Richard Wagner und seine Medien - Johanna Dombois - E-Book

Richard Wagner und seine Medien E-Book

Johanna Dombois

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Beschreibung

In 23 Beiträgen wird Wagners Werk als Modell für ein Musiktheater von heute entfaltet, in dem alte Wahrheiten wie Neue Technologien ihren Platz finden. Die Bandbreite der sprachlichen Formen – philosophische Abhandlung und Künstlertext, Essay und Manual, Dramolett, Rezension und Gespräch – steht dabei für das "Experimentelle im Repertoire" und ein Theater der Medien, das einmal keinen ruinösen Widerspruch zur Tradition der Werke bildet. Überall werden Einblicke in den inszenatorischen Alltag mit ästhetisch-politischer Kritik verzahnt. So formiert sich auf der Grundlage von Wagners Musiktheater eine Neubestimmung der Oper.

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Johanna Dombois / Richard Klein

RICHARD WAGNER UND SEINE MEDIEN

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de

Klett-Cotta

© 2012 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Foto Cover: Orte 12.2006, Opernhaus Zürich

von Adrian Sonderegger / Jojakim Cortis

Layout, Satz, Covergestaltung: Katja Römer

Bildkonzept: Johanna Dombois

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94740-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10339-7

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage der Printausgabe mit der ISBN 978-3-608-94740-3

Inhalt

Einleitung

I. WERK VS. THEATER

DOMBOIS/KLEIN

Encore: Das Lied der unreinen Gattung Zum Regietheater in der Oper

DOMBOIS

Ulrich Schreibers letzter Streich

KLEIN

Carl Dahlhaus oder Die Musikwissenschaft im Clinch mit dem Musiktheater

DOMBOIS

Kein Schwank

II. KATEGORIEN DES GESAMTKUNSTWERKS

DOMBOIS

Das Auge, das sich wechselnd öffnet und schließt Zur Szenographie des Wagner-Vorhangs

DOMBOIS

Die »complicirte Ruhe« Schlaf als Struktur in Wagners Theater

KLEIN

Raumkonstruktionen Das Vorspiel zu Rheingold mit Blick auf Solti und Karajan

KLEIN

Klangdramaturgie

KLEIN

Der sichtbare und der unsichtbare GottVersuch über Wotan

KLEIN

Die Tragödie der Zeit und das Problem des Politischen im Ring

KLEIN

Das Weltenfinale, das keines istZum III. Akt der Götterdämmerung

DOMBOIS

Opus magnum / Opera minima

KLEIN

Das Fließwerk und der Tod Schlingensief in Bayreuth

KLEIN

Marc A. Weiners gespaltene Wagnerwelt

DOMBOIS

Die grausame Gunst Vom Applaus

III. DIE ALTEN UND DIE NEUEN MEDIEN

DOMBOIS

Ein Thesaurus für TräumeRegister der Träume Richard Wagners

DOMBOIS

ScheinschwangerschaftenNeue Technologien im klassischen Musiktheater

KLEIN

Walkürenritt in Vietnam

KLEIN

Wagners Medientechnologie – wie Friedrich Kittler sie sieht

DOMBOIS

Wagner und die Neuen Medien Zehn Thesen

DOMBOIS/KLEIN

»Am Eros der Struktur arbeiten«Johanna Dombois im Gespräch mit Richard Klein

DOMBOIS

Von Second Life® zur Laterna Magica oderEine Art Fortschritt

*

DOMBOIS

Eine Medizin, die wie Wein schmeckt: Jacques Offenbach

Literaturverzeichnis

Editorische Notizen

Personenregister

Abbildungsnachweise

Einleitung

Richard Wagner und seine Medien ist ein Titel, der sich nicht von selbst versteht. Seine Bestandteile scheinen einander zu widersprechen, wenn nicht sogar sich auszuschließen. Googelt man nach ihnen, bekommt man statt einer Antwort kaltschnäuzig eine Gegenfrage vorgesetzt: »Meinten Sie: Richartz-Strasse Wangen Medienmanagement GmbH?« – Nein, meinten wir nicht. Tatsache ist, dass die zahllosen Verlinkungsangebote vor allem ökonomische Kontexte spiegeln, Marketing zumal, Datenvertrieb, Statistiken. Von Musik, Theater oder Oper, gar »Komposition« im dramaturgischen Sinn ist nirgendwo die Rede. Das hieße, wenn es denn wahr wäre: Medien haben nichts mit dem Kern der Sache zu tun, sie verpacken und verkaufen diesen nur.

Gleichwohl wäre das falsch, und zwar grundstürzend falsch. Das alltägliche Gerede stellt den Begriff der Medien ohnehin vom Fuß auf den Kopf. Über dem rein zweckgebundenen Einsatz des Terminus technicus bleiben Sinn und Form dessen, was Medien wirklich sind, jenseits unseres Bewusstseins. Es ist eine Eigenart der »Mediengesellschaft«: Sie verhindert zu verstehen, wie sie uns bestimmt. Man tut so, als seien Medien bloße Mittel im Dienste von Sachverhalten, die durch sie zwar aufgerufen werden, im Prinzip aber unabhängig, »frei« von ihnen bleiben.

Will ich Eingemachtes aus dem Keller holen, brauche ich eine Lampe. Diese Lampe ist im Media Markt erhältlich. Dass vom »Medium Licht« streng genommen erst zu sprechen wäre, wenn dieselbe Lampe ihren Einsatz in einer Inszenierung, sagen wir: eines Robert Wilson fände, der Wotan an der Hand des Feuergotts Loge in Alberichs Orkus hinabsteigen lässt, dergleichen gehört nicht mehr zum Common sense. Was sich im Media Markt kaufen lässt, bleibt auf die Funktion beschränkt, die der Lichtschalter am Utensil vollzieht: an oder aus. Auf ähnliche Weise galt das Public Viewing in Bayreuth seinen Veranstaltern als neutrales Mittel für den Zweck, das Volkstümliche der Kunstutopie Richard Wagners vor Ort umzusetzen. Allein, es klang so neu und war doch so alt. Wo Hype und Medien sich kreuzen, ästhetische Prämissen hingegen nicht mitkalkuliert werden, obwohl auch sie fraglos im Sinne des Erfinders sind, bleibt am Ende nicht mehr übrig als viele leere Bierdosen. Seriöser, doch kaum weniger sinnwidrig wurde seitens der Wagner-Forschung das Phänomen des Klangs lange Zeit nur als Katalysator einer Idee von Musik betrachtet, die mit der Partitur fixiert vorliegt. Klang aber ist wie Licht selbst ein Medium und besitzt autonome Gesetzmäßigkeiten und Reibungsflächen, und sind diese auch nicht notierbar, so sind sie doch »da«, wirksam, nachhaltig. Wagner hat das kompositorisch radikal zum Gegenstand gemacht. Er hat die Beziehung von Klang und Notation neu definiert unter der Maßgabe, dass ersterer sich von letzterer emanzipieren muss, wenn Musik zum theatralen Leitmedium avancieren soll.

Kurz, mit einer Vorstellung von Medien als materiellen Funktionen eines von ihnen sonst unbehelligten, »reinen« Sinnzusammenhangs hat das vorliegende Buch nichts zu schaffen. Im Gegenteil. Nichts geschieht medienlos, ob wir wollen oder nicht. Das ist die Grundannahme. Es geht nicht darum zu klären, welcher Hebel umgelegt werden muss, um eine Wippe zum Kippen zu bringen. Es geht darum, auf welche Weise die Wippe selbst hebelartig gedacht ist, damit sie überhaupt kippen kann. Als »Gesellschaft« stellen »wir« Medien her, Neue und Neueste Medien sogar, leben aber ahnungslos abhängig von dem, was sie an und in uns vollziehen. Medien werden hier deshalb zunächst als eigenständige Schaltsysteme begriffen, die nicht bloß das Milieu von Erfinderstuben und Technikbörsen, sondern vor allem die ästhetische, psychologische, nicht zuletzt die politische Begriffsbildung prägen, mithin Sinn selbst hervorbringen. Den Status dieser Systeme im Werk Richard Wagners zu klären, ist Absicht und Ziel unseres Buches.

Besonders die »Neuen Medien« sind für ein zeitgemäßes Wagnerverständnis wichtig, doch nicht alles kann sich um sie drehen. Eher darum, den Stellenwert des Neuen verständlicher zu machen, indem wir die »alten Medien« analytisch im Blick behalten. Vergäßen wir diese, verlören wir auch das Neue und damit uns selbst. Ist dieses Neue doch das Alte von übermorgen und Tradition das Experiment von vorgestern. Insofern haben wir keinerlei Ehrgeiz entwickelt, neben der Strukturbeschreibung digitaler Technologien auch noch beinharte Film-, Rundfunk- oder Fernsehgeschichte zu schreiben. »Alt« meinen wir durchaus in einem emphatischen Sinn: Medien verkörpern Grundbedingungen der Kultur, ja Regelmechanismen, die unsere Art in der Welt zu sein modellieren. Sie sind mächtiger als Menschen, mehr und anderes als deren Selbstfortsätze. Darum hängt viel davon ab, wie es uns (allen) gelingt, in der Hörigkeit gegenüber den Medien auch Freiräume zu entdecken, ob es sich nun um Neue oder alte, im engeren Sinn technische oder anderweitig weltbildende Medien handelt. Auf den nachfolgenden Seiten sprechen wir nicht nur PC, Web 2.0, Video oder Matrizendrucker als Medien an, sondern genauso Schrift, Klang, Licht, Raum, Schlaf, Traum, Theater – und untersuchen deren Beziehungsgeflecht. Als Hintergrundannahme gilt, dass auch frühere Gesellschaften »Mediengesellschaften« waren, selbst wenn sie sich anders nannten und wohl auch verstanden.

