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Emilias Welt zerbricht an ihrem 21. Geburtstag. Was als fröhliche Feier begann, endet in einer Enthüllung, die ihr den Boden unter den Füßen wegzieht. Ihre Familie ist Teil der mächtigsten Mafia-Dynastie Catanias. Seit dem rätselhaften Tod ihrer Eltern, hat sie bei ihren Paten gelebt - doch deren Schutz entpuppt sich als Teil eines tödlichen Spiels auf Verrat und Lügen. Gefangen zwischen Pflicht und Rebellion, erkennt Emilia, dass ihre wahren Feinde keine Fremden sind, sondern jene, die ihr am nächsten stehen. Doch eine d'Amico ergibt sich nicht. Stück für Stück fordert sie ein, was ihr gehört - und setzt dabei alles auf Spiel. Auch ihr Herz. Dunkel. Gefährlich. Verführerisch. Ein Spiel um Macht, Rache und den Mut, die Regeln zu brechen.
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Seitenzahl: 532
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für die, die wissen, dass wahre Liebe sich anfühlt wie ein Griff an die Kehle – fordernd, unerbittlich und mit der Macht, Lust und Schmerz zu einem süßen Verhängnis zu vereinen.
Liebe Leser*in,
dieses Buch ist ausschließlich für ein erwachsenes Publikum ab 18 Jahren geeignet. Es enthält Inhalte und Szenen, die potenziell belastend sein können. Bitte bedenke, dass dies eine fiktive Geschichte ist, die dunkle und herausfordernde Themen aufgreift. In diesem Buch werden unter anderem folgende Themen behandelt:
Gewalt in verschiedenen Formen
Der Gebrauch und Missbrauch von Drogen
Sexuelle Handlungen, sowohl einvernehmliche als auch nicht einvernehmliche
Missbrauch und Vergewaltigung
Explizite Sprache und beleidigende Ausdrücke
Handlungen, die den Tod herbeiführen
Der Einsatz von Waffen
Diese Themen sind zentral für die Handlung und die Charakterentwicklung und werden teilweise ausführlich beschrieben. Solltest du sensibel auf eines oder mehrere dieser Themen reagieren, empfehlen ich dir, vor dem Lesen gründlich abzuwägen, ob du dich mit diesen Inhalten wohlfühlst.
Die Intention dieses Buches ist es nicht, Gewalt oder Missbrauch zu verherrlichen.
Das Wichtigste: Hör auf dich selbst. Wenn du merkst, dass diese Inhalte zu viel für dich sind, lege das Buch zur Seite. Dein Wohlbefinden steht an erster Stelle.
Danke, dass du den Mut hast, in diese Welt einzutauchen. Aber denk daran: Was du hier liest, bleibt Fiktion – und du entscheidest, wie weit du gehen willst.
Prolog
Kapitel 1
Emilia
Kapitel 2
Emilia
Kapitel 3
Emilia
Kapitel 4
Emilia
Kapitel 5
Emilia
Kapitel 6
Emilia
Kapitel 7
Emilia
Kapitel 8
Emilia
Kapitel 9
Emilia
Kapitel 10
Emilia
Kapitel 11
Emilia
Kapitel 12
Dante
Kapitel 13
Emilia
Kapitel 14
Emilia
Kapitel 15
Emilia
Kapitel 16
Emilia
Kapitel 17
Emilia
Kapitel 18
Emilia
Kapitel 19
Emilia
Kapitel 20
Emilia
Kapitel 21
Emilia
Kapitel 22
Emilia
Kapitel 23
Emilia
Kapitel 24
Emilia
Kapitel 25
Emilia
Kapitel 26
Emilia
Kapitel 27
Emilia
Kapitel 28
Emilia
Kapitel 29
Emilia
Kapitel 30
Emilia
Kapitel 31
Emilia
Kapitel 32
Emilia
Kapitel 33
Emilia
Kapitel 34
Emilia
Kapitel 35
Emilia
Kapitel 36
Emilia
Kapitel 37
Emilia
Kapitel 38
Emilia
Kapitel 39
Aurelio
Kapitel 40
Emilia
Der schwere, samtige Vorhang der Nacht senkte sich über Catania. Es war der Abend meines 21. Geburtstags. Ein Abend, den ich selbst nicht hätte planen wollen. Doch Lucia, meine Patentante und seit Jahren eine der wenigen Person, die mir vertraut geblieben war, bestand darauf. Sie plante diesen Abend groß – größer, als mir lieb war. Sie war es, die die Einladungen verfasste und sicherstellte, dass niemand von Rang und Namen der sizilianischen Gesellschaft davon vergessen wurde. Ein Funken Zwang und ein schimmernder Schein heuchelten mir Glamour vor, doch mein Herz fühlte sich leer an.
Unzählige Menschen würden heute kommen, viele davon fremd. Ein paar von ihnen gehörten zur Familie, von der ich einige selbst kaum kannte. Freunde, Bekannte, Menschen, die mir angeblich nahestanden, aber deren Nähe ich nicht spüren konnte. Heute aber, war ich nichts weiter als eine Schachfigur in Lucias ehrgeizigem Spiel. Ihre Freude an der Organisation konnte ich fast als ansteckend empfinden, wenn ich nicht die Leere in mir spürte – eine Lücke, die nur meine Eltern hätten füllen können. Es war, als wäre ihr Tod der Moment gewesen, in dem sich eine kalte Dunkelheit über mein Leben legte.
Ich stand im Ankleidezimmer. Die gedämpfte Beleuchtung streifte über die Kanten des letzten Bildes meiner Eltern, das ich seit ihrer Beerdigung auf meinem Nachttisch aufbewahrte. Ein geisterhaftes Lächeln schimmerte im Schein der Lampe, welches ihrer Schönheit und dem unerschütterlichen Glanz ihrer Seelen Ausdruck verlieh. Jetzt, nach sieben Jahren, spürte ich, wie sie mich in die Ferne zogen, in eine Vergangenheit, die sich wie eine andere Zeit anfühlet. Ihr Tod würde nie aufhören, Fragen zu hinterlassen, die keine Antworten fanden.
Ich atmete tief ein. Es wurde schwerer, je näher der Abend rückte. Ein Gefühl der Schwere zog sich durch meinen ganzen Körper, und ich wusste nicht genau, woher es kam. Womöglich war ich es selbst, die sich dagegen sträubte, heute die Rolle zu spielen, die Lucia mir aufgedrängt hatte.
Ein leichter Luftzug wehte durch das Zimmer. Ich drehte mich zum Kleiderschrank und ließ meine Finger über die Kleider gleiten. Smaragdgrün fiel mir ins Auge, der seidene Stoff fühlte sich kühl und verheißungsvoll an. Es war nicht nur ein Kleid, es war ein Versprechen – eines, das für Veränderung stand. Für einen Neuanfang. Ein lächerlicher Gedanke, doch heute Abend schien mir alles erlaubt.
Während ich mich in das grüne Kleid hüllte und das seidige Material über meine Haut glitt, hallte ein Knall durch das Haus. Es folgte das energische Poltern von Schritten aus dem Flur, und plötzlich riss Lucia die Tür auf. Ihre Augen musterten mich hektisch, doch als sie mich ansah, breitete sich ein sanftes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
»Himmel, Emilia! Die ersten Gäste kommen in dreißig Minuten, und du träumst vor dich hin«, stöhnte sie und schüttelte den Kopf. Doch es klang nur halb so ernst, wie sie es darstellte.
»Lucia, ich bin fast fertig«, erwiderte ich leise und hielt ihren Blick, doch in mir loderte Unbehagen. »Es tut mir leid, ich war in Gedanken bei… Mamma und Padre« Ich presste die Worte hervor, sie fielen schwer, wie Steinbrocken auf den kalten Marmorboden.
Lucias Gesicht entspannte sich, und sie nahm meine Hände in ihre. »Ach, Mia Bella, entschuldige dich nie für diese Gedanken. Wüssten deine Eltern, wie du hier stehst – wunderschön und stark wie eine Königin – sie wären unendlich stolz auf dich.«
Mit einer Umarmung verabschiedete sie sich, doch ich spüre, dass das Gespräch mich tiefer in meine Erinnerungen riss. So sehr, dass ich vergaß, was ich zu tun hatte. Ich richtete mein schwarzes Haar, legte es in weichen Wellen über meine Schulter, setzte dunkle Akzente um die Augen und zog die Lippen in tiefem Rot nach. In der Vertrautheit des Anblicks in meinem Spiegelbild entdeckte ich etwas Fremdes. Doch zuordnen, was es war, konnte ich nicht.
Dennoch beschloss ich, mich nach unten zu begeben, bevor ich noch mehr Zeit verlor. Der letzte prüfende Blick in den Spiegel zeigte mir, dass ich bereit war – oder mir zumindest einredete, dass ich es war.
Als ich die Treppe hinabstieg, empfingen mich die ersten Stimmen, das Lachen fremder Menschen, die Musik, die wie eine Warnung in meinen Ohren hallte. Jede Stufe, die ich nahm, brachte mich dem Unvermeidlichen näher, dem Moment, in dem ich Teil dieses Spiels wurde.
