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"Ich möchte schwerelos sein. Endlich die verborgene Schwere los sein!", notiert ResA in ihrem Tagebuch. Ihr Herzenswunsch ist es, ihren beiden Töchtern in ihrem Zuhause den Schutz und jene Geborgenheit zu bieten, die ihr in ihrer eigenen Kindheit verwehrt blieben. Das Vorhaben, die Lebenszeit gut mit ihren beiden Kindern und ihrem geliebten Mann zu verbringen, gerät jedoch mehrmals ins Wanken. Die dabei entstehenden Herausforderungen scheinen oft unüberwindbar. ResA kämpft sich ihr gesamtes Leben mit eiserner Disziplin und als unsichtbarer Schmetterling durch. Doch die Antwort auf die Frage, ob sich die Strapazen überhaupt lohnen, muss sie erst für sich finden.
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Seitenzahl: 759
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-723-6
ISBN e-book: 978-3-99146-724-3
Lektorat: Elena Iby
Umschlagfoto: Libux77, Igoriss | Dreamstime.com; ResA. K.K.
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Worum es geht
Zu mir sagte mal jemand, dass alle Geschichten und Erzählungen ein Happyend haben müssen. Daraufhin regte sich Skepsis in mir, denn von dieser Aussage war ich überrascht. Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf. Nein, nicht nur, dass das Leben wenige glückliche Episoden schreibt, mir ist Literatur bekannt, welche ebenso ohne diesen Traum auskommt.
RESA. K. K., eine der Unzähligen unter diesem Himmel, sinnt ihrem Leben nach. Sie ist mit Mo verheiratet, mit dem sie zwei Töchter hat, Charlotte und Henriette. Ich, Resa, habe mit meinem Leben gebrochen, dennoch wollte ich nie die Spuren meines Lebens vergessen lassen. In zahlreichen handgeschriebenen Tagebüchern habe ich mein aufwirbelndes Leben festgehalten. Lange Zeit, ohne zu wissen, zu welchem Zweck und für wen überhaupt. In den letzten beiden Jahren entwickelte sich in mir eine immer stärker werdende Idee, alles in einem Buch zusammenzufassen.
Du hältst mein mehr oder weniger gelebtes Leben in deinen Händen. Neugierig geworden? Dann lies mich! Du hast ja schon ein bisschen damit begonnen.
Ich verspreche, es wird nicht langweilig, jedoch mitunter brisant, spannungsgeladen und emotional aufreibend.
Alle Handlungen und Personen in diesem Buch sind frei erfunden.
TRIGGER-Warnung an meine Leser
Was ist triggern?
Medizinisch und psychologisch versteht man darunterAuslöservon Empfindungen, Affekte oder von Erkrankungen.
Ich, RESA. K. K., weise dich, lieber Leser, bereits jetzt darauf hin, dass dieses Buch Abschnitte, Gedankengut und Textstellen enthält, die triggern könnten.
Folgende Auslöser, sogenannte Trigger, könnten unbeabsichtigt auftauchen oder verschlimmert werden:
ÄngsteDepressionSuizidgedankenTrauerNur wenn ihr als Leser emotional mit diesen Themen umgehen könnt,nur dann,ist vom Lesen nicht abzuraten.
1. Zyklus
Unsichtbarer Schmetterling
In meinem Alter von fünf bis neunzehn
Das Versteck
Sie rennen hin und her. Sie rufen mich: „Resa! Resa! Verflucht, wo bist du? Resa!“ Finden mich nicht! Dabei bin ich nur unsichtbar! Bin mittendrin im täglichen Treiben. Doch ich will nicht dabei sein. Will weg! Will mich auflösen!
Nun wird alles noch lauter. Das Geplärre kracht in meinen Kopf.
Ich habe mich ganz klein gemacht hinter der Tür. Halte mir die Ohren zu. Meine Augen sind groß wie Teller und die Angst greift nach mir. Sie lässt mich zittern und mir ist heiß!
Es kommt ganz langsam. Ein Schatten schiebt sich vor den Türspalt.
Ich hocke im Flur zwischen unserem Kühlschrank und der Kinderzimmertür. Mache mich ganz klein. Da ist nur ganz wenig Platz. Aber er reicht für mich. So leise und langsam wie ich kann versuche ich zu atmen. Doch es gelingt mir nicht mehr.
Mit einem starken Ruck wird die Tür plötzlich von mir weggerissen. Der Luftstrom lässt meine Haare fliegen und ich bin wieder sichtbar.
Meine kurzen Arme verschränkten sich blitzschnell und augenblicklich über meinem kleinen Kopf.
Mit tosendem Lärm und einer Wortexplosion vom Vater, dröhnt und peitscht es auf mich ein. Es spritzt aus seinem Mund, als er brüllt: „Ah, da steckst du! Du stinkend faules Stück … Du drückst dich? Willst nicht! Überlässt den anderen die Arbeit! Das wirst du bereuen! Du trocknest ab! So oder so! Und ohne Widerrede! Schere dich in die Küche! Und zur Strafe kehrst und saugst du ganz gründlich überall! Verschwinde! Bevor ich mich vergesse!“
Mein Versteck, mein Versuch zu entkommen, alles hoffnungslos gescheitert.
Tränen laufen mir über das Gesicht, aber keiner nimmt Anteil daran. Schauen weg. Trauen sich nicht. Haben auch Angst.
Meine vier älteren Geschwister haben ihren Teil der Hausarbeit erledigt und verlassen den Schauplatz. Bringen sich aus der Gefahrenzone. Können mir nicht helfen. Dürfen nicht.
Die Eltern sind im Wohnzimmer auf der Couch, wollen ihre Mittagsruhe halten und dulden keine Störung mehr.
Tränenerstickt, mit zugeschnürtem Hals und laut klopfendem Herzen schließe ich von innen ganz leise die Küchentür, um kein Geräusch nach draußen dringen zu lassen. Auf leisen Sohlen und möglichst ohne Krach zu verursachen, versuche ich nun doch, meine Aufgaben zu erfüllen – was für meine fünf Jahre eine echt große Herausforderung ist. Immerhin sind wir eine siebenköpfige Familie. Da fällt eine Menge Geschirr und Schmutz an.
Oh, wie soll ich diesen Berg nur schaffen? Teller, Töpfe, Brettchen, Tassen, Besteck und noch Unmengen von Küchenkram. Alles aufgetürmt und ineinander verschachtelt. Es ist wie bei Mikado.
Ich muss aufpassen, an welchem Teil ich ziehe.
Hole mir den roten, etwas kippligen Hocker heran. Reiche nicht hoch zum Abwaschtisch. Bin einfach zu klein. Klettere rauf, ziehe vorsichtig und Stück für Stück die Teile aus dem aufgeschütteten Berg.
Trockne ein Teil nach dem anderen ab und klettre immer wieder runter. Verschiebe ganz leise den Hocker, um an die Schränke und Schubladen zu kommen, um alles aufzuräumen. Ein ständiges Auf und Ab. Und nach einer Weile schwindet meine Kraft.
Doch Aufgeben ist nicht denkbar, da käme der nächste Ärger. Die Angst davor ist zu mächtig.
So kämpfte ich mich durch das Geschirr, welches Jilaiya und Seth abgewaschen hatten. Es war ein fast unbezwingbarer Berg, durch den ich mich nun arbeitete.
Immerzu liefen mir die Tränen. Und ich tadelte mich, kein besseres Versteck gefunden zu haben.
Seth, mein mittlerer Bruder. Er ist ein Blondschopf und der Sonnenschein in der Familie. Meistens ist er voll lustig drauf. Immerzu hat er irgendwelchen Quatsch im Kopf. Richtig ernst sein kann er nicht. Zumindest bringt er uns ab und an zum Lachen.
Und da ist noch Jilaiya. Meine ältere Schwester. Sie ist ein echtes lockiges, dunkelhaariges Biest mit kohlrabenschwarzen Augen und das ganze Gegenteil zu Seth. Im Nullkommanichts schafft sie es, auszuflippen, und es hageln Beleidigungen, auf wen auch immer. Ja, ganz wie der Vater. Nur um sie dreht sich das ganze Universum. Sie ist der Boss!
Irgendwann am Nachmittag hatte ich dann den Berg geschafft. Doch so einiges konnte ich nicht wegräumen. Kam einfach nicht hoch genug zum Schrank. So ließ ich es stehen. Was sollte ich auch machen?
In der Zwischenzeit waren meine Eltern schon wieder wach und tranken nun Kaffee. Er duftete durch die ganze Wohnung.
Doch für mich ging es weiter. Ich bekam nichts zum Kaffee, was nicht schlimm war. Wir Kinder waren ja immer draußen um diese Zeit und da gab es nie irgendetwas zu essen oder trinken am Nachmittag.
So begann ich mit dem kehren.
Meine Augen brannten zwar noch vom vielen Weinen. Doch so langsam legte es sich und die Erschöpfung fiel über mich her. Ich hatte keine Kraft und keine Tränen mehr.
Ich nahm mir den Besen und kehrte Raum für Raum. Danach den Staubsauger und zog durch Flur und Wohnzimmer.