Und warum »seine« – Wagners – Medien? Richard Wagner kannte das World Wide Web noch nicht, Biofeedback und Interaction wären für ihn reine Rätseldinge gewesen. Er wusste jedoch sehr wohl, was soziale Teilhabe bedeutet, und vom partizipatorischen Kunstwerk hat er auch einiges verstanden – es war sein Entwurf. Wagner markiert einen historischen Wendepunkt im Verhältnis der Menschen zu den Medien: Diese treten bei ihm für jene ein. Wagners Figuren finden sich je schon in ein wildes Außen geworfen, das ihnen die Souveränität eines rationalen Subjekts verwehrt. Sie sind nicht mehr bei sich selbst, sondern von etwas Anderem, Fremdem bedrängt und letztlich beherrscht. Dieses Andere sind die Medien mit ihren physischen und psychodynamischen Effekten. Das meint keineswegs, dass nun alle Wagnerschen Figuren a priori Opfer wären. Nur erliegen selbst die militantesten Täter unter ihnen einem medialen Druck der Mittel, in den sie sich scheinbar souverän verlieren. Man könnte sagen, sie sind Migranten der Macht.

Wagner mag sich als Theoretiker noch so sehr zu einer »organischen« Mitte des Lebens u.ä. bekannt haben, als Künstler tut er das Gegenteil. Überall rechnet er mit der Isoliertheit der Elemente, die er dann verschaltet: Optik – Akustik – Luft – Stimmen – Körper – Zeit. Es ist die strikte Technisierung des Materials, und es kommt wie eine Mischung aus Witz und Schock: Ausgerechnet der Mythologe des Gesamtkunstwerks führt uns vor, dass die Einheit menschlicher Wahrnehmung illusionär ist, dass es eine kohärente Welt nicht gibt. Darin liegt der Grund, dass die Charaktere in Wagners Werken, Revolution hin oder her, so sehr viel zersplitterter und zumal widerstandsärmer sind als etwa Beethovens idealistisches Ich-Tier. Im Gegenzug haben sie einen hochentwickelten Sensus für alles, was mächtiger ist als sie selbst. Sie sind rezeptiv bis zum Anschlag – medienaffin. Charaktere, die im Schwachsein die Stärksten sind.

Allerdings sollte diese Rezeptionitis nicht mit dem Kessel brodelnder Affekte verwechselt werden, an den so viele Leute, zuweilen auch gestandene Wissenschaftler, denken, wenn sie den Namen Wagner hören. Geradewegs als ginge es bei diesem immerzu um ein exaltiertes, in Künstlerblut getränktes Chaos, das zu verführen sucht, wo es auch trifft, und darum nichts Besseres verdient, als in sichere historische Grenzen verwiesen zu werden. Hätten die Befürworter solcher Ausgewogenheit recht, wir wären mit Wagner längst fertig. Das aber ist schlichter Galimathias. Nichts verfehlt Wagners Œuvre so sehr wie das Selbstlob einer fiktiven bürgerlichen Mitte, die in ihm bloß einen (letztlich adoleszenten) Extremismus der Emotionen zu erkennen vermag. »Stimmung ist gar nichts. Die Hauptsache ist und bleibt Kenntnis«. So hat es Wagner den einschlägigen Probennotaten der ersten Festspiele zufolge selbst formuliert. Zu erinnern wäre auch an den Aufruf, den er am Morgen der Uraufführung des Ring des Nibelungen 1876 auf Zetteln in den Kulissen und Garderoben des Bayreuther Festspielhauses für seine Künstler und Mitarbeiter hatte anheften lassen: »Letzte Bitte an meine lieben Getreuen! / !Deutlichkeit!« Man darf diese Worte getrost als künstlerisches Credo nehmen. Wagner hat nicht einfach Gefühle, Leidenschaft, Sensationen in Noten gestochen, sondern Kategorien von Musik und Theater hervorgebracht, von denen noch die heutige Bühnenarbeit tief geprägt ist. Diese Kategorien sind unser Thema. Andernfalls verkäme die Rede vom Revolutionär zum Small Talk. Wagner überwältigt und zwingt zugleich schonungslos zur Reflexion, gerade auch der politischen. In diesem Level an Unruhe liegt eine Modernität, von der die Schwärmer so wenig wissen wie die Krämer. Wagner zeigt uns unsere zersprengte Einheit. Auf der Erfahrung der Koexistenz solcher Gegensätze fußt dieses Buch.

Vor demselben Prospekt ist die konkrete Beschäftigung mit Medien und Neuen Technologien auf dem Theater ein genuin gesellschaftskritischer Akt. Medienarbeit heißt ja nicht, dass alles crazy flimmern muss, um zeitgemäß zu sein, und dass Apparatschiks das Kommando übernehmen, Premieren-Sekt nur mehr mit dem Datenhandschuh ausgeschenkt wird. Das alles ist ein sehr bedauerliches, nachgerade infantiles Missverständnis. Arbeit mit Medien auf der Opernbühne heißt zuallernächst einmal: die uns übertragenen Stücke auf ihren eigenen, strukturinternen Mediengehalt zu untersuchen. Es ist der Blick ins Räderwerk, den wir wagen müssen, und Wagner hat ihn uns lange beigebracht. Dass diese Innenschau auf unseren Opernbühnen trotzdem nicht funktional zur Routine gehört, straft ihn, den Nestor routinierter Abläufe, eigentlich Lügen. Sicher, die betrieblichen Herausforderungen sind heute groß, und Umstrukturierungen werden kulturpolitisch meist nur lanciert, um verdeckt immer wieder neue Einsparungen vornehmen zu können. Dennoch darf es nicht sein, dass die Auseinandersetzung mit den neuen medialen Offerten in der Oper lediglich als vertane Möglichkeit ankommt, den Anschluss zu finden. Unhaltbar die Situation, dass man hier ein Publikum noch mit Dingen auf die Palme bringen kann, die im Sprech- und Tanztheater seit mindestens 40 Jahren niemanden mehr hinter dem Ofen vorlocken. Kaum betreten wir eine Oper, ist alle mediale Gegenwart perdu; mit dem Mantel geben wir sie an der Garderobe ab. Auf der Bühne ist dann ein jegliches entweder sehr schön (à la Salon) oder es ist schön ironisch (à la Börse). Dazwischen aber läge erst, was sich wahrhaft lohnt.

Vielleicht ist es einfach auch an der Zeit daran zu erinnern, dass die Formulierung vom »offenkundigen Tod der Oper« von Richard Wagner selbst stammt (Oper und Drama, Teil I). Mag sein, dass der Tod der Oper zur Oper dazugehört im Sinne Arnold Bronnens, der einmal anmerkte: »Theater ist immer in der Krise. Die Krise ist seine Form und sein Inhalt«. Aber irritierend ist es schon, dass die durch mediale Parameter stimulierte Selbstreflexion, welche allen anderen Kunstformen in der Moderne längst zur Conditio sine qua non geworden ist, dem Opernbetrieb völlig abzugehen scheint. Diese Einsicht drängt sich zumindest all jenen auf, die Oper als etwas produktiv Disparates, im Wesen schneidend Experimentelles verstehen, gerade bei Monte & Verdi. Doch das Musiktheater hat den Weg über die Medienfrage bislang nicht genommen und dass Mediengestaltung auf der Bühne politisches Denken befördert, zur Stellungnahme nötigt, hat die Oper als Institution noch nicht begriffen.

Man könnte höchstens fragen: Warum ausgerechnet Medienkunst als Motor? –Weil die Medien uns ins Verhältnis zu uns selbst setzen. Zumindest bietet unter den zeitgenössischen Formaten die Medienkunst im Moment die vielfältigste und artenähnlichste Kontrastfolie, um Oper weiterzuentwickeln. Bei ihr lassen sich Erfahrungen einholen, die aus dem Umgang mit digitalen Maschinen hervorgegangen sind und in einen Fundus von Materialwissen und Selbstbildreform münden, ohne den heute keine Kunst mehr, auch die der Oper nicht, dem State of the Art genügen kann. »Kunst mit Strom« wurde die Medienkunst oft herablassend genannt. Wer besser hinschaut, wird erkennen, dass sie für einen Paradigmenwechsel einsteht, durch den wir uns in eine vitale Beziehung zu unseren eigenen Produkten und Prozeduren bringen können. Allemal wäre mit dieser Kenntnis ein Musiktheater zu machen, in dem Technologie kein Gegenbegriff von Poesie ist.

Das eben meint auch »kritische Praxis«: Wir stellen unsere Mittel und Methoden zur Überprüfbarkeit bereit. Reflektieren über Oper mit der Materie der Oper selbst. Darstellung und Herstellung finden zusammen. Die Antwort auf die Frage, wie man in der Oper mit Neuen Medien arbeiten kann, ohne permanent die Erfahrung der Körperlichkeit, die seit Patrice Chéreau nicht mehr von der Bühne wegzudenken ist, zu unterschreiten, liefert so auch die Verfasstheit dieser Medien selbst: Der Mut zur kritischen, zur genau abgestimmten Überlegung ist zugleich der zur zärtlichen Geste. So wahr es ist, dass mit den Neuen Medien etwas Utopisches aufgerufen wird, so falsch die Behauptung, dieses mache sich automatisch in gigantomanen, plakattauglichen Phantasmen breit. Faktum ist, dass unser Handwerkszeug durch den Binärcode, in Bits & Bytes zerlegt, notwendig kleiner geworden ist, und automatisch geht gerade digital fast nichts von Belang. Es hat zur Folge, dass das Utopische selbst ins Unscheinbare, in die kleinen, verschatteten Ecken hinübermutiert ist; unsere Allmende ist ein Netz aus fragilen Suchfunktionen. Medial müssen wir also nicht mit dem Hammer philosophieren. Wir können uns an »Faserforschung«, »Nischenmärkten« und »größensensiblen« Kommandos messen. Es will passen zu »unserm grössten Miniaturisten der Musik, der in den kleinsten Raum eine Unendlichkeit von Sinn und Süsse drängt« (Nietzsche). Die Neuen Medien zwingen das Musiktheater strukturell nicht in die propagandistische Totale, sondern zu sich selbst, ins Detail, in den ihm innewohnenden Dialog zwischen Frau Note und Herrn Buchstabe. Wer die Oper liebt, wird ihr die Veränderungen zutrauen, die sie durchlaufen muss, um sich selbst zu erhalten.

