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Die Protagonistin des Romans, Jennifer Hassel-Meyer, ist Mutter dreier Kinder und lebt in der fiktiven Kleinstadt Wermelsburg im Oberbergischen Kreis, nahe Köln. Jennifer lässt uns über ein Jahr hinweg an ihrem Leben und ihrem Alltag teilhaben. Einen großen Platz nimmt darin natürlich die Kindererziehung ein. Ihr Jüngster ist gerade einmal 2 Jahre alt und besucht eine Kindertagesstätte, für ihre Tochter Melinda muss sie den Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule managen und ihr Ältester, Caspar, steckt mitten in der Pubertät und tut sich schwer am Gymnasium. Zudem ist ihr Mann Carl-Michael keine große Stütze, da er sich voll auf seine Tätigkeit als Sozius einer Anwaltskanzlei konzentriert. Ihnen als Leserinnen und Lesern werden die Probleme, mit denen sich Jennifer tagtäglich herumschlagen muss, bekannt vorkommen. Sie haben vielleicht dieselbe Perspektive und fühlen sich in Ihrem Denken bestätigt. Aber es gibt auch immer eine andere Sicht, eine Gegenmeinung, die von anderen Eltern, von Erziehern und Lehrern, von Schulleitern und Politikern geäußert wird. So ergibt sich am Ende ein buntes Spektrum an Ansichten, wie das Kindergroßziehen am besten zu bewerkstelligen sei. Leider kann man nur vom Ergebnis her beurteilen, wie erfolgreich die Einflussnahme der Erziehenden auf die Zöglinge war. Und im Falle von Jennifer und ihren Kindern hat man doch zum Schluss das Gefühl, dass nicht alle Erziehungsentscheidungen zum Gelingen beigetragen haben. Zwar ist Jennifer und ihrem Mann im biologischen Sinne die Reproduktion geglückt, denn sie haben drei gesunde Kinder. Der Soziologe versteht unter Reproduktion hingegen, dass bestehende soziale und ökonomische Verhältnisse aufrecht erhalten werden. Ob das durch eine Generation, zu der Familie Meyers Kinder zählen, gewährleistet wird, kann bezweifelt werden. Man kann sich also mit Fug und Recht fragen, ob hier ein Reproduktionsfehler vorliegt.
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Seitenzahl: 231
Veröffentlichungsjahr: 2022
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CePe Wirth
Reproduktionsfehler
Ansichten über das Kindergroßziehen
Roman
Dieses Buch ist auch als gedrucktes Buch erhältlich.
Erstmals erschienen 2022 (Version 1.02)
Aktuelle Version vom Januar 2023 (Version 1.03)
Texte: © Copyright by CePe Wirth
Umschlaggestaltung: © Copyright by CePe Wirth
Eigenverlag:CePe WirthHalverscheid 2258553 [email protected]
Druck: epubli – ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
Für
meine Mentorin,
meine Liebste,
meine Susanne
Alle Charaktere in diesem Roman
sind frei erfunden und rein fiktional.
Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden
oder realen Personen sind rein zufällig.
Jennifer schaut auf die Küchenuhr: Zeit, Melinda und Curd-Jürgen, ihren Kleinsten, zu wecken. Melinda ist schon zehn Jahre alt und in Alltagsdingen sehr selbstständig. Curd-Jürgen feiert heute seinen zweitenGeburtstag.
Eigentlich hatten Jennifer Hassel-Meyer und ihr Mann Carl-Michael Meyer keine Kinder mehr haben wollen.Und Jennifer hatte die Arbeit in der Kanzlei ihres Mannes wieder aufnehmen wollen. Doch das Leben hatte sich anders entschieden und nach einem ersten, kurzen Schock hatte sie sich sehr über die Schwangerschaft gefreut. Bei der Geburt war Jennifer 33 gewesen, also bei weitem nicht zu alt, um noch einmal ein Kind zu bekommen. Andere Mütter, sie denkt dabei an Ines von Berken, sind bereits jenseits der 40 gewesen, als sie zum ersten Mal niedergekommen sind.
Nachdem Melinda endlich wach ist und gähnend im Bad verschwindet, wendet sich Jennifer ihrem Ein und Alles zu. Vorsichtig hebt sie ihren Curd-Jürgen aus seinem Bettchen und drückt ihm, wie jeden Morgen, einen Kuss auf die Stirn.
„Guten Morgen, mein Schatz.“
Langsam kommt der Junge zu sich und lächelt sie, auch wie jeden Morgen, an. Das freundliche und fröhliche Wesen hat er von ihr geerbt.
