen, rufen Sie bitte umgehend die TIPS-Hotline unter 1-888-267-4880 an. Alle Anrufe werden streng vertraulich behandelt.

Mia Connor hat braune Augen und blonde Haare, ist 63 cm groß und wiegt 6300 Gramm. Am Tag ihres Verschwindens trug sie einen einteiligen Schlafanzug, der mit einem Muster aus Cupcakes bedruckt ist. Sie hat zwei Zähne im Unterkiefer.

1

»Mrs. Paradise?«

Eine Stimme aus dem Nirgendwo. Meine Gedanken bewegen sich schwerfällig. Es ist, als würde ich unter Wasser laufen, ich mühe mich ab, gelange aber nirgendwohin.

»Nicht stabil. 80 zu 60. Und fallend.«

Oh Gott, ich lebe noch.

Ich bewege meine Beine, und sie reagieren, kaum merklich, aber sie reagieren. Licht stiehlt sich in meine Augen. Ich höre Hunde bellen, hoch, aufgeregt. Ein Hecheln, Marken klirren aneinander.

»Sie hatten einen Autounfall.«

Mein Gesicht ist heiß, meine Gedanken undeutlich wie verstaubte Kartons in den dunklen, entlegenen Winkeln eines Dachbodens. Ich weiß sofort, dass etwas nicht stimmt.

»Oh mein Gott, sehen Sie sich ihren Kopf an.«

Eine Sirene ertönt, stottert kurz, verwandelt sich in eine stete Qual.

Ich muss ihnen sagen … Ich öffne den Mund, meine Lippen versuchen die Worte zu formen, doch das Brennen in meinem Kopf wird unerträglich. Meine Brust steht in Flammen, in meinem linken Ohr klingelt es so laut, dass meine ganze Gesichtshälfte taub wird. Lasst mich sterben, will ich ihnen sagen. Doch ich höre nur, wie grobe Hände dünnen Stoff zerreißen.

»Zurücktreten!«

Mein Körper explodiert, zuckt nach oben.

So war es nicht geplant.

 

Vor meinen Augen ist alles neblig und verschwommen. Ich erkenne eine Frau im himmelblauen OP-Kittel, eine Krankenschwester, die einen Plastikschlauch über meinen Kopf streift. Sofort zischt aus zwei Öffnungen kalte Luft in meine Nasenlöcher. Die Schwester betätigt einen Hebel, und das Bett bewegt sich ruckartig nach oben. Ein anderer Hebel setzt einen Motor in Gang, der das Kopfende so weit hochfährt, dass mein Oberkörper fast senkrecht ist.

Die Welt wird deutlicher. Die Krankenschwester hat einen Pferdeschwanz, die Taschen ihres Kittels sind ausgebeult. Ich beobachte, wie sie Tupfer und Verpackungen wegwirft. Der Laut, mit dem der Metalldeckel des Mülleimers zufällt, klingt endgültig und erzeugt ein Gefühl, das ich nicht ganz einordnen kann, ein Gefühl des Verlustes, als wäre ein Taschendieb mit meinem Kleingeld weggelaufen und in dem Gewühl untergetaucht, in das sich mein seltsames Gedächtnis verwandelt hat.

Dann ertönt aus dem Nichts eine Männerstimme.

»Ich werde Ihnen jetzt einen Venenzugang legen.«

Die allzu sanfte Stimme gehört einem Mann im weißen Kittel. Er spricht mit mir, als wäre ich ein Kind, das Trost braucht.

»Entspannen Sie sich. Sie werden nichts spüren.«

Entspannen und nichts spüren? Was für eine Vorstellung. Ich versuche den Arm zu heben, Schmerz zuckt von meiner Schulter bis in den Hals. Ich nehme mir vor, das nicht so bald zu wiederholen.

Der Mann im weißen Kittel reibt über meinen Handrücken. Der Alkohol hinterlässt eine eisige Spur und reißt mich weiter aus meiner Betäubung. Ich sehe zu, wie der Arzt eine lange Nadel in die Vene einführt. Ein vergessener Tupfer liegt in den Falten der Decke mit dem Waffelmuster, in der Mitte ein Blutfleck wie ein scharlachroter Buchstabe.

Ich spüre einen Funken der Erinnerung, er zündet und erlischt dann wie ein nasses Streichholz. Ich weigere mich, mich wegziehen zu lassen, folge dem Rot, hefte mich an die Erinnerung. Sie beginnt wie ein leises Knarren auf der Treppe, aber dann tauchen die Ungeheuer auf.

Zuerst erinnere ich mich an die Dunkelheit.

Dann erinnere ich mich an das Blut.

Mein Baby. Oh Gott, Mia.

 

Das Blut umgibt mich. Rote Blitze explodieren am Himmel, erleuchten alles um mich herum und verschwinden sofort wieder, tauchen meine Welt in Dunkelheit. Dann verblassen die blutigen Bilder und hinterlassen eine schwarze, zittrige Linie auf dem Bildschirm.

Gummisohlen auf Linoleum quietschen um mich herum, jemand berührt meine Schulter.

Das ist nicht real. Eine zufällige Vision, nur eine Halluzination. Sie hat nichts zu bedeuten.

Eine Krankenschwester drückt sanft meine Schulter, ich öffne die Augen.

»Mrs. Paradise«, sagt sie leise, beinahe entschuldigend. »Es tut mir leid, aber ich habe Anweisung, Sie alle paar Stunden zu wecken.«

»Blut«, sage ich und kneife die Augen zu, um das Bild herbeizuzwingen. »Ich verstehe nicht, wo das ganze Blut herkommt.« Ist das meine Stimme? Das kann nicht sein, sie klingt gar nicht nach mir.

»Blut? Welches Blut?« Die Krankenschwester wirft einen Blick auf meinen perfekt verpflasterten Venenzugang. »Bluten Sie?«

Ich drehe mich zum Fenster. Draußen ist es dunkel. Das ganze Zimmer spiegelt sich in der Scheibe wie ein Abdruck, eine nicht ganz wahrheitsgetreue Kopie der Wirklichkeit.

»Oh Gott«, sage ich, und meine Stimme ist so schrill, als käme sie aus einem übersteuerten Mikrofon. »Wo ist meine Tochter?«

Sie neigt nur den Kopf und streicht die Decke glatt. »Ich hole den Arzt.« Dann verlässt sie das Zimmer.

2

Stimmen dringen wie dahinziehende Wolken in mein Bewusstsein, verschmelzen mit dem Geruch von Pfannkuchen, Sirup, Toast und Kaffee, und mir dreht sich der Magen um.

Eine Hand berührt sanft meinen Arm, dann eine Stimme: »Mrs. Paradise? Ich bin Dr. Baker.«

Ich registriere nur sein Alter – er ist jung –, als ließe mein Gehirn nicht zu, dass ich mehr über ihn herausfinde. Habe ich ihn schon einmal gesehen? Ich weiß es nicht. Alles an mir, mein Körper und meine Sinne, ist gestört. Seit wann bin ich so vergesslich, so unfähig, mich zu konzentrieren?

Sein Name ist auf die Tasche seines weißen Kittels gestickt: Dr. Jeremy Baker. Er zieht einen Stift heraus und leuchtet mir damit in die Augen. Eine Explosion, so schmerzhaft, dass ich die Augen zukneifen muss. Ich drehe den Kopf weg, taste nach meiner Schläfe. Jetzt begreife ich, weshalb die Welt so gedämpft wirkt: Mein ganzer Kopf ist verbunden.

»Sie sind im County Medical. Ein Krankenwagen hat Sie hergebracht, das war …« Er hält inne und schaut auf die Armbanduhr. Ich frage mich, warum ihm die Uhrzeit wichtig erscheint. Zählt er die Stunden, will er ganz präzise sein? »… am 4., vor drei Tagen.«

Drei Tage. Und ich kann mich an keine einzige Minute erinnern. Frag ihn, los, frag schon. »Wo ist meine Tochter?«

»Sie hatten einen Autounfall. Sie haben eine Kopfverletzung und wurden in ein künstliches Koma versetzt.«

Er hat meine Frage nicht beantwortet. Er spricht mit mir, als wäre ich ein Kind, als könnte ich keine längeren Sätze verstehen. Unfall? Ich kann mich an keinen Unfall erinnern.

»Man hat Sie in Ihrem Wagen in einer Schlucht gefunden. Sie haben eine Gehirnerschütterung, mehrere gebrochene Rippen und zahlreiche Hämatome am ganzen Körper. Außerdem haben Sie eine schwere Kopfverletzung. Ihr Gehirn war angeschwollen, darum das künstliche Koma.«

Ich kann mich an keinen Unfall erinnern. Was ist mit Jack? Ja, Mia ist bei Jack. Es kann nicht anders sein.