Zur äußeren Darstellung: Dieses Buch ist keine Buchbindersynthese, sondern ein Ganzes von offener Form. Zunächst einmal setzt es sich aus Texten zusammen, die für sich stehen und ehedem auch so gedacht, diskutiert und formuliert wurden. Jeder einzelne Titel eignet sich dazu, bei der Lektüre der erste zu sein. Dennoch ist das Inhaltsverzeichnis nicht modular angelegt, sondern von einer linearen Dramaturgie geprägt, in der jeder Beitrag den Platz besitzt, den er haben muss, um seinen Ton zum Gesamtklang beizusteuern. Beide Perspektiven, die des Einzelnen wie die der Zusammenschau, haben ihr Recht und sind einander Korrektiv. Entstanden ist ein Text aus vielen Texten – nicht Roman, nicht Sammelband, vielleicht: plurale Prosa. Zu dieser Struktur, die nicht gesucht ist, sondern sukzessive entstanden auf Grundlage einer Auseinandersetzung, in der Medien notwendig stilbildend wirken, gehört, dass das vorliegende Buch auf einem Spektrum sprachlicher Formen basiert: Theateressay und philosophische Abhandlung, Buchrezension und Probennotat, Manual und Gespräch, Künstlertext und Thesaurus, kulturhistorische Glosse, Interpretationsanalyse, Dramolett – die Gattungsvielfalt steht als Modell für ein Theater der Medien, desgleichen für die Überzeugung, dass das »Experimentelle im Repertoire«, um das bei uns so vieles kreist, auch über ungewohnte, neuartige Distributionsformate erreicht werden kann.

Richard Wagner und seine Medien erscheint daneben – richtigerweise – als E-Book. Ohne digitale Quellen und Geräte hätten die nun mehr rund 500 Seiten nicht geschrieben, in der Konzeption schon gar nicht in der Art verhandelt werden können, wie es uns im Sinn stand. Dass dieses Buch jetzt in dieselben Geräte und Quellen zurückgespeist wird, folgt darum nicht allein heutiger Vertriebsökonomie, sondern auch ästhetischem Recht.

Bilder sprechen eine andere Sprache als Worte. Jeder, der vom Theater kommt und nicht nur vom Theater, weiß das. Dennoch ist unser Band erklärtermaßen ein Textbuch über Theater, nicht Theater selbst, und für gewöhnlich läuft das beim Büchermachen auf Bebilderung hinaus. In unserem Fall ist es anders. Zwar hat auf einem ungestrichenen Papier, das nur der Schrift liebster Diener ist, die visuelle Druck- und Bedeutungsschärfe zwangsläufig Abstriche hinzunehmen, argumentativ aber steht jede unserer Abbildungen in einem Sinn für sich, der aus ihr – idealiter – erst ein Argument macht. Die Inszenierungsfotos, Dokumentauszüge und Skizzen in diesem Band sind ausgesucht, um zu sprechen, mal für sich, mal für anderes. Manchmal etwa unterliegt ihnen ein Textsegment, das nächste Mal umfließt es sie, ein drittes Mal versucht es sie zu dominieren und ist darin gar erfolgreich. Diese Wechselrede zwischen Bild und Schrift, im Konnex mit der graphischen Gestaltung, schien uns die künstlerischste, weil lebendigste Art, mit Bildwerk in einem Opernbuch umzugehen. Nur ein Beispiel aus der Werkstatt: Dieses Buch ist außen mit Gold geprägt, innen mit Stahlpigmenten bedruckt. Das geschah nicht, weil sein Cover damit bei Mondschein besser im Regal wiederzufinden ist, sondern weil Metalle Wagnersche Medien sind. Goldblatt und Zechenspan, in dieser Mischung – es schien uns sinnhaft, unseren Titel buchstäblich in das Wissen dieser Werkstoffe einzuspannen.

Was konkret zwischen die Buchdeckel »eingespannt« ist, kommt in drei großen Kapiteln. Die Dreiteilung ist aktartig gedacht: Teil I (Werk vs. Theater) stellt eine Reihe von Grundbedingungen vor, künstlerische, wissenschaftliche, soziale, die uns für ein heutiges Wagnerverständnis unverzichtbar scheinen. Unverzichtbar vor allem, weil sich in den gegenwärtigen Debatten etwa ums Regietheater, die Werktreue und den Werkbegriff, die akademische Inter- und Transdisziplinarität oder auch die schleichende Unfreiheit der Opernkunst gegenüber offen ausagierter Daumenschraubenpolitik die befremdliche Tendenz bemerkbar macht, dem Musiktheater das Theater mit Wagner auszutreiben. Das mag aberwitzig klingen. Die regelrechte Inflation neuer Ring-Inszenierungen um die Jahrtausendwende spricht doch eine ganz andere Sprache? – Nur vordergründig. Hinter ihr versteckt sich, dass zwischen Kulturauftrag, Publikumserwartung, Festivaltauglichkeit und wissenschaftlichem Begehr das Gefährlichste, was Wagner zu bieten hat, zunehmend aus dem Bewusstsein gedrängt wird: die Körperarbeit des Theaters selbst. Vor lauter Diskurs wird vergessen, dass Wagner immer ein Kind des Theaters gewesen ist; noch über 60-jährig soll dieses Kind in den wilden Pappfelsen der Walküre herumgesprungen sein wie eines, das die Theaterluft tatsächlich – gespenstisch – jung hielt. Dass das mehr als eine sentimentale Anekdote diejenige Kondition ist, durch die auch das Enigmatische an Wagners Werk verständlich gemacht werden kann, dafür steht Teil I geschrieben. Es gilt aufzuzeigen, wie weit der Theateranteil inzwischen von der plurimedialen Basis der Oper abgeschlagen ist.

Teil II (Kategorien des Gesamtkunstwerks) eröffnet mit einer Ode an den Vorhang und schließt mit einem Abgesang zum Applaus. Das deutet bereits an, ab jetzt geht es um Durchführung. Genauer gesagt um die materialen und medialen Modalitäten der Musikdramen selbst. Dass zu diesen auch Schlaf, Blick, Portal, Irisblende und Seilwinde gehören, mag für manch einen noch ungewohnt klingen. Aber nicht nur lässt sich etwa für die »Wagner-Gardine« eine eigene Szenographie rekonstruieren, umgekehrt belegt ein Motiv wie das des Schlafes auch Wagners Intention, Theater durch theaterferne Strukturen zu erweitern. Die Genese des musikalischen Raumes kommt sodann ins Spiel, das Problem von Anfang und Ende, insbesondere die vielfältigen Konstruktionen der musikalischen Zeit. Es wird darüber gesprochen, auf welch zentrale Weise es bei Wagner um ein Drama des Erinnerns und Vergessens geht, durch das seine Stoffe in Abseiten, Rückblicke, Nebenkammern gedrängt werden, um von dort aus mit theatraler Anschubenergie versorgt zu werden. Die Themen fallen in Trab, spätestens bei der Zellteilung von Wagners Opus magnum in viele »Opera minima« sind wir bei der Theaterpraxis angelangt: Philosophische Analyse wechselt über in Regieanweisung. Für den Ring des Nibelungen wird Einsicht in ein Inszenierungskonzept gegeben, welches das Musikdrama selbst als experimentelles Material entdeckt, entdecken muss, wenn denn die Rede von Wagners Mediengeschmeidigkeit ihr Recht behalten soll. Womöglich klingt das exotisch, aber wir müssen weiter, auch wenn ein Adorno, halten zu Gnaden, von der Philosophie zur Inszenierungs- und Medientechnik noch keine Brücke zu bauen wusste. Sein Versuch über Wagner ist mit Sicht auf die ästhetisch-politische Kritik aktueller denn je. Doch Adornos Denkmöglichkeiten müssen auch auf Felder übertragen werden, die er selbst vermieden oder spekulativ verengt hat. Mit anderen Worten, wir wollen versuchen, Adorno durch die Bühnentür zu führen, ohne dass er den Kopf einziehen muss. Ähnliches gilt für den Mann, ohne den eine Diskussion um Wagners Mediengehalt empirisch undenkbar wäre. Gemeint ist Friedrich Kittler. Dass gerade er – seltsam zu sagen – das Theater nie aus der Sicht medialer Praxis betrachtet hat, obschon seine Wagnerobsession ihm dafür allen Grund an die Hand hätte liefern können, ficht einen an, mildert aber nicht den Tatbestand. Wir schreiben seine Überlegungen deshalb bis zu einem bestimmten Grad fort und um. Kittlers Kategorien von Mediengeschichte können nicht länger die Interpretation von Werken oder Inszenierungen ersetzen, sie müssen in deren Dienst gestellt werden.

Damit sind wir bei Teil III (Die alten und die Neuen Medien). Zu Beginn spielt der Traum auf – das denkbar älteste Medium. Sollten die Hardliner der Medientheorie darüber die Nase rümpfen, es sei zu Protokoll gegeben, dass wir ihn, den Traum, genauer die Träume, noch genauer die Träume Richard Wagners behandeln wie andere Leute wissenschaftliche Rohdaten. Ein Register wurde erstellt, in dem erstmals sämtliche, in den biographischen Schriften erwähnten Träume Wagners aus den Quellen herausgehoben und einer chronologischen Sortierung unterzogen wurden. Es ist dies ein Pflock in den Sand verschwimmender Landschaften, und er erweist sich als Peilgerät, mit dem sich ein neuer Kanal zu Wagners an Kunstträumen so reichem Werk legen lässt. Es folgen Einlassungen zu neueren alten Medien auf der Opernbühne (Foto, Tonband, Film, Fernsehen, Video, Analogcomputer), zu älteren Neuen Medien (Digitalcomputer, Augmented Reality, Virtual Environment, Cave) bis hin zu Neuesten Medien (3D-Worlds, Intelligent Ambiences, Sonic Space, Social und Interactive Games), deren eines (Second Life®) in einer eigenen Inszenierung des Rheingold-Vorspiels mit dem Urmodell aller Projektionstechnologien in Berührung gebracht wurde, der Laterna Magica. Die Verquickung steht prototpyisch dafür, was an Überzeugung unserem gesamten Buch unterlegt ist: dass die Arbeit mit Medientechnologie nichts Aseptisches ist und »irgendwo« weit außerhalb von uns stattfinden muss, damit unser Selbstbild vom Menschen mit Herz nicht beschädigt wird. Medien sind, seien sie nun uralt oder brandneu, analog oder digital, Handwerkszeug, wenn dies auch auf potenzierte Art. Auf dem Theater eingesetzt brauchen und erzeugen auch sie Theaterschweiß, und der setzt sich bekanntlich aus Blut, Staub und Parfüm zusammen. Es ist ein lohnendes Säftchen. Und wer das nicht glaubt, sei an unser letztes Wort verwiesen und folge ihm: Rausch! In ihm lässt sich alles vergessen. Auch der mediale Clash? – Fast. Zwischen »ja« und »nein« steht hier mit seiner kleinen Oper der große Offenbach, der die Mittel auf seine Art medial gemacht hat und dem wir das letzte Wort nicht nur widmen, sondern auch verdanken. Wie sonst nur Wagner hat uns Jacques Offenbach beigebracht: Erst wer vergisst, kann erinnern.