Carl-Michael ist Rechtsanwalt. In Kürze soll er als Kompagnon die Kanzlei seines Vaters zusammen mit Dr. Tobias Schnalt weiterführen. Er arbeitet unermüdlich und versucht so, den fehlenden Doktortitel zu kompensieren. Dementsprechend wenig Zeit hat er für die Familie, aber er unterstützt Jennifer, wo er nur kann. So hat Carl-Michael die 18 neuen Spielzeugautos, allesamt teure Modelle aus Metall mit aufklappbaren Türen und Hauben, besorgen lassen, die jetzt auf Curd-Jürgens Geburtstagstisch liegen. Jennifer hat alle einzeln in unterschiedliche Geschenkpapiere eingepackt und mit unterschiedlich farbigen Schleifchen versehen, damit Curd-Jürgen schon beim Auspacken viel Freude haben soll.
Curd-Jürgen ist sehr aufgeregt, denn erstmals kann er seinen Ehrentag benennen und man hat den Eindruck, dass er ansatzweise versteht, was ein Geburtstag ist. Jedenfalls freut er sich, die beiden Kerzen auf dem Geburtstagsmuffin auszupusten. Und obwohl er morgens immer hungrig ist, kann ihn heute auch das verlockendste Müsli nicht vom Geschenkeaufreißen abhalten. In Nullkommanichts sind alle Autos freigelegt und fahren auf dem Fußboden um die Wette oder verursachen Zusammenstöße. Es dauert keine fünf Minuten und die nagelneuen Karossen haben erhebliche Lackschäden oder Beulen, einem Porsche 911 fehlt bereits die Fahrertür. Jennifer lässt ihn gewähren, schließlich muss jeder Mensch auch sein Aggressionspotenzial ausleben dürfen, hat sie irgendwo gelesen. Erst nach viel Gezeter ist der kleine Mann bereit, von seinen neuen Spielzeugen abzulassen. Das Frühstücksmüsli packt Jennifer in eine Tupperdose und diese schnell in ihren Einkaufskorb, damit sie Melinda noch rechtzeitig zur Schule und Curd-Jürgen in die Kindertagesgruppe bringen kann. Gestern hat sie schon die Geburtstagsmuffins für die ‚Sonnenaufgang‘-Kinder in den Korb gestellt in weiser Voraussicht, dass es heute Morgen zeitlich knapp werden würde.
Irgendwie geht heute alles langsamer als an anderen Tagen. Vermutlich ist es Curd-Jürgens Aufregung, die alles so mühsam macht. Melinda hingegen ist unkompliziert wie immer, kriecht selbst auf ihren Kindersitz auf der Rückbank des Touareg und schnallt sich auch selbstständig an. Jennifer muss nur noch einmal kontrollieren und dann kann es endlich losgehen.
Der Unterricht hat bereits begonnen, als sie vor Melindas Schule ankommen. Das Gute daran ist, dass alle ‚Müttertaxis‘ schon weg sind und die Straße frei ist. Jennifer muss nur kurz anhalten, Melinda steigt alleine aus, knallt die Tür mit all ihrer Kraft zu und winkt der Mama zum Abschied. Dann rennt sie los, denn sie weiß, dass sie zu spät dran ist.
Jennifer braust weiter. Wie jeden Morgen bleibt sie einfach mitten auf der Straße zum Kinderhort stehen und schaltet die Warnblinkleuchten ein. Sie fühlt sich nicht in der Lage, ihren ‚Panzer‘, wie sie den VW Touareg nennt, ordentlich einzuparken. Carl-Michael hat ihr dieses Auto zur Geburt von Curd-Jürgen gekauft, weil es doch so praktisch sei: Sie bräuchte sich nicht mehr zu bücken, um den Kleinen ins Auto zu setzen. Außerdem habe der ‚Panzer‘ Platz für Kinderwagen und alles, was sie sonst noch für den Kleinen mitnehmen müsse. Die Kehrseite der Medaille sind die gewaltigen Abmessungen des ‚Panzers‘, den sie in keine Parklücke hineinmanövriert bekommt. Und die Abstandssensoren, die ihr dabei hätten helfen sollen, machen sie mit ihrem Gepiepe nur nervös. Oh, wie vermisst sie ihr Käfer-Cabriolet!
Wissend, welch Hindernis sie für andere darstellt, hat sie sich angewöhnt, die anderen Fahrer freundlich anzulächeln in der Hoffnung auf Nachsicht. ‚Freundlich lächeln‘ ist eigentlich Jennifers zweiter Vorname. Sie ist sich ihrer Attraktivität als Frau durchaus bewusst und hat die Erfahrung gemacht, dass zumindest Männer sehr wohlwollend reagieren, wenn sie sie darüber hinaus anlächelt. Dann kann sie sich beim starken Geschlecht nahezu alles erlauben. Jedoch kann sie so das Gehupe und das Gestikulieren der anderen Verkehrsteilnehmer nicht ganz verhindern. Aber was soll sie tun?