Das Saugrohr mit dem kleinen Polstersaugfuß war auf mich eingestellt. Der große Saugfuß war mir zu schwer und ich habe es nicht geschafft, damit zu saugen.
Es war ohnehin meine Arbeit, welche ich immer zu erledigen hatte. Und es war nicht schlimm. Irgendwann fing ich sogar an, darüber zu grinsen. Strafe? Ha! Dafür habe ich bestimmt morgen nicht so viel. Und so konnte ich mich sogar darüber freuen.
Die Stadt
Warum musste ich das nun alles machen?
Es war schon schwer, nicht mehr so spielen zu können wie früher. Da hatten wir einen großen Hof und wir durften fast im ganzen Dorf spielen. Hatten einen ganz großen Sportplatz. Einen kleinen, schönen Garten. Und Spielkameraden, die immer da waren.
Seit der großen Veränderung, als wir von unserem Zuhause weggegangen sind und nun ganz woanders wohnten, ist nichts mehr, wie es war.
Alles ist fremd und chaotisch. Die Vertrautheit, die Ordnung eingetauscht gegen Enge, Unsicherheit und Schrecken.
Gräulich grün mit schwarzen Balken steht das Haus an einer Straßenecke in der Stadt, in der wir nun wohnten. Ein riesiges Haus. Mit zwei Eingängen. Vorne, von der Straße aus mit einer schönen ausladenden Treppe und doppelter brauner Eingangstür. Hinten im Hof ein unscheinbarer, graugrüner, eiförmiger Eingang, der für uns bestimmt war.
Es ist ein Bürohaus im alten Baustil mit nur einer Wohnung.
Der Geruch des Hauses war neu. Er war schwer und muffig. Es lag am Papier und an der Chemie, die zum Drucken verwendet wurde. Einzigartig und unvergesslich.
Wir mussten viele Stufen ganz nach oben laufen. Da war dann wieder eine große doppeltverglaste Tür mit bunten Blumenornamenten und dahinter ein mächtiger, fensterloser Flur mit vielen Büroschränken an den Wänden. Sie waren echt unheimlich, wie sie so dastanden. Eine Menge dunkler Ecken, die viele verschiedene Schatten warfen.
Und da war noch unsere große Wohnungstür, auch mit zwei Türen rechts und links. Wir hatten nun eine Küche gleich links, ein Wohnzimmer rechts gegenüber, daneben ein Kinderzimmer und wieder links die Schlafstube unserer Eltern.
Alle Türen waren sehr hoch, sehr alt und dunkel angestrichen.
Die Toilette befand sich draußen, ganz hinten links den langen, breiten Flur entlang. Wir mussten an allen gruseligen Schränken vorbei, um zu ihr zu gelangen.
Nachts hatte ich immer wahnsinnige Angst, da hin zu gehen.
Wenn man dann die Tür geöffnet hatte, war es wieder ein langer aber enger Gang zum WC. Dahinter gab es ein langgezogenes Fenster.
Zum Baden ging es in das Waschhaus unten im Keller. Hier war alles irre groß. Rechts war viel Platz. Und Mutti wusch dort immer unsere Wäsche in einer Art Riesenschüssel. Auf der anderen Seite, da standen ein riesiger Kessel für das Badewasser und eine gigantisch große Badewanne. In der Wanne hatten wir vier Kinder gleichzeitig Platz. Und zwar so viel, dass noch vier weitere Kinder reingepasst hätten. Von der rechten Seite bis zum anderen Ende konnten wir fast schwimmen und wir durchtauchten ständig die Badewanne. Rechts rein, links raus. Und immerzu. Ein herrlicher Spielplatz! Jeden Sonntag.
Baden
Einmal, wir waren wieder zu viert, Seth, Jilaiya, Bill und ich, wir tobten ausgelassen herum. Konnten spritzen und matschen, ohne vorsichtig zu sein.
Wir wuschen uns nach dem Spiel und der Ankündigung, dass der Spaß gleich vorbei sei, die Haare. Meine Brüder Seth und Bill reichten mir die Haarwäsche. Ich machte sie auf meinen Kopf, schrubbte und wunderte mich, weil es beim Waschen nicht schäumte. Und da prusteten sie los und lachten und lachten. Ich verstand nicht, warum, und versuchte die Haarwäsche noch einmal – was die zwei zu einem totalen Lachflash trieb. Mit lachenden Tränen in den Augen und scheinbar schlechtem Gewissen sagte Bill, dass Seth in die Flasche gepieselt und sie mir dann zum Waschen gegeben habe. Sie fanden es irre witzig. Für mich war es schrecklich eklig und ich schrubbte und schrubbte meinen Kopf immer wieder, bis ich endlich das Gefühl hatte, dass ich davon wieder befreit bin und es nicht mehr stinkt.
Doch ich war trotzdem belustigt über diesen Streich von Seth und nicht böse darüber. Auch ich musste eine Zeit lang lachen. Ich nahm es Seth und Bill nicht übel.
Maxims Zimmer
Für Maxim war ein Zimmer auf dem Dachboden eingerichtet worden. Er wohnte da ganz allein. Huh, ich fürchtete mich oft, zu ihm zu gehen. Doch es hielt mich nicht davon ab. Ich liebte Maxim. Er war für mich der engste von meinen Geschwistern. Wir waren viel zusammen gewesen.
Wenn ich zu ihm wollte, musste ich oben im Flur durch die doppelte Tür zur Treppe. Da war rechts die Tür zu den Bodenkammern. Aber erst noch eine schrecklich steile Holztreppe rauf. Und das Licht war nicht viel. Fast so viel wie von einer Kerze. Das war echt gruselig mit den Schatten, die das Licht warf.
Oben dann, es war eine simple Dachbodenkammer, die zu einem Zimmer umgebaut war. Und viel war auch nicht drin. Sein Bett und ein ganz schmaler Schrank für seine Sachen. Ach ja, es gab einen Stuhl und einen winzigen Tisch.
Die Wände in seinem Zimmer waren dunkel und ohne Farbe oder Tapete. Nur voll schäbig.
Rechts neben seiner Zimmertür war unsere Kammer vom Dachboden mit allem möglichen Krempel, den wir nicht mehr in unser Zimmer bekamen. Und es waren auch viele Sachen dabei, die früher in unserem Wohnzimmer standen und nun keinen Zweck mehr erfüllten.
Maxim, zehn Jahre älter als ich, ist mein ältester Bruder. Er war schon richtig groß, als wir dahingezogen waren.
Doch leider war er nun oft nicht mehr da. Als ich in der ersten Klasse war, ging er fort.
Ich fragte oft nach ihm. Verstand aber nicht, warum er nicht mehr heimkam. Es bemühte sich keiner zu erklären, dass er mit der Schule fertig war und nun arbeiten musste. Sie taten es einfach ab, dass er nicht mehr da war. „Maxim ist groß. Es ist nun mal so.“, kam es auf Fragen nach ihm von mir zurück. Aber eine Bekümmerung oder Sorge um ihn war nicht spürbar. Eher gegenteilig. Vater schien oftmals richtig erleichtert zu sein, sich nicht mehr um ihn kümmern zu müssen.
Irgendwie gehörte er nicht mehr dazu. Nur mir schien er schmerzhaft zu fehlen, sonst keinem. Ich fühlte mich eine Zeit lang ganz allein, auch wenn wir so eine große Familie waren.
Der Hof
Der Hof, etwas eingerückt und abgewandt von der Straße, war mit Steinplatten ausgelegt und mit Wasserablaufrinnen versehen. Riesig war er nicht. Und auch kein Vergleich zu unserem Spielplatz vom Dorf, aus welchem wir kamen. Aber er reichte und er war sauber, offen und nicht umbaut. Wir durften ihn ja auch verlassen und durch die Straßen in der näheren Umgebung ziehen. Da war es nicht all zu schlimm.
Es gab eine Überdachung für Fahrräder und einen Garten, den wir wenig nutzten, aber in Ordnung hielten. Wir schienen nicht die einzigen Nutzer des Gartens zu sein.
Nebenan war eine Firma. Ich weiß nicht mehr, was für eine. Ist auch egal. Sie war einfach nur nebenan.
Erste Lektion
Noch ausgelassen vom Spiel mit meinem siebenjährigen Bruder Bill draußen im Hof, kommen wir heim.
Schon im Hausflur donnern Schreie, zudem Schimpf und Schande in unsere Ohren. Wir halten kurz inne und lauschen.
Benommen von der elektrischen Spannung in der Luft schließt Bill ängstlich die Wohnungstür auf. Es wird nicht ruhiger. Im Gegenteil. Der Lärm kommt aus unserem Wohnzimmer. Die Stimme gehört dem Vater. Die Schreie Maxim. Er ist ca. vierzehn Jahre alt.
Bill geht schnell in unser Kinderzimmer. Will scheinbar nicht sehen und hören, was im Wohnzimmer passiert. Ich, damals ca. sechs Jahre alt, folge ihm nicht. Die Neugier treibt mich an.
Obwohl mich die Angst vor dem zornigen Gebrüll und den erregten, angreifenden Worten des Vaters fast lähmt und meinen Atem zum Stocken bringt, öffne ich leise und langsam die Tür zum Wohnzimmer. Kaltes Entsetzen schlägt mir entgegen. Kurz stehe ich still und fassungslos in der Tür.