Noch einmal.

»War meine Tochter bei mir im Wagen?«

»Sie waren allein.«

»Ist sie bei Jack? Ist Mia bei meinem Mann?«

»Alles wird gut.«

Das Blut war nur eine Halluzination, es war nicht echt. Sie ist bei Jack, in Sicherheit. Gott sei Dank.

Alles wird gut, hat er gesagt.

»Wir können noch nicht mit Sicherheit sagen, ob eine Hirnschädigung vorliegt, aber nun, da Sie bei Bewusstsein sind, können wir alle notwendigen Untersuchungen durchführen.« Er gibt der Krankenschwester, die neben ihm steht, einen Wink. »Sie haben viel Blut verloren, und wir mussten Ihnen Flüssigkeit zuführen, um Sie zu stabilisieren. Die Schwellung wird in einigen Tagen zurückgehen, aber bis dahin müssen wir verhindern, dass sich Flüssigkeit in Ihrer Lunge sammelt.«

Er hält mir ein Gerät vor die Nase. »Das ist ein Spirometer. Die Schwester wird es Ihnen genau erklären. Im Grunde müssen Sie nur hineinpusten und die rote Kugel so lange wie möglich oben halten. Alle zwei Stunden, bitte.« Seine letzte Bemerkung richtet sich an die Schwester.

Das Gurgeln in meiner Brust ist unangenehm, ich versuche, nicht zu husten. Die Schmerzen in meiner linken Seite müssen von den gebrochenen Rippen stammen. Ich frage mich, wie ich zwei Stunden wach bleiben oder alle zwei Stunden aufwachen oder dieses Gerät zwei Stunden lang benutzen soll oder was immer er gerade gesagt hat.

»Bevor ich es vergesse.« Dr. Baker schaut auf mich herunter. Er schweigt einen Augenblick, und ich frage mich schon, ob ich eine Frage überhört habe. Dann senkt er die Stimme. »Zwei Polizisten waren hier und wollten mit Ihnen sprechen. Das lasse ich aber nicht zu, bevor wir nicht einige Untersuchungen durchgeführt haben.« Er nickt der Krankenschwester zu und geht in Richtung Tür, bleibt jedoch noch einmal stehen und liefert mir noch eine Neuigkeit. »Ihr Mann ist schon unterwegs hierher. Können wir bis dahin jemand anderen für Sie benachrichtigen? Familie? Eine Freundin? Irgendjemanden?«

Ich schüttle den Kopf und bereue es sofort. Ein Hammer schlägt von innen gegen meinen Schädel. Mein Kopf ist eine riesige, angeschwollene Knolle, und das Pochen in meinem Ohr lenkt mich sogar von den schmerzenden Rippen ab. Meine Augenlider entwickeln ein Eigenleben. Ich merke, dass ich wegdämmere, aber ich habe noch so viele Fragen. Ich hole tief Luft, als wollte ich im Schwimmbad vom Brett springen. Ich brauche meine ganze Kraft, um die Worte hervorzubringen.

»Wo ist der Unfall passiert?« Warum schaut er mich so seltsam an? Fehlt mir mehr an Erinnerung, als ich ahne?

»Tut mir leid, aber zu dem Unfall kann ich Ihnen nicht viel sagen.« Seine ruhige Stimme klingt gezwungen. »Wir wissen nur, dass man Ihren Wagen im Hinterland in einer Schlucht gefunden hat.« Pause. »Sie sind schwer verletzt. Einige Verletzungen stammen von dem Unfall. Können Sie sich erinnern, was passiert ist?«

Ich denke sehr gründlich über seine Worte nach. Unfall. Schlucht. Aber da ist nichts. Gar nichts. Wo mein Gedächtnis war, befindet sich nur noch ein großes schwarzes Loch.

»Ich kann mich an gar nichts erinnern.«

Er runzelt die Stirn. »Sie meinen … den Unfall?«

Den Unfall. Er redet über den Unfall, als wüsste ich, was für ein Unfall das war. Er kann gern meinen Kopf röntgen, dann wird er einen dunklen Schatten finden, wo einmal mein Gedächtnis war.

Ich lerne dazu. Bevor ich etwas sage, konzentriere ich mich, lege mir die Frage zurecht und wiederhole sie im Kopf, atme tief durch und spreche erst dann.

»Sie verstehen mich nicht. Ich kann mich nicht an den Unfall erinnern, und ich kann mich auch an nichts vor dem Unfall erinnern.«

»Wissen Sie noch, ob Sie sich selbst verletzen wollten?«

»Mich selbst verletzen?« Daran würde ich mich doch wohl erinnern? Was ist nur los mit meinem Gedächtnis?

»Entweder das, oder Sie wurden angeschossen.«

Wurde ich angeschossen oder habe ich mich selbst verletzt? Was sind das für Fragen?

Ich drehe den Kopf so weit wie möglich nach links und sehe ein ausgestrecktes Bein in Uniform. Ein Polizist, der draußen im Flur neben der Tür sitzt. Ich frage mich, was das zu bedeuten hat.

Dr. Baker schaut über die Schulter und dann zu mir. Er tritt wieder an mein Bett und sagt leise: »Sie erinnern sich nicht.« Es klingt sachlich, ist keine Frage mehr, sondern eine Feststellung.

»Ich weiß nicht, was ich nicht weiß.« Das ist ziemlich komisch, wenn man drüber nachdenkt. Ich muss kichern, und er runzelt wieder die Stirn. Allmählich werde ich frustriert. Wir drehen uns im Kreis. Es fällt mir so schwer, wach zu bleiben.

Dann spricht er über meine Stimme. Dass sie »monoton« klinge und dass ich »eine eingeschränkte emotionale Bandbreite und gedämpfte Reaktionsfähigkeit« zeige. Ich verstehe nicht, was er mir damit sagen will. Sollte ich mehr lächeln und fröhlicher sein? Ich will ihn danach fragen, doch dann höre ich ein Wort, das alles andere beiseitewischt.

»Amnesie. Den Grund kennen wir noch nicht. Retrograd, vermutlich posttraumatisch. Vielleicht sogar traumabezogen.«

Wenn ein Mann im weißen Kittel von Amnesie spricht, ist es ernst. Endgültig. Das habe ich vergessen klingt so beiläufig, ach, ich bin ja so vergesslich. Ich aber habe Amnesie, ich bin nicht einfach vergesslich. Was kommt als Nächstes? Fragt er mich, welches Jahr wir haben? Wer Präsident ist? Ob ich mich an mein Geburtsdatum erinnere?

»Retrograd bedeutet, dass Sie sich nicht an Ereignisse erinnern können, die unmittelbar vor dem Gedächtnisverlust stattgefunden haben. Posttraumatisch bedeutet eine kognitive Störung nach einem traumatischen Erlebnis, der Gedächtnisverlust kann sich über Stunden oder Tage, manchmal auch länger, erstrecken. Irgendwann werden Sie sich an die weiter zurückliegende Vergangenheit erinnern, aber möglicherweise nie an das, was unmittelbar vor Ihrem Unfall geschehen ist. Amnesie kann man nicht mit einem Röntgenbild diagnostizieren wie einen gebrochenen Knochen. Wir haben ein MRT und ein CT gemacht. Beide lieferten kein klares Ergebnis. Es gibt zurzeit keinen eindeutigen Hinweis auf eine Hirnschädigung, aber das beweist nicht, dass keine vorliegt. Es könnten mikroskopische Schäden sein, die mit MRT und CT nicht festzustellen sind. Beide Techniken können auch keine Schädigungen der Nervenfasern darstellen.«

Ich sage nichts, weil ich nicht weiß, ob ich weiterfragen soll, ob ich ihn überhaupt verstanden habe. Ich weiß nur, dass er mir nichts Definitives sagen kann, also wozu das Ganze?

»Es besteht die Möglichkeit, dass Sie an einer dissoziativen Amnesie leiden. Das Trauma hat dazu geführt, dass Sie bestimmte mit dem Ereignis verbundene Informationen ausblenden. Auch das kann man nicht mit den genannten Methoden diagnostizieren. Dafür benötigen Sie psychiatrische oder psychologische Hilfe. Aber wir sollten nichts überstürzen. Der Neurologe wird weitere Untersuchungen anordnen. Wie gesagt, es braucht alles seine Zeit.«

Ich hole tief Luft. Er zählt jede Menge medizinische Fakten auf, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass er mir etwas verschweigt.

»Wo hat man mich gefunden?«

»In einer Schlucht, in Dover. Sie wurden zunächst ins Dover Medical Center gebracht und einen Tag später hierher überwiesen.«

Dover? Dover. Nichts. Nur ein weißer Fleck.

