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Jetzt mit Bonuskapitel Erzähl mir von deinen Träumen und ich sage dir, wen du liebst In einem kleinen Café in Amsterdam lernt Valerie den attraktiven Holländer Ted kennen. Sofort haben die beiden eine besondere Verbindung. Statt sich mit Smalltalk aufzuhalten, erzählen sie sich von ihren Sehnsüchten: Ted träumt von den Bergen, Valerie liebt das Meer. Sie haben eine verrückte Idee. Wie wäre es, wenn sie sich in zehn Jahren wieder treffen, um zu sehen, ob ihre Träume wahr geworden sind? Und so hat Valerie ein Date in zehn Jahren. Während sie das amüsant findet, begreift Ted nach der wundersamen Begegnung, dass er sich hoffnungslos in Valerie verliebt hat - und beginnt sie zu suchen. Er will nicht zehn Jahre auf seine große Liebe warten. Aber lässt sich die Zeit überlisten?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Rendezvous in zehn Jahren
JUDITH PINNOW, geboren 1973 in Tübingen, besuchte die Schauspielschule in Ulm und studierte am Lee Strasberg Theatre Institute in New York. Als Schauspielerin war sie in Fernsehserien und in Filmen zu sehen. Bekannt wurde sie als Fernsehmoderatorin. Mit ihrem Ehemann und Kollegen Stefan Pinnow und ihren drei Kindern lebt die Autorin in der Nähe von Köln.
In einem kleinen Café in Amsterdam lernt Valerie den Holländer Ted kennen. Sofort haben die beiden eine besondere Verbindung. Statt sich mit Smalltalk aufzuhalten, erzählen sie sich von ihren Sehnsüchten: Ted träumt von den Bergen, Valerie liebt das Meer. Sie haben eine verrückte Idee. Wie wäre es, wenn sie sich in zehn Jahren wieder treffen, um zu sehen, ob ihre Träume wahr geworden sind? Und so hat Valerie ein Date in zehn Jahren. Während sie das amüsant findet, begreift Ted zu spät, dass er sich hoffnungslos in Valerie verliebt hat – und beginnt sie zu suchen. Er will nicht zehn Jahre auf seine große Liebe warten. Aber lässt sich die Zeit überlisten?
Judith Pinnow
Roman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage April 2020© Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Sabine KwaukaTitelabbildung: Paar: shutterstock / © MiodragF; Magnolien: shutterstock / © Afishka; Goldfolie: shutterstock / © janniwetAutorenfoto: © Gaby GersterE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-2281-1
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Eine schicksalhafte Begegnung
Träumereien
So etwas wie Vorbestimmung
Schattengeister
Erkenntnisse
Ein komplett schwachsinniger Plan
Krokodile sind Einzelgänger
Glücksschwein
Neue Möglichkeiten
Inselfieber
Durch die Scheibe
Verzaubert
Besuch auf der Insel
Die Einladung
München
Amsterdam
Snel en nauwkeurig
Das ganz große Bang und Zong
Konfuzius hatte recht
Empfehlungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Eine schicksalhafte Begegnung
Für meinen Mann, my true companion
Sommer 2011
Valerie fühlte sich leicht, als sie mit ihrem kleinen Handgepäckkoffer über eine der vielen Brücken von Amsterdam rollte. Der Junihimmel war grau, aber das schien die Möwen nicht zu stören, die in einem ganzen Schwarm über dem Wasser kreisten. Amsterdam war sogar bei diesem trüben Wetter wunderschön. Vorfreude stieg in Valerie auf wie kleine Blasen, die ihr im Magen und unter der Kopfhaut kribbelten. Sie freute sich auf das Wochenende mit ihrer Schwester, das so viel mehr war als nur ein Städtetrip. Für Valerie sollte es als Zäsur dienen zwischen ihrem alten Leben mit Björn und dem neuen Leben ohne ihn.
Es war sicher keine Meisterleistung, mit dreißig schon eine gescheiterte Ehe hinter sich zu haben. Sie hatte oft das Gefühl, anders zu sein als andere, die ihr Leben in einer »richtigen« Reihenfolge lebten. Abitur, Studium, Beruf, heiraten und Kinder bekommen. Manchmal kam es ihr vor, als würde das Leben ihrer damaligen Schulkameraden wie auf Schienen verlaufen, während sie selbst mehr als einmal entgleiste und schließlich den holprigen Weg durch den Wald nahm, weit entfernt von Bahnhöfen, die man angeblich dringend erreichen musste.
Sie schaute auf das Straßenschild an der Ecke, Bloemgracht, hier musste es sein. Sie blickte auf eine Reihe entzückender schmaler Häuser, eins schöner als das andere. Suchend lief sie die Straße entlang, bis sie ihr Hotel fand.
Eine knallgelbe Bank stand vor dem Haus, und im bodentiefen Fenster hing ein Fahrrad. Mit einem Lächeln trat sie ein. Ein langer, schmaler Raum tat sich vor ihr auf. Die Beleuchtung kam spärlich von ein paar kleinen Lampen an der Wand, dafür standen auf dem großen Tresen viele bunte Kerzenlichter.
Valerie machte im Kopf ein Foto und beschloss, in ihre kleine Kaffeeecke im Waschsalon auch Kerzen zu stellen. Ob sich das mit dem übrigen Ambiente vertrug, musste man sehen. Von den Holländern konnte man auf alle Fälle eine Menge lernen in Sachen Einrichtung und Gemütlichkeit, das wurde ihr auf dem Weg zum Tresen, der gleichzeitig als Rezeption fungierte, klar.