Einige Gäste drehten sich zu mir um, doch mein Blick wanderte weiter, suchend, ohne zu wissen, wonach. Und da war er. In einer Ecke, wie ein Schatten verborgen, stand einer der Santoro Brüder.Seine Augen ruhten auf mir, so intensiv, dass ein Schauer über meinen Rücken lief.
Ich kannte ihn nur flüchtig - mehr seinen Ruf, der ihm vorauseilte. Ein Ausdruck von tiefer, gefährlicher Neugier lag in seinem Blick. Die Art, die man in einer Menge nie erwartete und man dennoch nie vergaß.
»Emilia!«, rief eine Freundin, und die Stimme riss mich aus meinen Beobachtungen. Ich wandte mich ihr zu, versuchte, das beklemmende Gefühl loszuwerden, das mich in der Dunkelheit dieser Augen gefangen hielt. »Ich… es ist so schön, dich hier zu sehen.« Meine Stimme war schwach, doch es reichte, und sie zog mich in eine Umarmung, die mir für einen Moment das Atmen schwerer machte. Aber nichts konnte mir die Last von den Schultern nehmen, die sich seit dem ersten Blick in meine Seele gebohrt hatte.
Als ich mich wieder umdrehte, war er verschwunden. Doch seine Präsenz schwebte noch immer in der Luft, wie das leise Flüstern einer Drohung, die sich in mein Bewusstsein brannte. Ich bemerkte eine merkwürdige Leere, ein Nichts, das mir wie ein Abgrund erschien. Dieser Abend, dieser Geburtstag … irgendetwas stimmte nicht. Ein seltsames Gefühl kroch in mir hoch, eine dunkle Vorahnung, die mich erschaudern ließ.
Wieder blickte ich in die Menge, suchte nach ihm, doch alles, was ich fand, waren die Gesichter derer, die gekommen waren, um den Schein zu wahren. Die Gläser voller Champagner, das falsche Lächeln auf ihren Lippen und die leeren Worte. Und doch wusste ich, er würde wieder auftauchen. Irgendetwas sagte mir, dass diese Begegnung nicht enden würde, nur weil ich es mir wünschte.
Noch immer schwang diese Stille durch den Raum, wie ein unaufhörliches Flüstern, das niemand außer mir zu hören schien. Etwas, das mich herausforderte, anzog, so intensiv wie die Dunkelheit, die ich längst begraben glaubte. Ich spürte, wie mein Herz unregelmäßig schlug, stärker, schneller, als wäre es schon Teil eines unvorhersehbaren Spiels.
Ich atmete tief ein, richtete mich auf und lächelte ein flüchtiges Lächeln auf den Lippen, das niemandem galt, außer mir selbst. Irgendwas war heute Nacht passiert, das mich verändert hatte.
Bevor ich mich unter die Gäste mischte, zögerte ich einen Moment und griff nach meinem Handy. Ein kurzer Blick auf den Bildschirm: Flavio. Er hätte längst hier sein sollen. In all den Jahren unserer Beziehung war er nie zu spät gekommen. Während ich seine Nummer wählte, spürte ich ein flaues Gefühl in meinem Magen. War ich übertrieben besorgt? Ich schickte ihm eine Nachricht:
Wo bist du? Ich vermisse dich.
Mit einem letzten Blick auf die Uhr atmete ich tief durch und lief die letzten Stufen hinab zum Parkett.
Je näher ich der Menge kam, desto lauter wurden die Stimmen und die Musik, die durch die offenen Türen schallte. Ein Teil von mir wollte diesen Moment festhalten, das letzte Quäntchen Ruhe vor dem Sturm, der mir bevorstand. Doch bevor ich mich orientieren konnte, entdeckte Raffaele mich.
»Liebe Gäste! Unser Ehrengast ist eingetroffen! Die Party kann losgehen!«, rief er mit einer Stimme, die mehr nach einer Ansage als nach einem herzlichen Willkommen klang. Alle Blicke richteten sich auf mich, und ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden. Der verhaltene Applaus der Gäste klang wie das Rauschen der Wellen, die in einem stürmischen Meer zerschlagen wurden. Neben dem Applaus hörte ich meinen Cousin Santo jubeln, als ob er der Einzige gewesen wäre, der den Mut hatte, in dieser angespannten Situation Freude zu zeigen.
Das Unbehagen schnürte mir die Kehle zu, und Santo bemerkte es sofort. Er kam auf mich zu und drückte mir ein Glas Weißwein in die Hand. »Hier, das wirst du bei deiner Panik vor Aufmerksamkeit brauchen«, sagte er grinsend, seine Augen funkelten vor Belustigung.
»Dankeschön, aber ein Glas wird nicht reichen«, antwortete ich, bemüht, meine Nervosität mit einem sarkastischen Tonfall zu übertünchen. »Das hier ist nicht meine erste Party.«
»Ach, komm schon, Emilia! So schlimm wirds nicht. Sie sind alle hier, um dich zu feiern!«, beruhigte er mich, als wäre das die Antwort auf all meine Sorgen. »Ja, sicher, sie sind nur wegen der Feier hier.« Ich lachte leise, doch wir wussten beide: In Catania lässt sich niemand eine Party entgehen, egal wie klein. Gesehen werden, ist alles.
»Hat Lucia ganz Catania eingeladen, oder wer sind all diese Leute? Der Bürgermeister? Wirklich?«, stellte ich genervt fest und bemerkte, wie Lucia, die im Hintergrund stand, mit ihren Gästen lachte.
»Dein Freund scheint seine Einladung nicht bekommen zu haben – oder was könnte seine Entschuldigung für sein Fernbleiben sein?«, stichelte er amüsiert und musterte mich mit einem durchdringenden Blick. Aber er hatte recht. Flavio war nicht hier, und ich hatte nichts von ihm gehört. Kein Anruf, keine Nachricht. Was war mit ihm los?
»Emilia! Santo!«, rief Lucia, als ob sie meine inneren Gedanken durchschaut hätte. »Kommt zu uns. Wir sprachen darüber, was für eine wunderbare junge Frau du geworden bist.«
Ich verdrehte die Augen in Santos Richtung, woraufhin er nur lachte und sich von mir abwandte. »Viel Glück, Emi«, murmelte er und verschwand in der Menge, wie ein Vogel, der flüchtig aufstieg und schnell im Dickicht untertauchte.
So stand ich mit Lucia und zwei ihrer Freundinnen vom Golf Club zusammen, die sich über ihren neuen Trainer unterhielten. Ich versuchte, am Gespräch teilzunehmen, doch als sie wieder ins Schwärmen verfielen, nutzte ich die Gelegenheit zur Flucht. »Entschuldigt, ich werde mal die anderen Gäste begrüßen«, sagte ich freundlich und schob mich an ihnen vorbei.
Mit einem Glas Wein in der Hand durchquerte ich den Raum, begrüßte einige Familienfreunde, führte Small Talk mit Kommilitonen, innerlich war ich aber mit meinen Gedanken woanders. Ich suchte nach Raffaele, um über den weiteren Ablauf des Abends zu sprechen, doch ich konnte ihn nirgends entdecken. Mein Blick wanderte zum Eingang, und ich bemerkte, wie meine Großmutter hereinkam.
Ihre Anwesenheit freute mich. Sie war ein Lichtstrahl in der Dunkelheit, die sich in den letzten Jahren über mein Leben gelegt hatte. Sie wusste, wie ungern ich im Mittelpunkt stand, und schaffte es immer, mich zu beruhigen. Ich lief sofort zu ihr und umarmte sie herzlich. »Nonna, du hast es geschafft! Ich freue mich! Erzähl mir alles über deine Reise nach London.«
In ihrer Nähe fühlte ich mich sofort wohler. Die Sorgen, die sich wie ein schwerer Mantel um meine Schultern gelegt hatten, schmolzen dahin. »Emilia, meine wunderschöne Enkeltochter!Sieh dich nur an, so schön wie deine Mutter und so elegant wie dein Vater« Sie strahlte und bei der Erwähnung meiner Eltern wurde mein Herz schwer. Sie nahm meine Hand, als wüsste sie, wie sie die Traurigkeit vertreiben konnte.
»Ich weiß, du vermisst sie, das tue ich ebenso - jede Sekunde. Aber glaub mir, sie würden wollen, dass du heute Abend strahlst. Du trägst sie in deinem Herzen und nimmst sie auf all deinen Wegen mit. Vergiss das nie, Emilia«, sagte sie ermutigend, ihre Stimme war warm und einfühlsam.
»Du weißt immer, wie du mich beruhigen kannst. Danke, dass du hier bist. Mehr hätte ich mir nicht wünschen können«, erwiderte ich dankbar. Doch als mein Blick zur Tür wanderte, bereute ich diese Aussage.
Onkel Armando, Tante Vittoria und Cousin Meo traten ein. Ein tiefer Abgrund tat sich vor mir auf, und ich wusste, der Abend wäre perfekt gewesen, hätten diese drei sich nicht hier blicken lassen. Sie gehörten zur Familie, aber ich hatte nie einen Draht zu ihnen.