Normalerweise braucht sie keine fünf Minuten, um Curd-Jürgen in der Kita abzugeben, weil er sich jeden Morgen so sehr auf die anderen Kinder freut, dass die Mama bereits vergessen ist, wenn sie ihm die Pantöffelchen angezogen hat. Heute muss sie aber zunächst eine Mitarbeiterin finden, um ein paar Worte zu den Muffins, die für die Kinder bestimmt sind, zu sagen. Sie findet die Leiterin der Einrichtung, Jacqueline Winterhof-Rümmeling, eine äußerst nette und bemühte Frau ihren Alters.
„Hallo Jacky, gut dass ich dich treffe. Curd-Jürgen hat heute Geburtstag.“
„Ja, habe ich auch schon auf unserem Geburtstagskalender gesehen.“
„Kannst du bitte den Kindern aus seiner Gruppe die Muffins an geeigneter Stelle geben, vielleicht nach dem Frühstück? Ach, und in der ganzen Aufregung heute Morgen hat er noch nicht mal gefrühstückt. Deswegen ist in dieser Dose sein Müsli...“
„Ja, klar, kein Problem. Wir werden für Curd-Jürgen nach dem Frühstück ein Lied singen und dann gibt es deine Leckereien.“
„Mein Wagen steht ungünstig und ich muss schnell los, tut mir leid. Ich lasse dir den Einkaufskorb hier, dann kannst du die Muffins damit transportieren. Ich nehme ihn dann heute Nachmittag mit, wenn ich Curd-Jürgen abhole, okay?“
„Alles klar, so machen wir es. Dir einen schönen Tag.“
„Tschüss.“
Endlich wieder zu Hause gönnt sich Jennifer eine erste Tasse Kaffee und ihr Müsli. Auch sie ist in dem morgendlichen Trubel nicht zum Frühstücken gekommen.
Carl-Michael schläft normalerweise, bis Jennifer und die Kinder aus dem Haus sind. Dann macht er sich fürs Büro fertig. Das Frühstück nimmt er dann in der Kanzlei ein. Heute Morgen ist er ohne einen Abschiedskuss bereits unterwegs, weil es bei ihr länger gedauert hat.
Nach dem Frühstück ruft Jennifer ihren Mann an. Sie muss einen Moment warten, bis die Sekretärin sie durchstellt.
„Gutn Mmmorgn, mmein Schatz.“
Offensichtlich hat Carl-Michael gerade von seinem obligatorischen Brötchen abgebissen.
„Guten Morgen, Liebster. Ich hoffe, du hast gut geschlafen und wir haben dich heute Morgen nicht zu sehr gestört?“
„Alles gut. Was kann ich für dich tun?“
„Kannst du heute vielleicht so früh nach Hause kommen, dass wir Curd-Jürgens Geburtstag gemeinsam feiern können? Deine Eltern kommen zum Kaffee. Ich habe gedacht, vielleicht kannst du ja heute ausnahmsweise um vier Schluss machen und Curd-Jürgen aus dem Kindergarten mitbringen?“
„Tut mir leid, mein Schatz, um vier habe ich noch einen wichtigen Mandanten. Aber danach versuche ich zu kommen. Du schaffst das aber auch ohne mich.“
Carl-Michael lebt für die Kanzlei. Er will seinem Vater Claus-Dieter, der die Kanzlei zusammen mit Eugen Schnalt, dem Vater von Dr. Tobias Schnalt, gegründet hat, beweisen, dass er ein würdiger Nachfolger ist. Dadurch sind die Aufgaben zwischen den Eheleuten klar verteilt: Carl-Michael sorgt für den finanziellen Rahmen und Jennifer hat sich um Haushalt und Kinder zu kümmern. Immer wenn sie versucht, ihn für Familienangelegenheiten einzubinden, reagiert er allergisch und er hat ja auch wirklich viel zu tun.