»Wie kann ich dir helfen?«, wurde sie sofort auf Englisch von einem gut aussehenden Kerl gefragt. Seine Locken trug er in einer eindrucksvollen Tolle auf dem Kopf.
Valerie nannte ihren Namen und wurde von ihm durch ein Labyrinth von Treppen in ihr kleines, aber immerhin zweietagiges Zimmer geführt.
Außer Atem, schloss sie die Tür hinter sich und musste dann direkt noch eine Treppe hochsteigen, die so steil war, dass man gut ein Seil und eine Spitzhacke hätte brauchen können, um sich nach oben zu hangeln. Valerie stellte den Koffer ab und warf sich rückwärts auf das gemütliche Bett, über dem ein kleiner Basketballkorb hing.
Valerie spürte, wie die Anspannung der letzten Monate langsam von ihr abfiel. So viel Wut, Trauer und Bedauern lagen hinter ihr. Jetzt konnte sie tatsächlich von vorne anfangen.
Sie rappelte sich zwischen den vielen Kissen zum Sitzen hoch und schaute aus dem Fenster auf den Kanal. Einige alte Kähne lagen am Ufer. Eine Entenfamilie schwamm vorbei. Hier konnte man gar nicht anders, man musste sich einfach entspannen.
Valeries Schwester hätte eigentlich schon vor ihr im Hotel sein müssen. Aus Köln brauchte man mit dem Zug nur knappe drei Stunden, wenn alles glattging. Anne hatte allerdings »Reisepech«, und weil sie fest daran glaubte, hatte jeder Zug und jedes Flugzeug, in das sie stieg, auch prompt stundenlang Verspätung.
Valerie war nach Amsterdam geflogen. Von München wäre es mit dem Zug zu weit gewesen. Zwischen Anne und ihr lagen knapp 600 Kilometer. Sie sahen sich definitiv zu selten. Anne hatte deshalb auch sofort zugestimmt, als Valerie sie fragte, ob sie mit ihr ein Wochenende in Amsterdam verbringen wollte.
Valerie zog ihr Handy aus ihrer Handtasche und wählte Annes Nummer.
»Zugverspätungszentrale, was kann ich für Sie tun?«, meldete sie sich.
»Wie sieht es aus?«, fragte Valerie.
»Erbärmlich. Ich glaube, ich breche meinen letzten Reisepechrekord. Wir sind gerade erst losgefahren und haben jetzt«, etwas schrappte über das Mikro, und ihre Stimme wurde vorübergehend dumpf, »drei Stunden und vierzig Minuten Verspätung!«
»Das ist eine echte Leistung auf so einer kurzen Strecke! Was war denn los?«
Anne ahmte jetzt eine Lautsprecherdurchsage nach: »Sehr geehrte Fahrgäste, leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass sich die Fahrt wegen einer Signalstörung verzögern wird. Wir sagen Ihnen aber nicht, wie lange, weil das für uns so viel lustiger ist. Wir danken für Ihr Verständnis.«
Anne würde also noch eine Weile brauchen, bis sie ankam.
Valerie beschloss, alleine loszuziehen.
Als sie aus dem Hotel trat, begann es zu nieseln. Sie lief die kleinen Gassen entlang, ging mal nach links, mal nach rechts und kam so auf eine Einkaufsstraße. Sie ließ sich von einem Laden zum nächsten treiben.
Überall fand sie etwas, was sich gut in ihrem neuen WG-Zimmer machen würde, aber sie hatte sich gerade von so vielen Dingen getrennt und wollte nicht sofort neue Sachen anhäufen.
Die gemeinsame Wohnung mit Björn war groß und schön gewesen. Altbau, dritter Stock, in der Nähe vom Gärtnerplatz, was für sie beide in München normalerweise unbezahlbar gewesen wäre. Björns Eltern hatten die Wohnung für sie gekauft. Valerie fand es in Ordnung, dass sie das Feld räumen musste, nachdem ihre Ehe gescheitert war.
Sie hatte ihm fast alle Möbelstücke und auch sonst sehr viel von der gemeinsamen Einrichtung überlassen. Es schien ihr unter ihrer Würde zu sein, jede CD in die Hand zu nehmen und zu entscheiden, ob es nun ihre oder seine war.
Außer ihren geliebten Büchern hatte sie fast nichts mitgenommen. Ihre Freundin Lena hatte zwar gesagt, Björn müsste ihr eigentlich eine Ablöse zahlen für alles, was sie gemeinsam angeschafft hatten, aber Valerie hatte keine Energie gehabt, das auch noch mit ihm zu diskutieren.
Björn hatte in den letzten zwei Jahren so viel an ihr rumgenörgelt. Diskussionen über alles und nichts waren an der Tagesordnung gewesen, immer war es darum gegangen, was Björn alles an Valerie verbesserungswürdig fand. Sie sollte sich besser anziehen, mehr Sport treiben und doch endlich das BWL-Studium beenden, das sie abgebrochen hatte, um den Waschsalon von Herrn Peters zu übernehmen. Obwohl sie sich in genau diesem Waschsalon kennengelernt hatten, verstand Björn nie, was er ihr bedeutete.
Die Diskussionen um ihr Leben wurden immer absurder, bis Valerie selbst anfing zu glauben, dass Björn vielleicht recht hatte und sie sich einfach mehr Mühe geben müsste, Dinge erreichen müsste, statt einfach so glücklich zu sein.
