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Die junge Su Nuam lebt bei ihren Großeltern in China. In einem China, das ihr völlig fremd ist. Am Verkaufsstand ihres Großvaters schreibt sie zwischen Schüsseln voller Kröten und Schlangen ihre Ängste und Zweifel in ihr Spanischheft. In Buenos Aires aufgewachsen, saß Su Nuam jeden Nachmittag auf derselben verwitterten Kiste und begutachtete die Menschen und den heruntergekommenen Platz vor dem Laden ihres Vaters – bis der Vater ermordet wird und sie die Stadt, das Land und ihre Freunde fluchtartig verlassen muss. Als sie schließlich zusammen mit ihrem Großvater wieder nach Argentinien reist, wird ihr Spanischheft zum Hüter eines dramatischen Geheimnisses – denn Su Nuam muss ihre Kindheit hinter sich lassen und sich zwischen Rache und Gerechtigkeit entscheiden.
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2018
Die junge Su Nuam lebt in einem China, das ihr völlig fremd ist. Aufgewachsen in Buenos Aires, musste sie die Stadt und ihre Freunde eines Tages fluchtartig verlassen. Als sie wieder nach Argentinien reist, wird ihr Tagebuch zum Hüter eines dramatischen Geheimnisses – denn Su Nuam muss sich zwischen Rache und Gerechtigkeit entscheiden.
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Federico Jeanmaire (*1957 in Baradero) studierte Literaturwissenschaften an der Universität von Buenos Aires. Seine Werke wurden in Argentinien u. a. mit dem Premio Clarín ausgezeichnet. Sein Roman Leichter als Luft wurde 2014 vom WDR als Hörspiel adaptiert.
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Peter Kultzen (*1962) studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.
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Federico Jeanmaire
Richtig hohe Absätze
Roman
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
E-Book-Ausgabe
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Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2016 bei Editorial Anagrama, Barcelona.
Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: Tacos altos
© by Federico Jeanmaire 2009
Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit der Literarischen Agentur Mertin, Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Thomas Dworzak (Magnum Photos)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-30999-9
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Inhaltsverzeichnis
RICHTIG HOHE ABSÄTZE
SuzhouGlewMehr über dieses Buch
Federico Jeanmaire: »Die Sprache ist der wichtigste Baustein unserer Identität.«
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Anmerkung des Übersetzers:
Im Chinesischen gibt es keine unterschiedlichen Verbformen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Zeitebenen werden durch Hinzufügen von Wörtern wie gestern, früher, heute, jetzt, morgen, später etc. angegeben. So verfährt auch die chinesische Erzählerin dieser Geschichte.
Himmel und Erde waren in Aufruhr,die Landschaft verschwamm vor dem Auge.
MO YAN, Das rote Kornfeld
Mit der Vergangenheit tue ich mich schwer. Und mit der Zukunft auch. Aber ich bin Chinesin, ich weiß mir immer zu helfen. Trotzdem schimpft die Spanischlehrerin mit mir, und dann gibt sie mir in der Prüfung keine gute Note.
Bin ich Chinesin?
Ich weiß nicht.
Das ist jetzt aber egal.
Im Leben von jedem kommt, glaube ich, irgendwann der Moment, in dem er weiß, wer er ist. Allen Männern und Frauen geht das so. Plötzlich begreifen sie es. Ob das in einem ganz wichtigen Augenblick passiert, oder wenn eigentlich gar nichts Besonderes los ist, ist egal.
Mein Vater begreift es.
Natürlich begreift er es.
Ich bin mir sicher, dass er es begreift. Wann genau, in welchem Augenblick, weiß ich allerdings nicht. Vielleicht irgendwann an dem wahnsinnig langen letzten heißen Tag in Glew, vielleicht aber auch schon viele Jahre davor.
Ich weiß dagegen noch nicht, wer ich bin.
Ich weiß nicht mal, ob ich schon eine Frau bin, oder ob das noch ein Weilchen dauert, wie mein Großvater, der Vater meines Vaters, bei jeder Gelegenheit erklärt.
Aber auch das ist jetzt egal.
Früher oder später bin ich auf jeden Fall eine Frau, wie mein Großvater ankündigt, er sagt, das dauert nicht mehr lange. Die alten Leute erzählen, dass sogar manche Ginsengwurzeln eines schönen Tages Frauen werden, warum soll das bei mir dann nicht so sein?
Und sobald ich eine Frau bin, weiß ich hoffentlich gleich, wer ich bin.
Wer ich wirklich bin.