Mein Onkel, mit seinem kalten, distanzierten Ausdruck, war für mich ein Rätsel, das ich nicht lösen wollte. Bei der Beerdigung meiner Eltern stand er eiskalt am Grab, sein Blick war so emotionslos, dass ich ihn mir nicht erklären konnte. Fast so, als würde es ihm nichts ausmachen, dass er seinen Bruder und seine Schwägerin verloren hatte.
Einzig Santo lag mir am Herzen. Er war anders – ein Freigeist. Mit 19 hatte er sein Kunststudium begonnen, gegen die Pläne seiner Eltern, die wollten, dass er ins Familienunternehmen im Import-Export einsteigt. Leider konnte ich ihn nicht dazu überreden, Jura zu studieren. Es wäre schön gewesen, ihn täglich an der Uni zu sehen.
Meo hingegen ähnelte seinem Vater. Manchmal fragte ich mich, ob er eine Kooperation mit einem Vaseline-Hersteller hatte, so tief steckte er im Hintern seines Vaters. Aber wie sagt man so schön: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Meo passte perfekt in diese Welt. Er studierte irgendetwas mit Wirtschaft und arbeitete im Familienunternehmen. Was er dort tat, hatte ich nie gefragt. Ehrlich gesagt, wollte ich es nicht einmal wissen.
Plötzlich riss mich die Stimme meiner Nonna aus meinen Gedanken, als sie mich aufforderte, die Neuankömmlinge zu begrüßen. Glücklicherweise ertönte das Läuten einer Glocke. Ein Kellner forderte die Gäste auf, im großen Saal Platz zu nehmen, da das Essen gleich serviert werden würde. Jackpot! Mit einem aufgesetzten Lächeln begrüßte ich die Drei schnell und machte mich auf den Weg in den Saal.
Im großen Speisesaal war alles festlich gedeckt. Der Tisch war ein wahres Kunstwerk aus edlem Porzellan, Gläsern, die im Licht schimmerten, und Blumenarrangements, die nach Frische und Eleganz dufteten. Während ich mir einen Platz suchte, drifteten meine Gedanken immer wieder zu Flavio ab. Wo war er? Was konnte ihn nur aufgehalten haben?
Ich setzte mich an einen der Tische und suchte erneut nach Raffaele. Der Raum schien sich vor mir zu drehen, als die ersten Gänge serviert wurden. Die Worte der Gäste um mich herum wirbelten sich zu einem Chaos zusammen.
»Emilia, warum schaffst du es nicht, dich zu entspannen?«, fragte Lucia, die plötzlich neben mir auftauchte, als wüsste sie, was in meinem Kopf vor sich ging. »Du solltest mehr trinken. Das wird dir helfen, die Aufregung loszulassen.«
»Ich bin nicht aufgeregt«, entgegnete ich und nippte an meinem Wein. »Es ist nur … ich erwarte jemandem.«
»Hoffentlich nicht den, der nicht gekommen ist.« Lucia war hartnäckig, das wusste ich. Ihre Augen blitzten vor Neugier, und ich spürte, dass sie sich über Flavio amüsierte. Doch heute Abend würde ich nicht zulassen, dass irgendjemand sich über ihn lustig macht.
Die restlichen Gäste setzten sich auf ihre zugewiesenen Plätze. Der Raum lag eingehüllt in ein sanftes Licht, das von glitzernden Lichterketten herabregnete, und ich musste zuzugeben, dass Lucia hier ganze Arbeit geleistet hatte. Mit seiner harmonischen Atmosphäre wäre dieser Saal perfekt für eine Hochzeit. In Weiß und zarten Pastelltönen gehalten, waren die runden Tische ein elegantes Stillleben aus Blumenarrangements und filigranem Silberbesteck.
Aber eine prunkvolle Party? Das war nicht meine Welt. Ich hätte den Abend lieber im kleinen Kreis verbracht – mit einem Film und Popcorn, so wie wir es früher zu dritt gemacht hatten, als meine Eltern lebten. Doch so war Lucia: Sie drückte Liebe durch Gesten aus, die größer waren als das Leben. Sie und Raffaele waren wie eine zweite Familie für mich, obwohl ich wusste, dass ihr Lächeln manchmal verbergen sollte, was für sie selbst in der Ferne lag.
»Vielen Dank für alles, ihr zwei«, sagte ich und sah die beiden an, während sich meine Stimme verräterisch senkte. »Worte reichen nicht aus, um euch zu zeigen, wie dankbar ich bin, dass ihr mich aufgenommen habt. Für das ... alles hier.«
Raffaele nickte nur leicht, seine Hand legte sich schützend auf meine. »Wir haben deinen Eltern versprochen, alles zu tun, als wärst du unser eigenes Kind«, erwiderte er leise, ein Hauch von Schwermut in seiner Stimme. Ihre Kinderwünsche hatten sich nie erfüllt, und ich wusste, dass die Beziehung zwischen uns daher umso bedeutungsvoller war. »Du verdienst alles – und mehr. Was auch kommen mag. Wir sind an deiner Seite.«
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Seine Worte schienen eine tiefere Bedeutung zu tragen, doch ich schüttelte diesen Gedanken schnell ab. »Was auch kommen mag?«, fragte ich halb scherzhaft, halb verwirrt. Doch in diesem Moment erhob sich meine Großmutter, und ihre sanfte Stimme durchschnitt das Gemurmel der Gäste.
»Meine geliebte Emilia, liebe Familie und Freunde! Ich möchte heute mit euch auf meine wunderschöne Enkelin anstoßen. Schon in wenigen Stunden wird sie 21! Wo ist nur die Zeit geblieben? Deine Eltern, liebe Emilia, haben dich zu einem außergewöhnlichen Menschen erzogen, und Lucia und Raffaele haben ihren Teil dazu beigetragen. Du bist zu einer wundervollen jungen Frau herangewachsen. Und du kannst stolz auf all das sein, was du bisher erreicht hast.«
Ihre Worte ließen mich erröten, trotzdem war mein Lächeln aufrichtig, und ich umarmte sie fest. Ich hörte den Applaus der Gäste, doch in meiner Brust spannte sich etwas an – ein flüchtiger Gedanke, der sich durch die scheinbare Perfektion des Abends zu bohren schien.
Raffaele und Lucia hatten nichts dem Zufall überlassen. Die Menüs umfassten alles – exquisites Steak, Kaviar, sogar Krokodilfleisch. Doch während die Gäste uns mit Lob überschütteten und bei jedem Gang tiefer in das dekadente Essen eintauchten, wuchs mein Unbehagen. Wo war Flavio? Er hatte versprochen, hier zu sein. Der pünktlichste Mensch, den ich kannte, und doch – keine Nachricht, kein Anruf. Ich kämpfte gegen das flaue Gefühl im Magen und entschloss mich, meine Fassade zu wahren.
Der Raum wurde zunehmend lebhafter, die Stimmen der Gäste erfüllten die Luft, und als Sarà, perché ti amo aus den Lautsprechern erklang, verwandelte sich der Abend in eine ausgelassene Feier. Die Leute erhoben sich, um zu tanzen oder das nächste Glas Wein zu genießen. Der perfekte Moment, unauffällig dem Geschehen zu entfliehen.
Mit einem Whiskyglas in der Hand schob ich mich durch die Menge zur Terrassentür und trat in die frische Nachtluft hinaus. Der kühle Wind war wie eine Erlösung und ich zog mein Handy hervor, um Flavio anzurufen. Der Moment wurde durch eine tiefe, eindringliche Stimme unterbrochen.
»Whisky? Du hast Geschmack, Emilia. Das muss ich dir lassen.« Ich drehte mich um und sah in ein Paar durchdringende Augen. Ein Mann trat näher, sein Gesicht nur halb im Licht der Terrasse zu erkennen - Dante Santoro.
Die Santoro-Brüder, bekannt dafür, nie weit entfernt, wenn es um Macht und Einfluss in der Stadt ging. Die beiden führten das Familienunternehmen in den düstersten Ecken des Geschäfts, von exklusiven Casinos bis hin zu Gerüchten über ihren Handel auf dem Schwarzmarkt.
»Kennen wir uns?«, fragte ich und gleichzeitig abwehrend, nicht gewillt, ihm mehr als ein kleines Spiel der Worte zu geben.
»Nicht direkt«, entgegnete er gelassen. »Aber ich weiß, wer du bist – und du weißt, wer ich bin.« Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. »Eine Einladung der d’Amicos – das lässt man sich nicht entgehen.«
»Die Santoros verpassen keine Party, wie? Ist dein Bruder auch hier?« Ich bemerkte die Schärfe in meiner Stimme und fand sie passend.
»Ja. Ich glaube, Luca hat eine der Bardamen in Beschlag genommen«, antwortete er trocken mit einem amüsierten Lächeln, das sogar seine Augen erreichte.
»Und wie gefällt dir die Party bisher?«
»Ich genieße das Spektakel lieber aus der Ferne mit einem Drink in der Hand. Aber keine Sorge, die richtigen Dramen beginnen erst nach Mitternacht.« Er lachte leise und neigte den Kopf.