Eines Morgens wachte sie mit der glasklaren Gewissheit auf, dass sie tatsächlich etwas Grundlegendes an ihrem Leben ändern musste.
Nicht ihren Job, ihren Körper oder ihren Klamottenstil, sondern ihren Mann.
Björn hatte sich am Abend zuvor einen Spruch geleistet, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er hatte gesagt, sie sei für ihn zurzeit eines der Hindernisse, die man im Leben eben manchmal überwinden müsste.
Damit hatte er, ohne es zu wissen, eine Tür in Valerie geöffnet. Die Tür zu einem Leben ohne ihn.
Björn war allerdings fassungslos, dass sie sich trennen wollte. Er hätte doch so viel Zeit investiert, Dinge in ihrem Leben »zu optimieren«, wie er sich ausdrückte. Es begann eine sehr unschöne Zeit mit vielen gegenseitigen Vorwürfen.
Valerie war froh, dass all das nun endlich hinter ihr lag. Sie wollte den ganzen Scherbenhaufen vergessen und neu anfangen.
Das Zimmer in der WG war ein Glücksfall gewesen. Es war günstig und lag in der Nähe ihres Waschsalons. Ihre Mitbewohnerin hatte sie erst einmal getroffen. Sie wusste nur, dass sie Elli hieß und eine Vorliebe für ausgefallene Kleider hatte. Als Valerie zur Besichtigung kam, trug sie einen kurzen abstehenden Petticoat und sah aus, als hätte sie sich zum Fasching als Fliegenpilz verkleidet. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einem Dutt oben auf dem Kopf zusammengesteckt, ihre Lippen waren knallrot bemalt. Valerie gefiel das Zimmer, und Elli gefiel, dass Valerie keinen Kaffee wollte, sondern, genau wie sie, am liebsten Chaitee trank, je süßer, desto besser.
Gestern erst war sie eingezogen, wenn man das so nennen konnte. Eigentlich hatte sie nur, mit Lena zusammen, ihre wenigen Kisten in das leere Zimmer gestellt und dann die Nacht, in Ermangelung einer Matratze, bei ihrer Freundin verbracht.
Nach dem Wochenende in Amsterdam wollte sie zu IKEA fahren und alles Nötige besorgen.
Als sie aus dem Laden trat, regnete es in Strömen. Sie hätte doch den Schirm mitnehmen sollen, den ihr der Lockige an der Rezeption angeboten hatte. Valerie hatte abgelehnt, weil sie die Fähigkeit hatte, Schirme in kürzester Zeit zu verlieren. Sie steckte sie in einen beliebigen Schirmständer, und dort entmaterialisierten sie sich sofort.
Der Regen rauschte auf sie herunter. Sie setzte sich ihre Kapuze auf, was sie nur bedingt vor der Nässe schützte, und ging mit schnellem Schritt die Straße entlang und fiel fast von selbst in die kleine Bäckerei mit dem schönen Namen »Bake my day«.
Valerie schloss die Tür hinter sich, fasziniert von dem überwältigenden Duft von Zimt und frisch Gebackenem. Ihr Blick schweifte durch den hellen Raum. Auf der einen Seite befand sich die Theke und eine kleine Küche, auf der anderen Seite standen einladende Holztische und kleine Sessel.
Valerie bestellte sich ein süßes Teil, das wie eine flache Muschel aussah, und einen Chaitee. Alleine für den Tee erhielt das kleine Selbstbedienungscafé von ihr Pluspunkte. Kaum ein Café in München bot Chaitee an. Meist musste sie einen schwarzen Tee bestellen und ihn mit Milch auffüllen, was natürlich nicht dasselbe war.
Suchend schaute sie sich nach einem freien Tisch um. Alle waren besetzt. Während sie noch überlegte, wo sie sich dazusetzen konnte, bot ihr ein Mann um die dreißig den freien Sessel an seinem Tisch an.
Sie dankte ihm und setzte sich. Er klappte sein Buch wieder auf und las weiter.
Ted hatte die hübsche blonde Frau direkt beim Reinkommen bemerkt. Die Art, wie sie sich umsah, verriet ihm, dass es sich um eine Touristin handeln musste. Sie trug einen rosafarbenen Rucksack, der sie jünger wirken ließ, als sie war. Er schätzte, dass sie in seinem Alter sein musste. Ihre Wangen waren von Regen und Wind draußen gerötet. Er fand es sympathisch, dass sie keinen Regenschirm dabeihatte. Normalerweise erkannte man Touristen an ihren Schirmen, die auch sofort verrieten, in welchem Hotel sie abgestiegen waren. Er beobachtete sie unauffällig, und als ihr Blick durch den Raum schweifte, tat er so, als würde er lesen. Er versuchte sich seit einer halben Stunde mit einem langweiligen Buch abzulenken, in dem ein Mann eines Tages ohne seinen gewohnten Bart aufwacht.
Tage, an denen er seinen Sohn Joris wieder bei seiner Ex-Freundin ablieferte, waren dunkle Tage. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, danach in diesem kleinen Café Trost zu suchen. Zwischen einem Cappuccino und dem beruhigenden Geräuschteppich aus aufschäumender Milch, Tassengeklapper und Gesprächen wartete er, bis der Schmerz nachließ und er es schaffte, zurück in seine kleine, leere Wohnung zu fahren. Jedes Mal begrüßten ihn Joris’ Spielzeuge stumm und vorwurfsvoll. Er packte sie in Kisten, in denen sie darauf warteten, dass kleine Hände sie, zwei Wochen später, wieder auspacken würden. Joris war diesmal besonders lang bei ihm gewesen – eine ganze Woche bis zum heutigen Freitag. Nun war der Schmerz umso größer.