Mein Vater, ein schmaler drahtiger Mann um die fünfunddreißig Jahre, mit dunklem, strubbligem Haar und hellen graublauen Augen, hält einen zur Hälfte gefalteten Ledergürtel mit Eisenverschluss an der Schlinge in seiner Hand und schlägt damit auf Maxim ein. Mich schmerzt vom Zuschauen jeder Schlag. Ich zucke mit jedem Niederprasseln der Gürtelschnalle auf meinen über alles geliebten Maxim zusammen. Die Szene zerfetzt mich. Mein Kopf, mein Bauchgefühl und mein Herz ziehen sich schmerzlich zusammen. Will nicht sehen, was da geschieht. Widerstand regt sich in mir und lässt mich unbedacht handeln. Ich kann das nicht zulassen. Muss Maxim retten – um jeden Preis. Will, dass es aufhört.
Angezogen von der Qual, die Maxim durchströmt, und davon angetrieben, stürze ich zu ihm und bedecke ihn mit meinem winzigen Körper. Die folgenden Schläge prasseln auch auf mich nieder. Ich leide unsagbare Schmerzen. Auch ich schreie mir die Seele aus dem Leib. Doch Maxim ist kurz etwas geschützt und ich habe ihm diese Atempause verschafft.
Plötzlich hält der Vater inne und erst jetzt bemerkt er mich. Er keucht ganz knapp: „Resa! Verschwinde!“ Ich konnte und wollte nicht zulassen, dass er Maxim noch einmal schlug. Ich blieb. Doch ich zitterte am ganzen Körper und klammerte mich an Maxim fest. So umhüllte ich nun seinen Körper weiter und schon prasselten die Prügel wieder los. Aber dieses Mal fast nur auf mich. Er wollte mich scheinbar so verjagen. Mit erregter Stimme und spritzendem Speichel donnert der Vater, dass ich ohnehin die Lektion irgendwann lernen müsse.
Nachdem er sich abreagiert hatte, entließ er uns. Bis heute weiß ich nicht, was diesen Ausbruch verursacht hat.
Im Vorschulalter
Zu dieser Zeit besuchte ich noch die Kita. Der Weg dahin war weit und wir liefen ihn jeden Tag. Mutti nahm mich jeden Tag mit, wenn sie zur Arbeit ging.
Sie war Köchin in einer schönen, großen Küche einer Gaststube nahe des Sees. Und genau darüber, über ihrer Küche, im Treppenhaus nur eine Etage hoch, war meine Kita.
Immer roch es nach irgendwelchem Essen. Wir machten ein Ratespiel daraus und lernten, welches Gericht wie riecht.
Wenn wir Kinder an der Küche vorbeikamen, was sehr oft passierte, fragten wir stets ganz neugierig die lieben Frauen, was es denn heute zu essen gibt. Und andauernd kam die gleiche Antwort: „Nacksche Mäuse in Butter gebraten!“ Das war lustig für uns und keiner wollte eine richtige Antwort hören. Es war wie ein Ritual. Das durfte nicht zerstört werden. Alle Kinder und Erzieher waren zufrieden damit.
Meine Mutti war immer sehr ruhig und ich quasselte damals immerzu. Vor allem, wenn ich etwas aufgeregt war. Das fand sie immer lustig. Sie war nie genervt, nur ruhig und hörte zu. Aber vielleicht auch nicht, denn sie antwortete nur gelegentlich und erklärte selten etwas.
Oft war sie traurig und hatte viel Kopfschmerzen.
Ihr Gesicht war weich, aber ernst und von leuchtend goldgelben Haaren umspielt, die sie manchmal mit stachligen, bunten Lockenwicklern eindrehte, was ziemlich lustig aussah.
Sie hatte schöne, warme schwarze Augen. Manchmal, nicht sehr oft, konnte sie auch wunderschön lachen.
Ich hatte also, wenn ich in der Kita war, meine Mutti immer bei mir. Manchmal durfte ich zu ihr gehen, wenn sie auch arbeitete. Aber nur im Pausenraum. Die Küche war zu gefährlich, hieß es immer, und wir durften nicht über die Schwelle treten. Das war tabu.
Sie holte mich auch ab und zu von oben ab. Doch meist waren es meine Geschwister, die mich am Nachmittag abholten.
Zur Kita gehörte auch ein schöner Garten, den wir relativ schnell erreichten. Wir waren sehr oft da draußen.
Erst ging es durch einen kleinen Park, auf welchen manchmal Schafe grasten und viele Apfel- und Kirschbäume standen. Dann war er auch schon erreicht.
Er war von wunderschönen großen Bäumen umgeben und ein hoher brauner Zaun zog sich drumherum.
Im Sommer nahmen wir alle unsere Brottaschen und den Tee – es gab immer Tee – mit raus.
Wir hatten schöne, lange, bunte Tische mit Bänken im Garten. Alle Kinder passten an zwei Tische.
Ein Klettergerüst und zwei Sandkästen sowie einige Roller, Bälle und weitere viele Spielzeuge.
Wilde Tiere
Einmal kam mich Seth abholen. Doch er kam nicht wie sonst durch die Gartentür. Nein, er kam über den hohen Zaun geflogen. Total außer Atem, ängstlich, aber mit lachenden Augen und einem Grinsen im Gesicht erzählte er kurz, dass er vor einem wilden, bösen Schaf geflüchtet sei.
Auf dem Heimweg erzählte er mir dann, dass er das Schaf dolle geärgert habe und da lief es ihm sauer nach und wollte ihn schubsen und beißen. Davor hatte er Angst und ist geflohen. Kurz bevor das Schaf Seth erreicht hatte, konnte er über den Zaun hechten. Die Tür zu öffnen hat er nicht mehr geschafft.
Mit viel Mut
Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich ein sehr ängstliches Kind war? Nein? Na, da wisst ihr es jetzt. Doch neben meiner ständigen Angst, welche ich zu dieser Zeit nur im Dunkeln hatte, konnte ich auch unglaublich mutig, beherrscht und kämpferisch sein.
Wir, unsere ganze Familie, fuhr im Hochsommer mal in ein Freibad zum sommerlichen Vergnügen.
Alle außer mir konnten schon schwimmen. Ausgelassen spielten wir Kinder im und außerhalb des Wassers. Wir waren hoch erfreut und außer Rand und Band. Unsere Eltern sonnten sich und lagen auf einer Decke. Nach einer geraumen Zeit bekamen wir Hunger und Durst und gesellten uns zu ihnen.
„Wer traut sich denn in das tiefe Becke zu springen?“, kam es vom Vater. Und er setzte noch nach: „Der bekommt fünf Mark für seinen Mut.“ Das ließ ich mir nicht entgehen. Ich ging unbemerkt an den Beckenrand und rief zu allen rüber: „Vati, guck doch mal!“ Und schon sprang ich beherzt in das tiefe Wasser. Was kann denn schon passieren?
Alle waren entsetzt und riefen mir, fast im Chor, zu. „Resa! Nein!“ Doch es war schon zu spät.
Ich war im Wasser und tat nichts. Ich bewegte mich nicht. Wartete nur auf das, was folgen würde. Wie eine Salzsäule trieb ich aufrecht im Wasser. Ich ging zu meinem eigenen Erstaunen nicht unter. Meine Haare schwammen, wie eine strahlende Blume, unter der Wasseroberfläche.
Seth holte mich rasch raus. Ihr glaubt nicht, was es für ein Durcheinander und eine Hektik war, die ich damit ausgelöst hatte. Doch ich war auch stolz auf meinen Mut und bekam die versprochene Belohnung.
Später lernte ich ohne Hilfe in einer Therme schwimmen. Auch das erfüllte mich mit Stolz.
Und da ich schon einmal dabei war, Neues zu lernen, und eines Tages Muttis Fahrrad im Hof stand, probierte ich an einem Sonnabendvormittag allein so lange darauf rum, bis ich Radfahren konnte. Auch das habe ich hinbekommen – und auch ohne Hilfe.
Wovon ich träumte
Mich würgt ein Gedanke, der mich schon immer begleitet. Ich wollte schon immer ein Junge sein. Wurde aber als Mädchen geboren. Als weniger wert wie meine Brüder! Seit ich denken und Unterschiede wahrnehmen konnte, spürte und sah ich es.
Ich kopierte oftmals das Verhalten meiner Brüder. Bestaunte sie. Erschuf mir eine Denk- und Spielweise, die eher zu einem Jungen passte. Doch das reichte mir nicht! Es muss doch noch was kommen! Da ist doch sicherlich mehr. Tief in mir spüre ich doch, dass ich kein Mädchen bin. Ich konnte und wollte kein Mädchen sein!
Irgendwann im Vorschulalter habe ich dann meine Mutti gefragt: „Wann werde ich endlich ein Junge?“ Eine Antwort blieb aus.
Nur das Lachen klingt heute noch in meinen Ohren. Keine Erklärung. Nichts! Nur Lachen, Lachen, Lachen! Plötzlich lachten alle.