»So so. Es scheint, als könnte es ein wenig… aufregender werden.« Seine Augen hafteten auf mir, und ich sah den kalten Hauch der Gefahr, die er ausstrahlte.
In diesem Moment spürte ich plötzlich eine vertraute Umarmung hinter mir. Eine Hand legte sich fest um meine Taille, und Flavios tiefe Stimme erklang in meinem Ohr. »Schatz, es tut mir leid, dass ich zu spät bin.« Seine Augen verengten sich, als er Dante ansah, die Spannung in der Luft spürbar. »Aber ich sehe, du hattest Gesellschaft.«
Dante grinste und hob sein Whiskyglas. »Keine Sorge, Di Santis. Du kannst deine Freundin für dich haben.«
Seine Augen wanderten ein weiteres Mal in meine Richtung, bevor er das Glas an seine Lippen führte. »Bis später, Emilia! War nett.« Damit wandte er sich ab und verschwand ins Dunkel des Saals.
»Wo zur Hölle warst du?«, zischte ich leise, ohne den Griff um meinen Drink zu lockern. »Du weißt, was der Abend bedeutet, und dann lässt du mich hier stehen?«
Er schaute weg, ein Hauch von Ärger in seinem Gesicht. »Beruhige dich, Emilia. Ich bin doch jetzt hier. Das war ein Notfall – ich musste meinem Vater bei einem Geschäft helfen.« Sein Ton wurde etwas weicher, als er mich ansah. »Und jetzt bin ich hier, und wir feiern zusammen. Bald bist du offiziell 21.« Er küsste sanft meine Stirn, doch in diesem Moment spürte ich die Distanz.
Als wir wieder in den Festsaal zurückkehrten, schien das bunte Treiben des Abends ein wenig gedämpft, wie in Watte gepackt. Die Blicke der Gäste waren auf uns gerichtet und aus irgendeinem Grund schien mir der Moment, wie eine Szene aus einem dieser düsteren Filme, in denen ein makelloser Anschein etwas zu verbergen schien.
Flavio führte mich an seiner Seite durch den Saal, vorbei an tanzenden Gästen. Der Duft von teurem Parfum, gemischt mit dem sanften Aroma des Champagners, lag in der Luft, während der DJ geschickt zwischen den Tracks wechselte. Eine Playlist, die keine Wünsche offenließ. Flavio drückte meine Hand etwas fester und lächelte selbstgefällig.
»Tanzen wir, Bella«, murmelte er in mein Ohr. »Bevor die ganze Gesellschaft dich mit Glückwünschen überhäuft.«
Ein Hauch von Stolz blitzte in seinen Augen auf, und ich spürte seinen Arm wie eine sanfte Klammer um meine Taille. Doch meine Aufmerksamkeit driftete ab, als ich die Menschen um uns herum musterte – Gesichter, die ich entweder nicht kannte oder denen ich nur allzu gern aus dem Weg gegangen war. Allen voran: mein Onkel und meine Tante Vittoria, umgeben von ihrem Gefolge. Ich spürte das ungute Ziehen im Bauch, das ich immer bekam, sobald ich Armando begegnete.
Bevor ich einen Plan schmieden konnte, wie ich ihm aus dem Weg gehen könnte, stand er schon vor uns, begleitet von Vittoria,die sich hinter ihrem schweren Make-up und dem falschen Lächeln versteckte. Er ignorierte mich mit einer demonstrativen Arroganz, während er Flavio die Hand reichte und ihm auf die Schulter klopfte. So wie er mit ihm sprach, hätte man meinen können, Flavio sei sein eigener Sohn. Mein Magen verkrampfte sich, und ich zog meinen Arm aus Flavios Griff.
Während die beiden ein Gespräch über die Entwicklung des Familienunternehmens führten, nutzte ich die Gelegenheit, um mich unauffällig aus dem Staub zu machen. Ich lief zur Bar rüber, ließ das Gemurmel und die falschen Lacher hinter mir und atmete tief durch. Ich brauchte unbedingt eine Pause von dieser Scheinwelt.
»Einen doppelten Whisky, bitte«, sagte ich zum Barkeeper, der mich kurz musterte und mir dann wortlos einschenkte. Mit meinem Glas in der Hand ließ ich meinen Blick durch den Saal schweifen und entdeckte Dante und seinen Bruder Luca, wie sie lässig auf der anderen Seite der Bar standen und die Menge beobachteten. Das Lächeln, das sich auf meine Lippen stahl, überraschte mich selbst, und obwohl ich wusste, dass Flavio es nicht mögen würde, ging ich auf die beiden zu.
»Hey! Du musst Luca sein, der heiß begehrte Bruder, den man nicht so leicht zu Gesicht bekommt«, begrüßte ich ihn und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Doch Luca musterte mich nur kurz und ließ ein trockenes Lachen hören, bevor er wieder an seinem Glas nippte. Die Spannung zwischen ihm und seinem Bruder war förmlich greifbar.
Dante seufzte und hob unbemerkt eine Augenbraue. »Luca, das ist Emilia. Die Gastgeberin«, stellte er mich vor.
Luca schüttelte kaum merklich den Kopf und starrte mich dann direkt an. »Ich weiß, wer sie ist, Dante. Ich brauche keine Nachhilfe.«
Die Spannung in der Luft war messerscharf, doch Dante ignorierte die kalte Art seines Bruders und tätschelte ihm unbeeindruckt den Arm. »Sei nett.« Luca verdrehte die Augen und verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln.
»Verzeih mir, Bellezza. Aber das hier ist nichts für empfindliche Gemüter.« Er ließ den Blick provokant über meine Schulter schweifen. »Nicht, wenn Di Santis plötzlich auftaucht.«
Ich beobachtete die beiden Brüder, die sich ein stummes Duell der Blicke lieferten. »Ernsthaft, Luca? Vergiss nicht, wie wir solche Situationen sonst regeln.« Dante sprach leise, aber seine Worte waren eine deutliche Warnung.
»Na klar, ich weiß schon.« Luca hob die Hände, als wäre es ihm alles andere als ernst, und wischte sich dann lässig über die Lippen. »Ich hab doch recht – so eine Frau wie sie und ein Kerl wie Di Santis? Das ergibt in keinem Universum Sinn.«
Mir war klar, dass Luca nur provozieren wollte, aber irgendetwas in seinem Blick ließ mich zögern. War da etwa mehr als eine grundlose Abneigung zwischen Flavio und den Brüdern?
Ich war dabei, Dante darauf anzusprechen, als der DJ die Musik abrupt stoppte und die Lichter im Saal etwas gedimmt wurden. Der Countdown bis Mitternacht begann, und die Gäste, die sich bisher verstreut hatten, fanden sich wieder ein und formten einen Kreis um mich. Es war Zeit. Die Sekunden zogen sich, als ich die Blicke spürte, die alle auf mir ruhten. Armando war ebenfalls in die Menge getreten und stand so, dass ich seinem Blick unmöglich entkommen konnte.
»Happy Birthday!«hallte es durch den Saal, während Konfetti in die Luft geworfen wurde. Stimmen erfüllten den Raum, und als ich mich lächelnd und dankend den Gratulanten zuwandte, tauchte Flavio wieder an meiner Seite auf und zog mich in eine enge Umarmung.
»Auguri, amore mio«, flüsterte er mir ins Ohr und ließ seine Lippen gefährlich nah über meinen Hals gleiten, bevor er mich mit einem langen, leidenschaftlichen Kuss vor aller Augen markierte. Doch irgendetwas war anders. Es lag ein Besitzanspruch darin, der mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. »Heute Nacht gehörst du mir«, sagte er leise und sah mich mit einem Blick an, der mir ein Gefühl der Beklemmung einflößte.
Ich wollte etwas erwidern, doch seine Hand strich mir sanft über den Rücken, und ich bemerkte, wie sein Griff fester wurde. »Flavio, das hier ... ist nicht der richtige Moment.« Ich versuchte, besonnen zu bleiben, aber er ließ nicht locker.
»Ach, Baby«, flüsterte er, seine Stimme gesenkt. »Du kannst mich nicht ewig zappeln lassen. Es ist doch nur eine Frage der Zeit.«
Die Kälte in seiner Stimme ließ mein Herz schneller schlagen. »Hör auf. Das ist nicht der richtige Ort dafür«, flüsterte ich zurück. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, doch bevor er etwas sagen konnte, spürte ich eine kräftige Hand, die mich fest am Arm packte.
»Emilia!« Die tiefe, raue Stimme meines Onkels durchdrang die Feier. Sein Griff war eisern und unnachgiebig. »Komm her, Geburtstagskind.« Ich wollte mich losreißen, doch er ließ mir keinen Raum zu entkommen. Flavio wich etwas zurück, sichtlich überrascht, doch ich konnte ihn nicht lange ansehen, denn Armando zog mich fest zu sich.