Die Frau sah sich nach einem freien Tisch um, fand aber keinen. Ted überlegte kurz. Sie war zu hübsch, um sie einfach einzuladen, sich zu ihm zu setzen. Sicher passierte es ihr ständig, dass Männer sie ungefragt ansprachen. Er entschied, ihr einen Sessel anzubieten und sich dann wieder in seinem Buch zu verkriechen. Das war ein unaufdringlicher Kompromiss.
Ihr Tischnachbar las, und so konnte sie unbeobachtet ihr Gebäck genießen. Valerie versank in zuckriger Glückseligkeit. Die flache Muschel schmeckte fantastisch. Überraschenderweise war sie mit einem zitronigen Quark gefüllt, der auf der Zunge zerging. Sie lehnte sich zurück und berührte probeweise ihre Teetasse. Der Chai war noch zu heiß, um ihn zu trinken. Verstohlen betrachtete sie den Mann, der ihr so freundlich einen Platz angeboten hatte. Seine blauen Augen hatten sie kurz aus der Balance gebracht. Sie hatte sich hinter einem Lächeln versteckt, und er war sofort in seinem Buch abgetaucht. Er sah gut aus. Blond, schlank, vermutlich nicht viel größer als sie. Unwillkürlich verglich sie ihn mit dem großen dunkelhaarigen Björn. Sie schüttelte diesen Gedanken verärgert ab. Erstens wollte sie nicht an ihn denken, und zweitens war sie nicht auf der Suche nach einem Mann. Das hier war nur eine Zweckgemeinschaft an einem Tisch.
Sie breitete den Stadtplan aus und sah nach, wo sie war und wo ihr Hotel lag.
»Bist du das erste Mal in Amsterdam?«, fragte er sie plötzlich.
Ted biss sich auf die Zunge. Er hatte sie in Ruhe lassen wollen. Die Frage kam ihm wie von selbst über die Lippen, nachdem er ihre schlanken Finger gesehen hatte, die flink über den Plan gewandert waren. Sie trug keinen Ring.
Sie schaute ihn an und schien erstaunlicherweise nicht genervt, sondern erfreut zu sein, dass er ein Gespräch anfing.
Sie war Deutsche, ganz wie er vermutet hatte. Sie erriet richtig, dass er Holländer war und in Amsterdam wohnte.
»Wo genau wohnst du?«, wollte er wissen. Er kannte nur die großen Städte in Deutschland und hoffte, sie würde eine davon nennen.
»In München.«
Er wollte etwas sagen, aber sie unterbrach ihn. »Sag jetzt nicht Oktoberfest!«
Er lachte. »Das wollte ich gar nicht sagen«, schwindelte er.
»Das sagen immer alle, wenn sie München hören. Ist das mit Amsterdam genauso?«
Sie sahen sich an und sagten gleichzeitig: »Tulpen!«
Beide mussten grinsen. »Na, dann haben wir die Klischees ja schon abgehakt«, sagte sie.
Er sah ihr Grübchen auf der rechten Wange, das ein Stückchen höher saß, als es Grübchen üblicherweise tun.
»Gehen Münchner gar nicht auf das Oktoberfest? Ist das nur für Touristen?«
»Ehrlich gesagt, doch. Ich kenne kaum Münchner, die nicht wenigstens einmal im Jahr auf die Wiesn gehen.«
»Die Wiesn«, wiederholte er belustigt.
Sie schaute etwas verlegen auf ihren Tee.
»Wir Niederländer stellen uns auch gerne ›Tulp‹ in die Vase«, sagte er, um wieder gute Stimmung zu machen.
»Wie ist es, hier in Amsterdam zu wohnen?«, wollte sie wissen.
Er überlegte kurz, ob er vom Wasser schwärmen sollte und von den Gassen, den freundlichen Menschen und den vielen Möglichkeiten, entschied sich dann aber, die Wahrheit zu sagen.
»Wenn ich könnte, würde ich wegziehen.«
Sie sah ihn interessiert an.
Er stellte fest, dass ihre Augen mehr grün als blau waren. »Die Stadt war früher toll. Ich bin hier geboren. Aber in letzter Zeit hat sie sich sehr verändert. Es ist einfach zu voll. Nichts gegen Touristen«, beeilte er sich zu sagen, »aber wenn du keine Straße entlanggehen kannst, ohne an Menschenmassen vorbeizumüssen, und jeder Laden, in dem du schnell etwas kaufen willst, proppenvoll ist, dann nervt das auf Dauer.«
Valerie nickte verständnisvoll. Sie hatte das Gedränge auch bemerkt, es aber auf das beginnende Wochenende geschoben.
»Früher kamen die Touristen im Sommer, den Rest des Jahres hatten wir die Stadt für uns. Inzwischen spielt die Jahreszeit keine Rolle mehr. Es ist immer voll.«
»Ich finde es schön hier«, sagte sie zaghaft. »Das ganze Wasser, das ist so schön! Und ihr habt es überhaupt nicht weit zum Meer.« Diese Vorstellung schien sie völlig zu faszinieren.
»Und du hast es nicht weit in die Berge«, sagte er, ähnlich fasziniert von dem Gedanken, in kürzester Zeit in den Alpen zu sein.
»Ich würde so gerne am Meer wohnen«, sagte sie seufzend.
»Und ich so gerne in den Bergen!«
Sie lachten die Sehnsucht weg, die sich ausgebreitet hatte.