Und so ist es von Anfang an gewesen: Die Kanzlei Schnalt & Meyer hat, solange Jennifer es überblicken kann, immer nur attraktive Blondinen als Auszubildende angenommen, vermutlich auf Betreiben von Carl-Michaels Vater Claus-Dieter. Claus-Dieters Frau, Carl-Michaels Mutter also, ist ebenfalls eine wunderschöne Blondine gewesen und ist es heute mit ihren 69 Jahren immer noch, wenn auch nicht mehr blond. Auch sie, Jennifer, hat diesem Umstand ihre Ausbildungsstelle zur Rechtsanwaltsgehilfin zu verdanken gehabt. Ihr Mittlerer Schulabschluss ist nur mäßig gewesen, dafür aber ihr Busen schon damals wohlgeformt. Genetisch scheint dieses Faible für Blondinen auf Carl-Michael übergegangen zu sein, denn er hat sich von Beginn an für Jennifer interessiert und sie hofiert. Und so ist es gekommen, wie es hat kommen müssen: Die beiden waren miteinander im Bett gelandet und bereits nach der ersten Nacht war Jennifer schwanger gewesen. Auf Drängen der Familie hatten Carl-Michael und Jennifer heiraten müssen. Abtreibung oder Adoption waren in der katholischen Familie Meyer keine Optionen gewesen. Und so hatte die Frucht ihrer Liebesnachtsieben Monate nach der Hochzeit den Namen Caspar erhalten.
Alle männlichen Nachkommen der Meyer-Dynastie tragen Vornamen, die mit dem Buchstaben ‚C‘ beginnen, das ist seit Generationen Tradition. Der Name Caspar hatte Jennifer damals vor 15 Jahren auch wirklich gut gefallen, weswegen sie leichten Herzens hatte zustimmen können. Aber es war von Anfang an auch klar gewesen, dass sie sich als Gegenleistung für den Luxus, den Carl-Michael ihr bieten kann, um Haushalt und Erziehung alleine würde kümmern müssen.
An diesem Morgen hat Jennifer genug Aufregung gehabt, jetzt hat sie sich die Zeit im Fitnessstudio redlich verdient.
Auf dem Rückweg wird sie mit Caspareinen kleinen Mittagssnack in Tonis Pizzeria essen. Und auf dem Heimweg wird sie noch Tortenstückchen bei der Konditorei Lindner besorgen.
Caspar ist mit seinen fünfzehn Jahren stark pubertierend und es wäre ihm fürchterlich peinlich gewesen, wenn seine Mutter ihn von der Schule abholenwürde. Also schickt sie ihm kurzerhand eine WhatsApp-Nachricht. Caspar hat immer wieder betont, dass es erlaubt sei, das Handy im Unterricht zu benutzen, sie könne ihn also jederzeit erreichen. Wenige Sekunden später meldet er zurück, dass die letzte Stunde ausfalle und sie sich schon um Viertel voreins bei Toni treffen könnten. Jetzt muss sie sich sogar noch mit dem Duschen beeilen.
Jennifer sitzt pünktlich um Viertel vor eins auf ihrem Stammplatz in Tonis Pizzeria, aber Caspar lässt noch 20 Minuten auf sich warten.
„Was ist dir denn noch dazwischen gekommen?“, fragt sie ihn zur Begrüßung ohne ein Hallo.
„Ich habe Dean noch nach Tipps für das Referat für Geschichte morgen gefragt und er hat mir noch ein paar gute Hinweise gegeben. Tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat. Ich muss mal noch unbedingt zur Toilette ...“
„Komm, sag mir schnell, was du essen willst, dann kann ich schon mal bestellen.“
„Ich nehme das Filetsteak, wie immer, und ein Pils dazu, ja?“
„Bier, du bist doch erst fünfzehn, muss das sein?“
„Mama, bitte! Ich bin doch kein Kleinkind mehr … und ich muss jetzt dringend …“
Jennifer bestellt Steak und Bier und für sich einen Salat und ein Wasser.
Als Caspar zurück ist, rückt Jennifer mit ihrer Bitte heraus:
„Ich brauche deine Unterstützung. Du weißt, dass Oma und Opa heute gegen vier zum Geburtstagskaffee kommen. Ich hatte gehofft, dass Papa heute mal ausnahmsweise früher nach Hause kommt, das geht aber wohl nicht. Also muss ich Curd-Jürgen nachher von der Kita abholen. Leistest du bitte dann solange deinen Großeltern Gesellschaft?“
„Nee, das geht nicht, Mama, ich werde den ganzen Nachmittag für mein Referat brauchen. Da geht es morgen in Geschichte um die Halbjahresnote und da muss ich noch was rausreißen. Tut mir leid.“
„Ach, das kann doch nicht wahr sein, heute, wo dein Bruder Geburtstag hat. Das enttäuscht mich aber. Hättest du das nicht besser planen können?“
„Mir tut es ja auch leid, aber wir haben heute von Herrn Schnalt noch neue Bewertungskriterien gesagt bekommen und deshalb muss ich alles, was ich bisher habe, nochmal überarbeiten. Du willst doch auch, dass ich mich in der Schule verbessere.“
Das letzte Argument zieht und Jennifer gibt klein bei. Still essen beide ihre Teller leer, Jennifer bezahlt und auf dem Heimweg sprechen beide kein Wort. Nach einer Weile steckt Caspar seine Airpods in die Ohren und hört Musik, als wenn nichts gewesen sei.