»Verehrte Gäste«, begann er laut, sein Blick über die Menge schweifend, »Ich möchte meiner Nichte zum Geburtstag gratulieren. Und was wäre ich für ein Onkel, wenn ich kein Geschenk mitgebracht hätte?«
Sein Lächeln war kalt, und ich bemerkte, wie sich eine unbehagliche Stille im Saal ausbreitete.
»Armando, was soll das?«, fragte ich erschrocken. Mein Blick glitt zu Lucia und Raffaele, deren Gesichter eine Mischung aus Sorge und Verzweiflung widerspiegelten.
»Du wirst schon sehen«, sagte er, ohne seinen Blick abzuwenden. »Ich hoffe, du bist bereit für dein Geschenk.«
Mein Herz raste. Etwas stimmte hier absolut nicht. »Was soll das? Hör auf mit diesem Unsinn«, rief ich, doch er drückte meinen Arm nur fester.
Meine Nonna trat vor, ihre Stimme bebend. »Lass das. Bitte, Armando! Nicht heute und nicht hier.«
Er ignorierte sie und wurde lauter. »Nein! Es ist Zeit, dass jeder hier die Wahrheit erfährt! Ihr hattet 21 Jahre Zeit, dieses Gerüst aus Lügen aufrechtzuerhalten. Damit ist jetzt Schluss!«
Die Worte hallten in meinem Kopf wider, wie Donner in einer sonst stillen Nacht. Ich sah zu meiner Familie, die aussahen, als hätten sie jeden Lebensfunken verloren. Tränen sammelten sich in Lucias Augen, und Raffaele starrte regungslos auf den Boden.
»Wovon sprichst du?«, stammelte ich, während sich die Blicke der Gäste auf mir sammelten.
»Deine perfekte, ach so heilige Familie hat dich dein ganzes Leben lang belogen. Deine Eltern haben damit begonnen und alle anderen haben mitgemacht«, spottete Armando. »Glaubst du, du bist diejenige, die hier die Zügel in der Hand hält?«
»Armando, bitte«, schrie meine Nonna erneut, doch ihre Worte schienen in der Luft zu verhallen. Der hasserfüllte Ausdruck in seinen Augen ließ keinen Zweifel daran, dass das, was er gleich sagen würde, mein Leben für immer verändern würde.
Die Luft im Festsaal schien wie aus Glas geblasen – gefährlich und zerbrechlich zugleich. Und ich war mittendrin, das Zentrum eines unausweichlichen Sturms. Armando hielt mich weiterhin fest im Griff, seine Finger drückten sich in mein Handgelenk, und er stand so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte. Hatte er den Verstand verloren? Ich sah ihn an, ungläubig und wütend. Doch es war nicht nur der Zorn, der in mir brodelte. Furcht durchflutete mich. Die Menschen um uns herum starrten, manche mit offener Verwirrung, andere mit entsetzter Neugier – aber niemand unternahm etwas.
In diesem Moment drang eine Stimme durch das Schweigen.
»Behandelt man so eine Frau? Wenn du deine ‚große Wahrheit‘ verkünden willst, dann tu es. Aber verhalte dich nicht wie ein Arschloch.« Lucas’ Stimme schnitt scharf durch den Raum und sein Tonfall triefte vor Sarkasmus. »Lass sie los. Sie wird kaum wegrennen wie eine Sprinterin – nicht in diesem Kleid und mit diesen Schuhen.«
Die Art, wie er Armando ansprach, ließ mir kurz die Luft stocken. Meinem Onkel gefiel das gar nicht. Schmerz jagte mir durch den Arm, und bevor ich mich zurückhalten konnte, entfuhr mir ein kleiner Aufschrei.
»Aua! Lass mich endlich los.« Aber es war, als würde er mir nicht mal zuhören.
»Santoro«, zischte er mit einer Drohung in der Stimme, »misch dich nicht in meine Angelegenheiten ein. Das wäre ein großer Fehler.«
»Es reicht!« mischte sich Dante ein. Seine Stimme war fest und unerschütterlich und die Spannung im Raum spitzte sich weiter zu. »Was immer du hier für ein Schauspiel abziehst, spuck es aus. Und wage es nicht, meinem Bruder noch ein einziges Mal zu drohen.«
Armandos Griff lockerte sich widerwillig, und ich stolperte ein wenig, als er mich losließ. Doch sein Blick blieb stechend kalt, als er vor mir stehen blieb. Dann griff er nach meinem Kinn und zwang mich, ihn direkt anzusehen. Seine Augen waren wie die eines Raubtiers – kalt und kalkulierend.
»Wie fühlt es sich an, Teil der Mafia zu sein?« Seine Stimme war provokant, jeder Ton traf mich wie ein Schlag. »Deine ganze Familie hat dich glauben lassen, dass du ein normales Leben führen kannst, aber das war eine Lüge. Schau dich um – du bist umgeben von Verrätern.«
Meine Welt brach in diesem Moment auseinander. Ich versuchte, in den Gesichtern der Menschen, die ich mein Leben lang geliebt hatte, eine Spur des Widerspruchs zu finden, aber stattdessen traf ich nur auf Schuld, Scham und versteckte Blicke. Mein Blick fiel auf meine Nonna, die den Kopf gesenkt hielt, als könnte sie die Last ihrer eigenen Lügen nicht ertragen.
Meine Beine wurden weich, mein Kopf begann zu schwirren. Das konnte nicht wahr sein. Diese Offenbarung konnte nicht ausgerechnet aus dem Mund des Mannes kommen, der mich nie als seine Nichte betrachtet hatte, sondern immer nur als Problem. Und jetzt war mir klar warum.
In einem verzweifelten Moment drehte ich mich um und rannte zum Ausgang. Die kalte Luft der Nacht schlug mir entgegen, als ich die schwere Tür hinter mir ins Schloss fallen ließ. Mein Herz raste, mein Atem ging stoßweise. Ich löste die Riemen meiner High Heels und zog sie aus. Meine Füße trugen mich wie von selbst, ohne dass ich wahrnahm, wohin ich lief. Ich wollte nur weg.
Barfuß lief ich auf den gepflasterten Straßen, mit Tränen, die mir über das Gesicht liefen und fand ich mich nach einiger Zeit am Hafen von Catania wieder. Wir wohnten nur wenige Minuten entfernt und den Weg kannte ich im Schlaf, so oft war ich ihn schon gelaufen. Die schimmernden Lichter der Stadt spiegelten sich im Wasser, und die Dunkelheit bot mir die Einsamkeit, die ich in diesem Moment verzweifelt brauchte.
Ich setzte mich auf eine alte Holzbank und umklammerte meine Knie, die Tränen wollten nicht versiegen. Mein Leben war eine Lüge – ein inszeniertes Theaterstück, in dem ich die einzige unwissende Figur war. Ich verstand nicht, wie sie das alles vor mir verbergen konnten. Lucia, Raffaele, meine Nonna… jeder von ihnen hatte mich betrogen. Und Armando? Der hatte genüsslich zugesehen und am Ende die Maske heruntergerissen.
Plötzlich hörte ich ein leises Knacken hinter mir und schrak hoch. Ich drehte mich um und sah Dante, der im Schatten stand. Sein Gesicht war im schwachen Licht kaum zu erkennen.
»Emilia… Ist alles in Ordnung?« Seine Stimme klang sanft, und für einen Moment war ich unfähig zu sprechen, so tief saß der Schmerz. »Doch eine Sprinterin«, murmelte er und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen.
Mir entwich ein bitteres Lachen. »Bist du hier um, um dich über mich zu amüsieren? Das naive Mädchen, das Jura studiert, aber nicht eine Sekunde Bescheid wusste, dass ihre Familie die Mafia ist? Alle wussten es.« Meine Stimme bebte vor Zorn und Enttäuschung. »Und dann lassen sie es zu, dass ausgerechnet Armando mir die Wahrheit offenbart.«
Dante seufzte tief und setzte sich neben mich auf die Bank, ohne mir zu nahe zu kommen. »Ich bin nicht hier, um sich amüsieren. Wenn die Gastgeberin tränenüberströmt ihre eigene Party verlässt, kommt selbst in mir etwas Mitgefühl auf. Ich bin mir sicher, dass deine Familie dich schützen wollte. Das ist die einzig logische Erklärung.«
»Schützen?« Ich schüttelte den Kopf und schnappte nach Luft. »21 Jahre! Und sie haben mir immer nur diese falsche, heile Welt gezeigt. Mein ganzes Leben war nur eine Illusion.«
»Ich verstehe, dass das alles zu viel ist. Aber du solltest mit ihnen sprechen, bevor du ein endgültiges Urteil fällst.«
»Nein«, rief ich mit rauer Stimme. »Das Vertrauen ist zerbrochen. Alles, woran ich geglaubt habe, hat sich in Luft aufgelöst.«
Er neigte den Kopf und musterte mich aufmerksam. »Vielleicht sollten wir dich erst mal hier wegbringen. Das hier ist nicht der Ort, um Entscheidungen zu treffen, die dein Leben verändern werden. Kann ich dich irgendwo hinbringen?«
Ich nickte widerwillig. Der Gedanke, weiter allein in der kalten Dunkelheit zu sitzen, fühlte sich überwältigend an. Ich kannte ihn nicht wirklich und trotzdem vermittelte er mir das Gefühl von Sicherheit, dass ich in diesem Moment so dringend brauchte. »Wie hast du mich überhaupt gefunden?«
»Manchmal ist ein kleiner Fingerzeig alles, was man braucht. Deine Nonna hat es mir gesagt – ich habe mich nicht selbst auf die Suche gemacht.«
Meine Nonna. Selbst jetzt versuchte sie, für mich da zu sein, ohne direkt vor mir zu stehen. Es machte mich wütend und doch ein wenig traurig.