Ursprünglich sollte Teil III auch ein Beitrag über Patrice Chéreau beigegeben sein. Dessen Bayreuther Jahrhundert-Ring von 1976 hat über die Jahre so viele Huldigungen erfahren, dass die eigentliche Sicht auf das handwerkliche Detail zunehmend verschliert ist. So zumindest schien es uns, und anstatt die Produktion final auf dem Opernolymp zu beerdigen, war der Plan, sie noch einmal wie neu, unter dem Eindruck neuer, medialisierter Erfahrungen ins Visier zu nehmen. Bei den Vorarbeiten zeigte sich allerdings, dass das Thema Fragestellungen aufwirft, die im Rahmen eines einzelnen Textes nicht zu bewältigen waren. Wir haben uns deshalb entschlossen, sie in einem eigenständigen, kleineren Buch zu diskutieren, das demnächst erscheinen wird.

Zwei für diesen Band relevante Personen sind binnen der letzten zwei Jahre, in einer Phase also, als unsere Beiträge schon ihre innere Gestalt besaßen, verstorben: Christoph Schlingensief und der bereits erwähnte Friedrich Kittler. Texte, in denen es längst um diese beiden ging, haben wir durch Rückschauen aktualisiert.

*

Dieses Buch ist an der äußersten Peripherie des Musiktheaterbetriebs entstanden und hätte – in einem Revier, das sonst im Höchsten vielleicht noch heitere Resignation zu verbreiten vermag – anders kaum entstehen können. Weder an einem anderen Ort noch zu einem anderen Zeitpunkt wären unsere Vorstellungen von sachgemäßer Gründlichkeit einerseits und experimenteller Freiheit andererseits realisierbar gewesen. Dafür gilt unser Dank Thomas Kleffner von Klett-Cotta. Das Plazet, das er uns eingeräumt hat, galt nicht der Narrenfreiheit, sondern der Strukturhoheit, und das ist, vereinfacht gesagt: sehr viel.

In Dankesschuld stehen wir ebenso bei: Katja Römer (Grafik) für ihre Geschmackssicherheit, Lutz Wendenburg (Bildbearbeitung) für Denkkraft im Visuellen und Martin Uhlenbrock (Korrekturlektorat) für die Fähigkeit, Adler und Luchs zugleich zu sein. J.D. sagt des Weiteren Dank an Florian Dombois für Florianihilfen sowie der Athens School of Fine Arts / Ανωτάτη Σχολή Καλών Τεχνών für die Zuerkennung eines mehrmonatigen Aufenthaltsstipendiums im Annex des Gästehauses zu Delphi / Καλλιτεχνικός Σταθμός Δελφών während der Niederschrift und Endredigierung, im Speziellen dort Stathis Psychas, der fürwahr dem Ganzen ein Quantum parnassischer Gelassenheit beigebracht hat.

Köln und Horben, im Sommer 2012

Johanna Dombois, Richard Klein

I. WERK VS. THEATER

Johanna Dombois / Richard Klein

Encore: Das Lied der unreinen Gattung Zum Regietheater in der Oper

In gewisser Weise stimme ich völlig mit unseren Gegnern überein –

aber nicht, wenn ich ihre Vorschläge sehe.

PETER BROOK

I. Wort und Urvater

Vor einiger Zeit gab der Intendant der New Yorker MET, Peter Gelb, bekannt, er wolle der Krise des Musiktheaters mit Hilfe eines neuen PR-Konzepts die Stirn bieten: »Das größte Opernhaus der Welt will endlich zum Regietheater werden«.1 Das ist bemerkenswert, insofern damit von den USA, einem Land, in dem die Opern- und Konzerthäuser fast ausschließlich von privaten Sponsoren finanziert werden, Signale eines Fortschritts ausgehen, der in Europa längst als Fanal eines sich abzeichnenden Niedergangs gilt. Dreht es sich ums Regietheater, ist die Neue Welt plötzlich signifikant älter als das Abendland, Innovation ein Anachronismus in dem Maße, wie der Begriff der Avantgarde selbst veraltet scheint. Wenn man den medialen Rauchzeichen hierzulande glaubt, ist diese Art Theater zu machen ohnehin bloß noch eine Allzweckformel für Protestgebärden, die erschlafft sind. Was der Politik die Finanzkrise ist dem deutschen Feuilleton das Regietheater. Viel mag los sein, aber nichts bewegt sich. Die Ironie der Stunde will es, dass ausgerechnet amerikanische Opernfans das Wort »Eurotrash« für die inszenatorischen Menetekel ersonnen haben, die ihnen auf deutschsprachigen Opernbühnen angeblich oder tatsächlich zugemutet werden.

Was aber ist »Regietheater«? Sind diesem Phänomen Interferenzen zwischen Altem und Neuem nicht vorderhand eingeschrieben, und ist es als solches etwa kein Ausdruck eines komplexen Zeitverhältnisses? Antworten fallen schwer, sofern man einmal akzeptiert, dass Musiktheater per definitionem »unrein« ist – eine Kunstform, die sich als Schmelztiegel begreift und doch nie ein Amalgam hervorbringen kann. Sprache, Gesang, Gestik, Proxemik, Kleid, Maske, Licht, Bild, Technik, Ton, Klang, Musik: Opernarbeit erfordert ein Gespann, das breiter ist als die Wege, die man gehen möchte. Im Vergleich dazu erscheint das historische Dilemma des Genres »Prima le parole, dopo la musica«, das uns die Aufklärung verschafft hat, als nachgerade niedliche Variante jenes plurimedialen Konflikts, der Abend für Abend das Traumbild einer Einheit der Künste stilbildend durchkreuzt. Ihn kann man, um das gleich zu sagen, nicht ernst genug nehmen. Der Topos von der Oper als dem »unmöglichen Kunstwerk« (Oskar Bie)2 ist weniger kokette oder enthusiastische Übertreibung als präzise Diagnose. Das ist zunächst schwer auszuhalten, nicht nur für ein Publikum, das oft bloß noch ins Theater zu gehen scheint, um seinen Intellekt zu vergessen, sondern gerade auch für die ordnungsliebende akademische Welt.

Angesichts des Regietheaters gibt der Forschungsstand in den einschlägigen Universitätsfächern genauso wenig Anlass zur Freude wie der Hype im Feuilleton oder die Emotion der Vox populi. Die Medienvielfalt der Oper wird in der disziplinären Aneignung auf isolierte Teilsysteme heruntergebrochen: Musik-, Theater- und Literaturwissenschaft nehmen wie selbstverständlich die auf die je eigene Fraktion bezogene Froschperspektive ein. Analog dazu setzen Opernfreaks, Orchestermusiker und gewiss auch Dirigenten auf »reine« Musik und deren notierte Fakten, während die Theatralität des Objekts ihnen zum äußerlichen, ornamentalen Zusatz gerät, der sich den Anweisungen der Partiturpolizei unterzuordnen habe. Vergeblich, ausübenden Musikern die Vorstellung abzugewöhnen, aus der Zeichensprache der Tonkunst die simultan angeordneten Zeichen der anderen Bühnenkünste nur zu deduzieren. Der Anspruch des Theaters auf eigene Gesetze gegenüber dem, was »in den Noten steht«, verbietet sich für sie meist von selbst.

Die historische Sachlichkeit freilich zwingt dazu, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Autonomie des Regietheaters in der Oper mit ihrer so grundstürzend kreativen Aneignung filmischer, literarischer, schauspielerischer und choreographischer Elemente ohne eine Emanzipation vom Orchestergraben nicht möglich gewesen wäre. Für die Entwicklung seit den 1970er Jahren lässt sich summarisch festhalten, dass die Auseinandersetzung mit der Musik nicht im Mittelpunkt des Interesses der Opernregie gestanden hat und stehen konnte. Zwar hat es bedeutende Entwürfe etwa von Berghaus, Herz, Friedrich, Kupfer, Chéreau, Wernicke, Neuenfels, Sellars, Konwitschny gegeben, bei denen inszenatorische Details vorwiegend von musikalischen Entscheidungen her inspiriert waren. Doch selten stand dabei der Teil fürs Ganze. Regie in der Oper zu führen bedeutet, kluge Unterlassungssünden zu produzieren, und das betrifft auch Frakturen in der Musikdramaturgie, sogar dort, wo verlautbart wird, die Partitur und nichts als die Partitur sei das Regiebuch. Ausschlaggebend ist immer, ob die Musik illustrativ, strukturell oder durch Mixturen aus beidem erfasst wird. Pauschale Attacken gegen das Regietheater, ohne Kenntnis von Referenzsystemen und Vergleichswerten, sind deshalb sinnlos; sinnvoll nur die Analyse bestimmter künstlerischer Arrangements und Entscheidungen und die Reflexion auf eine historische Entwicklung, welche von sich her auch Tendenzen der Erschöpfung, Erstarrung und des Leerlaufs produziert hat. Regietheater in der Oper ist kein bloßes Phänomen unserer Zeit, sondern eines mit einer ehrwürdigen Vorgeschichte. Wollte man hier einen »Urvater« benennen, es wäre wohl Richard Wagner.3 Dessen These, dass das Theaterereignis das eigentliche Werk sei, markiert eine revolutionäre ästhetische Zäsur, eine, die sowohl mit den linearen Ordnungsprinzipien der Schriftkultur als auch mit dem Misstrauen aufräumte, das die klassische Ästhetik gegen die Flitterwelt der Bühne eingenommen hat. Wagner begann in einer Zeit zu produzieren, als das gebildete Bürgertum und mit ihm noch eine platonisierende Kunsthierarchie den Ton angaben. Indem er diese Lobby zu seinem Publikum machte und dazu nötigte, das flüchtige Bühnenspiel als den eigentlichen Kunsttext zu begreifen, hat er jene Voraussetzungen mitgeschaffen, die das Regietheater, wie wir es kennen, mit seinen Widersprüchen erst ermöglichten. Gewiss, Wagner war historisch noch weit davon entfernt, in Kategorien z.B. einer szenischen Aktualisierung zu denken. Er war aber der erste, der seine Sänger mit dem Rücken zum Publikum agieren ließ. Will sagen, er trieb ihnen das Ego aus und brachte ihnen die Identifikation mit der Rolle bei. Das ist in sich ein Paradigmenwechsel in der Kommunikation zwischen Darstellern und Regisseur, welchen es bezogen auf die Oper als berufliche Position auch erst seit Wagner gibt. Dass das heute immer noch nicht alle wissen, ändert nichts daran, dass es wahr ist.4