»Ich war noch nie in Dover.«

»Man hat Sie dort gefunden, Sie können sich nur nicht daran erinnern. Sie haben wirklich Glück gehabt.« Er hält Zeigefinger und Daumen dicht aneinander, um mir zu zeigen, wie viel Glück ich gehabt habe. »Es war so knapp. Mehr hätte nicht gefehlt, und die Kugel hätte ernsthaften Schaden angerichtet. Vergessen Sie das nicht.«

Die Kugel. Ich wurde angeschossen oder habe mich selbst verletzt. Glück gehabt? Kommt drauf an, wen man fragt. Vergessen Sie das nicht. Wie witzig. Meine Hand bewegt sich reflexartig zu meinem Ohr. »Sie haben gesagt, mein Ohr sei geschädigt. Was ist damit passiert?«

Er zögert kaum merklich. »Es ist weg. Leider vollkommen weg. Der Bereich war entzündet, und wir mussten eine Entscheidung treffen.« Er schaut mich eindringlich an. »Wie gesagt, es hätte schlimmer kommen können. Sie haben Glück gehabt.«

»Das nennen Sie Glück?« Doch eigentlich ist mir das Ohr ziemlich egal.

»Die plastische Chirurgie kann vieles wiederherstellen.«

»Was ist da denn jetzt? Ich meine, habe ich da ein Loch?«

»Eine kleine Öffnung, durch die Flüssigkeit abgeleitet wird. Und ein Hautlappen, der die Wunde bedeckt.«

Eine Öffnung, durch die Flüssigkeit abgeleitet wird. Die Tatsache, dass ein Hautlappen ein Loch in meinem Kopf bedeckt, wo sich früher mein Ohr befand, lässt mich seltsam kalt. Ich habe Amnesie. Ich habe vergessen, mein Auto abzuschließen. Ich habe meinen Regenschirm verloren. Mein Ohr ist weg. Es ist alles ähnlich bedeutungslos.

»Das nennen Sie Glück?«, frage ich noch einmal.

»Sie sind am Leben, nur darauf kommt es an.«

Da höre ich wieder das Summen, und seine Stimme wechselt von laut zu gedämpft, als hätte jemand einen Regler betätigt. »Was ist mit meinem Ohr?«

Er sieht mich verwundert an.

»Ich weiß schon, Sie haben gesagt, es sei weg.« Vollkommen weg, das waren seine genauen Worte. »Ich meine, mein Gehör, was ist mit meinem Gehör? Alles hört sich so gedämpft an.«

»Wir haben einen elektrophysiologischen Hörtest durchgeführt, während Sie bewusstlos waren.« Er nimmt meine Akte vom Nachttisch und blättert darin. »Sie haben einen Teil Ihrer Hörfähigkeit eingebüßt, aber nichts Schwerwiegendes. Nach dem nächsten CT werden wir weitere Untersuchungen durchführen. Wir müssen jetzt erst mal abwarten.«

Ich schaue auf das Bein des Polizisten vor der Tür und frage mich, ob er mich beschützen oder bewachen soll.

»Mir ist etwas eingefallen.« Die Worte kommen ganz plötzlich aus mir heraus und gewinnen ein Eigenleben. »Ich muss wissen, ob das, was ich sehe … ich … ich glaube, ich erinnere mich an Bruchstücke, aber es ist keine richtige Erinnerung, nur Fragmente.« Als würde ich in einem Fotoalbum blättern, ohne zu wissen, ob es mein Leben zeigt oder das von jemand anderem. Blut. So viel Blut.

»Sie können sich vielleicht nicht an jede Minute erinnern, doch Sie werden irgendwann einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Erinnerungen herstellen. Aber vielleicht werden Sie nicht alles zusammensetzen können.«

»Ich bin sehr müde«, sage ich und fühle mich erleichtert. Alle Pferde des Königs und all seine Mannen setzten Humpty Dumpty nicht wieder zusammen. Ich treffe eine Entscheidung. Das Blut war nur eine Illusion. Einbildung.

»Sagen Sie der Krankenschwester Bescheid, wenn wir jemanden für Sie anrufen sollen. Und denken Sie an das Spirometer – alle zwei Stunden.«

Er deutet auf etwas hinter mir. »Das ist eine PCA-Pumpe. Sie setzt kleine Mengen Schmerzmittel frei. Falls Sie mehr brauchen«, er drückt mir einen kleinen Kasten mit einem roten Knopf in die Hand, »drücken Sie einfach nur den roten Knopf, und Sie erhalten eine zusätzliche Dosis Morphin. Die Sicherheitssperre sorgt dafür, dass nur eine kontrollierte Menge freigesetzt wird. Haben Sie noch Fragen?«

Ich habe meine Lektion gelernt und schüttle nur kaum merklich den Kopf.

Ich sehe ihm nach, als er das Zimmer verlässt. Dann versuche ich mich zu konzentrieren, während mir die Krankenschwester das gelbe Gerät erklärt. Ich soll in die Öffnung pusten, bis die Kugel darin nach oben steigt, und kontinuierlich weiterpusten, um sie so lange wie möglich oben zu halten.

Ich habe Amnesie. Mein Ohr ist weg. Ich fühle … ich fühle mich, als könnte ich die Dinge gar nicht richtig aufnehmen. Ich müsste eigentlich schreien und brüllen, einen Aufstand machen, doch Dr. Bakers Worte über meinen Mangel an Gefühlen, »emotionale Gedämpftheit« wie er es nannte, erscheinen mir logisch. Mit Logik kann ich umgehen, es sind die Emotionen, die sich mir entziehen.

Es gibt etwas, das sie mir nicht sagen. Vielleicht, weil sie verletzte Menschen – vor allem Menschen, die angeschossen wurden, die ein Ohr verloren haben, bei denen es so knapp war – nicht mit zusätzlichen schlimmen Nachrichten belasten wollen. Das muss es sein. Vielleicht wird die Polizei es mir erzählen oder Jack, wenn er kommt. Sie haben mir schon gesagt, dass ich Stunden meines Lebens verloren habe. Wie viel schlimmer kann es noch werden?

Ich halte das Spirometer in der rechten Hand. Ich atme in die Öffnung und lasse meinen Kopf leer werden, während ich die rote Kugel aufsteigen sehe. Sie wird oben bleiben, solange ich sie da halten kann. Ich kneife die Augen zu, als könnte ich die Kugel damit zwingen, in diesem Schwebezustand zu bleiben. Plötzlich erstehen Bruchstücke von Bildern vor mir, als wären sie auf die Innenseite meiner Augenlider geprägt. Mein Verstand explodiert. Er löst sich auf, zersetzt sich in winzige Partikel.

Mia ist nicht bei Jack. Sie ist verschwunden.

Die Erkenntnis kommt so plötzlich und ist so überwältigend, dass die Kabel an meiner Brust ins Zittern geraten, was die Maschine hinter mir sofort registriert. Der Piepton beschleunigt sich wie der Hufschlag eines Pferdes, das erst im Schritt geht, dann trabt und schließlich in gestreckten Galopp fällt. Mias Verschwinden ist eine Tatsache, und doch ist sie losgelöst von allen Folgen daraus, es gibt da etwas, zu dem ich nicht vordringe. Ein leeres Bettchen. Fehlende Kleidungsstücke, Fläschchen und Windeln, alles war weg. Ich habe sie gesucht und konnte sie nicht finden. Ich bin zur Polizei gegangen –

Dann ist da nur noch ein schwarzes Loch.

Ich betrachte alles wie die Teile eines Puzzles, setze sie zusammen, reiße sie auseinander und beginne von vorn. Ich weiß noch, wie ich zur Polizeiwache gegangen bin, doch danach verschwimmt alles – wird undeutlich wie eine Kindheitserinnerung. Mein Verstand spielt Stille Post, die Botschaften, die von meinen unzusammenhängenden Gedanken weitergegeben werden, sind verzerrt. Fehlgedeutet, ausgeschmückt. Unzuverlässig.

Immer wenn die Kugel im Spirometer nach oben steigt, formen sich neue Bilder: eine Toilettenkabine, ein Mopp, ein Treppenhaus, Tauben, der Geruch frischer Farbe. Dann werden sie von einem anderen Bild überlagert, als hätte jemand einen Dimmer hochgedreht: Fragmente von Himmelskörpern, Sonne, Mond und Sterne. So viele Sterne.

Warum war ich in Dover? Wo ist meine Tochter, und weshalb spricht niemand von ihr?