Jennifer muss irgendeine Lösung finden, sie kann schließlich Claus-Dieter und Charlotte, ihre Schwiegereltern, nicht einladen und sie dann einfach am Kaffeetisch sich selbst überlassen.
Um vierzehn Uhr macht sie noch einen neuen Anlauf bei Caspar. Als sie an seine Zimmertür klopfen will, hört sie Kriegslärm von drinnen. Ist es denn die Möglichkeit und Caspar spielt seine Ballerspiele, anstatt an seinem Referat zu arbeiten? Sie klopft kurz und ohne abzuwarten stürmt sie wutgeladen in sein Zimmer. Sofort hört der Lärm auf. Caspar schaut sie verwirrt an.
„Was ist?“, fragt er verärgert.
„Du sagst, du hast keine Zeit für Oma und Opa, und dann höre ich, wie du deine Ballerspiele spielst …“
„Ach Mama, das waren doch keine Ballerspiele. Ich habe hier gerade ein YouTube über den Ersten Weltkrieg angesehen. Das will ich noch irgendwie in mein Referat einbinden. Guck hier!“
Und tatsächlich ist ein angehaltenes Kriegsvideo auf seinem Monitor zu sehen.
„Mama, ich muss wirklich weitermachen. Vertrau mir doch mal.“
Jennifer fühlt sich schlecht. Ist sie eine Mutter, die ihren Kindern kein Vertrauen entgegenbringt? Und ist nicht gerade Vertrauen das, was Heranwachsende am meisten brauchen?
Aber im Moment hat sie Dringlicheres zu bedenken: Welche Möglichkeiten hat sie noch? Auf keinen Fall will sie das Kaffeetrinken um eine Stunde verschieben. Es würde für Claus-Dieter so aussehen, als ob sie alleine wieder mal nichts hinbekommt.
Also muss sie Curd-Jürgen heute ausnahmsweise direkt nach dem Mittagsschlaf aus der Kita abholen. Es geht nicht anders. Er wird Theater machen und sich sträuben, aber es geht tatsächlich nicht anders, basta.
In dem Streit mit Caspar hat sie vergessen, bei der Konditorei Lindner anzuhalten. Das muss sie auch noch erledigen. Das wird knapp.
Schnell bei Lindners reingesprungen, fällt ihr die Auswahl leicht, denn es ist nicht mehr viel in der Auslage. Der Zweifel macht sich in ihr breit, ob sie wirklich in der Lage ist, ihren Haushalt und die Kinder alleine auf die Reihe zu kriegen? Aber für solche Gedanken hat sie jetzt keine Zeit.
Vor dem Kindergarten stellt sie die Warnblinkanlage an und springt aus dem Auto. Als wenn es nicht schon schwer genug wäre, ihren Curd-Jürgen, der lieber noch mit den anderen Kindern spielen will, davon zu überzeugen, dass er jetzt mitkommen muss, trifft sie auch noch auf Ines von Berken.
„Sag mal, bist du eigentlich total bescheuert, du kannst unsere Kinder doch nicht mit deinen Süßigkeiten vergiften. Jacky hat mir erzählt, dass du für alle Kinder Muffins mit Zuckerglasur mitgebracht hast. Weißt du eigentlich, wie viel Zucker da drin ist? Und du weißt, was Zucker anrichtet? Aber das weißt du sicher nicht, so blond, wie du bist!“
Das sitzt! Jennifer kann erst mal nicht wechseln. Dann kommt zaghaft:
„Aber Curd-Jürgen hat doch heute Geburtstag, da muss ich doch eine Kleinigkeit für die Kinder mitbringen …“
„Doch keinen Süßkram oder willst du die Kinder umbringen? Das weiß doch jeder, dass Zucker alle möglichen Krankheiten wie Diabetes, Adipositas oder Karies nach sich zieht …“
Ehrlich gesagt, wusste Jennifer nichts mit der Aufzählung der Krankheiten anzufangen. In ihrem bisherigen Leben waren die Begriffe noch an keiner Stelle aufgetaucht.
„Aber es war doch nur dieses eine Mal …“
„Jetzt tu nicht dümmer, als du bist. Du weißt ganz genau, wie schwer es ist, die Kleinen von Süßigkeiten fern zu halten. Und wenn sie erst einmal auf den Geschmack gekommen sind …“
Ines ergänzt: „Ich möchte, dass du solche Aktionen in Zukunft mit mir abstimmst!“ Und mit diesen Worten lässt sie Jennifer stehen.