»Warum ziehst du nicht weg, in die Berge? Dein Deutsch ist super, du könntest sicher leicht im Allgäu arbeiten.«
»Vielleicht«, sagte er, »aber mein Sohn ist hier. Es würde alles verkomplizieren, wenn ich so weit wegziehe.«
Er klang plötzlich traurig. Valerie konnte nur ahnen, dass er von der Mutter seines Sohnes getrennt war.
»Ich kann auch nicht so leicht wegziehen. Ich habe zwar keine Kinder, aber eine Sache, die wie mein Baby für mich ist.«
Er nickte verständnisvoll und fragte nicht nach, genau wie sie.
Er wollte gerne beim Thema Sehnsuchtsorte bleiben. Es tat ihm gut, dass sie kein Gespräch führten mit den üblichen Fragen. Wie heißt du? Was machst du beruflich? Bist du verheiratet? Er wollte nicht über Joris reden. Der Schmerz war gerade am Abflauen. Er wollte nicht der Dreißigjährige sein, der schon ein Kind in die Welt gesetzt hatte, das er nur alle vierzehn Tage sah. Für die blonde Frau wollte er einfach ein Kerl sein, der die Berge liebte und seltsamerweise in der Stadt am Wasser wohnte. Er erzählte ihr, wie sein Opa mit ihm früher Wanderungen in den Alpen gemacht hatte. Lagerfeuer bei untergehender Sonne. Läutende Kuhglocken, endlose Wiesen.
Seine Stimme hatte etwas Hypnotisches. Sein holländischer Akzent war so niedlich, sie hätte ihm stundenlang zuhören können. Sie half ihm, wenn er ein Wort nicht wusste, ansonsten hörte sie sich stumm seinen romantischen Bericht über die Berge an.
»Das klingt wundervoll. Jetzt kommt es mir wie eine Sünde vor, dass ich in München wohne und so selten in die Berge fahre.«
»Man will immer das, was man nicht hat. Und das, was man hat, schätzt man nicht. Ich war lange nicht am Meer. Dieses Jahr noch gar nicht.«
»Nein?«, fragte Valerie und musste selbst über ihr Entsetzen lachen.
»Warum liebst du das Meer?«, fragte er sie.
Sie begann ihren Satz mit »Weil …«, in der Annahme, direkt eine Antwort parat zu haben. Aber wie sollte sie das in Worte fassen? Plötzlich schien ihr die Frage viel zu persönlich. »Ich liebe es einfach«, sagte sie knapp.
Er schaute sie an. Wieder brachte das intensive Blau sie etwas aus der Fassung. Was war denn los mit ihr? Sie fand es angenehm, mit ihm über Sehnsüchte zu sprechen. Viel besser als der übliche Small Talk. Sie hatte keine Lust, ihn zu fragen, was er beruflich machte, und sie wollte nicht gefragt werden, ob sie verheiratet war und Kinder hatte. Die fast geschiedene Frau zu sein, war sie noch nicht gewohnt. Es hörte sich falsch an. Aber um die Frau zu sein, die das Meer liebte, dazu musste sie schon etwas mehr von sich preisgeben.
»Am Meer fühle ich mich einfach immer richtig. Diese große Fläche, die Weite, die Wellen. Es kommt mir so beständig vor, und trotzdem ist es ständig in Bewegung.«
Er nickte ihr aufmunternd zu, und sie sprach weiter.
»Ich bin in Stuttgart geboren, weit weg vom Meer, und trotzdem ist es jedes Mal so, als würde ich nach Hause kommen. Das Meer versteht alles, verzeiht alles, weiß alles.«
»Das ist ja lustig. Dasselbe Gefühl geben mir die Berge.«
Spontan berührte sie ihn. Sie ließ ihre Hand kurz auf seinem Oberarm liegen, nahm sie aber schnell weg, als ihr die Geste bewusst wurde.
Die Berührung hatte nicht länger als zwei Sekunden gedauert, aber die hatten gereicht, um ihn zu elektrisieren. Sein Blick streifte ihren Hals und wanderte noch etwas tiefer. Sie trug eine Bluse, unter der sich ihr Busen wölbte. Nicht zu groß und nicht zu klein. Er zwang sich, woanders hinzugucken. Er hatte den Faden verloren, versuchte sich wieder auf ihr Gespräch zu konzentrieren. Sein Puls war erhöht. Er fand sich selber peinlich. Es lag sicher nur daran, dass er viel zu lange keinen Sex gehabt hatte.
»Wenn ich das nächste Mal in den Bergen bin, versuche ich das mal dort zu spüren«, sagte sie und lächelte ihr Grübchen hervor. Er bekämpfte den leichten Schwindel im Kopf, den sie in ihm auslöste.
»Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Es gibt Meertypen, und es gibt Bergtypen.« Es half ihm, ein paar nüchterne Dinge zu sagen.
»Dann passen wir wohl nicht zusammen«, antwortete sie. Flirtete sie mit ihm?
Flirte ich gerade mit ihm?, fragte sich Valerie. Die Berührung und jetzt dieser Satz, ihr Körper schien sich hier gerade etwas selbstständig zu machen. Was sollte er von ihr denken?
»Ich finde, wir passen sehr gut zusammen, wir haben dieselbe Sehnsucht nach etwas, das wir eben momentan nicht haben können«, sagte Ted.
War das jetzt zweideutig gemeint? Sie fühlte eine Spannung und hantierte mit dem Stadtplan, um etwas zu tun zu haben.