Jetzt ist mir das aber egal. Obwohl ich mich mit der Vergangenheit schwertue, und mit der Zukunft auch, und manchmal auch mit den Geschlechtern und mit dem Unterschied zwischen Singular und Plural, will ich jetzt unbedingt auf Spanisch über den Platz dort schreiben, um nichts zu vergessen. Über den Platz in Glew.
Ein schrecklicher und schmutziger Ort, der Platz in Glew. So schrecklich und schmutzig wie die enge Gasse hier, wo mein Großvater jeden Tag seine Frösche, Kröten und Schlangen verkauft.
Der Platz ist riesig.
Fast ein Park.
Und er befindet sich genau gegenüber dem Supermarkt meines Vaters. Darum heißt der Supermarkt auch La Plaza, klar. Auf dem Platz stehen viele Bäume. In langen Reihen, zu beiden Seiten. Eine Menge Bäume. In der Mitte stehen auch welche, aber nicht so viele. Schön sind sie alle nicht. Jedenfalls so, wie sie dastehen.
Schmutzig, alt, abgewetzt.
Man könnte meinen, sie stehen nur da, weil sie müssen.
Sie stehen da, weil irgendein Beamter gesagt bekommt, er soll eine bestimmte Fläche in einen Platz verwandeln, und er sagt sich, dass ein Platz kein richtiger Platz ist, wenn er nicht ein paar Bäume darauf verteilt. Und Bänke, natürlich. Also verteilt er auch ein paar Bänke darauf. Damit die Leute, die ringsum in dem Viertel wohnen, sich im Sommer in den Schatten setzen können.
Die Bänke sind sehr hässlich.
Aus Beton, kein bisschen schön.
Ich bringe viele Stunden meines Lebens damit zu, mir den hässlichen Platz anzusehen. Mehr Stunden, als ich zählen kann. Immer wenn keine Kunden da sind, oder wenn meine Eltern streiten und sich anschreien. Ich setze mich auf eine Holzkiste neben dem Eingang vom Supermarkt und sehe mir den Platz an. Hässlich heißt nicht unbedingt langweilig – die Straße hier, wo mein Großvater jeden Morgen seine drei Plastikschüsseln voller Frösche, Kröten und Schlangen aufstellt, ist hässlich und schmutzig, aber nicht langweilig. Im Gegenteil. Der hässliche Platz in Glew aber ist unerträglich langweilig. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich den größten Teil meines Lebens damit zubringe, auf einer nicht gerade bequemen Holzkiste zu sitzen und mir den Platz anzusehen.
Gibt es Frösche auf dem Platz?
Kröten?
Schlangen?
Ich weiß es nicht.
Ich sehe immer bloß die Bäume und die Bänke und das bisschen trockene Gras und Unkraut, das überall hervorsprießt. Nein. Stimmt nicht. Nicht überall. Das Unkraut wächst genau unter den Betonbänken. Und nie in der Nähe der Bäume. Falls es hier Frösche, Kröten oder Schlangen gibt, müsste ich sie von meiner Holzkiste aus sehen, nehme ich an. Allzu viele Stellen, wo die Tierchen sich verstecken könnten, gibt es hier nicht. Auf dem größten Teil des Platzes gibt es nicht mal Gras.
Dass der Platz so hässlich ist, ist traurig.
Und ich habe fest vor, nicht zu lügen. Wenigstens nicht hier auf diesen Seiten.
Wenn ich dasitze und mir den Platz von Glew ansehe, werde ich traurig. Manchmal laufen mir sogar ein paar Tränen übers Gesicht. Nicht, weil keine Kunden im Supermarkt sind oder meine Eltern sich wenige Meter von mir entfernt anschreien. Nein, es liegt an dem Platz und an mir, dass mir die Tränen übers Gesicht laufen. Oder vielmehr daran, dass so vieles, das schön sein könnte, nicht schön ist, weil die Leute, die die Möglichkeit haben, aus einem Ort oder einer Sache etwas Schönes zu machen, zu faul sind oder keine Zeit oder keine Lust haben, und darum machen sie es nicht.