In mir regte sich das gleiche Gefühl wie geschlagen worden zu sein. Es schmerzte mich, und keiner sah es. Es war eine Kränkung bis auf die Knochen. Die Enttäuschung, Beschämung und die Wahrheit waren hart.
Es biss und zerrte etwas in meinem Körper, in meiner Brust, meinem Kopf. Wie ein wildes Tier. Ich musste ein Junge werden! Nun spürte ich es ganz deutlich. Ich wollte kein Mädchen sein.
Ich wollte weg. Wollte unsichtbar sein.
Hilfe mit Folgen
Ein schöner, sonniger Frühlingstag. Ich bin allein auf dem Weg zur Schule. Erste Klasse. Ein bisschen stolz, und doch noch so klein.
Ich treffe zum Stundenbeginn vor dem Schulgebäude meine Mittschülerin Anja. Sie weint und ist sehr aufgeregt. Ihr Gesicht ist ganz rot, geschwollen und verschmiert.
„Ich habe meinen Schlüssel verloren“, schluchzt sie. „Da bekomme ich viel Scherereien zu Hause. Mein Vater wird schimpfen und vielleicht bekomme ich schelten. Kannst du mit mir den Schlüssel suchen?“
Ich bin gleich von dieser Situation gefangen, von ihrem Leid. Weiß, was es bedeutet, Ärger zu bekommen.
„Klar werde ich dir helfen!“, ist meine sofortige Antwort. Nein hätte ich nicht sagen können, das verbot mein inneres Gefühl. Ich musste das Leid einfach so gut es ging abwenden. Und ich fühlte mich gut dabei, helfen zu können.
Wir sprechen über den Weg, auf welchem sie zur Schule kam, und dass wir diesen genauso zurückgehen. Da werden wir den Schlüssel bestimmt finden. Also marschieren wir los.
Ein paar Meter weiter treffen wir auf Jörn aus unserer Klasse. Er ist spät dran. Die erste Stunde hat schon begonnen. Anja erzählt auch ihm von ihrem Verlust des Schlüssels. Und ehe wir uns versahen, waren wir zu dritt auf der Suche.
So verging die Zeit. Wir liefen den Weg von Anja zurück. Die Straße entlang, durch den kleinen Park, die nächste Straße, über die große Brücke am See und rechts in die Straße, in der sie wohnte. Nichts. Mist! Also noch einmal.
Und plötzlich traf uns die Erkenntnis: Wir haben die Stunden verpasst. Und nun? Trotzdem in die Schule? Aber wohin dann? Ist noch jemand da? Und der Hort! Können wir da hin, ohne in der Schule gewesen zu sein? Oh, wir trauten uns alle drei nicht mehr zur Schule!
Wir bekamen Angst vor einer Entdeckung durch Erwachsene. Wir mussten uns verstecken. Aber wo?
Jörn hatte die Lösung: In einer schönen, geräumigen Bude einer Hecke. Sein Spielplatz, sein tägliches Versteck. Genau der ideale Platz für uns!
So saßen wir nun die nächsten Stunden in dieser Hecke fest, und es war nicht sehr warm, obwohl die Sonne schien.
Uns machte nun die Zeit ganz große Sorgen. Wir kannten die Uhr noch nicht. Wann ist es so spät am Nachmittag, dass wir zur richtigen Zeit, Hortende, nach Hause können, ohne dass unser Fehlen vom Schultag auffällt?
Ich schlug vor, aufzupassen, wann die Erwachsenen auf der Straße mehr werden und sie alle nach Hause oder einkaufen gehen. Ja, das wäre ein gutes Zeichen!
So kam es, dass wir fast pünktlich nach Hause gingen. Und klar, ohne den verlorenen Schlüssel und mit ziemlich schlechtem Gewissen.
Ach, war ich froh! Ich war nun in unserem Kinderzimmer und keiner hat etwas gemerkt oder gesagt.[Hui, das ist gutgegangen.]
Es klingelt an der Tür.[Besuch? Wer kommt denn jetzt noch? Ist doch schon fast abends.]Da steht Sylvia, meine dickliche Mitschülerin, vor der Tür und fragt nach mir. Ob ich krank wäre? Sie bringe die Hausaufgaben. Erstaunt hören sich meine Eltern alles von der Kleinen an und danken ihr für die Hilfe.
Nun bekam ich es mit der Angst zu tun. Und zurecht! Leise und langsam fiel die Wohnungstür ins Schloss. Augenblicke später wurde auch die Kinderzimmertür geschlossen. Ich hatte mich in meinem Bett versteckt. Bin in die hinterste Ecke gekrochen. Traute mich nicht mehr zu atmen. Ich hörte ganz leise, wie der Vater seinen Gürtel aus der Hose zog. Mir stellten sich alle Härchen auf. Die Gänsehaut bedeckte meinen ganzen Körper. Das große Beben in mir begann und dann folgte Schlag auf Schlag. Die Decke schütze mich etwas vor der Wucht der Schläge. Aber sie blieb nicht lang genug auf mir liegen. Er sagte kein Wort. Schlug nur pausenlos zu. Ich schrie und weinte. Verkroch mich. Ausweglos. Immer und immer wieder zischte, peitschte und brannte es. Ich nahm das Heranfliegen des Gürtels irgendwann nicht mehr wahr. Unablässig und pausenlos flog die Welt um mich herum, die Luft teilte sich und alles wurde für mich aus seinem festen Fundament gerissen. Ich spürte nun nichts mehr und meine Tränen und Schreie starben. Er tötete meinen Schmerz. Nur die Qual der Situation beherrschte mich noch. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er sich abreagiert und hörte auf. „Zur Strafe gibt es kein Abendessen für dich und die nächsten Wochen hast du Stubenarrest!“, donnerte er und sein Speichel spritze dabei aus seinem Mund. Er verließ Sekunden später das Kinderzimmer.
Benommen von der Situation, vor Schmerz und Entsetzen unfähig, mich zu bewegen und vollkommen erschüttert blieb ich im Bett zurück. Nun wusste ich, dass mein Bett keinen Schutz bietet. Die intime Vertrautheit war verflogen, weggeprügelt. Die lähmende Angst des Ausgeliefertseins blieb.
Ich hoffte, dass mich Mutti trösten kommt. Der Funken der Hoffnung starb ganz langsam in der verstreichenden Zeit dahin. Die Qual des Alleinseins zerriss mich in der folgenden Nacht. Nein, keiner kam zu mir. Nur die Zimmerstille umgab mich. Ich hörte meine Geschwister, wie sie die Küche aufräumten. Und ich hörte den Fernseher im Wohnzimmer dröhnen. Wann meine Geschwister ins Bett gingen, bekam ich nicht mehr mit. Die Anstrengung, die Angst und die vielen Tränen haben mich müde gemacht. Aber ich fragte mich auch, warum er nicht gefragt hat, was an dem Tag geschehen war. Hoffte, dass ich das morgen erklären konnte. Leider nein. Nur kaltes Schweigen am Tag danach. Keine Frage, keine Erklärung, nichts. Episode abgehakt.
Ich finde mich
Ausgelassen tobten wir im Sportunterricht durch die Halle. Alle mit- und durcheinander. Sport war das Schulfach für mich. Hier konnte ich mit meinem Körper spielen. Konnte probieren, was ich kann. Machte die unmöglichsten Sachen. Die Leiter gefiel mir gut. Rauf und dranhängen. Beine hoch. Höher. Da geht noch was! Oh ja, toll, das schaff’ ich!
Auf der Matte eine Rolle vorwärts. Ah, es gibt auch eine Rolle rückwärts, ohne umkippen! Ganz kraftvoll in den Stand. Ja, genau mein Ding!
Es war noch in der ersten Klasse. Einige aus unserer Klasse waren aufgefordert, an einem Nachmittag in eine besondere Turnhalle zu kommen. Hier machten wir ein paar Übungen, welche uns vorgegeben wurden. Mir machte der Nachmittag riesigen Spaß. Ich war ganz bei mir. Hörte zu, verstand und turnte, was abverlangt wurde.
Nun kam ein kleiner Wettkampf. Einmal durch die Halle rennen, eine weite Strecke hüpfen, über die umgekippte Bank laufen und darauf ein paar Mal springen, dann mich an der Leiter, der Sprossenwand, hochziehen, und nochmal, und nochmal und noch einmal. Und zum Abschluss an die Kletterstangen. „Na, wer kommt bis hoch?“, fragte der Sportlehrer. „Ich!“, ist doch klar!
Das war genau der Treibstoff, den ich brauchte, um alles um mich herum zu vergessen. Beim Sport war ich ICH!
Was der Nachmittag war, erfuhren wir einige Tage später. Dies war die Auswahl für ein Gerätesporttraining in Bergenstadt. Ich wurde privilegiert. Ja! Hurra! Und nun? Ich bekam ein Schreiben für meine Eltern mit nach Hause. Darin hieß es, dass ich mehrmals die Woche nach Bergenstadt fahren solle, um zu trainieren. Dies bedeutete für mich eine kleine Freiheit, fast jeden Tag aus meiner Familie abzutauchen, weg aus ihrem Sichtfeld, nicht greifbar und ein klein wenig unsichtbar zu sein.