Ines von Berken ist selbstständige Immobilienmaklerin, außerdem im Stadtrat für die CDU und überhaupt eine große Nummer in Wermelsburg. Mit 41 ist sie zudem noch Mutter geworden und auch diese Aufgabe erledigt sie mit Bravour. Ihr Filius Winfried ist jetzt drei Jahre alt. Bereits seit zwei Jahren besucht er den Kindergarten ‚Sonnenaufgang‘und Ines von Berken wacht mit Argusaugen nicht nur darüber, dass ihm nichts geschieht, sondern auch, dass alle zu seinem Wohle ihr Bestes geben. Mit anderen Worten: Sie ist eine fürchterlich unangenehme Zeitgenossin, mit der man sich besser nicht anlegt.
Komplett niedergeschlagen ob der Auseinandersetzung mit Ines kommt Jennifer zum ‚Panzer‘ zurück und wird vom Hupkonzert der verärgerten Autofahrer empfangen. Heute Nachmittag kann sie nicht mit einem freundlichen Lächeln wechseln, zu angespannt ist sie. Der Blick zur Uhr verrät ihr, dass sie jetzt schon zu spät für ihre Schwiegereltern ist. Hoffentlich hat Caspar den beiden wenigstens die Tür geöffnet und ein wenig Konversation gemacht.
Als sie zur Haustür hereinkommt, sitzen Claus-Dieter und Charlotte seit einer Viertelstunde alleine am Esszimmertisch. Claus-Dieters rechte Augenbraue geht als Zeichen seiner Missbilligung nach oben. Gott sei Dank freut sich wenigstens Charlotte so sehr, ihr Enkelchen zu sehen, dass die Stimmung nicht komplett kippt. Leider hat sich Caspar, nachdem er die beiden Großeltern hereingebeten hatte, direkt wieder mit der Bemerkung, er müsse für die Schule arbeiten, auf sein Zimmer verabschiedet.
Schnell setzt Jennifer den Kaffee auf, arrangiert die mitgebrachten Teilchen und deckt den Tisch, während der Kleine sich über die Geschenke der Großeltern hermacht. Den teuren Steiff-Teddybären packt er mit Interesse aus, schenkt ihm aber nur kurze Zeit seine Aufmerksamkeit und wendet sich dann wieder seinen Spielzeugautos zu. Jetzt kippt auch die Stimmung bei Charlotte, die gedacht hat, dass sie ihrem Enkel mit dem teuren Geschenk eine große Freude bereitet.
Schweigend trinken die drei ihren Kaffee und probieren von den Tortenstückchen.
Es herrscht eine gedrückte Stimmung, bis es an der Tür klingelt und Melinda aus der Schule kommt. Als die Großeltern Melinda sehen und diese sie mit einem Küsschen auf die Wange begrüßt, hellt sich die Stimmung der beiden auf.
„Na, meine Süße, wie war es heute in der Schule?“ will Charlotte wissen.
Und Melinda plappert mit großen Augen los. Mittwochnachmittags haben sie immer Tanzen in der Grundschule ‚Am Mühlenacker‘ und darauf freut sich Melinda schon die ganze Woche.
„Frau Schmalenbach, meine Klassenlehrerin, hat mich gelobt. Sie hat gesagt, ich hätte ganz viel Talent zum Tanzen.“
Gespannt hören sich die Großeltern alle Details an, die Melinda zu berichten hat. Die Stimmung scheint gerettet.
Caspar erscheint ohne Worte, schaufelt sich zwei Tortenstücke auf einen Teller und verlässt die Runde, wieder ohne Worte. Erneut geht Claus-Dieters rechte Augenbraue nach oben und sein Blick trifft Jennifer.
„So war es immer und so wird es immer sein“, denkt Jennifer. „In Claus-Dieters Augen kann ich nichts recht machen.“
Melinda spielt Alleinunterhalterin, bis Carl-Michael endlich gegen halb sechs nach Hause kommt.
„Warum kommst du so spät? Dein Sohn hat heute Geburtstag, hast du das etwa vergessen?“, raunzt ihn Claus-Dieter gleich an.
„Natürlich nicht, aber es gab noch eine wichtige Besprechung mit einem Mandanten, die Gerstenkorn-Affäre, du weißt schon …“
„Was kann es Wichtigeres geben als die Familie?“, belehrt ihn Claus-Dieter und nun ist auch Carl-Michaels Stimmung im Keller. Er hatte gedacht, dass sein Vater ihn ob seines Engagements für die Kanzlei loben würde, aber weit gefehlt. Auch Carl-Michael kann seinem Vater kaum etwas recht machen.
Gespannt wartet Jennifer auf die Rückkehr ihrer Kinder aus der Schule. Heute gibt es die Halbjahreszeugnisse in Nordrhein-Westfalen.