Am Tag nach ihrer Hochzeit ziehen die Eltern meines Vaters nach Suzhou. Sie kommen in einem kleinen Dorf ein paar Kilometer nordwestlich von Xian zur Welt. Sie entdecken sich gegenseitig bei der Reisernte, und ihre Eltern verabreden, dass sie heiraten sollen. Aber nicht sofort, wie Lin Shi erklärt. Es dauert eine Weile. Erst nach langen, langen Diskussionen ist es so weit. Dabei geht es nicht um Klassenunterschiede, beide sind aus Bauernfamilien, die sich schon immer kennen. Es geht darum, dass mein Großvater Lin An Bo fest entschlossen ist, in den Osten zu ziehen. Er möchte nicht dort bleiben, wo seine Familie jetzt wohnt und seit vielen Jahrhunderten ein großer Teil seiner Vorfahren stirbt. Als er, ein paar Jahre früher, Fotos in einer Zeitschrift sieht, verliebt er sich in die Kanäle und den See von Suzhou. Er kann sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben, es muss unbedingt Suzhou sein. Außerdem bedeutet sein Name An Bo auf Mandarin »Sanfte Welle«, deshalb ist er, wie er findet, von Geburt an dazu bestimmt, auf den ruhigen Wassern der Kanäle von Suzhou zu wandeln.
Es ist eine Zeit der Veränderungen.
Mao lebt noch.
Und seine Kulturrevolution lebt auch noch.
Darum beugen sich die Eltern meiner Großmutter zuletzt widerwillig Lin An Bos Entschluss. Sie möchten nicht als Konterrevolutionäre bezeichnet werden. Das Dorf ist klein, und was die Leute sagen, dringt schnell zu Ohren, zu denen es nicht dringen soll. Es sind gefährliche Zeiten, die Politik entscheidet über Leben und Tod.
Als sie frisch verheiratet sind, ziehen meine Großeltern also nach Suzhou. Allerdings ziemlich weit weg von den Kanälen und dem großen See, dem Tai Hu. In eins der riesigen mehrstöckigen Häuser, die seit Kurzem überall an den Stadträndern gebaut werden. In das Haus, in dem später mein Vater zur Welt kommt, in dem meine Großeltern immer noch wohnen, und ich jetzt auch.
In einem ganz ähnlichen Haus wohne ich mit meinen Eltern in Glew.
»Monoblocks« heißen solche Häuser in Argentinien.
Mein Großvater erzählt, dass er auf die Idee mit den Fröschen, Kröten und Schlangen kommt, als ihm klar wird, dass er seine Familie, sein Dorf und seine Vergangenheit für den Traum zurücklässt, in der Nähe der Kanäle oder des großen Sees von Suzhou zu wohnen, die Kanäle oder den See aber fast nie zu sehen bekommt, weil sein täglicher Arbeitsweg ihn bloß von dem Monoblock zu der Schuhfabrik, in der er arbeitet, und von der Fabrik wieder zurück zum Monoblock führt. Ziemlich weit weg vom Wasser und den Schiffen. Nur an den freien Tagen kann er mit meiner Großmutter dort spazieren gehen. Das ist ziemlich selten, weil er fast nie am selben Tag freihat wie sie – meine Großmutter findet eine Stelle in einer Textilfabrik. Noch komplizierter wird das mit den Spaziergängen an den Kanälen außerdem, weil schon ganz bald mein Vater Lin Jang Xian zur Welt kommt.
Lin An Bo möchte nicht, dass ich eine der Schüsseln, die er nicht benutzt, am Ufer des großen Kanals umdrehe und mich daraufsetze, um zu schreiben. Das gefällt ihm nicht. Da wird er böse. So was gehört sich nicht für ein Mädchen, schimpft er, und schon gar nicht an diesem Ort. Außerdem ist jetzt Winter, sagt er, und es ist viel zu kalt, um stundenlang am Kanal zu sitzen. Ich glaube, er hat Angst. Vor dem, was er nicht versteht. Vor dem, womit er nicht umgehen kann.
Mein Großvater ist ein Mann.
Dagegen kann ich nichts machen.
Und weil ich nichts dagegen machen kann, schreibe ich einfach weiter, so kalt es auch ist. Und höre nicht auf ihn. Wenn ich merke, dass er mich ansieht, lächle ich ihn an. Ich bin fast eine Frau, wie er selbst sagt. Und dagegen kann er leider auch nichts machen.
Armer An Bo.
Ich erkläre ihm noch einmal, dass ich mein Spanisch nicht vergessen will, und dass ich vorhabe, möglichst bald als Touristenführerin zu arbeiten, und dass man damit sehr viel Geld verdienen kann und in Suzhou kaum jemand gut Spanisch spricht, und dass ich mich sogar schon beim örtlichen Tourismusverband und mehreren Fünf-Sterne-Hotels bewerbe. Und dass er es, weil ich auf einer seiner Schüsseln sitze und schreibe, im Alter viel besser hat und ihm in der Zukunft nichts fehlt. Dass er mich also schreiben lassen soll, und dass ich ihm dafür eines Tages ein schönes Haus mit Blick auf die Kanäle oder den Tai Hu kaufen kann.