In der Folge trainierte ich nun fünfmal in der Woche in Bergenstadt Geräteturnen. Später kamen Samstage hinzu. Nach ca. zwei Jahren nahm ich an Wettkämpfen teil. Ich belegte in meiner Altersklasse meist die Plätze Gold und Silber. Ab und zu mal Bronze oder den vierten Platz mit Urkunde. Mit neun Jahren war ich in meinem Landkreis mit an der Spitze der Geräturner. Auch die Schule zeichnete meine sportlichen Leistungen mehrfach aus. Allerdings interessierten sich meine Eltern nicht einmal für meinen Sport. Anfangs war ich immer sehr traurig, weil immer alle Eltern meiner Sportkammeraden zu den Wettkämpfen kamen und sie anspornten. Keiner war für mich da. Doch nach und nach, nachdem ich die Traurigkeit darüber verloren hatte, fühlte ich mich unabhängig. Es erfüllte mich mit Stolz und dieses Gefühl gehörte nur mir allein.
In den darauffolgenden Jahren lernte ich mit Disziplin und hartem Bestreben, gesteckte Ziele zu erreichen. Immer wieder wurden nach dem Aufwärmen Kraftübungen abverlangt. Ich überschritt, anfangs unbewusst, körperliche Grenzen. Manche Übungen taten richtig weh. An der Sprossenwand zum Beispiel zogen wir unsere Beine gestreckt nach oben und tippten mit den Zehen über den Kopf. Liegestütze machten mir richtig viel Spaß. Oft fingen aber nach dem ca. sechzigsten die Arme an zu zittern, was sehr anstrengend war.
Ich nahm mehrfach an Trainingslagern teil. Durch das Training habe ich unbewusst meinen Körper gestählt. Er wurde knabenhaft. Das gefiel in meiner Familie keinem. Nur mir! Und genau das machte mir Freude. Welches schicke Mädchen trägt schon ein Sixpack auf dem Bauch? Auch der Brustbereich war von Muskeln durchzogen. Die Oberarme passten nicht mehr in Blüschen und Kleidchen. Ich wollte nicht so sein, wie sie mich wollten. Wollte nicht so werden wie sie! Es änderte sich nicht nur mein körperliches Aussehen. Die Haare waren, dank eines Missverständnisses des Frisörs, sowieso schon kurzgeschoren und passten nun genau zu mir. Ich war von Glück überflutet, als ich so viele sichtbare Muskeln bewusst an mir erkannte. Ich arbeitete im Training sehr hart. Leise und unsichtbar provozierte ich mit meinem Aussehen. Der Sport zeichnete mich künftig aus. Darin hatte ich die dringend benötigte Anerkennung und Beachtung gefunden.
Der Hass
Der Buchumschlag ist feuerrot. Ein Rot, welches in meinem Kopf sticht und beißt. Wie gleißendes Feuer liegt es vor mir. Ich spüre die Hitze, die von diesem Buch ausgeht. Ich verabscheue Bücher. Besonders dieses. Und das Rot macht es nicht besser. Meine Hände baden sich schon im Schweiß und in mir beginnt es zu vibrieren, zu zittern. Mit erhabener Stimme verkündet unserer Lehrerin, dass wir zum Vorlesen kommen. Ich hasse es. Kann es nicht. Mein Atem geht nun stoßweise. Hoffe, unsichtbar zu bleiben. Versuche auf der aufgeschlagenen Seite im Buch, den Worten der Vorleser zu folgen. Doch schon nach dem ersten Leser weiß ich nicht mehr, auf welcher Zeile wir sind. Bin raus. Werde unsicher und unruhig. Aufregung mischt sich in mir ein. Finde die Stelle nicht, wo wir sind. Ich möchte um Hilfe schreien. Aber ich kenne die Auswirkungen. Ich spüre schon die pure Ablehnung und das Gefühl, ausgeschlossen zu werden. Nun trifft es mich mit gespitztem Pfeil. Die Lehrerin hat mein Suchen, meine Verzweiflung bemerkt. Schon schwebt mein Name vernebelt und ohne Umrisse im Raum. Wie ein verhängnisvolles Grollen donnert es los: „Resa, lies bitte weiter!“ Da war er, der grelle, aufgeladene Blitz. Er trifft mich mit voller Wucht. Wie von einem Lichtschalter eingeschaltet, tauche ich aus meinem inneren Versteck wieder auf. Die ganze Klasse stöhnt auf. „Oh nein, nicht die!“ Ich sitze verlegen in meiner Bank. Timm, neben mir, ist nun abgewandt. Rutscht sogar mit seinem Stuhl etwas weiter weg von mir. Er will sich nicht einmischen. Sträubt sich bockig, in meine Richtung zu schauen. Muss ja den anderen weiter gefallen und eine Unterstützung zeugt von Schwäche.
So versuche ich, mit brüchiger Stimme und kaum hörbar, es irgendwo auf einer Zeile und kassiere Spott und Tadel. Mir ist zum Weinen, doch das lasse ich nicht zu. Mein Gesicht beginnt zu brennen und glüht und ich bekämpfe die aufsteigenden Tränen. Die eine Blamage reicht. Entnervt zeigt die Lehrerin auf ein Wort in meinem Buch. Schwitzend, mit Atemnot und mit donnerndem Herzen versuche ich es nun genau mit diesem Wort. Doch ich kann nur die einzelnen Buchstaben. Bringe schon das erste Wort nicht zusammen. Finde die einzelnen Silben nicht. Kann es nicht! Stocher bloß die Buchstaben heraus und das nur mit größter Anstrengung. „L… le… eo… on… n… ni“, stottere ich zusammen. Halbherzig und genervt bekomme ich Unterstützung. „Le-o-ni.“ Ich plappre das Wort nach. Aber finde genau das, die Silben, die ein Wort erst zum Wort machen, auch im gezeigten Wort nicht heraus. So geht es Wort für Wort. Quäle mich über die Seite, den Text und durch die Zeilen. Doch verstanden habe ich nichts. Chaos und Unbehagen breiten sich in meinem Kopf und meiner Brust aus. Nicht nur das Gestöhne macht mich unsicher und traurig. Auch das Lachen und Nachäffen kratzt in mir. Es bleibt mir weiterhin ein Rätsel, wie gelesen wird.
Nach einer gefühlten Ewigkeit und endlos vielen Worten beendet die Lehrerin diese Schmach. Aber nicht ohne den Verweis, dass ich das Lesen jeden Tag üben solle. Wie immer bekomme ich eine Sechs im Lesen. Nun braut sich noch großer Unmut in mir auf. Denn diese steht jetzt nicht nur im Klassenbuch, sondern auch im Hausaufgabenheft und verlangt die elterliche Unterschrift. Ich bekomme, wie so oft, Bauchschmerzen davon und mir wird übel, weil ich weiß, was mich erwartet. Und ich frage mich zu x-ten Mal: Wie soll ich üben, wenn ich nicht weiß, wie es geht? So tauche ich, bis zum Pausenklingeln, wieder in mein inneres Versteck und werde unsichtbar.
Goldstück
Irgendwann bekamen wir einen Goldhamster. Ich weiß nicht, wer von uns. Warum und wofür? Für mich war er keine Freude. Wenn ich ihn anfassen musste, tat ich es meist nur mit zwei Fingern. Er machte viel Dreck und Arbeit. Keiner von uns wollte seinen Stall reinigen. Andauernd verschwand er irgendwo im Kinderzimmer und wir mussten ihn suchen. Er war an den unmöglichsten Orten. Er machte uns viel Ärger. An einen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern.
Es war einmal früh vor der Schule. Wir vier Geschwister suchten wieder einmal den Miniklops auf vier Beinen. Er war weg. Tauchte nirgends auf. Und unsere Zeit, um zur Schule zu gehen, war rar. So brachen wir die Suche ab und verlegten sie auf den Nachmittag. Das war uns sehr unangenehm. Alle hatten Scheu vor den Konsequenzen, die es nach sich ziehen könnte. Aber Seth machte noch Witze darüber. So machten wir vier uns fertig und gingen zur Schule. Wir trennten uns und jeder ging seinen Aufgaben nach.
Ich weiß es noch, als wäre es erst gestern gewesen. Ich hatte in der ersten Stunde Mathe. Die Lehrerin war schon da und wir packten alle unsere Schulsachen für die Stunde aus. Ich wunderte mich, wie meine Hefte und mein Buch aussahen. Verkrümelt und angeknabbert. Dachte mir aber noch nichts dabei. Der Unterricht begann. Und gleich zu Beginn, ich schaute runter auf meinen orangenen Ranzen, da kletterte das Mistvieh von Hamster doch genau an der Seite, auf die ich schaute, aus dem winzigen Spalte heraus und putzte sich sein Maul. Ich war geschockt. Für ein paar Sekunden hörte mein Herz auf zu schlagen. Wusste kurz nicht, was ich tun sollte. Nachdem ich mich von dem Schreck etwas erholt hatte, meldete ich mich. Aber nun raste mein Herz und mein Atem ging stoßweise. Hatte Angst vor dieser Information und was daraus nun werden sollte. Wollte das Problem aber unbedingt der Lehrerin mitteilen. Doch ich wurde einfach ignoriert. Irgendwann war mir das zu blöd. Mein Arm tat mir schon weh und alle glotzen ständig heimlich zu mir. Da stand ich einfach auf, nahm dieses Vieh und verließ ohne ein Wort, da keiner etwas sagte, den Unterricht. Naja, ich hatte ja noch keinen Schlüssel für zu Hause. So ging ich zum Klassenzimmer, in welchem Seth war. Ich brachte ihm unser Exemplar von Ausreißer. Das gab richtig viel Ärger, war doch klar. Verstanden habe ich es nicht. Wir hatten den Hamster ja nicht absichtlich mitgebracht. Und außerdem war mein Schulzeug nun angefressen, für mich ekelig und einiges war auch ganz kaputt. Ersatz gab es für mich nicht. Und zu allem Überfluss konnten wir uns zu Hause am Nachmittag auch noch eine Pfeife anbrennen. Das war total ungerecht. Es war auch vollkommen egal, dass wir den Hamster vorher zu Hause lange gesucht hatten. Alles wurde uns böse angelastet.