Während ich in meinem Krankenhausbett liege, spüre ich fast körperlich, wie die Zeit vergeht. Ich sehne mich nach … einem Stückchen Kindheit, einem Bröckchen Erinnerung daran, wie meine Mutter mich umsorgt hat, als ich krank war, mit Grippe oder einer Kinderkrankheit wie Masern oder Windpocken im Bett lag. Doch dann fällt mir ein, dass ich ein robustes Kind war, widerstandsfähig gegen Viren, Streptokokken und Bindehautentzündung.

Ich weiß nicht, was ich Jack sagen soll, wenn er kommt. Er wird mir Fragen stellen. Jack wird mich nach dem Tag fragen, an dem Mia verschwunden ist. Nach dem Morgen, an dem ich das leere Bettchen vorfand. Die Amnesie ist ein weiterer Defekt auf der langen Liste meiner Unzulänglichkeiten.

Ich muss verrückt sein, denn mir fällt nur eine Erklärung ein: dass sich meine Tochter und mein Ohr am selben Ort befinden. Und über ihnen schweben wie ein Mobile Sonne, Mond und Sterne. Strahlend hell, aber umgeben von Finsternis. Ein chaotisches Universum, erleuchtet von Himmelskörpern.

Ich verschränke die Hände auf dem Bauch. Mein Körper wird ganz still. Ich hatte einen Unfall. Ich wurde angeschossen oder wollte mich selbst verletzen. Mein Ohr ist weg. Wo es war, befindet sich ein Loch, durch das Flüssigkeit abgeleitet wird.

Nichts davon kümmert mich. Mia ist weg. Ich kann nicht einmal ertragen, an sie zu denken. Ich will, dass der Schmerz aufhört, doch ihr Bild verweilt. Ich hebe den Finger, um den roten Knopf der Schmerzmittelpumpe zu drücken, sehne mich nach dem betäubten Zustand, in den mich das Medikament versetzt. Ich zögere, dann lege ich den Kasten weg. Ich muss nachdenken, irgendwo anfangen. Das leere Bettchen. Der Zusammenhang. Ich muss einen Zusammenhang finden. Die einzelnen Pünktchen zu einem Bild verbinden.

3

Jede Nacht durchlebte ich die Geburt meiner Tochter wieder: Ihr erstes Luftholen im kalten Kreißsaal, das sich in einen tiefen Atemzug verwandelte, dann der verzweifelte Schrei, der sich ihren Lippen entrang, ihr Versuch, den unvermeidlichen Übergang zwischen meiner Gebärmutter und der Außenwelt zu verarbeiten.

Jeden Morgen begriff ich dann, dass es ihre echten Schreie waren, die bis tief in meine Träume reichten, und wenn ich aufwachte, kam es mir vor, als explodierte eine Million winziger Bomben in meinem Kopf. Dann meldete sich mein Körpergedächtnis. Wach auf, steh auf, füttere sie, wickle, bade, halt sie. Füttern und wickeln und baden und im Arm halten.

Ich hatte aufgehört, die Zeit, das Datum oder auch nur die Wochentage zu registrieren. Welche Ereignisse auch immer den Rest der Welt bewegten – zu mir drangen sie nicht durch, ich hatte seit Monaten kein Buch und keine Zeitschrift in die Hand genommen. Mein Leben reduzierte sich darauf, motorische Aufgaben im Gedächtnis zu verankern, es waren Tage in Endlosschleife, immer die gleichen Dinge, die ich ohne bewusste Überlegung erledigte.

Als ich an jenem Morgen vom Sofa aufstand, drehte sich die Welt einmal um mich und blieb dann stehen. Ich horchte auf das Echo von Mias morgendlichem Bauchwehgeschrei, jetzt, sieben Monate nach der Geburt, eine hundertfache Nachbildung ihres ersten ursprünglichen Schreis, der mich in meinen Träumen heimsuchte. Seit kurzem erreichte mich ihr Schreien zeitverzögert, beinahe verzerrt, als läge eine gewisse Distanz zwischen uns.

An jenem Morgen lauschte ich, doch das Haus war still.

Ich ging barfuß durch den Flur und blieb vor der angelehnten Tür stehen. Mein Uhrenarmband hatte einen Abdruck hinterlassen, als wäre ich über Nacht gefesselt gewesen. Ich hatte rekordverdächtige sechs Stunden geschlafen. Um diese Zeit hätte Mia üblicherweise längst laut geschrien und versucht, sich an den Stäben des Bettchens hochzuziehen, die Augen voll zorniger Tränen.

Ein flüchtiges Gefühl der Normalität umhüllte mich, das Wunschbild eines pausbäckigen Kindes, das sich an die Matratze schmiegte, ein elfenhafter Körper, friedlich im Schlaf. War dies der Tag, auf den ich so lange gewartet hatte – der Tag, an dem Mia erwachte und nicht zu schreien begann, noch bevor sie die Augen öffnete?

Mias Tür war angelehnt, so wie ich sie Stunden zuvor gelassen hatte. Ich trat ins Zimmer. Etwas traf mich wie ein Stoß, mein Herz geriet ins Stolpern.

Das Tinkerbell-Mobile sah irgendwie seltsam aus, es hing schief, als wäre es aus dem Gleichgewicht geraten. Das Zimmer, schwach vom Sonnenlicht erhellt, war still. Das Bettchen am Fenster leer und stumm. Verlassen. Nicht einmal der Abdruck ihres Körpers auf dem Laken.

Ich spürte ein Pulsieren in den Backenzähnen, als ich die Fenster inspizierte und an den schmiedeeisernen Stäben rüttelte. Ich suchte die ganze Wohnung ab, überprüfte jedes Fenster zweimal. Keine Spur von ihr.

Ich rannte zur Wohnungstür. Die Schlösser waren intakt, das Metall noch immer zerkratzt, die Farbe noch immer abgeblättert, Spuren meines ungeschickten Versuchs, einen Riegel zu installieren. Alle Schlösser waren zu, alles war da, wo es hingehörte. Bis auf Mia.

Es gab keinerlei Anzeichen, dass jemand hier gewesen war – keine Fußabdrücke, keine fremden Spuren, nichts war angerührt worden, und doch umgab mich eine sonderbare fremde Energie. Die Wohnung wirkte unberührt und ausgeraubt zugleich.

Erst ganz allmählich drang es in mein Bewusstsein durch: Mia war verschwunden, aber es gab keine Beweise, keine Anzeichen dafür, dass jemand sie mitgenommen hatte. Keine Glassplitter auf dem Boden, keine offen stehenden Türen, keine Vorhänge, die sich im Luftzug eines Fensters bewegten. Keine eilig zusammengeknüllte Decke, kein Schnuller, kein Spielzeug auf dem Boden.

911.

Ich rannte in die Küche, riss den Hörer vom Telefon an der Wand und hielt abrupt inne. Das Abtropfgestell war leer. Kein Fläschchen, kein Verschluss, kein Sauger. Keine Dose mit Milchpulver, kein Messbecher.

Ich stürzte zum Mülleimer. Die schmutzigen Windeln mussten ja noch drin sein. Der Eimer war leer, sogar der Müllbeutel war verschwunden.

Ich riss den Kühlschrank auf. Alle Fläschchen, die ich am Abend vorbereitet hatte, waren weg.

Die Fächer der Wickelkommode in ihrem Zimmer, in denen normalerweise Windeln und Tücher lagen, waren leer. Die Schranktür stand weit offen, kein Kleiderbügel war geblieben, kein Schuh auf dem Schrankboden.

Ich riss die Schubladen der Kommode auf. All ihre Kleider waren verschwunden. Jede einzelne Schublade war leer. Nicht mal ein Knopf war noch da. In dem Korb auf der Wickelkommode, in dem ich Windeln und Salbe aufbewahrte, war nichts.

Noch einmal suchte ich jeden Zentimeter ihres Zimmers ab, jede Schublade, jedes Schrankeckchen. Mein Herz stürzte ins Bodenlose. Nicht nur Mia war verschwunden, sondern auch alle Anzeichen, dass sie je hier gewesen war.

 

Von North Dandry bis zum 70. Polizeirevier in der Lawrence Avenue in Brooklyn sind es fünf Minuten zu Fuß. Als ich durch die Glastür trat, hob der Beamte am Empfang den Zeigefinger, weil er gerade telefonierte, und deutete auf den Hörer.

Ein Hausmeister schob einen neongelben Eimer und einen struppigen Mopp über den Boden. Er trug einen blauen Overall und durchsichtige Überschuhe über weißen Turnschuhen. Ich beobachtete, wie er den Eimer über den Boden rollte, den Mopp kreisförmig bewegte, in den Auswringer drückte.