»Ich werde mir ein Taxi rufen, der letzte Ort, an dem ich jetzt sein möchte, ist zu Hause.«
»Nein! Ich lasse dich nicht mitten in der Nacht hier allein zurück. Du kommst mit mir.«
»Kannst du mich zu einem Hotel oder so fahren?«, sagte ich und Erschöpfung breitete sich in jeder Faser meines Körpers aus. »Weit weg von all dem.«
»Na klar. Komm mit.«
Dante führte mich zu seinem Wagen, einem glänzenden schwarzen Mustang, und öffnete mir die Tür. Die Fahrt verlief in Stille, und es war genau das, was ich brauchte. Worte hatten momentan keinen Platz in meinem Kopf.
Nach einer kurzen Fahrt lenkte er den Wagen auf einen Parkplatz. Beim Blick aus dem Fenster erkannte ich, dass wir am Plaza waren. Dante stieg aus, lief um den Wagen herum, öffnete mir die Tür und half mir vorsichtig heraus. Am Eingang hielt ich kurz inne und drehte mich zu ihm um. »Ich schaffe das allein. Danke, dass du mich gefahren hast. Bitte sag niemanden, wo ich bin.«
Sein Blick ruhte einen Moment auf mir, bevor er antwortete: »Ruh dich aus. Morgen wird sich alles klarer anfühlen.«
Ich nickte und zwang mich zu einem leisen »Ja, mal sehen.« Mit meinen Schuhen in der Hand ging ich zur Rezeption, wo ich mir ein Zimmer buchte – nicht irgendeines, sondern die Suite mit Blick auf die Stadt. Das war etwas, das ich mir verdient hatte, um mir selbst zu zeigen, dass ich immer Kontrolle über mein Leben hatte – nicht über meine Vergangenheit, aber zumindest über diesen Moment.
Die Suite war wunderschön, und als ich die Fenster öffnete, schwebte ein Hauch von Freiheit herein, wie ein sanfter Kuss auf meiner Seele.
Völlig erschöpft von den letzten Stunden, legte ich mich auf das große Bett und fiel nach wenigen Minuten in einen ruhelosen Schlaf.
Langsam öffnete ich die Augen. Die ersten Sonnenstrahlen krochen durch die Vorhänge der Suite und tauchten den Raum in ein gedämpftes Licht. Es dauerte einige Sekunden, bis mir klar wurde, wo ich war. Das riesige Bett schien mich förmlich zu verschlingen, als wollte es mich vor der Realität schützen, die draußen wartete. Ich trug immer noch, das Kleid von gestern. Ich setzte mich auf und augenblicklich durchzuckte ein stechender Schmerz meinen Kopf. Die Nacht eskalierte – ein Albtraum, der sich so in meine Gedanken eingebrannt hatte, dass ich kaum wusste, wo es endete und meine persönliche Hölle begann.
Jede Bewegung fühlte sich zäh und schwer an, als hätte die Erkenntnis, dass mein bisheriges Leben eine Lüge war, mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich zwang mich, aufzustehen, obwohl sich alles in mir dagegen sträubte. Mein Kopf schmerzte, als ob jemand mit einem Hammer darauf einschlagen würde, und die Erschöpfung ebenso in jedem Muskel meines Körpers. Ein Gedanke dominierte alles: Kaffee. Schwarzer hoch dosierter Kaffee. Am liebsten intravenös.
Mühsam erhob ich mich vom Bett, da begann mein Handy, auf dem Nachttisch zu vibrieren. Ich hatte es gestern Nacht ignoriert, als ich nach der Enthüllung die Villa verlassen hatte. Widerwillig griff ich danach und entsperrte das Display. Unzählige Benachrichtigungen leuchteten auf. Dutzende Anrufe und Nachrichten von meiner Großmutter, von Lucia und sogar drei verpasste Anrufe von Santo. Doch das Schlimmste waren die endlosen Nachrichten von Flavio:
Wo bist du?
Warum meldest du dich nicht?
Emilia, bitte antworte mir.
Ich schnaubte verächtlich und schob das Handy zur Seite. Was dachte er sich? Dass er mit ein paar Nachrichten alles ungeschehen machen konnte? Er hatte mich mit all dem allein gelassen und jetzt tat er so, als ob Worte die Wunden heilen könnten. Ich war nicht mehr dieselbe, wie vor ein paar Stunden. Etwas in mir war zerbrochen, aber gleichzeitig hatte es etwas Neues in mir entfacht – eine Dunkelheit, die ich zuvor nicht gekannt hatte. Ein Feuer, das von Hass und Enttäuschung genährt wurde.
Mit einem tiefen Seufzen schälte ich mich aus meinem zerknitterten Kleid und ließ es achtlos zu Boden fallen. Ich ging ins Bad und drehte das Wasser in der Dusche auf, so heiß, dass der Raum sich in Sekunden mit Dampf füllte. Der Wasserstrahl prasselte auf mich nieder, und für einen Moment schloss ich die Augen, stellte mir vor, wie der warme Strom all den Dreck, den Schmerz und die Lügen wegspülte. Aber als ich die Augen wieder öffnete, war die Realität dieselbe: Ich stand hier, verlassen und betrogen, mein Körper war schwer von den Ereignissen der Nacht,meine Gedanken waren ein chaotisches Wirrwarr aus Fragen und Vorwürfen.
Als ich aus der Dusche stieg, wickelte ich mich in einen weichen, flauschigen Bademantel. Ich trat zurück ins Schlafzimmer und ließ mich auf das Bett fallen. Da klopfte es an der Tür. Ein Geräusch, das in der stillen Suite bedrohlich wirkte. Ich runzelte die Stirn. Wer könnte das sein? Misstrauisch erhob ich mich und ging zur Tür.
»Zimmerservice!« Die Stimme war freundlich, doch ich hatte nichts bestellt. Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt breit. Eine junge Frau in Hotel Uniform stand vor mir, das strahlende Lächeln auf ihren Lippen passte nicht zu meiner düsteren Stimmung.
»Guten Morgen, Signorina d’Amico«, sagte sie freundlich. »Ein Gruß des Hauses. Außerdem wurde dieses Paket von Signor Santoro für Sie hinterlegt.« Sie schob einen Servierwagen in die Suite, beladen mit einem luxuriösen Frühstück: Croissants, frischer Orangensaft, Eier Benedict und eine Flasche Champagner. Auf dem silbernen Tablett lag ein in feines Papier gewickeltes Paket.
Mein Herz machte einen Sprung, als ich den Namen Santoro hörte. Dante. Warum schickte er mir Frühstück? Warum tat er das überhaupt? Nach gestern Nacht hätte ich erwartet, dass er sich wie alle anderen von mir abwendet. Doch ich irrte mich.
»Richten Sie meinen Dank aus«, murmelte ich knapp und griff in meine Tasche, um ein paar Geldscheine herauszuholen. Die Dame bedankte sich höflich, nahm das Trinkgeld entgegen und verließ die Suite, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Ich setzte mich auf die Bettkante und betrachtete das Paket. Meine Finger zitterten leicht, als ich es aufriss. Ein schlichter Zettel kam zum Vorschein.
Niemand sollte an seinem Geburtstag einen Walk of Shame hinlegen müssen, erst recht nicht, wenn es gar kein echter ist. P.S.: Falls du ein Taxi brauchst, lass es mich wissen.
- Dante
Darunter hatte er seine Nummer hinterlassen. Ich legte die Karte zur Seite und öffnete das Paket weiter. Ein Kleid kam zum Vorschein. Schwarz, elegant, schlicht, aber doch mit einem Hauch von Extravaganz, welches genau meinen Geschmack traf. Ich strich mit den Fingern über den feinen Stoff. Warum tat er das?
Ich schrieb ihm eine Nachricht, bevor ich es mir anders überlegen konnte:
Danke für das Kleid und das Frühstück.
Ich drückte auf »Senden«und legte das Handy beiseite. Ich fühlte mich ein wenig besser, ein wenig entschlossener. Nachdem ich in Ruhe das großzügige Frühstück genossen hatte, zog ich das Kleid an. Es saß wie angegossen, als wäre es nur für mich gemacht. Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte mir eine Frau, die nicht mehr dieselbe war wie gestern Nacht. Meine Augen funkelten dunkel und entschlossen, voller Zorn und einer neuen, unbekannten Energie. Ich zog meine Schuhe an, griff nach meiner Tasche und machte mich auf den Weg. Mein Kleid ließ ich zurück, denn jegliche Erinnerung an diesen Tag wollte ich hinter mir lassen.