Aber irgendwann war dann dieses Dreckding von Hamstervieh verschwunden.
Erste Taler
Die Sonne schien schön an diesem Tag und der Himmel war himmlisch blau. Bill und ich kamen vom Spiel draußen beim Blumengarten zurück. Es war ein schöner Garten voller bunter Rosen und Sträucher, die in allen Farben blühten. Ein besonderer Duft schwebte in der Luft. Hier tummelten sich fast alle Kinder der Umgebung.
Zu Hause war Besuch eingetroffen. Irgendein Mann, mit dem mein Vater Seega spielte. Er spielte oft Seega und war stets unbesiegbar. Auch dieses Mal.
Die Stimmung war gut und ausgelassen. Der fremde Mann schenkte Bill und mir jedem einen Geldschein. Wir durften ihn behalten und sollten uns etwas Schönes davon kaufen.
Ich war zu dieser Zeit gerade um die sieben Jahre alt. Ich freute mich riesig. Das war ein Geldschein! Also viel Geld für mich. Noch nie hatte ich Geld geschenkt bekommen.
Da alle gut gelaunt waren, baten wir, in den Spielzeugladen gleich vorne um die Ecke gehen zu dürfen. Total aufgelöst vor Freude und Stolz wie Bolle ging ich in den Laden. Bisher hatte ich mir die Spielsachen ja nur vom Schaufenster ansehen können. Aber nun besaß ich viel Geld und wollte mir unbedingt etwas Tolles holen. Ich ging hinein und war wie verzaubert. Noch nie war ich so vielen schönen, tollen, bunten Spielsachen so nahe. Mein Mund blieb bei allem, was ich sah, offen stehen.
Die Verkäuferin sah mich ganz verzückt an. Ließ mich aber eine kleine Weile allein staunen. Als es ihr dann aber scheinbar zu lang dauerte, wollte sie meine Wünsche wissen. Ich zeigte ihr voller Stolz mein Geld. Am liebsten hätte ich dafür alles gekauft, was es da gab. Doch die liebe Frau sagte, dass für das alles mein Geld nicht reiche. Ich könne ja noch ein bisschen sparen und mir dann etwas später das eine oder andere kaufen. Doch ich wusste, dass das mit dem Sparen nie was wird. Das war ja mein erstes und einziges Geld. Wir bekamen nie welches, um uns etwas zu kaufen. Also musste es jetzt sein. Und ich hatte auch Angst, dass ich das Geld doch nicht behalten durfte, wenn ich damit wieder heimkam. So ließ ich mir zeigen, was ich für das Geld alles bekommen würde.
Die Auswahl war ganz klein. Aber es waren auch schöne bunte Luftballons dabei. Und ich entschied mich genau für diese. Es waren zehn Stück. Ich schwebte auf Wolke sieben und war irre glücklich. So ging ich froh und berauscht von meinem Glück nach Hause.
Alle wollten gleich wissen, was ich mir denn gekauft hatte. Stolz legte ich die farbigen Luftballons auf den Tisch. Nun sah ich in bestürzte und betretene Gesichter. Seth grinste als Einziger. Bill sah etwas neidisch drein und Jilaiya zog eine gehässige Miene. Meine Mutti fing leise an zu lachen und mein Vater trötete entrüstet und erbost los: „Wie bekloppt bist du eigentlich? Du kannst mit Geld nicht umgehen! Kaufst dir Luftballons! Mensch, die bläst du doch nur auf und zerknallst sie. Da zerplatzt du das ganze Geld! Und weg ist es. Du bist echt zu doof, um mit Geld umzugehen!“
Der Mann, der mir das Geld gegeben hatte, war in der Zeit, bis ich wieder zu Hause war, gegangen.
„Dieser Idiot gibt den Kindern Geld. Nein, wie blöde kann man sein?“, sprach der Vater nun über ihn.
Nun hatte ich das Gefühl, einen schweren Stein im Bauch zu haben. Mein Hals fing an zu kratzen und er schnürte sich immer fester zu. Immer wieder schimpfte der Vater an dem Abend auf mich ein. Er sagte alle Worte so abfällig, so herablassend und eindringlich. Er klang wie ein Gespenst in der Nacht, was zu mir spricht. Und immer wieder von vorne; du bist zu doof, du bist total bescheuert, du taugst zu nichts, du kapierst es nicht, du …! Nun kullerten meine Tränen unaufhaltsam. Ich konnte mich nicht mehr beruhigen. Weinte sogar noch in der Nacht.
Am nächsten Morgen nahm ich die wunderschönen Luftballons, ging in die Küche und habe alle zerschnitten, was nicht unbemerkt blieb. Dann nahm ich sie alle und warf sie in den stinkenden Aschekübel.
So war meine Reaktion immer. Wenn ich mit meinen Sachen, wie gemalten Bildern, Briefen, die ich schrieb, oder Dingen, die ich bekam, verletzt oder ausgelacht wurde, habe ich sie stets zerstört und fortgeschmissen. Ich achtete dabei immer darauf, dass ich dabei gesehen werde. Ich wollte dann das Entsetzen der Person sehen, die mir das angetan hat.
Diese Sache blieb für immer. Sie ist wie festgeschrieben auf meiner Stirn. Zu vielen Gelegenheiten wird sie mir seither unter die Nase gerieben. Ich wäre zu doof, um mit Geld umzugehen.
Federvieh
Ach, Vögel sind so schön. Meine Eltern kauften ein paar Kanarienvögel samt Käfig und Zubehör. An einem Wochenende badete der Vater sie. Dazu fertigte er extra ein leichtes, warmes Spülmittelbad an. Weil Vögel Milben hatten und die sie nur krank machten. Leider überlebte das Bad keiner dieser Tiere. Angeblich hatten sie danach eine Lungenentzündung bekommen.(Wer’s glaubt!)’
Allerdings hatten wir in den Folgejahren mehrere liebe, erzogene und schöne Vögel. Wellensittiche oder Rotköpfchen. Wir liebten jeden einzelnen und hatten viel Freude mit ihnen.
Bloßgestellt
Meine Lehrerin mochte mich nicht. Ich hasste ihren Deutschunterricht. Und das wusste sie. Oft hackte sie auf mir herum.
Da ich das mit dem Lesen nicht hinbekam, hatte ich auch Probleme, Wörter zu schreiben. Auch hier waren es die Silben, die es mir schwermachten. Aber auch wusste ich oft nicht, mit welchen richtigen Buchstaben ich manche Wörter schreiben musste.
Einmal, es war kurz vor dem Ende der Deutschstunde, wir bekamen Diktate zurück, konnte die Lehrerin es sich nicht verkneifen, wieder einmal etwas zum Besten zu geben. Da hatte sie schon mein Heft in ihrer Hand und las der ganzen Klasse daraus ein Wort von mir vor. Sie hielt sich dabei den Bauch vor Lachen. Ganz langsam und überaus deutlich und bestimmt, weil sie sich nicht versprechen wollte, sprach sie in die Klasse, und zog damit die ganze Aufmerksamkeit theatralisch auf sich. „Resa schreibt statt Mausoleum … Mäuseleum! Bei dir gibt es da Mäuse zu sehen! Ha, ha, ha!“ Nun machten sich alle total lustig darüber und es herrschte eine Zeit lang eine ausgelassene Stimmung im Klassenzimmer. Nur mir war es nicht danach. Spott und Kränkungen schnitten tiefe Wunden in mich hinein. Ich fühlte mich elend. Wäre am liebsten im Erdboden versunken oder wenigstens unsichtbar geworden. Kurz danach klingelte es zur Pause. Aber es wurde nicht besser. Im Gegenteil. Nun wurde dieser Fehler überall breitgetragen. Ich verzog mich auf die Toilette. Wollte nicht mehr gesehen werden.
Erst zum Vorklingeln kam ich heraus und ging mit gesenktem Blick ins Klassenzimmer zurück. Meine Tränen sollte keiner sehen. Ich schaute an diesem Tag keinen mehr an. Ich suchte in mir nach einem Ort, wo ich allein sein konnte. Ich weiß es noch, keiner sprach an diesem Tag nur irgendein Wort mit mir. So war ich allein mit meinem Fehler, meinem Schmerz und der ständigen Demütigung. Hier war es nicht besser als zu Hause.