Im Spiegelbild der Glastür sah ich mich selbst – eine Frau, die im Rhythmus des Mopps, der über das Linoleum strich, den Oberkörper vor und zurück bewegte, wischen, eintauchen, auswringen, wischen, eintauchen, auswringen.

Schritte rissen mich in die Wirklichkeit zurück. Hinter mir ging eine Tür auf, gleichzeitig klingelte ein Telefon. Ein Polizist in Zivil mit hellblauem Hemd, der die Krawatte in den Gürtel gesteckt hatte, trat an die Empfangstheke. Er hielt einen kleinen, mageren Mann am tätowierten Oberarm fest. Der Mann war nahezu katatonisch. Der Detective schubste ihn nach vorn, so dass der Mann mit der Brust gegen die Theke prallte. Er lächelte schief und wirkte irgendwie gleichgültig, als hätte er das schon zu oft mitgemacht.

»Ab in die Zelle mit ihm«, sagte der Detective zu seinem Kollegen. »Ich will sein Gesicht erst wieder sehen, wenn er nüchtern ist.«

»Ich muss mit jemandem sprechen.« Meine Stimme klang laut, so laut, dass der Mann am Empfang von seinem Telefon aufblickte. »Bitte, ich brauche Hilfe.«

»Einen Moment«, sagte der Detective. »Ich bin gleich für Sie da.« Er war zu weit entfernt, als dass ich das Namensschild auf seiner Brusttasche hätte lesen können. Er wirkte jung, zu jung vielleicht. Wird er mich verstehen, ist er selbst Vater, hat er schon in Fällen vermisster Kinder ermittelt? Ich überlegte, ob ich mich nach einem erfahreneren Ermittler erkundigen sollte.

»Ich muss mit jemandem sprechen«, wiederholte ich lauter.

Er trat zögernd näher. »Womit kann ich Ihnen helfen?«

Wörter schossen durch meinen Kopf, dann Bilder von Schlössern und Türen, die mit Riegeln und Haspen gesichert waren.

HILFE, schrie es in mir. Ich machte den Mund auf, aber es kamen keine Worte heraus. Ich schluckte mühsam, das Geräusch hallte durch die stillen Flure des Polizeireviers. Ich wollte gestehen, was ich getan hatte, getan haben musste, denn niemand verschwindet einfach durch Wände oder verschlossene Türen.

Übelkeit packte mich. Ich wollte die Worte, das Geständnis loswerden und machte keinen Versuch, gegen den Druck in meiner Kehle anzukämpfen. In meinem Mund sammelte sich Speichel, ich hielt mir instinktiv die Nase zu, damit die Kotze nicht aus meinen Nasenlöchern quoll.

Er wich zurück, als wäre ich aussätzig. »Da drüben ist die Toilette.« Er deutete auf eine Tür, keine drei Meter entfernt.

Krämpfe durchzuckten mich, als ich vor der Toilette kniete. Die Übelkeit lief wellenförmig durch meinen Körper, meine kalte Haut war schweißbedeckt. Schließlich konnte ich aufstehen. Ich sah mein Gesicht im Spiegel an und suchte verzweifelt nach einer Erklärung, ohne die Augen von der Fremden zu wenden, die mich da anstarrte. Ich war wütend auf die Frau im Spiegel, eine Frau mit ungewaschenen Haaren, mit eingesunkenen, traurigen Augen, die Frau, die an die Stelle meines wahren Ich getreten war.

Der Detective wartete im Flur auf mich. »Ma’am?« Er wirkte ungeduldig, als hätte er es mit jemandem zu tun, der eigentlich nichts bei der Polizei verloren hatte.

Ich wusste nicht mehr, was ich ihm sagen sollte. War jemand durch Mauern gegangen, hatte jemand einen Zaubertrick mit tragischem Ausgang vollführt, während ich schlief? Wenn ein Magier ein endloses Tuch aus einem Zylinder zieht, wissen alle, dass es nur ein Trick ist, aber das hier war real. Und ich wusste nicht, ob ich das Opfer oder ob ich schuldig war. Ein Verbrechen war geschehen. Aber was für ein Verbrechen?

Ich weiß nicht, wo meine Tochter ist.

Eine Aussage, die alle vorstellbaren Möglichkeiten enthielt, aber keine davon spezifizierte. Keinen Fehler, kein Verbrechen, keine Schuld. Nur eine Tatsache.

Ich weiß nicht, wo meine Tochter ist.

Mir fiel keine einzige logische Erklärung für Mias Verschwinden ein.

Sag es, redete ich mir zu, sag es. SAGESEINFACH. Ich wollte mich zum Sprechen zwingen, doch die Frau, die ich geworden war, gehorchte nicht. Niemand konnte irgendetwas für sie tun.

Niemand kann mir helfen. Niemand kann mir helfen. Niemand kann mir helfen.

Ich wiederholte die Worte stumm dreimal wie einen Schwur und hoffte, die Wiederholung würde ihnen Sinn und Logik verleihen.

Als ich an dem Kriminalbeamten vorbeischaute, stürzte der tätowierte Mann von vorhin zur Tür. Der Detective bemerkte es und rannte ihm hinterher. Der tätowierte Mann war wacklig auf den Beinen, und der Beamte erwischte ihn kurz vor der Glastür.

Ich konzentrierte mich auf den Boden und die winzigen Sprenkel auf dem blauen Linoleum. Meine Knie wurden weich, ich musste mich bewegen, damit das Blut weiter durch meinen Körper zirkulierte.

Niemand kann mir helfen.

Ich verließ das Polizeirevier. Ich war innerlich wie betäubt, narkotisiert, aber auch irgendwie gereinigt, bereit, die Tatsachen zu akzeptieren. Die Betäubung wich allmählich, und die Schwere dessen, was ich getan haben musste, drang zu mir durch. Als ich an einem Schaufenster vorbeikam, bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine Frau, die ihre Hände musterte, als hätte sie sie lange nicht gesehen.

In diesem kurzen, grauenhaften Augenblick der Klarheit begriff ich, dass es womöglich die Hände eines Ungeheuers waren.

4

»Ich bin hergekommen, so schnell ich konnte, als ich gehört habe, dass du wieder bei Bewusstsein bist. Ich begreife das alles nicht. Was zum Teufel ist passiert?«

Er flüstert, doch seine Worte durchbohren mich. Die Vorwürfe kommen mir vertraut vor. Nicht die Worte selbst, aber das Gefühl, das sie hervorrufen. Ich habe so viele Fehltritte begangen – erst kleine, dann große.

Meine Hände zittern, dann bebt mein ganzer Körper. Ob vor Angst oder Zorn, weiß ich nicht. Ich starre in Jacks angespanntes Gesicht und suche in seinen Zügen nach irgendeiner Art von Mitgefühl, doch alles an ihm ist distanziert: sein Anzug, seine Haltung, sein ganzes Gebaren.

»Jemand hat sie mitgenommen, Jack.«

»Was soll das heißen, ›jemand hat sie mitgenommen‹? Wo warst du denn?« Er legt die Aktentasche auf den Nachttisch, wobei ein Plastikbecher umkippt und auf den Boden fällt. »Was zum Teufel ist hier los?«

»Jack, ich –«

»Ich bin zwei Wochen weg, und du hast einen Unfall in … Dover? Was hast du da gemacht? Das ist Stunden von hier entfernt!«

Als ich den Mund öffne, fährt er mit der Hand durch die Luft, als wollte er meine Antwort jetzt schon abtun. »Wer verliert ein Baby, Estelle? Wer? Sag mir, wer verliert einfach so ein Baby?«

Ich presse die Lippen zusammen. Ich wage nicht, ihm in die Augen zu sehen.

»Warum bist du mit ihr nach Dover gefahren?«

Das Piepsen und Summen der Maschinen hinter mir ist das einzige Geräusch im Zimmer.

»Das bin ich nicht, Jack, das ist es ja. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt dort war.«

»Die Polizei hat mich befragt – nein, befragt ist nicht der richtige Ausdruck …« In seinem Gesicht zuckt es, dann beugt er sich über mich. Er hebt den Zeigefinger, als wollte er mich ausschimpfen wie ein Kind. »Ich wurde verhört. Man hat mich am Flughafen festgehalten, zur Polizeiwache gebracht und wie einen Kriminellen verhört. Was hast du ihnen bloß erzählt?«

»Gar nichts. Was meinst du denn? Ich konnte ihnen nichts erzählen.«

»Jedenfalls haben sie eine Menge Fragen gestellt. Man hat mich wie einen Verdächtigen behandelt.«

»Die Eltern werden immer zuerst befragt, das weißt du doch.«

»Noch nie im Leben bin ich so gedemütigt worden. Wenn man in meiner Firma davon erfährt …« Er spricht den Satz nicht zu Ende. »Wo ist sie? Sag mir, wo sie ist.«

»Sie ist verschwunden, Jack!« Die Kälte in seinen Augen erschreckt mich. Ich möchte weinen, doch das würde ihn nur noch wütender machen. In der Hinsicht hat sich meine Zeit mit Jack ausgezahlt – ich habe gelernt, die Tränen zu unterdrücken.