II. Aktualität, Agitation, Autonomie

Beim Essay-Wettbewerb der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trat 1993 der Literaturwissenschaftler Thomas Zabka mit einer Abhandlung hervor, die die Preisfrage, ob und inwiefern das »Regietheater die Hinrichtung der Klassiker betreibt«, mit bisher ungekannter Klarheit beantwortete. Sein Essay Das wilde Leben der Werke5 stellt in erster Linie eine Auseinandersetzung mit dem Schauspiel dar, auf Probleme der Oper geht er nur am Rande ein. Dass er gleichwohl für Kernpunkte des heutigen Musiktheaters von Belang ist, hat einen einfachen Grund: Zabka arbeitet begrifflich und am theatralen Detail. Damit unterzieht er just die Kategorien einer kritischen Analyse, die in der gängigen Diskussion wie sakrosankte Glaubenssätze behandelt werden: »Werktreue«, »Handwerk«, »Regie als Dienerschaft«, »Pädagogik als Bildungsstrategie«. Und zeigt zugleich am Gegenstand auf, dass, wie und warum solche Begriffe anfechtbar werden, ja zerfallen, sofern man sie an konkreten Inszenierungsaspekten erprobt. Nicht zuletzt zwei Teileinsichten werden bei Zabka zu einem Gedanken zusammengeführt. Erstens: Theater ist unhintergehbar autonom. Theaterinszenierungen sind eigengesetzliche Kunstwerke und können den Regulativen anderer Kunstformen nicht folgen. Zwar werden Text und Musik in der Oper zum Fließwerk. Inmitten des Kontinuums theatraler Bewegung jedoch bleibt ihr Autonomieanspruch, sofern die Inszenierung gelingt, bestehen. Zweitens geht die Etablierung des Regietheaters zunächst im Schauspiel mit einem politischen Paradigmenwechsel einher: mit der Klassikkritik zur Zeit der Studentenbewegung. Seither leitet sich von dem Streit, wie politisch Theateraufführungen sein sollen, der Topos ihrer gesellschaftlichen Relevanz ab. Politisches aber kann der Oper nicht oktroyiert werden, Theater ist keine Nacherzählung der Tagesschau. Daraus entsteht allein – alibiartig – Hartz-IV-Folklore. Virulent wird Agitation erst, wenn sie sich in den Formprinzipien eines Werks realisiert. Ästhetische Autonomie und politische Bedeutung gehören zusammen, diese gibt es nur durch jene hindurch, kritischen Sinn allein als Resultat einer eigenständigen Theatersprache.

Blendenwechsel: Fidelio, 2006, Inszenierung an den Städtischen Bühnen Münster unter Mitwirkung von Amnesty International. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion gibt der Regisseur Peter Beat Wyrsch zu Protokoll, die Figur der Leonore habe ihn »an Tamara Chikunova aus Usbekistan erinnert, die Gründerin der Organisation ›Mütter gegen die Todesstrafe und Folter‹ und Trägerin des Nürnberger Menschenrechtspreises 2005«. Eine Vertreterin der ai-Mediengruppe vergleicht das Verteilen der Vermisstenanzeigen via Flugblatt, »wie es in der Oper zu sehen ist«, mit den »Urgent-Actions« ihres Ortsverbandes – die Schicksale »von Khaled Al Masri und Murat Kurnaz [...] zeigen einmal mehr, dass die politische Thematik in Beethovens Fidelio nichts von ihrer Aktualität verloren hat.«6

Bereits 2004 hatte das Regieteam um Christian Pade am Theater Dortmund eine Interpretation des Werks vorgelegt, die nicht minder von dem »Wunsch nach authentischem, respektgebietendem [...] Echt-Material«7 geprägt war. Der Kostüm- und Bühnenbildner Alexander Lintl ließ einen Gedenkfries aus Porträts am Bühnenhorizont anordnen, die ebenfalls aus den Kontingenten von Amnesty stammten – »verantwortungsvoll geprüft«; orange waren die Trainingsanzüge für den Gefangenenchor in Anlehnung an die Sträflingskleidung in Guantánamo Bay, Abu Ghraib und den amerikanischen Todeszellen. Für den kolportagehaften Erlösungsschluss entwarf Pade eine szenische Brechung, die bei der Premiere jene »kontroverse und engagierte Reaktion« auslöste, die er sich nach eigenen Aussagen erhofft hatte (»Ich bin’s zufrieden«): Im zweiten Finale des II. Akts werden alle Gefangenen, die über der Rettung des einen buchstäblich in Vergessenheit geraten, durch eine Dosis »Zyklon B« umgebracht, die der »Hilfspförtner« Jaquino symbolträchtig in die Zellen leitet.

Selbst wenn solche Unterrichtseinheiten zur jüngeren und jüngsten Geschichte in einer Operninszenierung grundsätzlich sinnvoll wären, es änderte nichts daran, dass sie in den vorliegenden Fällen einer durchgearbeiteten Dramaturgie entbehren. Der Schulterschluss mit Amnesty ist, milde gesagt, zu kurz gedacht. Aus Assoziationen wurde hier Programm und aus dem Bemühen, die Ränder zu zeigen, ein Verfahren, durch welches die Handlungsspitzen der Oper geschärft wirken zu Lasten des Gesamtmaterials, das fotogen verflacht ist. Hätte zum Beispiel Pade das ganze Sonnleithnersche Libretto mit demselben Ernst behandelt wie dessen Highlights, man wäre für Roccos »Goldarie« gezwungen gewesen, mit der Weltbank zusammenzuarbeiten. Choreographisch wie psychologisch fielen die Protagonisten darum notgedrungen hinter die Entwicklung des Plots zurück. Ohne Charakterzeichnung kann der Einsatz des Politischen allerdings kaum mehr sein als ein Clou, der sich die Aura des Kritischen zumutet.

Eine katastrophische Steigerung bilden in dieser Hinsicht Inszenierungen, die »Welt« komplett mit »Bühne« verwechseln und dieser am Ende buchstäblich die Bretter wegziehen, die jene doch, mit Schiller gesprochen, »bedeuten« sollen. Beispiel: Im Juli 2010 bringt das Perm State Tchaikovsky Opera and Ballet Theatre im ehemaligen Gulag-Strafgefangenenlager Perm 36 Beethovens Fidelio unter Einsatz von 300 »local volunteers«8 zur Aufführung.9 Die Pointe dieser Produktion sei es gewesen, so die Selbstauskunft des Leitungsteams, »[to] bring the whole experience of the camp alive to the audience, who will travel to the venue in special coaches from the Opera House in Perm«. Unter den 300 »Freiwilligen« befanden sich so tatsächlich einige, die in dem (erst 1988 geschlossenen) Lager als politische Gefangene inhaftiert waren. Echte Söhne also und echte Mütter spielen nun mit. Die Zuschauer selbst werden historisiert: »Each performance will welcome only 250 spectators [...] which is the exact number of prisoners held in each of the barracks. [...] At the camp the audience will be met by guards who will marshal them into groups and control their entry into the camp.«10 Es drängt sich der Eindruck auf, dass man hier zum Zeugen einer Reality-Show gemacht wird, die um der künstlerischen Perfektion willen sowohl die Realität als auch die Kunst im Namen der Kunst abschafft. Zu fragen wäre, ob eine noch so berechtigte Anklage überhaupt realistisch auf einer Bühne darstellbar ist, ohne sich selbst durch Kunstgewerbe zu desavouieren. Offenbar will es die Umwegrentabilität der Oper, dass einfache Ablichtungen des Lebens je fadenscheiniger werden, desto kürzer der Weg von der Straße auf die Bühne sich bemisst. Fraglos ist das Problem nicht, dass »das Echte« oder »das Reale« zum Stimulus künstlerischer Arbeit wird. Das Problem ist dessen Stilisierung zum eindeutigen Inhalt – so wenig Wirklichkeit identisch ist mit Wahrheit, so wenig mündet Aktuelles in Realismus. Was Fontane über den Roman sagte, hat über die Mediendifferenz hinweg auch für die Oper Gültigkeit: »Realismus ist die künstlerische Wiedergabe (nicht bloß das Abschreiben!) des Lebens«.11

Keine Oper kann dem Konflikt zwischen Realismus und Theater ausweichen. Er ist strukturell in ihr angelegt. Doch der Sinn des Politischen wird gerade ausgeblendet, wo man den theatralen Prozess als Spiegelung von Tagespolitik feilbietet. Gegenwartsbezüge mögen dann so »wahr« sein, wie sie wollen – wenn nicht dem antirealistischen Potential der Gattung Rechnung getragen wird, verkommt Wahrheit zum Schlüsselreiz. Hans Neuenfels stellt unmissverständlich fest: »Die Kunstwerke sind zu schade für das augenblickliche Tagesgeschehen«12, Oper ist mehr als das, was bloß in der Story nistet. Adolphe Appia sprach sogar von den »der Wirklichkeit gegenüber anormalen Verhältnisse(n)«.13 Womöglich sind »Aktualisierungen von Opernstoffen und -handlungen« generell »ästhetisch falsch« (Albrecht Wellmer), nur eine Verfallsform jener »Vergegenwärtigung«14, die für die Theaterbühne unabdingbar ist, um unsere alltäglichen Erfahrungen dort als Konzentrat valide machen zu können.