Auf dem Zeugnis von Melinda wünscht sich Jennifer die Empfehlung zum Übergang ins Gymnasium vorzufinden. Und Caspars Zeugnis wird hoffentlich die Bemühungen widerspiegeln, die er in den letzten Wochen zweifelsohne gezeigt hat.
Caspar hatte bereits die siebte Klasse im Gymnasium wiederholen müssen. Sein Klassenlehrer hatte die Meyers damals beruhigt: es sei die beginnende Pubertät, Caspar sei intelligent genug, das Gymnasium zu schaffen. Das hätte er in der Erprobungsstufe doch bewiesen. Lediglich seine Konzentration auf die Schule sei nicht ausreichend, er müsse einfach mehr tun, mehr lernen.
Die Wiederholung der Klasse 7 war ihm gut gelungen, auch dank seiner neuen Klassenlehrerin Frau Pagelsdorff, und so ist Jennifer optimistisch, dass er auch jetzt in der 8 ein passables Halbjahreszeugnis nach Hause bringen wird. Er hatte oft stundenlang in seinem Zimmer gesessen und gearbeitet.
Als erste kommt Melinda gegen 12.30 Uhrheim, wie immer fröhlich. „So bin ich auch als Kind gewesen, ja, und so bin ich im Grunde immer noch, wenn nur der Druck von Familie und Schule und Kindergarten nicht so groß wäre“, denkt Jennifer.
„Schatz, zieh erst einmal die Schuhe und den Anorak aus, und dann zeig mal dein Zeugnis. Ich bin schon so gespannt!“
Melinda streift die Stiefelchen ab und kickt sie vor die Garderobe, der Anorak fällt vom Garderobenhaken auf den Boden. Schon kramt sie in ihrem bunten Scout-Tornister nach dem Zeugnis, das sie, wie von Jennifer gewünscht, in die mitgenommene Klarsichthülle gesteckt hat.
Freudestrahlend präsentiert sie Jennifer das Schriftstück:
„Die Zeugniskonferenz vom ...“, Jennifer überspringt das Formale, „… dass Melinda für den Besuch der Hauptschule … geeignet ist. Für den Besuch der Realschule ist sie mit Einschränkungen geeignet.“
Jetzt muss sich Jennifer erst einmal setzen. Aber bei dem Elterngespräch gegen Ende des letzten Jahres hatte das für sie doch noch ganz anders geklungen. Zwar hatte Dorothee Schmalenbach, die Schulleiterin der Grundschule ‚Am Mühlenacker‘ und Klassenlehrerin von Melinda, herumgedruckst, aber als Carl-Michael sie am Ende des Gesprächs gefragt hatte, ob denn die Gymnasialempfehlung möglich sei, hatte sie geantwortet: „Auszuschließen ist auch das nicht.“
Dorothee, so hatte Carl-Michael seiner Frau erzählt, hatte mit ihm zusammen am LEG, dem Ludwig-Erhard-Gymnasium, die Schulbank gedrückt. Sie sei eine absolute Streberin gewesen, zwar eher zurückhaltend, ja sogar schüchtern, aber immer mit sehr guten Noten. Er und seine Freunde hatten sie mit ihrem Vornamen aufgezogen und sie immer „DoroTeeeeeeeee“ gerufen. Deshalb vermutlich spricht sie heute ihren Namen lieber englisch aus: „Dorothy“.
Gegen 13 Uhr traut sich endlich auch Caspar nach Hause. Schnell wird klar, warum er erst jetzt auftaucht: Sein Zeugnis strotzt von Vieren und in Deutsch und Englisch steht da jeweils sogar ein Mangelhaft. Als Konsequenz liest Jennifer daher oben auf der zweiten Seite die Bemerkung: „Bei gleichbleibenden Leistungen ist die Versetzung in die nächsthöhere Klassenstufe am Ende des Schuljahres gefährdet.“
Caspar hat sein Nachhausekommen gut getimt: Je länger er ausbleiben würde, umso später würde seine Mutter sich aufregen. Käme er allerdings viel zu spät, wäre es ihr unmöglich, seinem Zeugnis doch noch etwas Gutes abzugewinnen, um den Wutausbruch seines Vaters zu mildern.
Weil Jennifer eigentlich gedacht hatte, dass es etwas zu feiern gibt, hat sie kein Mittagessen vorbereitet und stattdessen eine Einladung ins Restaurant geplant. Aber irgendetwas müssen die Kinder ja trotzdem zu Mittag bekommen, also bestellt sie über Lieferando schnell Burger mit Pommes Frites von ‚Bella Ella‘.