»Ich weiß, dass sie verschwunden ist, sie suchen ja nach ihr. Ich will wissen, wie es passiert ist. Erzähl mir alles. Ich habe mit der Polizei und den Ärzten gesprochen, aber ich will es von dir hören.«

Ich beginne mit dem leeren Bettchen. Dass Sonntag war und keiner der Arbeiter im Haus. Dass ich Lieberman angerufen hatte, der aber wie immer übers Wochenende weggefahren war. Dass nichts einen Sinn ergab. Dass ich zur Polizei gegangen war.

Er sagt nicht: Alles wird gut oder Wir bekommen das schon hin. Er sagt nur: »Weiter.«

Als ich fertig bin, schüttelt er den Kopf. »Ich hätte nicht wegfahren dürfen. Niemals. Du hast mich getäuscht. Du hast gesagt, es ginge dir gut, und ich habe dir geglaubt. Hast du sie irgendwo zurückgelassen? Sag mir, wo du sie gelassen hast.«

Für Jack ist schon alles klar, wie immer. In seiner Welt stellt man Fragen und bekommt Antworten, aber das hier ist kein Gerichtssaal, und selbst wenn ich es noch so gern wollte, könnte ich ihm nicht sagen, was passiert ist.

»Jack –«

»Du hast mir geschworen, geschworen, dass es dir gut geht, und jetzt sieh dir an, was du getan hast.«

»Es tut mir leid, Jack. Es tut mir so leid.«

»Das wird nicht reichen. Meine Tochter ist weg. Weg. Hast du das eigentlich begriffen?«

»Ich weiß nicht, was passiert ist, Jack, ich weiß es nicht.«

»Du weißt nicht, wo du sie gelassen hast?«

»Ich habe sie nirgendwo gelassen. Ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Hast du sie zu einer Babysitterin gebracht? Hast du sie über Nacht in der Kinderkrippe gelassen? Vielleicht –«

»Nein, kein Babysitter. Keine Krippe.«

»Ich hätte wissen müssen, dass etwas passiert. Ich hätte niemals …« Er spricht den Satz nicht zu Ende.

Weißt du noch, du hast gesagt, ein Tapetenwechsel würde mir guttun. Es wäre wie ein neuer Anfang, hast du gesagt. Ich habe dir geglaubt, Jack. Ich dachte, ich könnte die andere Frau hinter mir lassen, die Frau, die mein Leben an sich gerissen hatte. Doch sie kam mit.

»Das ergibt alles keinen Sinn.« Dann plötzlich verändert sich sein Gesichtsausdruck. »Du hast dich seltsam verhalten, seit Mia geboren wurde. Entweder habe ich zu viel gearbeitet oder zu lange geschlafen, ich konnte dir nichts recht machen. Allmählich glaube ich, dass das schon immer dein Plan war.«

»Mein Plan? Welcher Plan?«

»Du schnappst dir einen Anwalt, heiratest, bekommst ein Baby, lässt dich scheiden, kassierst Alimente.«

»Was, du bist der Jackpot, und ich bin die Glücksritterin? Hast du vergessen, dass wir pleite sind? Du hast die Stelle in Chicago angenommen, weil wir pleite sind.«

»Ich versuche nur zu verstehen, was passiert ist. Ich habe dich immer nur unterstützt. Was ist bloß aus dir geworden, Estelle? Bist du eines Tages aufgewacht und hast dir gesagt: Scheiß auf Jack, scheiß auf Mia, scheiß auf alles? Einfach so? Ich hab immer getan, was du wolltest, habe dir alles gegeben, was du dir gewünscht hast. Jetzt ist es Zeit, dass du was für mich tust.«

Ich sehe ihn einfach nur an.

»Sag mir die Wahrheit. Wir können das immer noch in Ordnung bringen.«

»Ich hatte einen Unfall. Ich habe Amnesie. Ich weiß nicht, was passiert ist.« Meine Stimme klingt monoton wie ein Roboter, der eine Aufnahme abspielt.

»Gehen wir mal davon aus, dass du dich wirklich nicht erinnern kannst. Dann erklär mir bitte, wieso du mich nicht angerufen hast. Erklär mir das. Ich bin ihr Vater – warum hast du mich nicht angerufen? War das wieder einer deiner verrückten Momente?«

»Verrückte Momente?«

»Einer der Momente, in denen du plötzlich völlig neben dir stehst, in denen du das Baby nicht halten kannst, in denen du nicht aufhören kannst zu weinen, in denen du mir ins Büro folgst, in denen du meine Sachen durchsuchst, in denen du nicht ans Telefon gehen und den Notruf wählen kannst! Einer dieser Momente. Muss ich weiterreden?«

In seiner Welt ist alles schwarz oder weiß. Und das Erschreckende ist, dass ich ihm recht geben muss, ich war zu nichts nütze. Ich habe versucht, eine gute Mutter zu sein, ich wollte das tun, was alle Mütter tun. Ich wünschte, ich könnte ihm begreiflich machen, wie sehr ich mich bemüht habe.

»Alles okay da drinnen?« Wir drehen uns zur Tür, wo eine Schwester mit einem leeren Tablett steht.

»Tut mir leid«, sagt Jack, und ich nicke. »Wir sind schon leiser. Alles in Ordnung.«

Jack mag es nicht, wenn man ihm sagt, wie laut er sprechen darf. Er senkt die Stimme, doch sein Blick verrät, dass er innerlich kocht.

»Da draußen sitzt ein Polizist. Begreifst du eigentlich, wie ernst die Sache ist?«

Ich nicke.

»Irgendeine Ahnung, warum er hier ist?« Er wartet meine Antwort nicht ab und senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Jedenfalls nicht zu deinem Schutz.«

»Was willst du damit sagen?« Meine Stimme bebt.

»Du brauchst einen Strafverteidiger.«

Bei dem Wort zucke ich zusammen. »Jack, ich bin keine Verbrecherin. Ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist!« Kann ein nichtexistentes Ohr pochen? Ich weiß, mein Ausbruch bestärkt ihn nur in der Überzeugung, dass ich den Verstand verloren habe. Ich sehe vermutlich aus wie ein Reh in der Sekunde, bevor es von der Stoßstange gerammt wird.

»Ich bin aufgewacht, und sie war weg. Alles war weg. Das ist alles, woran ich mich erinnere.«

»Irgendetwas muss passiert sein. Hat sie geschrien? Bist du wütend geworden? Was hast du getan?«

Ich will mich aufsetzen, doch der Schmerz in meinen Rippen ist unerträglich.

»Sieh mich an.« Jack kommt näher, greift nach meinem Kinn und dreht meinen Kopf zu sich. »Sieh mir in die Augen und sag mir, was passiert ist.«

»Glaubst du, ich könnte unserer Tochter wehtun?«

Diese unverblümte Frage überrascht ihn. Er reißt die Augen auf, fasst sich aber sofort wieder und flüstert: »Ich behaupte nicht, du hättest ihr wehgetan. Ich sage nur, dass du schuld bist an dem, was geschehen ist.« Er öffnet die Aktentasche. »Noch was.«

Bei Jack kommt immer etwas nach.

»Ich bin mir nicht sicher, ob dir klar ist, dass du womöglich den Rest deines Lebens hinter Gittern oder an ein Bett geschnallt verbringen wirst, wenn du dich nicht erinnerst. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um den Ernst der Lage zu begreifen.« Er presst die Lippen zu einer geraden Linie zusammen und fügt hinzu: »Ich habe mit den Ärzten gesprochen. Es gibt hier in der Nähe eine Klinik, in der ein Spezialist für Gedächtniswiederherstellung arbeitet. Vielleicht kann ich die Staatsanwaltschaft davon überzeugen, dass du dort am besten aufgehoben bist.«

Ich starre ihn an, dann senke ich den Blick. »Wo ist diese Klinik?«

»Hier in New York. Sie heißt Creedmoor. Der Arzt ist von irgendwo aus dem Nahen Osten und hat sich auf traumabezogenen Gedächtnisverlust spezialisiert.« Er lässt die Schultern sinken, und selbst der teure Anzug kann nicht verbergen, dass er plötzlich aussieht wie ein Ballon, aus dem man die Luft gelassen hat. »Ich habe hier eine freiwillige und zeitlich unbefristete Selbsteinweisung in eine psychiatrische Einrichtung, die du unterschreiben musst.«

Ich versuche, meine Gedanken in säuberlich getrennte, bewältigbare Portionen zu teilen. Es scheint nahezu unmöglich. Wiederherstellung des Gedächtnisses. Ich stelle mir vor, wie man mir Drähte ins Gehirn pflanzt, ein Wahrheitsserum verabreicht, wie meine Netzhaut Bilder auf einen Computermonitor projiziert. Eine psychiatrische Einrichtung. Unbefristet. Ich soll freiwillig in die Klapsmühle gehen und kann sie nicht auf eigenen Wunsch verlassen.