Aussagekräftig ist da Siegfried Schoenbohms Freiburger Aida von 1981/ 82. Das Werk gehört zu den berühmten »ABC-Waffen« der Spielplandramaturgie – Aida, Butterfly, Carmen – und ist in sich eine Cause célèbre, wenn es um Krieg und Frieden geht, auf wie vor der Bühne. Schon die Uraufführung 1871 in Kairo hatte im Schatten des Deutsch-Französischen Krieges und der Belagerung von Paris gestanden. Schoenbohm dürfte sich auch deshalb entschlossen haben, die eigene Inszenierung als Korrelat von Rezeptionsgeschichte ins Bild zu setzen. Für das Triumph-Finale des II. Akts implantierte er historisches Wochenschaumaterial, in dem neben Waffenparaden, Ozeanweite und deutschen U-Booten auch Stalin, Mussolini, Franco und, ein paar Sekunden lang, der »Führer« zu sehen waren, an einer Volksmenge vorbeifahrend.15

Bereits während der Proben hatte das Orchester statuiert, solange die Filmprojektionen liefen, weigere es sich zu spielen.16 Der Regisseur reagierte mit dem Einschub einer Klangkonserve – ein Glücksfall gemessen an seinem künstlerischen Konzept. Wo es um Machtdemonstration geht, kann der Einsatz von Apparaten nicht falsch sein. Ein Orchestermitglied kommentierte die Entscheidung mit der Bemerkung: »Wir sind doch nicht im Kino«, ohne zu realisieren, dass erst das eigene Verhalten die Regie ins Ziel gedrängt hatte. Analog dazu die Premiere. Das Publikum, das in der Oper zunächst und zumeist verlässliche Probleme sucht und dabei übersieht, dass das Bühnenportal ein Rahmen ist, der anzeigt, dass es um eine Leseempfehlung, also das Verhandeln, nicht das Kopieren von Realität geht, glaubte sich einem Politgag, gar ordinärer Propaganda ausgesetzt. Die Antwort: eine Bombendrohung. Damit geriet Schoenbohm selbst in die Geschichte hinein, die er hatte erzählen wollen.17

Dass seine Inszenierung mediale Verschränkungen provozierte, ist indes als Vorzug zu werten. Es hieß damals, eine Liebesgeschichte könne man nicht zur politischen Parabel umfunktionieren. Was aber ist Verdis Aida anderes als eine Liebesgeschichte, die zur politischen Parabel umfunktioniert wird? Die Güte des Librettos von Ghislanzoni besteht just darin zu zeigen, dass Gesellschaft und Leben schicksalhaft verkettet sind: Krieg und Leidenschaft bedingen einander in der Weise, wie sie auch aneinander scheitern müssen. Es gibt also durchausAnhaltspunkte, Schoenbohms Interpretation als »werktreu« auszuweisen.18

Der schwerwiegendste Vorwurf zielte gewiss auf das filmische Implantat. Anfang der achtziger Jahre erschien es dem Gros der Zuschauer und Kritiker noch so neu, dass es als Verunglimpfung der Gattung empfunden wurde. Dabei konnte oder wollte man sich nicht daran erinnern, dass bereits ein halbes Jahrhundert zuvor Erwin Piscator den Film für die Bühnenarbeit, und zwar als »Einladung zu politisch-revolutionärem Denken«19, kompatibel gemacht hatte. Seine legendäre Inszenierung der Sturmflut von Paquet an der Berliner Volksbühne 1926 wurde zum Muster für die Verquickung von technischen Mitteln und künstlerischer Intention, und bei genauem Hinsehen erweist sich die Freiburger Szenographie als Reverenz. Bei ihr wie bei Piscator wurde das Wochenschaumaterial eingesetzt, um in das Theater das Problem der Dimension, eben jener »Masse Mensch« zu integrieren, die auf der Bühne real keinen Platz hat. Andersherum: Das Lichtbild wurde zum Fenster zu jener Welt hinter der Bühne, die auf dieser repräsentiert werden muss [Abb. 1]. Von Piscator stammt der Satz: »Mein Ziel war ein politisches Theater, nicht eine theatralische Politik«.20 Er hätte auch aus dem Munde Schoenbohms Sinn gemacht.

Abb. 1: »Politisches Theater«. Die russische Revolution (1917) in Alfons Paquets Sturmflut. Inszenierung Erwin Piscator, Berliner Volksbühne, 1926.

Was die Musik anbelangt, lässt sich ein Fundament nicht spalten. Doch hinter der Behauptung des Publikums, die Filmeinlage Schoenbohms sei der Komposition »angetan« worden, was den Gedanken der Verletzung insinuiert, steht, dass man Musik in der Oper noch immer als einen Naturschutzpark der Gefühle wahrnimmt. Unbeachtet blieb, wie präzise der Schnitt des Wochenschaumaterials der syntaktischen und harmonischen Anlage der Musik angepasst war, z.B. Militär, Volksmasse und Hitler analog zu den Fanfaren und zum Tanz, Meer und Wellen inmitten des quasi ausatmenden F-Dur-Seitenteils. Hätte man sich als Zuschauer nicht, denkt man heute, fragen müssen, ob dies eine autonome Form von Musikvisualisierung sei? An sich ist bereits die Tatsache, dass die Musik aus der Konserve kam, ein Beweis dafür, dass sie als dramaturgisches Mittel eingesetzt wurde – gerade auch weil hierfür ein Kompromiss die Entscheidungsgrundlage darstellte, zeigt dieser doch umso mehr, wie wetterfest das inszenatorische Konzept in sich längst war. Für die doppeldeutige Introduktion des II. Akts (»Tanz der Mohrensklaven«) hatte Schoenbohm einen Spiegel auf der Bühne errichten lassen, der die Bewegungen des Dirigenten Adam Fischer ins Publikum rückprojizierte. Das ist eine veritable Metapher dafür, dass es hier um wechselseitige Durchdringung und Dechiffrierung aller beteiligten Medien ging, und das Verfahren selbst reicht weit über modulare Aktualisierung hinaus. Sein Politikum lag in der Erzeugung einer irisierenden Gegenwart.