Ich
Irgendwie wuchs ich aber nicht so schön wie alle anderen. Manchmal kamen mir alle wie Riesen vor. Meine Geschwister und Mitschüler legten im Wuchs ständig zu, ich blieb eher sehr klein, drahtig und dünn. Sticheleien waren zwar meine ständigen Begleiter, aber meist störte es mich nicht. Ich hatte dafür schnell den Dreh raus, unter vielen Menschen unbeachtet verschwinden zu können. Blieb unterm Radar. Fiel nicht auf, war unscheinbar. Dies gefiel mir sehr gut, denn ich konnte so auch, wenn es sein musste, unsichtbar werden.
Mutti meinte oft über mich, ich sei hässlich und frech. Das hatte zwei Seiten: Mal war ich gekränkt darüber, mal lachten wir uns schlapp.
Manchmal hatte aber auch ich das Bedürfnis, beachtet zu werden und im Mittelpunkt zu stehen.
Mir reichte es nicht mehr aus, etwas Kraft zu haben. Da fing ich an, mich bewusst intensiver mit Jungensachen zu kleiden. Mochte Hemd und Hose ohnehin mehr als Kleid, Rock und Blusen. Das war ja überhaupt kein Problem. Wir trugen ja schon immer die Sachen der älteren Geschwister. Und da ich die jüngste von uns Geschwistern war, bekam ich auch die Kleidung meiner Brüder. Ich fühlte mich dadurch echt und wohler. So wurde ich doch, wenn auch nur für mich, zum Jungen, der ich immer schon sein wollte.
Bonbon und Schokolade
An einem etwas trüben, verregneten Tag, wir durften nicht nach draußen, waren Jilaiya, Bill und ich am Nachmittag in unserem Kinderzimmer. Der Vater war noch nicht da und Mutti noch arbeiten. Es war irgendwann unter der Woche, denn in den Büros in unserem Haus waren auch noch alle da.
Mir fiel ein kleines grünes Eimerchen im Zimmer auf. Ich band ein langes Bändchen an diesen und ließ ihn aus dem Zimmerfenster hängen. Plötzlich ruckelte es am Bindfaden und Bill und ich versuchten den Eimer wieder hochzuziehen. Doch das ging nicht. Er steckte irgendwo fest. „Mist! Resa, du musst schauen, wo er ist. Wenn was passiert! Der Eimer an eine Scheibe knallt. Diese kaputt geht. Oh, das gibt Ärger!“, sagte Bill aufgeregt und panisch.
Jilaiya schaute jetzt aufmerksam zu uns herüber, wollte auch schon etwas sagen.
Auf einmal ruckte der Bindfaden wieder und wieder. Ich war irritiert und wie erschrocken zog ich ganz schnell am Bindfaden. Es war schwerer, daran zu ziehen. Komisch! Bill griff nun auch nach dem Faden und half mir dabei. Der Eimer tauchte am Fenster auf und wir kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er war proppenvoll. Voll mit Süßigkeiten. Unsere Augen weiteten sich sofort und unser Herzen machten unglaubliche Luftsprünge vor Freude. Wow, so viel schöne Sachen. Wir riefen aus dem noch offenen Fenster ganz laut ein freudiges „Danke!“ im Chor. In weniger als zwei, drei Minuten hatten wir drei dann schon ganz viel davon vernascht. Aber es war noch etwas übrig und wir teilten es auf. Auch Seth bekam später, als er heimkam, etwas ab. Jeder von uns versteckte seinen Anteil. So ein Glück hatten wir nicht oft und wir wollten es nicht verlieren.
Brennende Flieger
Immer, wenn wir von der Schule oder vom Hort heimkamen, hatten wir unsere Aufgaben im Haushalt zu erfüllen. Jeder wusste, was zu erledigen war. Der Abwasch, aufräumen, kehren und was sonst noch sauber gemacht werden sollte. Doch meist erfüllten wir diese häuslichen Pflichten nicht gleich. Wir ließen uns Zeit. Spielten und machten oft verrückte Sachen.
Einmal, es war Sommer, da haben meine Brüder vom Fenster aus brennende Papierflugzeuge in den Hof fliegen lassen. Oh, war das aufregend und sah echt cool aus, wie sie so dahinflogen und immer mehr verbrannten! Wir bastelten wie irre einen Flieger nach dem anderen. Es machte Spaß und war total spannend. Die schönsten Farben brachten diese Flammen hervor. Und es Qualmte so schön bei manchem Segler. Irre schön.
Allerdings gab es da den einen blöden Flieger, der ausgerechnet auf dem kleinen Teerdach von der Firma nebenan landete. Doch ging das Feuer nicht aus wie bei den anderen Fliegern. Uns stellten sich die Nackenhaare auf und eine Gänsehaut breitete sich aus. Unsere Augen weiteten sich so groß wie Ufos. Schon waren kleine andere Flammen, die nicht so hübsch bunt und vom Papier waren, zu sehen. Sie leckten am Teer und wurden stetig etwas größer. Und breiter wurde es auch. Nur noch Flammen und der Teer waren da. Vom Flieger war nichts mehr zu sehen. Den hatten die kleinen Flammen schon längst gefressen. Das Züngeln breitete sich zusehends aus. Es bildete sich ein blauer Feuerkreis, der aussah wie eine Welle in der Brandung, um die Stelle, wo der Flieger mal war. In der Mitte wurde es erst grün, dann gelb und schließlich rot. Schwarzer Rauch stieg nun auf. Aber nicht viel.
Dann auf einmal rannte Seth los. Hinunter und hinüber. Kletterte am Zaun von unserer Hofseite hoch zum Dach. Zog seinen Schuh aus und schlug auf das Feuer ein. Er bekam das schon leicht brennende Dach gelöscht. Puh, das ging noch einmal gut. War ja nichts passiert, dachten wir uns. Schweiß und schwarzer Ruß war auf Seths Gesicht. Auch ich schwitzte. Wir standen nun alle im Hof, Seth, Jilaiya, Bill und ich, und sahen uns erleichtert an. Seth war noch immer atemlos und stand unter Spannung. Augenblicke später brach es aus ihm heraus und er lachte laut los. Nach einem irritierten Moment lachten wir auch mit. Für uns war es ziemlich witzig, was da passiert war. Die Situation entspannte sich rasch.
Doch nun baute sich Jilaiya vor uns auf. Stemmte ihre Arme in die Hüften, holte tief Luft und entlud eine Unmenge an Beschimpfungen, die auf Seth und Bill niederregneten. Nachdem sie sich nun Luft gemacht hatte, erinnerte sie uns an unsere Pflichten.
Wir räumten die verbrannten Papierreste im Hof auf. Etwas bedrückt und mit gestutzten Flügeln gingen wir alle hoch. Erledigten nun auch unsere Hausarbeiten. Und wir schauten oft zum Fenster Richtung Straße raus, um nicht das Kommen der Eltern zu verpassen. Bis dahin musste ja alles erledigt sein. Jilaiya kündigte sie dann mit dem vertrauten Ruf „Sie kommen!“ an.
Ihre Ankunft war alles andere als gewöhnlich und normal. Sie donnerten gleich los. Sie wussten schon von unserem Spiel und dem brennenden Dach.
Ach, so eine Scheiße! Unser Treiben blieb doch nicht unbemerkt. Die Arbeiter von der Firma nebenan hatten uns schon verpetzt. Mist!
Es gab ein riesiges Donnerwetter, Schläge und Strafen. Das meiste bekam Seth ab, weil Jilaiya ihre Klappe nicht halten konnte.
Spiele
Unsere Spiele wurden immer abenteuerlicher und ausgefallener. Immerhin waren wir sehr einfallsreich in solchen Dingen. Zeitweilig echt verrückt, was wir machten, und manchmal suchten wir auch einfach nur neue aufregende Herausforderungen.
An richtige Spielsachen im Kinderzimmer kann ich mich nicht erinnern. Gab ja keinen Grund, welche zu haben. Nur für draußen gab es mal einen Ball oder Federball. Aber wir zogen doch sowieso meist durch die Gegend, bauten Buden oder spielten mit den Kindern aus der Nachbarschaft. Da machten teure Sachen zum Spielen keinen Sinn. Außerdem gab es einige Gesellschaftsspiele wie Karten oder Brettspiele bei uns. Doch die waren im Wohnzimmer unter Verschluss. Sie wurden hervorgeholt, wenn wir alle, mit den Eltern, zusammen etwas spielten.
Spielidee Dunkelkammer
Die Eltern waren mal wieder nicht da. Einer von uns hatte eine neue Spielidee. Wer genau, weiß ich nicht. Meine Geschwister hatten den riesigen Flur mit Decken abgedunkelt. Es war echt arschfinster im Flur. Orientieren ging nur mit tasten. Nach einer kurzen Zeit wussten wir, welche Tür und welcher Schrank sich wie anfühlte. Die Stellen der Lichtschalter waren uns ja vertraut. Immer, wenn wir uns im Dunkeln gegenseitig berührten, war es wie eine elektrische Entladung. Und wir wussten nicht, wen wir berührt hatten. Die Spannung in dieser Finsternis war so stark fühlbar. Die Luft war mit elektronischen Teilchen aufgeladen. Diesen Reiz, der wie Blitze daherkam, konnten wir greifen, und erschreckten uns damit gegenseitig. Ein waschechtes Gruselkabinett. Ein Geisterflur.