»Ich gehöre nicht in eine Irrenanstalt. Ich bin nicht verrückt.«

Jack legt den Kopf schräg und zieht die Augenbrauen hoch, als hätte er ein Kind bei einer Lüge ertappt.

»In deinen Augen bin ich einfach irre, oder? Warum sprichst du es nicht aus? Du hältst mich für verrückt, stimmt’s?«

»Nicht im landläufigen Sinn, aber ich glaube, du brauchst Hilfe, und diese Klinik könnte deine einzige Chance sein. Und vor allem ist sie Mias einzige Chance.« Seine Stimme klingt jetzt sanft, beinahe verführerisch. »Ich glaube, du hast keine andere Wahl.«

Ich zwinge mich, mich aufzurichten und auf die Bettkante zu setzen. Meine bestrumpften Füße tasten nach dem klebrigen Linoleum. Es ist, als könnte ich den Boden nicht erreichen. Sowie der Stift meinen Namen vollendet hat, spüre ich den überwältigenden Drang, ihn wieder zu packen und meine Unterschrift mit heftigen Bewegungen auszulöschen, bis das Papier völlig zerfetzt ist.

Jack löst den Stift aus meinen Fingern und sieht auf die Uhr.

»Dieser Arzt wird mir helfen, mich zu erinnern, und dann finden wir Mia. Wir finden heraus, was passiert ist, nicht wahr, Jack?«

Er schließt die Aktentasche und verlässt das Zimmer, noch bevor meine Füße den Boden berührt haben.

5

Am Tag, als ich mein Collegestudium abgeschlossen hatte, sagte ich mir: Nimm dir ein Jahr Zeit und finde heraus, was du mit deinem Leben anfangen willst. Aber nachdem ich den größten Teil der mir selbst zugestandenen Zeit in irgendwelchen Bars mit Männern geflirtet hatte, die mir nichts bedeuteten, wartete ich auf ein Zeichen, eine Eingebung von oben, etwas wie die Prophezeiung einer Hellseherin. Ich ging die 57. Straße entlang und sagte mir, die nächste Reklametafel, die nächste Autowerbung, Einkaufstasche oder Broschüre, die mir ins Auge fiele, wäre die Antwort.

Damals arbeitete ich im Callcenter einer Krankenversicherung. Ich hatte eine Kollegin, die auf den ersten Blick völlig fehl am Platz wirkte. Delilah war mittleren Alters, klein und kräftig gebaut und verbarg ihre Tattoos, die ihren ganzen Körper überzogen, erstaunlich geschickt unter übergroßen weißen Blusen und Strickjacken. Sie war so ganz anders als die Mittzwanziger, die in den Nischen um uns herum saßen. Immer wenn sie die Ärmel ihrer Strickjacke hochschob, was auf einen schwierigen Kunden hindeutete, konnte ich das Tattoo auf ihrem Unterarm lesen: Tote Männer quatschen nicht.

»Du schaust immer auf mein Tattoo«, sagte sie eines Tages und stellte ihr Headset stumm.

»Was für eine Botschaft.«

»Ist eine witzige Geschichte.«

»Tote Männer quatschen nicht? Das klingt eigentlich nicht so witzig.«

Delilah erzählte mir, sie habe fünfundzwanzig Jahre lang als Gefängniswärterin gearbeitet und dabei zunehmend ihre sozialen Fähigkeiten und den Glauben an die Menschheit verloren, mit jedem Jahr ein bisschen mehr. Ihr Ehemann habe sie verlassen, ihre fünf Kinder redeten nicht mehr mit ihr. Aus reinem Selbstschutz hatte sie beschlossen, einen Job im Kundenservice anzunehmen. »So muss ich jeden Tag an mir selbst arbeiten«, sagte sie und nahm mit neutraler Stimme den nächsten Anruf entgegen.

Diese Idee faszinierte mich, und ich begann mich selbst zu hinterfragen. Ich hatte nie dauerhafte Freundschaften gesucht oder tiefe Verbindungen zu anderen Menschen aufgebaut und war im Grunde mein Leben lang eine Einzelgängerin gewesen. Vielleicht müsste ich nur neue Menschen oder die richtigen Menschen kennenlernen und mir so lange Mühe geben, bis ich irgendwo hineinpasste. Noch am selben Tag kündigte ich im Callcenter.

Die Gegend Ecke Lexington und 50. Straße war ein Gemisch aus Restaurants und Kneipen, Bürogebäuden, Anwaltskanzleien und dem einen oder anderen Starbucks. Zwei Tage später fand ich dort einen Job als Empfangsdame im La Luna, einer Grillbar, die vor allem von Richtern, Anwälten und den leitenden Angestellten der umliegenden Firmen frequentiert wurde.

Einige Wochen später bemerkte ich einen Mann in der Schlange, die auf einen Tisch wartete. Er war nicht hinreißend attraktiv oder irgendwie ungewöhnlich, und doch konnte ich es kaum erwarten, bis er vor mir stand.

»Jack Connor.« Er rückte die Krawatte zurecht. Er erwartete zwei weitere Gäste und bat mich um den besten Tisch im Haus. Es gefiel mir, wie er mir in die Augen sah und seine Worte abwog, bevor er sprach.

Ich führte ihn zu einem Tisch im hinteren Teil des Restaurants, doch er schaute sich um und deutete auf einen am Fenster, das nach vorn hinausging. »Ich hätte lieber den da.«

So lernte ich Jack kennen: Ich gab mir Mühe, er sagte mir, dass das, was ich zu bieten hatte, nicht gut genug sei. Später las er den Namen auf meinem Schild laut vor. Seine Stimme war ein weicher Bariton.

»Estelle Paradise.«

Viele Leute machten Witze über meinen Namen, doch diesmal folgte kein Witz. Jack war schlaksig und sah gesund aus bis auf die dunklen Ringe unter seinen Augen, die von vielen Überstunden zeugten und davon, dass er sich bis an den Rand der Erschöpfung trieb. Mir fiel auf, dass seine linke Augenbraue deutlich höher war als die andere; er schien die ganze Welt mit Skepsis zu betrachten.

»Sie schauen auf mein Auge«, sagte er.

»Tut mir leid, das wollte ich nicht.« Ich wurde rot und wandte mich ab.

»Hypertropie«, sagte er und wackelte dramatisch mit den Augenbrauen. »Ein Ungleichgewicht der Augenmuskulatur, die Blickachse eines Auges ist höher als die andere. Erblich. Früher habe ich eine Brille getragen, aber wenn ich mich nicht operieren lasse, bleibt die Stellung des einen Auges immer etwas höher als die des anderen.«

Am nächsten Tag kam er auf einen Drink vorbei. Er setzte sich an die Theke und beobachtete mich bei der Arbeit.

»Wissen Sie, was Sie tun sollten?«

»Was denn?« Ich hielt einen Stapel Speisekarten wie einen Schild vor mich.

»Im Blick behalten, wie weit die Leute an den Tischen mit dem Essen sind, statt einfach nur die besetzten Tische auf Ihrem Plan zu markieren.«

»Und warum sollte ich das tun?«

Er sah mich verwundert an. »Damit Sie wissen, ob die Leute beim Nachtisch sind oder schon die Rechnung bezahlt haben. Das beschleunigt das Ganze.«

»Ich werd’s mir merken«, sagte ich lachend und versuchte, nicht wieder sein Auge anzustarren.

»Würden Sie mit mir ausgehen?« Seine Stimme zitterte ganz wenig, gerade so, dass man es bemerken konnte, wenn man auf so etwas achtete.

»Wir dürfen uns nicht mit Gästen verabreden«, log ich und wischte einen unsichtbaren Krümel von meiner Bluse. Es interessierte niemanden, mit wem wir uns verabredeten; die Personalfluktuation hier war schwindelerregend. Im Nachhinein bin ich mir nicht mehr sicher, warum ich das sagte. Vielleicht wollte ich tief drinnen, dass er nicht aufgab.