III. Das Werk und die Werktreue

Mit dem Terminus »Werktreue« verbindet sich die Vorstellung, in der Oper könne man von der Unauflösbarkeit der Formkonflikte absehen oder diese sogar leugnen. Sei es aus alter Furcht vor Scheinwelt, Schmiere und Schminke des Theaters, sei es aus Wohlstandsneid gegenüber den Vogelfreien, sei es auch aus Sehnsucht nach Ordnung wenigstens für die Dinge, die vergangen scheinen – dem Regietheater wird als Norm aufgebürdet, was eine idealistische Ästhetik von Kunstwerken seit je vergeblich gefordert hat: dass in ihnen gesellschaftlich unüberwindbare Gegensätze gegen die Realität überwunden werden. Operninszenierungen aber führen die einzelnen Künste zu einem Mixtum compositum zusammen, das deren Autonomie zugleich respektiert und beschneidet. Respektiert, weil die Gattung von der Eigenkraft ihrer Medien lebt, beschneidet, weil sie als Ganzes nur praktikabel ist, wenn sie Eingriffe in den selbstreferenziellen Code ihrer Teile zulässt. Gemessen an einem absoluten Maß mag das als Frevel erscheinen. Ein moderner Diskurs indes kann gar nicht anders, als das Lied der unreinen Gattung zu singen und die subtilen Gewalttaten des Gesamtkunstwerks Oper als Conditio sine qua non seiner Zeitgenossenschaft verständlich zu machen. Um Karl Kraus zu paraphrasieren: Wir müssen der Oper am Mieder fingern, falls uns daran gelegen ist, dass sie Atem schöpft. Die klassischen Werke in die Zeichenlogik der Bühne zu übertragen, heißt notwendigerweise, die Komplexität ihrer Sinnpotentiale zu reduzieren. Das Repertoire lässt sich nur erhalten, indem man es verändert. Mehr noch, Repertoire allein gibt es, weil ein Kontinuum von Interpretationen existiert. Thomas Zabka: »Wer behauptet, er habe die wahre Auslegung, kann es nur mit erneuter Exegese begründen«21 – was »die klassischen Stücke am Leben erhält, ist der Gebrauch, der von ihnen gemacht wird, selbst wenn es Missbrauch ist«.22 Seriöse Forderungen nach Werktreue können darum weder die Hinwendung zu einem zeitlosen Ursprung noch zu früherer Aufführungspraxis, allenfalls historische Reflexion einklagen: ein Wissen um jenen Ort, den eine einzelne Inszenierung in der Geschichte des Werkes einnimmt. – Wie man es nicht machen sollte: Bayreuth 1951, Neuinszenierung Parsifal. Die orthodoxe Liga protestiert gegen Wieland Wagner. Er habe die Regieanweisungen des Großvaters missachtet und dessen naturalistische Bühne leergefegt. Cut. Bayreuth 1976: Dieselbe Fraktion protestiert nun gegen Patrice Chéreau, jedoch exakt mit den Argumenten, die zuvor für des Teufels erklärt worden waren. Wielands Lichtregie habe der Musik einen eigenen Raum gegeben, Chéreaus Politrealismus dagegen degradiere Wagners Klanguniversum zur bloßen Nebenwirkung szenischer Vorgänge. Jammervoll zu sagen, aber der Weg solcher Ehrpusseligkeiten verläuft immer gleich. Erst wird so getan, als sei die eigene Auffassung sakrosankt, weil sie in einem zeitlosen Text gründe, der aller Interpretation vorausliege. Dann entpuppt sich der vermeintliche Ursprung des Werks als Effekt einer spezifisch historischen Auslegung. Was es mit dem Werkcharakter dieses »unmöglichen Kunstwerks« im Detail auf sich hat, ist leichter gesagt als gedacht. So verteidigt zum Beispiel Carl Dahlhaus in seinem Essay Das Werk auf der Bühne die Bayreuther Produktionen von Wieland Wagner und Patrice Chéreau strikt gegen jede Gralshüterei.23 Jedoch tut er dies um den Preis, dass er der Theatralität des Musikdramas letztlich den Werkcharakter abspricht. Inszenierungen müssen einem Werk gegenüber nicht »treu« sein, meint er, weil sie diesem, recht verstanden, gar nicht angehören. Das Werk ist im Notat von Text und Ton enthalten, das heißt Werk ist Schrift. Als Schrift kommt ihm relative Zeitinvarianz zu. Theatrales Spiel ist dafür zu unstet, kurzlebig und zu sehr von kontingenten Bedingungen abhängig. Die sinnliche Radikalität einer Inszenierung erscheint letztlich als höhere wirkungsgeschichtliche Zutat zum Werk, die selbst in den »Urtext« des Musikdramas nicht eingreift. Statt das »Unmögliche« der Oper zu integrieren, spaltet Dahlhaus es definitorisch in zwei Teile auf: hie Werk, da Rezeption. Aus der medialen Differenz des Theaters zu Text und Musik folgt gewiss, dass es auf andere Weise Werk ist als fixierbare Repräsentationsformen, nicht aber, dass es keinen Werkcharakter hat. Nur weil die alte Pariser Praxis der Inszenierungsbücher, die eine bestimmte Theaterform schriftlich zu kanonisieren und so als »werkgemäß« festzulegen suchte24, falsch war, wird die Abkoppelung jeder Inszenierung vom Werk noch nicht richtig. Eine Oper lässt sich nicht in Werk und Nichtwerk tranchieren. Warum sollte ausgerechnet das Ereignis, das uns das Werk gegenwärtig macht, diesem selbst nicht angehören? Dass das Ereignis dem Werk angehört, sofern es diesem eine bestimmte Gegenwart gibt, heißt ja nicht, es sei mit ihm schlechthin identisch. Ein Werk stellt eine unendliche Aufgabe dar, es ist niemals fertig oder vollends präsent. Aber aus dieser ideellen Abstraktion folgt kein medialer oder gar normativer Vorrang des notierten Textes vor dem Theater. Die Fülle der interpretativen Möglichkeiten schließt das einmalige Theaterereignis weder aus dem Werk aus, noch lässt sie es hinter diesem als vorläufig oder untergeordnet zurück. Sie zeigt lediglich an, dass jede einzelne Aufführung in einem Horizont offener (nicht beliebiger) Pluralität spielt, der durch die Idee des Werks gesetzt ist. Dass die Aufführung eine je nachdem einzigartige Weise des Werks, da zu sein, verkörpert, gilt völlig unbeschadet dessen. Die Apostel der Schrift können diese elementare Differenz nur darum leugnen, weil sie sich de facto als die Herren aller möglichen Interpretationen imaginieren, ohne sich einer einzelnen, wirklichen in ihrer Wissenschaft je auszusetzen.25 Fällt bei Dahlhaus das Theater aus dem Werk heraus, so bei Jürgen Schläder die Musik aus der Zeit. In Strategien der Opern-Bilder schreibt dieser: »Der musikalische Text repräsentiert in jeder Opernaufführung den historischen Stil, die musikalische Ästhetik der Entstehungszeit der Partitur, so dass die für Klassikerinszenierungen generell konstitutive Spannung zwischen Historizität und Aktualität in einer Operninszenierung nicht eigens [...] problematisiert zu werden braucht. [...] Angesichts der historischen Dimension, die der Partiturtext wegen seiner unveränderten kompositorischen Struktur repräsentiert, sind die Schwankungen der musikalischen Interpretation marginal.« Erst durch die aktuellen Mittel des »Theatertextes« entsteht ein nichtmarginal »neues Verständnis des historischen Textes [der Musik]«.26 Notabene: »Theatertext« bedeutet hier so viel wie »szenische Schreibweise«.

Diese »scannt« den musikalischen Text nun so, dass das, meint Schläder, was sie dem jeweiligen Werk an Neuem hinzufügt, auf eine bereits fertige Struktur trifft, eine Art Ready-Made, welches von ihr kommentiert und in ein anderes Licht gerückt wird. Dabei soll die Musik der Inszenierung keineswegs untergeordnet werden; musikalische Analyse ist vielmehr Bedingung einer kritischen szenischen Begriffsbildung. Aber dies lässt den dualen Ausgangspunkt des Ganzen unangetastet. Das Musikalische bleibt in seine historische Genese zurückgestellt, allein das Theatrale stellt den Bezug zur Gegenwart her.

Dass Musik und Inszenierung einer Oper verschiedenen Zeitordnungen angehören, die den Konflikt zwischen Gegenwart und Geschichte in die Gattung hineintragen, ist wohl wahr, und man muss Schläder dankbar sein, dass er an diese elementare Tatsache erinnert. Doch sollte man den Unterschied der Zeitordnungen besser nicht mit dem Konflikt der Medien gleichsetzen. Temporale Konflikte spielen sich stets auch in Musik und Theater selbst ab, sie können nicht rollentypisch auf diese verteilt werden. Die These, angesichts der historischen Signatur eines musikdramatischen Werks schrumpfe die innere Zeitlichkeit seiner Aufführungen zur Randnote zusammen, ist eine wilde Behauptung, und sie ist nicht zu Ende gedacht. Natürlich liegt das Aktuelle einer Inszenierung offener zu Tage als das Innovative einer musikalischen Interpretation. Das eine spielt sich, verkürzt gesagt, im Vordergrund, das andere zwischen den Zeilen ab. Trotzdem wird der Freiheitsgrad einer Partitur von Mozart, Wagner oder Berg die differentialen Kapazitäten einer Operninszenierung immer überragen. Kein Werk ist nur das Produkt seiner Entstehungszeit. Weder ist die innere Zeitlichkeit von Musik mit ihrem historischen Sinn identisch noch Historie ihrerseits gleich Genese, das heißt Vergangenheit. Sicherlich will es der Takt der Druckerpresse, dass sich Opernkritiken oft zunächst den Novitäten einer Inszenierung zuwenden und das Musikalische als aufgefrischte Version von etwas besprechen, das wir schon länger kennen. Aber gibt es einen vernünftigen Grund, dieser Praxis eine wissenschaftliche Legitimation an die Hand zu geben? Ginge es auf der Bühne nicht zuinnerst darum, das Werk auch musikalisch so zur Erscheinung zu bringen, als ob es jetzt erst entstünde, geboren würde, und ebenso: wie es nur dieses eine Mal ist und niemals wieder sonst sein kann – jeder »kritische Theatertext« wäre vergeblich. Er hätte seinen Grund verloren und seine Autonomie obendrein.

IV. Die Universität

Von der Literaturwissenschaft wird das Regietheater nur selten als kontrovers wahrgenommen, da es ihr Selbstverständnis als Disziplin unberührt lässt. Ihr Problem ist, dass sie keines hat, weil sie sich nicht zuständig fühlt. Zwar sind Libretto-, Rhetorik- oder Phonetikforschung auf Grundkenntnisse musikalischer oder rhythmischer Parameter angewiesen, und Germanisten sind natürlich immer bereit, auf jene rezeptionsgeschichtlichen Fragen zurückzukommen, durch die sie in den siebziger Jahren selbst so sehr geprägt wurden. Aber im Unterschied zur Musik kommt Literatur ohne den performativen Akt aus. Dramen werden oft schon in der Ausbildung auf den Lektüreanteil heruntergefahren. Vor szenischem Lesen geniert man sich. Die anderswo geradewegs hysterisch geführte Debatte um »Werktreue« bleibt hier ein mild-exotischer Reiz aus der Ferne.

Anders die Theaterwissenschaft. Ihr Fluchtpunkt ist die Bühne als Ort der Sehnsucht. Die Distanz, die dabei mitschwingt, beschert uns die lehrreichsten Beiträge zum Thema Regie.27 Zugleich sind Theaterwissenschaftler Insider schlechthin. Mitunter träumen sie sich derart in Tuchfühlung mit der Bühne hinein, als wollten sie ihre Arbeit im Souffleurkasten verrichten, und nicht selten waren sie vor der Uni selbst praktisch an einem Theater tätig.28 Mit gewissem Recht sehen sie sich also als die offiziellen Vertreter des Performativen, das sie als »das Ganze«, »Eigentliche« ansehen. Und das ihnen am Ende doch notwendig fern bleibt, weil sie sich kraft der Bedingungen ihres Fachs nur exegetisch, d.h. von der Rampe her geurteilt epigonal zum Theater verhalten können.

Das Referenzmedium der Germanisten ist also das Libretto, das der Theaterwissenschaftler der Videomitschnitt – und was bleibt da für die Musikologen? Die Partitur. Dass die Erfindung des Guido von Arezzo Musik im Gros konservier- und überlieferbar macht, hat bei ihnen allerdings zu einem rituellen Argwohn gegenüber allem geführt, was an der Tonkunst nicht notierbar ist, exemplarisch das Theater der Oper. Wird das musikalische Werk jedoch mit Schrift identifiziert, ist eine Autonomie des Theaters undenkbar und dieses selbst an der Wurzel gekappt. Auch aus diesem Grund sind musikwissenschaftliche Titel, die das Regietheater zum Thema haben, fast immer noch an einer Hand abzählbar29 – und längst verbirgt sich das Misstrauen hinter gepflegter Indifferenz. Weithin gilt die, sagen wir: problematische Vorstellung, die Musik könne oder solle den anderen Medien der Oper ihre eigenen Sinnstrukturen vorgeben.