Manchmal spielten wir so verstecken. Es gab ja genug Verstecke und Schränke an den Wänden. Da konnten wir obendrauf, uns an die Seiten quetschen oder drunter kriechen. Auch dahinter, wenn ein Schrank verschoben werden konnte. Mitunter waren Spinnweben in diesen Verstecken, was ganz schön abscheulich und eklig war. Überall klebten da die dünnen Fäden an einem, und ich habe nie gewusst, ob eine dieser Spinnenexemplare an mir herumkroch. Schon das war echt gruselig. Die Vorstellung, wo das Tier sein könnte, war der totale Horror. Jedes Mal schüttelte es mich nach so einer Begegnung. Ich strich dann immer hastig über meine Arme, Beine und überall an mir lang, um einer Überraschung durch so ein Tierchen zu entgehen. Es kam ein Ekel vor den Spinnen auf. Aber dieser legte sich schnell und wurde von der Angst, ein Gejagter zu sein, abgelöst. Ich legte mich manchmal nur flach auf den Boden. Und meist in die Mitte, weil da kaum jemand lang kam.
Das machte Spaß und wir konnten ausgelassen bei jedem Wetter spielen. Störte ja am Wochenende oder nach Feierabend keinen. Wir waren die einzigen Bewohner in diesem riesigen Gebäude.
Verrückte Spielchen
Doch der Blödsinn blieb auch nicht aus. Wir waren nun mal erfinderische Kinder ohne interessante Spielsachen. Da musste ab und zu mal improvisiert werden. Wer sich das ausdachte, weiß ich auch nicht.
Es wurden Wurfgeschosse gebastelt. Erst nur zwei, drei. Zum Probieren. Nach der ersten Testung wurden es mehr. Sie wurden gerecht unter uns aufgeteilt und wir bewarfen uns gegenseitig damit. Allerdings bestanden diese Geschosse aus großen Ledernadeln, die mit einem Stück Kartoffel etwas hinter der Spitze und einem längeren, aber nicht zu langem Wollfaden zum Steuern des Fluges versehen waren. Das waren richtig gute Pfeile. Und sie blieben wunderbar auf ihrem Ziel stecken. Doch die Ziele waren wir selbst.
So im dunklen Raum zu hocken, war extrem spannend, und auf jedes Geräusch zu achten, das ging nur, wenn wir unseren eigenen Atem nicht hörten, was sehr schwierig war.
Aus dem Nichts tauchte ein Zischen auf, „Fschhht“, und schon steckte irgendwo in mir ein Pfeil. „Autsch! Mist!“ Ich wurde voll in die linke Wade getroffen. Ah, es tut ganz schön weh! Doch am besten machte ich kein weiteres Geräusch. Und weinen war nicht gestattet. Nur ganz kurz laut jammern, um den Treffer anzuzeigen. Das war geduldet und gewollt. Dann aber schnell weg vom Versteck und ein neues Schlupfloch aufsuchen, sonst landet der nächste Pfeil in mir. Ich hörte Bill kurz auflachen.
Wir jagten uns so im Dunkeln durch den riesigen Flur. Hörten die Treffer. Aber auch, wenn das vermeintliche Ziel verfehlt wurde.
Die Hochspannung des gefährlichen Spiels beherrschte die folgenden Minuten und das Adrenalin schoss durch unsere Körper. Ab und zu durchflutete uns der Schmerz. Doch diesen ignorierten wir. Das Jagdfieber brach jedes Mal aus und wir waren wie berauscht.
In der Dunkelheit mussten wir uns nun zurechtfinden. Wir lernten leise zu atmen, auch wenn wir atemlos und vollkommen aufgewühlt waren. Machten keinen Laut, wenn wir unsere Position wechseln mussten. Alles extrem leise. Es war irre.
Oft spielten wir es zu unsere aller Leid nicht. Nur meist, wenn die Eltern nicht da waren. Uns machte es schließlich Spaß. Auch wenn es mitunter ziemlich schmerzhaft war.
Enttäuschtes Gold in neuer Umgebung
An einem Sonnabend im Frühjahr.
Ich war bei einem Wettkampf in einer größeren Turnhalle als die unseres Sportvereins, jedoch in dem Ort, in dem ich wohnte.
Hier kämpften wir in der Kinderliga in verschiedenen Altersklassen um gute Plätze. Unsere Sportgruppe des Sportkreises von Bergenstadt trat gegen die Turnliga des benachbarten Kreises an.
Wir hatten ausgiebig und hart für diesen Wettkampf trainiert. Das war mein erster größerer Wettkampf außerhalb von Bergenstadt. Mit Eifer und Freude zeigte ich, was ich beherrschte und gelernt hatte. Die Übungen durchzuführen und akkurat zu präsentieren machte mich stolz. Mein Trainer war immer für jeden da, wenn es an die Geräte ging. Er spornte uns alle an und lobte, wenn wir unser Können gut dargeboten hatten. Unerlässlich mit enorm viel Ausdauer gaben wir uns irre Mühe und strengten uns bei allem unwahrscheinlich an.
Erfreulicherweise schnitt ich mit mehreren Medaillen ab. Auf dem Stufenbarren belegte ich den ersten Platz und wurde mit der Goldmedaille ausgezeichnet. Das Bockspringen brachte mir eine Silbermedaille ein. Ich war stolz wie Bolle. So ging ich siegreich heim.
Daheim angekommen wurde ich von Jilaiya schon im Hof erwartet. Allerdings ging es nicht mehr hoch in die vertraute Wohnung. An diesem Tag waren wir umgezogen und wir gingen gemeinsam zur neuen Wohnung. Stolz berichtete mir Jilaiya unterwegs, dass wir zwei uns nun zusammen ein Zimmer teilen werden.
Es herrschte ein heilloses Durcheinander als wir ankamen. Damit war mein Hochgefühl, welches ich vom Wettkampf und meinen Siegen hatte, verflogen. Keiner nahm Notiz davon.
Unser ganzer Kram war noch in Kisten, Körben, Taschen und Koffern verstaut. Die Möbel wurden noch nach oben in die vorgesehenen Zimmer gebracht. Dann wurde auch schon alles wieder ausgepackt und eingeräumt.
Diese Wohnung war viel größer. Immerhin gab es nun auch zwei Kinderzimmer. Eines für Seth und Bill mit einem Ofen. Eines für Jilaiya und mich ohne Ofen.
Unser Blick aus dem Kinderzimmer war wunderschön und unbezahlbar. Wir schauten auf den See – das Wahrzeichen dieser Stadt. Die Wohnstube war auch riesig und die Küche hatte einen Balkon. Allerdings befand sich die Toilette jetzt im Treppenhaus. Aber nicht mehr mit Wasserspülung. Es war nur noch eine große braune Holzkiste mit einem großen, runden Loch, dazu ein schwerer, runder Deckel. Und es stank. Wasser stand nun im Eimer daneben. Nachts war es nun noch gruseliger aufs stille Örtchen zu gehen.
Auch gab es kein Waschhaus mehr. Demnach fehlte auch die Badewanne. Diese war nun eine transportable zum Aufstellen in der Küche, ohne Anschluss zum Wasser oder Abwasser und viel, viel kleiner.
Stadtrand
Oh Mann! Schon wieder eine totale Veränderung. Für uns war es zunächst weg vom Dorf, dann rein in die Stadt in diese Gruselwohnung, und schließlich in ein graues, altes Mehrfamilienhaus, an dem der Putz nur so abbröckelte, aber mit Blick auf den See. Raus aus der Innenstadt an den Rand, mit viel Grün um uns herum.
Wir hatten zudem wieder einen schönen Garten direkt im Hof, um den wir uns kümmern konnten, sowie einen schönen, großen Wäscheplatz, den wir auch als Spielwiese nutzen durften. In diesem Garten wuchsen viele schöne bunte Blumen. Auch haben wir einen Kirschbaum gepflanzt. Und das Beste dieser grünen Oase: Es gab purpurrote Salamander.
In dem Haus waren elf belegte Wohnungen. Erstmals gab es nun Nachbarn, die Tür an Tür mit uns wohnten. Wir Kinder lebten uns hier gut ein und fanden auch schnell Anschluss und Freunde, mit denen wir spielen und nun unsere neue Umgebung unsicher machen konnten.
Kräftemessen
Ich tauchte nun tiefer in meinen Sport ein. Das war das, was ich wollte und konnte. Hier fühlte ich mich wohl und sicher.
Bei den anderen Mädchen unserer Sportgruppe war ich gut angesehen und es dauerte nicht lang, da entwickelte ich mich in unserem Team zum Vorbild an den Geräten.
Beim Bock- oder Pferdspringen schob ich das Sprungbrett superweit weg, damit eine längere Flugphase entstand, in welcher ich mich ganz elegant recht weit nach vorne strecken konnte. Dafür erhielt ich gute Punkte im Wettstreit.