»Kennst du den Spruch von Konfuzius? Wenn du etwas liebst, lass es frei. Kommt es zu dir zurück …«
»… gehört es dir für immer!«, vervollständigte Ted ihren Satz.
Sie sahen sich beide in die Augen. Ted hatte plötzlich den verrückten Gedanken, sich einfach über den Tisch zu lehnen und sie zu küssen. Er sah schnell weg.
»Das bedeutet, wir sollten unsere Meer- und Bergessehnsucht loslassen?«, fragte Valerie.
»Das bedeutet, dass Konfuzius wahrscheinlich Glück hatte«, antwortete er.
Sie lächelte.
Ted sprach weiter: »Loslassen ist vermutlich eins der schwersten Dinge. Ich meine, hast du schon mal jemand getroffen, der gesagt hat: Loslassen, das ist meine Stärke, da bin ich so richtig gut drin?!«
Valerie schüttelte den Kopf. Er war witzig.
Es entstand eine Gesprächspause. Ted wollte noch etwas Lustiges sagen, etwas, das sie noch mal zum Lachen brachte.
Konfuzius hätte etwas gewusst. Ihm fiel einfach nichts ein.
»Ich verbringe das Wochenende hier mit meiner Schwester. Hast du Tipps, wo wir heute Abend essen gehen könnten?« Sie schob ihm den Plan entgegen, und er rutschte näher.
»Diese Straße hier ist toll«, er zeigte auf den Plan. »Da findet ihr ein gutes Restaurant nach dem anderen.«
Ihr Finger folgte seinem, aber diesmal achtete sie darauf, ihn ja nicht zu berühren. Sie konnte sein Aftershave riechen, seine männliche Präsenz wurde ihr plötzlich überdeutlich. Innerlich schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Sie hatte sicher nur zu lange keinen Sex gehabt, das war alles.
»Was isst du denn gerne?«, fragte er und blieb mit dem Blick dabei auf dem Plan, als wäre es unanständig, sich ins Gesicht zu schauen, wenn man schon so nah aneinandersaß, dass man sich beinahe berührte.
»Ich esse ALLES gerne. Thai, italienisch, indisch …«
Jetzt sah er sie doch an und grinste. Dann empfahl er ihr so viele Restaurants, dass es ihr unmöglich war, sie sich alle zu merken.
»Halt! Schreib sie mir auf«, bat sie und reichte ihm einen Stift.
Ihre Finger streiften seine leicht bei der Übergabe. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, und schrieb konzentriert die Namen seiner Lieblingsrestaurants an den Rand des Plans. Er bemühte sich um eine schöne Schrift, was nur halbwegs gelang. Sie war zu nah. Ihre Haare hatten ihn gekitzelt, als sie sich beide über den Stadtplan gebeugt hatten.
Sie packte ihre Sachen ein, und ihm wurde schlagartig bewusst, dass ihre Begegnung nun enden würde.
»Wir sollten uns wieder treffen und uns erzählen, was aus unseren Sehnsuchtsorten geworden ist. Vielleicht in zehn Jahren«, fügte er leichthin hinzu, um es nicht wie einen verzweifelten Versuch aussehen zu lassen, sie bald wieder zu treffen.
Ihre grünen Augen blitzen auf. »Lass uns das machen!«, sagte sie begeistert. »Wir treffen uns genau in zehn Jahren wieder, am 24. Juni 2021!« Sie strahlte ihn an.
Er konnte nur nicken.
Sie holte ein blaues Notizbuch aus ihrem Rucksack und nahm ihm sanft den Stift aus der Hand.
»Wie heißt du?«, fragte sie. Ihre Stimme war etwas atemlos, so begeistert war sie von der ungewöhnlichen Idee.
»Ich bin Ted.«
»Valerie.«
Der Moment war fast feierlich. Sie sah ihn etwas länger an als nötig und schrieb dann in ihr kleines Buch:
Ted treffen24.06.2021im Bake my day
»Weißt du die Straße?« Sie schob ihm Stift und Notizbuch hin, und er schrieb den Straßennamen in die nächste Zeile. Er schaute auf seine Armbanduhr.
14:13 Uhr, schrieb er hinter das Datum.
Er schob ihr das Büchlein zu und sagte mit absichtlich dramatischer Stimme: »Ich werde hier sein. In genau zehn Jahren.«
Er konnte sehen, wie sehr ihr das Spiel gefiel. Sie lächelte ihn an.
»Ich auch!« Sie drückte kurz seine Hand und löste damit einen weiteren elektrischen Impuls aus, dem sein ganzer Körper folgte.
Sie riss eine Seite aus dem Notizbuch, schrieb alle Fakten für ihn ab und reichte ihm den Zettel.
Er steckte ihn in seine Jackentasche.
»So was habe ich noch nie gemacht.« Sie zappelte auf ihrem Sessel herum wie ein kleines Mädchen. Ihre kinnlangen Haare wellten sich eigenwillig von der Feuchtigkeit draußen.
»Hier in Holland machen wir das ständig, ich muss auch gleich los, mein anderes Date von vor zehn Jahren treffen.« Er grinste sie an.
»Wir werden alt sein, wenn wir uns wiedersehen«, stellte sie plötzlich fest.
»Na ja, alt … wie alt bist du jetzt?« Ob es unhöflich war, das zu fragen? »Ich bin dreißig«, fügte er hinzu.
»Ich auch.« Sie nickte, als müsste sie sich das selbst bestätigen.