Muster 1: 1980 wandte sich der Musikologe Wolfgang Osthoff gegen die Ausinszenierung des Orchestervorspiels zum II. Akt Tannhäuser in der Bayreuther Inszenierung von Götz Friedrich (1972) mit den Worten: »Ich will hier weder das Was noch das Wie dieser szenischen Ausdeutung, sondern ihre Existenzberechtigung in Frage stellen.«30 Für Osthoff verbieten sich solche Ausdeutungen offenbar von selbst. Als Grund gibt er vor, dass in einem instrumentalen Vorspiel unzulässig ist, was eine auf das Bühnengeschehen bezogene Musik regulär fordern darf: die Visualisierung klanglicher Gesten. Das aber bedeutet, dass Musik im Theater nicht gleich Musik ist. In Anlehnung an Hans Pfitzner erklärt Osthoff den Regisseur zum bloßen Nachschöpfer, den Komponisten hingegen zum Schöpfer im emphatischen Sinne, dessen Recht darin liegt, seine Oper frei von den Einflüssen des modernen Theaters behandelt zu wissen.31

Wie sinnwidrig eine solche Position ist, zeigt sich schnell. Hätte Osthoff das Eingangsbild des II. Akts Tannhäuser auch nur ansatzweise zu beschreiben versucht, hätte er bemerkt, dass es sich um ein Tableau handelt, welches von der nachfolgenden Szene eher reflexiv zurücktritt, als diese im Kontext des erzählerischen Kontinuums vorwegzunehmen. Als gälte es das eigene Fach vor der Versandung des Theaters zu schützen, wird Götz Friedrich »ein Nichtrespektieren der rein musikalischen Domänen«, ja der »Missbrauch« der Musik zum Vorwurf gemacht. Der böse Regisseur versuche dem Werk eine »Idee der Inszenierung« zu oktroyieren, »die das Werk selber in dieser Form gar nicht enthält«.32 Abgesehen davon, dass die Rede von »rein musikalischen Domänen« weniger der inneren Zusammensetzung von Wagners Tannhäuser geschuldet sein dürfte als dem Habitus eines Denkens in institutionellen Departements, steht die Rede vom »Werk selber« exemplarisch für die analytische wie ästhetische Leere einer solchen Regiekritik. Bringt doch gerade diese die Fragilität zum Verschwinden, der der Werkbegriff in der Oper ausgesetzt ist und die sich kaum dadurch umgehen lässt, dass man zwischen Haupt- und Nebentext trennt und Theatrales zum schmückenden bis störenden Beiwerk der Musik herabsetzt.33 Gründete der Werkcharakter der Oper allein in den Daten der Partitur, entfiele nicht jeder sachliche Grund, ins Theater zu gehen? Und würden es dann im Prinzip konzertante Opernaufführungen oder gar die eigenen Apparate zuhause nicht ebenso tun?

Muster 2: Nicht minder prinzipiell als Osthoff mokierte sich seinerzeit Stefan Kunze, dass August Everding in der Münchener Inszenierung der Zauberflöte (Bayerische Staatsoper, 1978) die Königin der Nacht mit ihren drei Damen bereits vor Taminos Kampf mit der Schlange habe auftreten lassen und dass es nun so wirken müsse, als hätte diese jenen von langer Hand eingefädelt. Die Rettung Taminos aber – »so will es Mozart und so hat er es komponiert«, weiß Kunze – sei keineswegs geplant, sondern geschehe so unvermittelt wie das trugschlüssige As und das Unisono des vollen Orchesters zu den Worten: »Stirb Ungeheu’r, durch unsre Macht«. Auf der Bühne solle es darum auch so und nicht anders zugehen. Die Vorstellung einer vorab durch die Königin der Nacht arrangierten Intrige sei falsch, sie widerspreche der musikalischen Struktur und dem Text gleichermaßen. Jener, weil als »letzte und höchste Instanz« nun einmal »die Partitur zu gelten« habe; diesem, weil die drei Damen doch »erst später […] auf die Idee [kämen], zu ihrer Fürstin zu eilen, ›ihr diese Nachricht zu erteilen‹.«34 Gewiss, da äußert sich auch ein legitimes Interesse an der adäquaten Positionierung der Musik im Musiktheater. Der Gegenstand einer Inszenierung besteht in der Tat nicht nur aus Fabel oder Handlung, sondern die Musik verfügt über eine eigene theatrale Dimension. Folgt daraus aber, dass die Bühne kein autonomer Bereich sei und ihre Bewegungsabläufe synchron abzubilden hätten, was an der musikalischen Basis geschieht? Dass Zeitdivergenzen zwischen den Medien »das Werk« verfälschten? Allenfalls dann, wenn, wie bei Kunze, eine rationale Begrifflichkeit in der Analyse musikalischer Sachverhalte auf unterkomplexe Vorstellungen von theatraler Narration und Choreographie trifft. Eine Textzeile der drei Damen als Begründung dafür auszugeben, dass die Königin der Nacht nicht als »böse Mutter« dargestellt werden dürfe, ist kein seriöses Argument, sondern ein idiosynkratischer Reflex gegen Schauspiel in der Oper. Wissenschaft, die so restriktiv verfährt, spielt eigentlich selbst schlechtes Theater.

Die Priorität des Kompositorischen braucht man auf Dauer nicht zu bestreiten, um anzuerkennen, dass es der Oper im Prinzip gutgetan hat, wenn das Regietheater die alte Vorherrschaft des orchestralen und sängerischen Apparats subvertierte und das Genre so erst wieder zur dramatischen Gattung machte. Und zwar nicht aus Affenliebe für Neues um des Neuen willen, sondern von der Einsicht her, dass die Oper als »lebendes Kunstwerk« ein »unreines« Genre repräsentiert, das danach verlangt, als hochartistische, zuweilen labile Verbindung höchst unterschiedlicher, ja auseinanderstrebender Bauelemente realisiert und rezipiert zu werden. Selbst wenn wir die Dramaturgenfloskeln vom »Aufbrechen« und »Hinterfragen«, vom »Sichtbarmachen der Widersprüche« des Werks heute nicht mehr hören mögen, bleibt die Idee des Regietheaters von der Autonomie des Textes und der Szene gegenüber der Musik im Grundsatz richtig. Sie hat die Reibungen zwischen den unterschiedlichen Techniken und Medien der Bühne denkbar gemacht. Dazu gehört auch das Inszenieren des Subtextes, der »Vorgeschichte« des Textes, das Zeigen dessen, was nicht buchstäblich im Text gesagt ist. In einem Libretto lassen sich Motive eruieren, die sich nicht nur nicht völlig in Töne umsetzen ließen, sondern oft nur nachhaltig reduziert in die Textgestalt eingegangen sind. Insbesondere die Abspaltung des Textes von der Musik durch Kontrast, Fragmentierung und Verdichtung hat das Regietheater zum Vorteil beider Disziplinen vorangetrieben. Aus Sängern, die lange nur als Repräsentanten ihres vokalen Rollenfachs auftraten, wurden Schauspieler, dramatisch agile Charaktere. Die Entdeckung, dass szenische Prozesse der Musik gegenüber einen eigenen Anspruch besitzen, hat politische Interpretationen erst ermöglicht. Genauer gesagt: Das Regietheater hat eine Fülle »kritischer« Deutungen freigesetzt, primär ist es jedoch immer eine künstlerische Angelegenheit geblieben. Politisches war ihm nicht als Reales oder Positionelles relevant, sondern als Materialvorbild, das in eine abstrahierende Form verschoben und verwandelt werden konnte. Mit weltanschaulichen Optionen, seien sie nun rechts oder links, konservativ oder revolutionär, lässt sich keine Inszenierung begründen. Theaterarbeit ist nicht schon darum auf der Höhe der Zeit, weil sie sich ihr ikonographisches Inventar aus irgendwelchen Tagesanzeigern zusammenstellt.

Dem würde auch – Muster 3 – Laurenz Lütteken zustimmen. Nur urteilt er über Details theatraler Prozesse, ohne diese zur Sprache zu bringen. Exemplarisch zeigt sich das an seiner Polemik gegen Peter Konwitschnys Deutung der Schlussansprache des Hans Sachs in den Meistersingern (Hamburger Staatsoper, 2002). Mitten in der berüchtigten Passage im Finale des III. Aktes (ab »Habt Acht! Uns dräuen üble Streich’«) unterbricht Konwitschny den linearen Zeitablauf der Partitur, setzt mit diesem den Gesang aus und lässt die Sänger eine Debatte um Sachsens Chauvinismus anzetteln. Lütteken nennt das in einer vergleichsweise zurückhaltenden Formulierung seiner Philippika »eine Bearbeitung und […] spektakuläre Entmündigung des Textes«.35 Es ist verständlich, wenn an einer solchen inszenatorischen Entscheidung Kritik geübt wird. Dass Konwitschnys Regieverständnis sich gerade hier überschlägt, dieser Meinung kann man sein. Verfehlt ist allerdings, den Partiturschnitt auf den spleenigen Einfall einer Privatperson zu reduzieren und ihm damit jedes Verständnis in der Sache zu verweigern. Zu Konwitschnys Regiestil gehören zwei Dinge: das Inszenieren von Wirkungsgeschichte und der Versuch, aus der Immanenz theatraler Narration herauszutreten, sie von außen sichtbar zu machen. Für Letzteres bietet die Stuttgarter Götterdämmerung (Staatsoper Stuttgart, 2000) eindrückliche Beispiele: in der Nornenszene oder auch in Brünnhildes Schlussgesang. Bei der Ansprache des Hans Sachs treffen beide Momente aufeinander. Seit einem halben Jahrhundert wird um den Passus mit dem »welschen Tand« gestritten: Soll man den Text kürzen oder umschreiben? Oder ihn durch Szenenbild und Personenführung relativieren? Oder das Reaktionäre darin wie auch immer aushalten? Ist es überhaupt »politischer Nationalismus«, der sich da zu Wort meldet? Oder nicht vielmehr eine pessimistische Metaphysik der Kunst, die noch heute angeblich Gültigkeit besitzt? Es gibt keine Zeitungskritik der Meistersinger