Er hielt die Augen auf mein Namensschild geheftet, stand auf und trank sein Glas aus. »Gehen Sie mit mir aus, wenn ich nicht mehr herkomme?«

»Ich würde nicht drauf wetten«, sagte ich und lächelte.

Einen Monat später verabredeten wir uns zum ersten Mal. Ich trug mein bestes Kleid, schwarz und ärmellos, er eine Khakihose und ein blaues Hemd ohne Krawatte. Kino und Abendessen, bei dem wir beide zu viel tranken. In meinem beschwipsten Zustand musste ich ihm erzählt haben, dass ich mit der Miete im Verzug war, denn er bot an, den nächsten Monat zu bezahlen. »Ich möchte etwas für dich tun.«

Das berührte eine Saite in mir. An jedem anderen Abend wäre ihm das nicht gelungen. Ich war es gewöhnt, mich allein durchzukämpfen, doch das Geld war wirklich knapp, und ich hatte Mühe, mein Studiendarlehen abzuzahlen. (Später sagte Jack: »Geisteswissenschaften? Dann lieber gar kein Abschluss.«) Ich arbeitete nach wie vor am Empfang, weil die lukrativeren Jobs für Kellnerinnen alle vergeben waren. Ich wusste immer noch nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, mein Misstrauen gegenüber der Menschheit im Allgemeinen war auch nicht geringer geworden, und ich fragte mich allmählich, ob Delilahs Geschichte vielleicht komplett erfunden war.

An diesem Abend roch Jacks Hemd nach Wäschestärke, und ich dachte kurz darüber nach, wie sich seine Lippen auf meinen anfühlen würden. Mein Mund auf seinem Mund. Ein Vorgeschmack darauf, wie das Leben sein könnte, wenn ich ihn etwas für mich tun ließ.

Bei unserer zweiten Verabredung rechnete ich damit, dass mich die Realität einholen und ich erkennen würde, dass wir gar nicht zueinanderpassten, doch auf dem Weg zum Restaurant legte Jack mir sein Jackett um die Schultern. Die kratzige Wolle und das glatte Futter passten ins Klischee aller romantischen Filme, die ich je gesehen hatte. Der Typ legt seinem Mädchen das Jackett um die Schultern, er ist der Gute, denn die Guten machen das so, während die bösen Jungs dich ausziehen.

Beim Essen erklärte ich ihm meine Regeln. »Dreißig Tage kein Herummachen, kein Sex.« Es war eigentlich mehr ein Witz, doch Jack, der unerschütterliche, unbeirrbare Jack, zuckte nicht mit der Wimper.

»Meine Regel ist eher hundertachtzig Tage, aber in Ordnung, akzeptiert.« Dann fügte er hinzu: »Also sind wir jetzt offiziell zusammen? Auf Bewährung gewissermaßen?«

»Apropos Bewährung, auf welcher Seite bist du?«, fragte ich später, als wir am MetLife Building vorbeigingen. »Beruflich, meine ich.« Ich rückte ein bisschen näher an ihn heran. »Ich habe mich immer gefragt, wie Anwälte herausfinden, ob sie lieber Verteidiger oder Staatsanwalt sein wollen. Für mich sind das zwei völlig unterschiedliche Seiten des Rechts.«

Er runzelte die Stirn, als ergäbe meine Frage keinen Sinn. »Man sucht sich einfach eine aus.«

Als ich wissen wollte, wie er sich die Zukunft vorstellte, sagte er: »Ich denke, ich werde die Staatsanwalts-Laufbahn einschlagen. Dann Bezirksstaatsanwalt, dann Richter.«

»Und dann für ein öffentliches Amt kandidieren, Bürgermeister oder so?«, scherzte ich.

»Bürgermeister?« Er überlegte. »Eher nicht. Mit Menschenmengen und öffentlichem Reden habe ich es nicht so. Oberster Gerichtshof vielleicht. Die geben ihre Entscheidungen schriftlich bekannt. Das ist wie für mich gemacht.«

So ganz klar war mir der Unterschied zwischen öffentlichem Reden und dem Auftreten vor Gericht nicht, doch Jacks Selbstvertrauen war harmlos und erfrischend und weckte in mir den Wunsch, mehr über ihn zu erfahren.

»Vermutlich sehen Verteidiger in allen Leuten das Gute«, sagte ich. »Staatsanwälte dagegen betrachten alle als Kriminelle. Musst du nicht tief im Herzen Stellung beziehen?«

»Tief im Herzen? Das ist aber eine sehr emotionale Sichtweise.«

»Erzähl mir was von dir als Kind«, sagte ich, um das Thema zu wechseln.

Jack zählte seine Kindheitserfahrungen auf, als läse er einen Einkaufszettel vor. »New Jersey, öffentliche Schulen, Ringerteam, alleinerziehende Mutter.« Er hielt kurz inne. »Einzelkind, sozusagen. Meine Mutter arbeitete in der New Yorker Bibliothek. Wir hatten ziemlich zu kämpfen, um es vorsichtig auszudrücken. Meine Mutter war eine Heilige, sie hat mich nie auch nur angeschrien.«

»Warum warst du sozusagen ein Einzelkind?«

Jack erzählte mir, dass sein Vater Earl seine Mutter verlassen hatte, als Jack noch ein Baby war. Earl, ein Fernfahrer, der die meiste Zeit des Jahres am Steuer verbrachte, hatte eine andere Frau kennengelernt, Elsa, Besitzerin eines Schönheitssalons. Für sie hatte er den Job als Fernfahrer aufgegeben, worum ihn Jacks Mutter immer vergeblich gebeten hatte, und war Linienbusfahrer geworden. Aber er verschwand nicht aus Jacks Leben. Nein, er hatte etwas viel Schlimmeres getan.

»Ich bin meinem Vater in der Schule wiederbegegnet, vor dem Büro des Direktors. Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen, konnte mich nicht mal erinnern, wann er das letzte Mal mit mir gesprochen hatte. Aus irgendeinem Grund, den wohl nur ein Zehnjähriger verstehen kann, dachte ich, er sei wegen mir gekommen. Ich wollte mich gerade in seine Arme stürzen, als ich die Stimme des Direktors im Lautsprecher hörte. George Connor, bitte zum Direktor. An diesem Tag erfuhr ich von meinem Halbbruder George. Und dass wir so nahe beieinander wohnten, dass wir dieselbe Schule besuchten. Fünf Straßen entfernt, um genau zu sein.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also erkundigte ich mich nach seiner Mutter. Er stieß einen tiefen Seufzer, fast ein Stöhnen aus. »Sie hat sich in gewisser Weise umgebracht«, sagte er, und ich merkte, dass es ein schwieriges Thema für ihn war. »Sie hatte drei Jobs, weil sie mich nach dem Zwischenfall mit meinem Bruder auf eine Privatschule schicken wollte. Sie hatte sich schon lange nicht gut gefühlt, und als sie endlich zum Arzt ging, war es zu spät. Sie hatte die Symptome zu lange ignoriert, die Diagnose lautete Darmkrebs. Man hat sie operiert, aber die Ärzte nähten sie einfach wieder zu und sagten, sie könnten nichts mehr für sie tun. Der Krebs hatte schon Metastasen in Gehirn und Leber gebildet.«

Ich dachte an meine eigene Mutter, die anscheinend ohne schlechtes Gewissen ihre Karriere als Fotografin verfolgt hatte, erinnerte mich an die vielen Abende, an denen es kein Essen gegeben hatte und die Tür zur Dunkelkammer verschlossen gewesen war. So viele Jahre nach dem Tod meiner Eltern wusste ich immer noch nicht, ob ich mich um die Liebe meiner Mutter betrogen fühlen oder mich darüber freuen sollte, dass sie eine eigene Karriere gehabt hatte.

An diesem Abend verstießen wir gegen die Dreißig-Tage-keinen-Sex-Regel und schliefen zum ersten Mal miteinander. Es war ziemlich chaotisch: Er fummelte an der Kondomverpackung herum, und ich wusste nicht, wo ich meine Beine lassen sollte. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, saß Jack im Bett und schrieb wie wild in ein Notizbuch.

»Schreibst du ein Gedicht?«, scherzte ich.

»Eine Rede.« Man hatte ihn dazu auserkoren, bei einer Veranstaltung der New Yorker Anwaltskammer vor achthundert Jurastudenten eine Grundsatzrede zu halten. In den nächsten zwei Wochen entwarf er die Rede, überarbeitete sie und fing dann noch einmal ganz von vorn an. Ich war dabei, als er sie ohne eine Spur von Nervosität vortrug. Er sprach souverän, schaute den Leuten in die Augen und erzählte Anekdoten und Witze. Ich bemerkte nicht den geringsten Anflug von Unsicherheit in seiner Stimme oder seinem Verhalten.