Nach dem Essen verschwindet der Fastfood-Abfallberg schnell im Müll und sie nimmt sich Zeit zu überlegen, wie sie das Versagen der Kinder Carl-Michael am Abend schonend beibringen kann. Jennifer fühlt sich hilflos. Vermutlich schiebt Carl-Michael wieder die gesamte Schuld an dem Zeugnisdesaster ihr zu. „Also warum nicht gleich alles auf sich und damit die Kinder aus der Schusslinie nehmen“, denkt sie.
Fast vergisst sie noch Curd-Jürgen aus der Kita abzuholen, das hätte Carl-Michael sicher zur Weißglut gebracht.
„Das ist ja eine Katastrophe“, poltert Carl-Michael dann auch nach den ersten Blicken über die Zeugnisse los. „Wie kann das sein? Warum hast du mir nicht gesagt, dass es in der Schule so schlecht läuft?“
„Es tut mir leid, alles ist meine Schuld“, gesteht Jennifer unter Tränen, „aber ich habe das auch nicht mitbekommen, dass es so schlimm steht. Caspar hat doch immer viel in seinem Zimmer gesessen und gelernt. Wie kann das sein? Und Melinda war immer so fröhlich und ausgeglichen. Auch da habe ich gedacht, alles sei in Ordnung.“
„Aber es muss doch Anzeichen gegeben haben, sie müssen dir doch Klassenarbeiten zur Unterschrift vorgelegt haben?“
„Ja, Melinda hat mir immer was zur Unterschrift vorgelegt, da war auch nie eine Fünf dabei. Daran hätte ich mich erinnert. Und Caspar? Immer wenn ich den gefragt habe, hieß es nur, sie hätten noch keine Arbeit geschrieben oder sie hätten die Arbeit noch nicht zurück. Jetzt, wo du fragst, ich glaube, er hat mir nur mal ein Befriedigend in Mathe gezeigt, aber unterschreiben musste ich auch das nicht, hat er gesagt. Ist das nicht komisch?“
„Komisch? Der hat dich verarscht und du lässt das mit dir machen. Du bist viel zu gutgläubig, viel zu naiv. Und kannst du mit Sicherheit sagen, dass er die viele Zeit in seinem Zimmer wirklich mit Lernen zugebracht hat?“
„Wenn du so fragst, nein, mit Sicherheit kann ich das nicht sagen. Aber ist es nicht gerade in der Pubertät wichtig, dass wir ihm vertrauen? Was soll aus Jugendlichen werden, deren Eltern immer argwöhnisch sind?“
Punkt für sie! Carl-Michael hat immer unter dem mangelnden Vertrauen seines Vaters gelitten. Und wenn er ehrlich ist, leidet er heute noch darunter.
Andererseits weiß er auch, dass über Kevin Schnalt, den noch recht jungen Leiter des WermelsburgerLEG und Sohn seines zukünftigen Kompagnons Dr. Tobias Schnalt, Caspars Versagen in der Schule auf ihn zurückfällt. Das wird seiner sowieso nicht sonderlich guten Reputation in der Kanzlei nicht förderlich sein.
Nachdem Carl-Michael seinen ersten Ärger über die Zeugnisse mit einem Whisky heruntergespült hat, denkt er nach vorne:
„Ganz bestimmt wollte Dorothee sich mit der Schulempfehlung an mir rächen. Damals haben wir Jungs ihr das Leben schwer gemacht und das war zugegebenermaßen nicht nett von uns, und jetzt zahlt sie es mir so heim. Gut, dass Melinda immer positiv ist und das katastrophale Zeugnis gar nicht an sich heranlässt. Und es gibt ja auch viele schöne Noten, zum Beispiel hier die Zwei in Musik und die in Sport.“
Nach einer kurzen Pause sinniert er weiter: „Wir gehen mal zum Informationsabend der Sekundarschule und hören uns an, was die da zu erzählen haben. Aber wenn du mich fragst, sollten wir Melinda trotzdem am Gymnasium anmelden. Ich werde in der Kanzlei schon mal lancieren, dass wir zur Anmeldung am LEG auftauchen. Dann kann es Tobias seinem Sohn schon mal stecken.“
„Und mit dieser Klassenlehrerin von Caspar, wie heißt sie noch?“
„Frau Pagelsdorff“, hilft ihm Jennifer auf die Sprünge.
„Ja, genau, mit der kann man doch auch reden. Da gehen wir gemeinsam zum Sprechtag. Wann ist der? Ah, hier steht es ja: nächsten Montag. Machst du bitte einen Termin mit Frau Pagelsdorff für 18 Uhr. Notier dir das.“
Dienstbeflissen trägt Jennifer es in ihre Kalender-App ein.