Die Villa meiner Familie war mein Ziel. Ich ließ mir an der Rezeption ein Taxi rufen, das nur wenige Minuten später am Eingang des Hotels vorfuhr. Ich stieg ein und gab dem Fahrer die Adresse der Villa. Die Fahrt würde nicht lange dauern, aber ich lehnte mich in dem Ledersitz zurück und genoss einen letzten Moment der Ruhe. Ich starrte aus dem Fenster, während die Welt an mir vorbeizog. Die Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Wie hatte ich so blind sein können? Was würde ich sagen, wenn ich meiner Nonna gegenüberstand? Was, wenn Flavio da sein würde? Der Gedanke an seine Berührungen, seine falschen Worte, ließ eine neue Welle des Hasses durch mich hindurchrollen.
Als das Taxi vor der Villa hielt, ließ ich mir einen Moment Zeit, bevor ich ausstieg. Der Fahrer musterte mich kurz im Rückspiegel, ich musste genauso erschöpft aussehen, wie ich mich fühlte. Ich reichte ihm wortlos das Geld, dankte nicht einmal und stieg aus. Der Kies unter meinen Absätzen knirschte bei jedem Schritt, und ich konnte förmlich spüren, wie die Spannung in mir wuchs. Was würde mich hier erwarten? Ich wusste, dass sich alles verändert hatte. Jeder in dieser Familie würde versuchen, mich zu beruhigen, mir Erklärungen zu geben, aber was ich wollte, waren keine süßlichen Ausflüchte. Ich wollte die brutale, rohe Wahrheit.
Langsam ging ich die Auffahrt hinauf, blieb einen Moment vor der Tür stehen und schloss die Augen. Ich atmete tief ein und öffnete dann die Tür. Die Stille im Haus war fast unnatürlich. Normalerweise hörte man hier immer Stimmen, Gelächter oder zumindest das leise Murmeln von Gesprächen. Doch heute war es anders. Ein kalter Luftzug wehte mir entgegen, und ich bemerkte, dass die Tür zum Garten offen stand.
Ich ging vorsichtig zur Terrasse. Dort, am großen Marmortisch, saßen meine Nonna, Lucia und Raffaele. Ihre Gesichter zeigten Überraschung, aber auch eine Art stille Erwartung, als hätten sie schon geahnt, dass ich zurückkommen würde. Ich spürte den Zorn in mir brodeln. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Hallo«, sagte ich knapp. Meine Stimme klang hart, kälter, als ich es beabsichtigt hatte.
Lucia sprang sofort auf, ihre Augen füllten sich mit Sorge. »Emilia! Wo warst du? Wir haben uns solche Sorgen gemacht.«
Meine Nonna stand ebenfalls auf, als wollte sie mich umarmen, doch ich hob sofort die Hand. »Nein. Nicht jetzt. Ich bin nicht hier, um mir irgendwelche Entschuldigungen anzuhören. Ich will Antworten.« Ihre Gesichter erstarrten, und für einen Moment herrschte Stille. Raffaele, der am ruhigsten von allen wirkte, deutete auf den freien Stuhl. »Setz dich doch. Lass uns reden.«
»Nein! Ich werde stehen bleiben. Ihr beantwortet meine Fragen, ohne Lügen und Umschweife. Und Gott helfe euch, wenn ich das Gefühl habe, dass ihr mir etwas verheimlicht.« Meine Stimme war eine gefährliche Mischung aus Wut und Verzweiflung.
Lucia nickte langsam, ihre Augen voller Reue. »Du hast recht. Wir haben dich zu lange im Dunkeln gelassen. Du verdienst die Wahrheit, und die wirst du bekommen. Aber, sag uns zuerst, wo du warst. Geht es dir gut?«
Ich lachte bitter, ein kaltes, hartes Geräusch, das selbst mir fremd vorkam. »Ob es mir gut geht? Nach der Show gestern Abend? Was glaubt ihr?« Ich sah in die Runde. »Ich war am Hafen und habe im Hotel geschlafen. Und das war definitiv angenehmer als eine weitere Nacht in diesem Haus, welches nur aus Lügen zu bestehen scheint.«
Meine Worte trafen sie wie Schläge. Lucia wandte sich ab, während meine Nonna tief durchatmete, als müsste sie die Schwere ihrer Schuld einatmen. Raffaele hingegen hielt meinem Blick stand, und ich konnte die Entschlossenheit in seinen Augen sehen.
»Wir wollten nie, dass du es auf diese Weise erfährst«, sagte er. »Nicht durch deinen Onkel, nicht vor all diesen Leuten.«
Ich funkelte ihn an. »Wieso habt ihr mich dann all die Jahre belogen? Was habt ihr zu verbergen? Warum habt ihr mich von der Mafia fernzuhalten versucht?«
»Wir wollten dich beschützen«, begann meine Nonna mit zitternder Stimme. »Die Mafia ist eine dunkle Welt. Dein Vater und ich haben uns geschworen, dich davon so lange es geht davon.«
»Oh, und ihr dachtet, mich mit einer Lüge zu schützen, die mich an meinem 21. Geburtstag einholen wird, sei der richtige Weg?« Ihre Worte ließen mich ungläubig zurück. »Wenn ihr mich schützen wolltet, hättet ihr mich entweder aus dieser Stadt herausgebracht oder euch selbst aus diesem Dreck gezogen. Stattdessen habt ihr mich mein ganzes Leben lang belogen und glaubt jetzt, ihr könntet es wieder gutmachen?«
Ein Moment der Stille trat ein, und ich konnte spüren, wie die Luft zwischen uns immer schwerer wurde. »Ich will alles wissen. Jetzt«, verlangte ich.
Lucia nickte, als hätte sie sich innerlich vorbereitet. »Ja, wir haben dich belogen. Wir haben dir verschwiegen, was wir sind, weil wir dachten, es sei besser so. Aber es ist Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Niemand verlässt die Mafia mal eben so. Wir sind alle in diese Welt hineingeboren worden. Die Familie und die Geschäfte – das ist unser Erbe.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, um mich nicht in ihrer Stimme zu verlieren. »Wieso jetzt? Warum an meinem 21. Geburtstag?«
Meine Nonna senkte den Blick, und es war Lucia, die antwortete. »Du bist eine erwachsene Frau. Und du bist das einzige Kind deiner Eltern. In Familien wie unserer übernehmen normalerweise die Söhne die Geschäfte. In unserer Familie bist du die Erbin.«
»Erbin?«, fragte ich scharf. »Von was? Es geht hier doch um mehr als nur um eine Firma.«
Raffaele lehnte sich zurück und seufzte schwer. »Die Firma deines Vaters entwickelt Sicherheitssysteme. Aber sie ist ein Deckmantel für unsere Geschäfte in der Mafia. Waffenhandel, der Verkauf sensibler Daten – wir haben Verbindungen in die höchsten Kreise. Politiker, Richter, Polizisten – sie alle stehen auf unserer Gehaltsliste. Das sind Dinge, die wir nicht aufgeben können.«
Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, aber es war kalt und zynisch. »Korruption, Lügen – das volle Programm. Tötet ihr Menschen? Was ist mit Mord? Und bitte lügt mich nicht an, ihr wisst, dass ich durch mein Studium mit Kriminellen zu tun habe.«
»Ja. Wenn es nötig ist, auch das.«
Das Überraschende war, dass mich seine Antwort kaum schockierte.
»Was ist meine Rolle? Welche Erwartungen habt ihr an mich?«
Meine Nonna nahm meine Hand, doch ich zog sie sofort zurück.
»Dein Vater hat beschlossen, dass du die Geschäfte übernimmst. Dein Onkel hingegen versuchte das zu verhindern. Er glaubt, dass er oder seine Söhne die wahren Erben sein sollten. Er wollte dich schwach und unfähig aussehen lassen, damit der Rat der Mafia dich ablehnt und ihn als Oberhaupt akzeptiert.«
»Deswegen hat er all das getan? Er wollte mich vor allen bloßstellen?« Ich biss die Zähne zusammen, als sich die Wahrheit wie ein Puzzle vor mir zusammenfügte.
»Ja. Und letzte Nacht hat ihm in die Karten gespielt. Er hat längst begonnen, mit den Vorstandsmitgliedern. Er will dich um jeden Preis vom Thron verdrängen«, erklärte Raffaele.