Armer An Bo.
Er glaubt mir kein Wort.
Er hat Angst vor mir. Vielleicht hat er da auch recht. Wenn er zum Steg rudert, der am wenigsten weit von unserem Monoblock entfernt ist, sitzt er mit dem Rücken zu mir und sagt leise: »Das, was es schon immer gibt, bleibt auch immer. Die Frösche, Kröten und Schlangen zum Beispiel. Aber was es erst jetzt gibt, das bleibt nicht für immer.« Ich weiß genau, was er sagen will – er meint die Touristen, klar, auch wenn er das nicht extra ausspricht. Ich sage nichts dazu. Lieber nicht. Die Männer, die ich kenne, mögen es nicht, wenn Mädchen, oder Mädchen, die fast schon Frauen sind, ihnen widersprechen.
Ich lese noch einmal durch, was ich schreibe, seit ich am Ufer des großen Kanals auf der umgedrehten Schüssel sitze. Ich glaube nicht, dass die Zeitformen, mit denen man schreibt, was man schreiben muss, so wichtig sind, wie die Spanischlehrerin behauptet, die vor der Klasse steht und schreit. Alles, was passieren muss, passiert. Und es wird auch so völlig klar. Da liegt die Lehrerin falsch. Ich bin zwar Chinesin, aber die Noten, die ich am Ende des zweiten Jahres in der Sekundarschule bekomme, müssten viel besser sein.
Finde ich.
Ich heiße Su Nuam.
Su hat mit Respekt zu tun, mit Achtung. Aber auch mit dem, was flach ist, mit der Ebene. Und Nuam bedeutet auf Spanisch so viel wie genial oder warm oder heiß.
Lin Su Nuam.
Die heiße Ebene.
Das bin ich. Die einzige Tochter meines Vaters und meiner Mutter.
Su Nuam.
In der Vergangenheit nennen mich die Kunden im Supermarkt und meine Klassenkameraden und die Leute aus der Gegend rings um den Platz von Glew allerdings Sonia. Das ist leichter, einfacher. Wenn sie etwas völlig Unbekanntes aufnehmen sollen, klammern sich viele Menschen offenbar an das, was sie schon kennen. Was die verflixten Zeitformen angeht, mache ich das wahrscheinlich auch so.
Dort also Sonia Lin. Und hier Lin Su Nuam.
Ich.
Ich und noch mal ich.
Soweit ich mich erinnere, sitze ich nie auf einer von den Betonbänken auf dem Platz von Glew. Ich glaube, im Grunde habe ich Angst, dass ich genauso hässlich werde wie sie, wenn ich eine Weile darauf zubringe. Unweigerlich. Und das möchte ich nicht. Um nichts auf der Welt möchte ich das. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, hier in Suzhou, auf der Plastikschüssel meines Großvaters, am Ufer des großen Kanals, am Ende der Marktstraße, sage ich mir, dass man in jedem Fall von den Betonbänken aus auch keinen schöneren Blick hat als von der Holzkiste vor dem Laden.
Weil es immer wieder zu Raubüberfällen und Plünderungen kommt, hat der niedrige Schuppen, in dem der Supermarkt untergebracht ist, ein Gitter und eine Eisentür, die man ganz schnell zumachen kann, wenn man merkt, dass es irgendwo in der Nähe Probleme gibt.
Das alles sieht sehr hässlich aus.
So hässlich wie der Platz, oder noch hässlicher.
Und im entscheidenden Augenblick zeigt sich, dass das Gitter und die dicke Eisentür kein bisschen weiterhelfen.
An dem drückend heißen Morgen, der so anders ist als die eisigen Morgen hier in Suzhou, wacht mein Vater wie fast an jedem Tag hinten im Lager des Supermarkts auf, wo die ganzen Kisten stehen. Normalerweise schläft Lin Jang Xian dort und fast nie bei mir und meiner Mutter im Monoblock. Er muss auf das Geschäft aufpassen. Sagt er. Damit keiner auf die Idee kommt, ihm seine Sachen zu klauen. Warnt er. Dort hat er seine Matratze und sein Kissen und seine Decken. Und natürlich auch seine Pistole, Kaliber .22. Griffbereit.