»Dann sind wir nicht sooo alt in zehn Jahren.«
»Vierzig.« Die Zahl schwebte durch den Raum. Eine Weile versuchten sie sich beide vorzustellen, vierzig zu sein. Es gelang nicht. Zehn Jahre schienen eine Ewigkeit weit entfernt zu sein.
»Wir werden ganz schön lange warten müssen, bis wir uns wiedersehen«, sprach er aus, was er dachte.
»Das ist ja gerade das Spannende daran. Ein Date in zehn Jahren, man verspricht einem Fremden, ihn in exakt einem Jahrzehnt wiederzutreffen. Das ist magisch. Es ist …« Ihre Augen wanderten durch den Raum, bis sie die richtigen Worte fand, »als würden wir die Zukunft berühren!«
Ihre Begeisterung war ansteckend.
»Sollen wir E-Mail-Adressen austauschen? Für den Fall, dass einer nicht kommen kann?«
Sie schüttelte wild den Kopf. »Auf keinen Fall! Das ist doch das Aufregende daran. Kein Sicherheitsnetz. Nur das Datum, die Zeit und den Ort. Verlier den Zettel nicht!«, sagte sie und guckte streng wie eine Englischlehrerin, die Vokabeln aufgibt.
Er klopfte auf seine Jackeninnentasche, die sich direkt über seinem Herzen befand. »Sicher nicht. Außerdem könnte ich unser Treffen gar nicht verpassen. Dazu war es zu schön mit dir.«
Vielleicht war er jetzt zu weit gegangen. Sie stand stürmisch auf.
»Es war sehr schön, dich kennenzulernen, Ted. Ich bin gespannt zu hören, wie deine nächsten zehn Jahre verlaufen werden und ob du deine Almhütte in den Bergen bekommst.«
Er stand ebenfalls auf.
»Valerie, es war mir eine Ehre. Hab eine schöne Zeit in Amsterdam. Ich hoffe, du wirst eines Tages am Meer wohnen. Und bleib so lebendig, bis wir uns wiedersehen.«
Sie umarmte ihn spontan. Er legte die Arme um sie und spürte ihren Körper, roch ihren Duft nach Orange. Ihre weichen Haare an seiner Wange. Chaos brach in ihm aus. Sein Puls blieb erhöht, auch noch lange nachdem sie aus der Tür war, die er eine Ewigkeit lang anstarrte, als könnte er sie dadurch zurück in das Café holen.
Der Regen rauschte draußen in Strömen vom Himmel. Das Geräusch hüllte ihn ein. Er berührte ihre leere Teetasse, um sich zu vergewissern, dass er sich die Begegnung mit ihr nicht nur eingebildet hatte.
Anne war inzwischen angekommen. Sie wartete in der Hotellobby auf sie, an einem der kleinen Tische. Valerie ging auf sie zu. Ihre Schwester stand in einer fließenden Bewegung auf und umarmte sie.
Gemeinsam setzten sie sich und redeten über Belanglosigkeiten, um die Fremdheit, die sie die ersten Minuten jedes Mal spürten, loszuwerden.
Ihre rötlichen Haare, die Sommersprossen, ihre Hände, die immer in Bewegung waren, all das war Valerie zutiefst vertraut. Trotzdem war da am Anfang immer die Erkenntnis, dass sie sich lange, zu lange, nicht gesehen hatten. Anne trug ihr Haar jetzt kürzer, und Valerie empfand eine alberne kleine Kränkung darüber, dass ihre Schwester ihr das nicht mitgeteilt hatte. Früher hatte sie schon Monate vor dem Friseurbesuch Bescheid gewusst. Haare und wie lang oder kurz man sie trug, waren ein sehr wichtiges Thema für Anne gewesen. Wochenlang erörterte sie eine neue Frisurenidee mit Valerie, bevor sie sie in die Tat umsetzte. Anschließend war es Valeries Jobs gewesen, sie in den darauffolgenden Tagen in ihrer Entscheidung zu bestätigen.
»Du hast die Haare kürzer«, bemerkte sie und gab sich Mühe, es beiläufig klingen zu lassen.
»Jaaaaa.« Anne legte beide Hände an die Wangen und machte ein entsetztes Gesicht. Offensichtlich waren neue Frisuren immer noch ein wichtiges Thema, das sie aber inzwischen mit anderen Menschen erörterte.
»Wie findest du es?«
Die Frage tröstete Valerie etwas. Ihrer kleinen Schwester schien viel an ihrer Antwort zu liegen. Sie nahm die Hände nicht von den Wangen, bis Valerie sagte, es sähe sehr gut aus.
Anne war zwei Jahre jünger als sie. Man sagt, je älter man wird, desto mehr verschwinden Altersunterschiede. Das mochte stimmen, aber die Rollen blieben gleich. Witzigerweise hätte Anne von ihrem Charakter her viel besser auf die Rolle der älteren Schwester gepasst. Abgesehen von ihren Frisurenzweifeln hatte Anne ihr Leben immer schon gut im Griff. Zielstrebig hatte sie studiert, ein Volontariat beim WDR gemacht, einen Job dort als Redakteurin angenommen und geheiratet. Alles hübsch nacheinander, ohne Irrwege oder Sackgassen.
Ihr Mann Thorsten war natürlich der perfekte Mann. Er hängte die Wäsche auf, ging einkaufen, kochte für sie und gab ihr abends auf dem Sofa auch noch Fußmassagen. Nicht, dass Valerie es ihr nicht gegönnt hätte, es ließ nur ihre eigene Wahl, die auf Björn gefallen war, noch schlechter aussehen.