Ein ungläubiges Lachen entwich meiner Kehle »Und was wollt ihr, dass ich tue? Aufgeben? Ihm das Geschäft meines Vaters überlassen? Was soll ich eurer Meinung nach tun?«
Lucia trat einen Schritt vor und legte mir einen Umschlag hin. »Nein. Wir wollen, dass du selbst entscheidest. Doch, bevor du das tust, solltest du das lesen. Es ist ein Brief deiner Eltern, für den Fall, dass sie an deinem 21. Geburtstag nicht bei dir sein können.«
Sie hielt mir den Umschlag entgegen, den ich, ohne zu zögern, an mich nahm »Sie wussten, dass dieser Tag kommen würde. Das sie nicht mehr hier sein würden, um mich zu beschützen.«
»Ja, sie wussten, dass ihr Leben in der Mafia sie eines Tages einholen würde. Sie wollten, dass du die Chance hast, selbst zu entscheiden, was du tun willst.«
Mit geschlossenen Augen atmete ich tief durch, bevor ich meine nächsten Worte wählte. »Ich werde diesen Brief lesen. Aber ich sage euch jetzt schon eines: Wenn ich entscheide, diesen Weg zu gehen, werde ich kämpfen. Ich werde das Andenken meiner Eltern schützen. Und ich werde nicht zögern, wenn ihr mir jemals wieder etwas verheimlicht.«
Ihre Gesichter waren ernst, und ich konnte die Angst in ihren Augen sehen. »Wir sind eine Familie«, sagte ich kühl. »Aber ich werde nicht zögern, mich von euch abzuwenden, wenn es sein muss.«
Ich wandte mich ab und ging langsam zurück ins Haus. Der Umschlag in meiner Hand fühlte sich schwer an, als wäre er mit all der Schuld und den Geheimnissen meiner Familie gefüllt - bereit, die gesamte Wahrheit zu enthüllen.
Oben in meinem Zimmer, legte ich den Umschlag auf meinen Schreibtisch. Meine Finger strichen über das glänzende Papier, das wie ein Symbol der Geheimnisse vor mir lag. Doch bevor ich mich mit dem Inhalt auseinandersetzen konnte, zog ich mich um. In diesem Moment fühlte sich alles so surreal an. Der ganze Wirbel, die Geheimnisse, die Enthüllungen der letzten Stunden – alles war so viel auf einmal.
Mein Kleid tauschte ich gegen eine graue Jogginghose und ein weißes T-Shirt. Perfekt für einen Tag, an dem nichts mehr anstand. Nichts, was ich erledigen wollte, nichts, was ich ertragen musste. Ich fühlte mich leer und ausgelaugt.
Das schrille Klingeln meines Handys riss mich aus meiner Trance. Ein kurzer Blick aufs Display ließ mein Herz schwer werden. Flavio. Schon wieder.
Seit gestern hatte ich seine Nachrichten gekonnt ignoriert, aber in dieser Sekunde rief er an. Länger konnte ich ihm nicht ausweichen. Wenn ich jetzt nicht rangehen würde, würde er vor meiner Tür stehen. Wieder einmal wollte er nicht begreifen, dass er scheiße gebaut hatte. Widerwillig nahm ich den Anruf entgegen.
»Was willst du?« Meine Stimme klang gereizt, brüchig, aber fest, als ob ich mich endlich durchzusetzen versuchte.
»Endlich! Wo bist du? Warum bist du von der Party verschwunden?« Flavios Stimme klang fast schon irritiert, als er mich mit dieser Frage konfrontierte.
»Meinst du das ernst? Erst benimmst du dich wie ein Arschloch, und dann dreht mein Onkel komplett durch! Welchen Grund hätte ich gehabt, nur eine Sekunde länger da zu bleiben?« Es kam aus mir heraus, wie ein Ventil, das endlich den Druck abließ.
»Emilia, so war das doch gar nicht gemeint«, versuchte er mich zu beruhigen, doch seine Worte gingen an mir vorbei. »Ich liebe dich, du weißt das. Ich habe nur etwas mehr getrunken. Verzeih mir. Du weiß, ich respektiere deine Grenzen.«
Ich ballte die Fäuste, fühlte den Zorn in mir hochkochen. »Respekt für meine Grenzen? Das hast du gestern sicher nicht gezeigt! Ehrlich gesagt habe ich jetzt keine Zeit oder Lust, mit dir zu reden.«
Ich wollte das Gespräch so schnell wie möglich beenden, doch Flavio ließ nicht locker. »Es ist dein Geburtstag, mein Schatz! In zwanzig Minuten bin ich bei dir, und wir gehen was essen. Zieh dir was Schickes an.«
»Flavio, ich habe weder Zeit noch Hunger.«
»Keine Widerrede! Sei in zwanzig Minuten fertig«, unterbrach er mich, bevor er auflegte.
Ich hasste es, wenn er mit mir umging, als wäre ich seine Marionette. Doch mir war klar, dass er so oder so kommen würde. Ich versteckte den Umschlag in meinem Schrank – wollte nicht, dass er davon erfuhr, bevor ich den Inhalt selbst kannte. Widerwillig zog ich mir ein schlichtes weißes Sommerkleid an und bürstete mir die Haare. Als ich dabei war, nach unten zu gehen, klopfte es an der Tür.
»Emilia«, rief Lucia von draußen.
»Ich komme gleich«, rief ich zurück und machte mich schnell auf den Weg nach unten.
Kaum öffnete ich die Tür, stürmte Flavio auf mich zu und umarmte mich stürmisch. Er drückte mir einen Kuss auf die Lippen, der viel zu lang und aufdringlich war. »Da bist du ja, Geburtstagskind«, grinste er überschwänglich. »Ich habe eine Überraschung für dich!«
Überraschung? Ich hasste es. Doch widersprechen würde mich nur weiter von dem abhalten, was ich tun wollte.
»Okay, aber übertreib es nicht«, warnte ich ihn und versuchte, den Rest der negativen Gefühle zu unterdrücken.
Er packte meine Hand und zog mich fast hektisch zum Auto – ein schicker, überteuerter Sportwagen, dessen Marke mir völlig egal war. Der Anblick des Wagens war in meiner jetzigen Verfassung das letzte, was mich interessierte.
Kaum saß ich auf dem Beifahrersitz, begann das Verhör. »Wo warst du die ganze Nacht, wenn nicht zu Hause?«, fragte er, seine Stimme klang fordernd, als wollte er mich in die Enge treiben.
»Im Hotel«, antwortete ich kühl. Mir war nicht danach, nach Hause zu gehen. Da habe ich mir ein Zimmer im Plaza genommen.«
Ein Moment der Stille folgte, dann bohrte Flavio weiter. »Und wie bist du dort hingekommen?«
»Dante Santoro hat mich abgesetzt.« Ich sagte die Wahrheit, obwohl klar war, dass ihm das nicht gefallen würde. Ohne Vorwarnung trat er ruckartig auf die Bremse und hielt auf einem Parkplatz vor einem Café an. Er packte mein Kinn, zwang mich, ihn anzusehen, und brüllte: »Du warst mit diesem Bastard unterwegs?«
»War ich nicht!« Meine Stimme zitterte vor Wut, doch ich versuchte, sachlich zu bleiben. »Er hat mich nur abgesetzt. Es war mitten in der Nacht und ich war am Hafen. Allein, falls du das vergessen hast. Danach ist er sofort wieder gefahren. Mein Freund hat sich ja nicht dafür interessiert, was mit mir ist!«
Doch Flavio war nicht zu beruhigen. »Du bist meine Freundin! Und dann fährst du mit ihm ins Hotel?« Seine Stimme war laut und wütend. »Hat er dich gefickt?« Ich starrte ihn an, entsetzt und fassungslos.
»Was redest du da? Du spinnst doch! Lass mich sofort los, du tust mir weh!« Panik überkam mich, als er plötzlich mein Handgelenk umklammerte und mit brutaler Kraft in meinen Oberschenkel griff. »Flavio«, schrie ich. »Hör auf!«
Er ignorierte meine Worte. Ich stemmte meinen Körper verzweifelt gegen den Sitz, versuchte, mich zu befreien, doch seine Finger wanderten zwischen meine Beine.
»Du verhältst dich wie eine Schlampe, dann behandle ich dich so.« Seine Berührungen wurden fordernder. Seine Hand legte er an meinen Hals. Drückte immer wieder zu, bis ich nach Luft rang.
»Bitte hör auf«, flehte ich, während Tränen meine Augen füllten.
»Du hast mich lange genug warten lassen. Du lässt dich von einem Santoro ficken, dann gönn mir meinen Spaß, Baby.« Seine Finger legten sich um den Träger meines Kleides, den er gewaltsam runterzog, sodass der Stoff nachgab, und zerrissen an meinem Körper herunterhing. Seine Berührungen brannten schmerzhaft wie Feuer auf meiner Haut. Ein Albtraum, aus dem es kein Entkommen zu geben schien. In blinder Panik hämmerte ich mit meinen Fäusten gegen die Fensterscheibe, doch niemand hörte mich.
Wieder griff er zwischen meine Beine, seine Finger am Bund meines Slips, den er versuchte, herunterzureißen, während er seine Lippen unnachgiebig auf meine drückte.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, riss jemand die Autotür auf, und Flavio wurde mit einem Ruck aus dem Wagen gezerrt. Meine Atmung war flach, mein Herz raste. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich den Gurt löste.
Mein Blick wanderte umher und draußen bot sich mir ein verstörender Anblick. Luca schlug wütend auf Flavio ein, der blutend am Boden lag. »Fass sie nie wieder an, sonst bringe ich dich um!« Luca brüllte, während einige Biker, die etwas abseits standen, herbeiliefen, um von dort wegzuziehen.