Ihrer Schwester war es mit Leichtigkeit gelungen, einen Thorsten zu finden. Sie würde mit dreißig vermutlich keine getrennte Ehefrau sein, sondern Mutter, wie es sich gehörte.
Valerie starrte auf die halb leere Kaffeetasse, die vor Anne auf dem Tisch stand. Schwarzer Kaffee ohne Milch und Zucker. Schon immer. Valerie wäre lieber nackt durch eine Einkaufsstraße gerannt, als das zu trinken.
»Magst du einen Schluck?«, neckte Anne ihre Schwester, die ihren Blick gesehen hatte.
Wie auf Kommando erschien der lockige Rezeptionist und fragte, ob sie auch etwas trinken wolle. Valerie bestellte ein Wasser.
»Wie geht es dir?«, fragte Anne, als sie den ersten Schluck getrunken hatte und die Fremdheit langsam der Vertrautheit wich.
Valerie machte eine Handbewegung, die hieß, dass diese Frage nicht einfach zu beantworten war.
Anne verstand. »Und wie ist deine neue WG?«
»Das weiß ich noch gar nicht. Als ich gestern eingezogen bin, war Elli gar nicht da. Sie ist ein bisschen verrückt, aber das …«
»… passt ja«, vervollständigte Anne ihren Satz und grinste.
»Ja, ich hoffe auch. Die Lage ist perfekt, auch wenn es sicher eine ganz schöne Umstellung wird, von unserer großen Wohnung auf ein einziges Zimmer.«
Ihr wurde bewusst, dass sie »unsere« gesagt hatte. Das hatte sie zumindest lange geglaubt, auch wenn im Grundbuch nicht ihr Name stand. Bis es nach der Trennung ganz plötzlich nur noch seine Wohnung war. Verständlich und trotzdem schmerzlich.
»Es tut mir leid. Alles.« Anne fuhr mit den Händen über den Tisch und über ihren Arm.
»Mir auch.« Valerie spürte, wie ihr die Tränen kamen.
»Was hast du denn schon entdeckt? Was müssen wir unbedingt sehen?«, lenkte sie Anne ab und breitete zwei Reiseführer und eine Karte von Amsterdam aus.
Sie besprachen einige Sightseeing-Highlights, die sie sehen wollten, und entschieden dann aber, sich durch die Stadt treiben zu lassen.
Als die Erkenntnis langsam zu ihm durchsickerte, war es zu spät. Er hatte volle 45 Minuten gebraucht, um zu begreifen, dass er Valerie unbedingt wiedersehen musste. Und zwar nicht erst in zehn Jahren. Ihr Grübchen, ihre Stimme, das, was sie gesagt hatte und wie sie es gesagt hatte – alles ergab eine einfache Gleichung. Er hatte sich verknallt in die blonde Frau, die das Meer liebt.
Er rauschte aus dem kleinen Café. Nieselregen empfing ihn draußen auf der Straße. Hektisch sah er sich um. Er hatte keinen Anhaltspunkt, in welchem Hotel sie war, und es war eine Dreiviertelstunde vergangen, in der er sinnlos vor sich hin gestarrt hatte. Eine Dreiviertelstunde, in der sie sich überallhin bewegt haben könnte. Vielleicht hatte er ja aber auch Glück, und sie war noch in der Nähe. Er lief hoffnungsvoll die Straße lang und ging in jeden Laden, den seiner Meinung nach eine deutsche Frau um die dreißig aufsuchen würde. Sein Blick scannte die Ladenflächen. Zweimal dachte er, sie zu sehen, um mit klopfendem Herzen beim Nähertreten zu merken, dass sie es gar nicht war.
Nach einer Stunde hatte er die komplette Harlemmerstraat nach ihr abgesucht. Weil er nicht wusste, was er tun sollte, ging er zurück ins Bake my day. An »ihrem« Tisch saßen jetzt andere Leute. Verloren stand er mitten im Raum. Es war, als hätte ihr Treffen überhaupt nicht stattgefunden. Er suchte in seiner Jackeninnentasche nach dem Zettel und erwartete fast, ihn nicht zu finden, aber er war da. Er faltete ihn auseinander und las ihre eigenwillige Handschrift, die mehr nach einem Mädchen als nach einer erwachsenen Frau aussah. Er starrte auf das Datum in zehn Jahren und schüttelte leicht den Kopf. Es musste eine Möglichkeit geben, sie vorher zu finden. Noch war sie hier, in seiner Stadt.
Er ging im Kopf das ganze Gespräch mit ihr durch, auf der Suche nach einem Anhaltspunkt. Sie war das erste Mal in Amsterdam, das hieß, sie würde vielleicht die klassischen Highlights besuchen. Sie liebte das Wasser, aber dieser Hinweis war in der Stadt der vielen Kanäle natürlich ein Witz. Wasser war hier überall.
Zwei junge Mädchen mit überdimensionalen Zimtschnecken wollten an ihm vorbei, er stand blöd im Weg rum mit seinem Zettel in der Hand.
Warum nur war es ihm so spät aufgefallen, wie viel ihm an ihr lag? Er ärgerte sich über sich selbst. Das war so typisch für ihn. Er war nie der Schnellste gewesen. Ein klassischer Spätzünder. Seine Mutter erzählte heute noch, dass er erst mit siebzehn Monaten gelaufen war. Sein Bruder war mit elf Monaten schon durch die Gegend gerannt, natürlich.
Die Führerscheinprüfung war ihm erst beim dritten Mal gelungen, und seinen ersten Kuss hatte er mit neunzehn bekommen.
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