Riemenschneider - Tilman Röhrig - E-Book

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Tilman Röhrig

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Beschreibung

Würzburg, 1492. Feierlich werden die Skulpturen von Adam und Eva vor dem Eingang der Marienkapelle enthüllt. Doch diesmal ist der Bildschnitzer Tilman Riemenschneider zu weit gegangen: Eine Bäuerin hat ihm Modell gestanden – nackt. Ein Skandal! Die Gemüter erhitzen sich. Dabei ahnt noch niemand, welch viel gewaltigeres Beben die Stadt in den nächsten Jahren erwartet, dass Reformation und Bauernkriege die bestehende Ordnung in ihren Grundfesten erschüttern werden. Bald muss auch Meister Riemenschneider um sein Leben kämpfen …

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Tilman Röhrig

Riemenschneider

Historischer Roman

Piper München Zürich

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www.piper.de

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

2. Auflage Mai 2010

© Tilman Röhrig und Piper Verlag GmbH, München 2007

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung

der Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

Umschlagkonzeption: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur Zürich,

unter Verwendung eines Bildes von akg-images

Karten: cartomedia, Karlsruhe

1

Wind kam auf. Er trieb eine Wolke vor sich her, eine Wolke aus Staub und Dornen … Lauter wurde das Brausen … Im Innern entstand Glut, sie wucherte, jetzt flimmerte der Staub, kleine Flammen sprangen aus den Dornenspitzen … Ein Arm wuchs hinaus, die Hand öffnete sich, streckte den Zeigefinger … Da brannte die Wolke, verbrannte der Arm, verglühte der Finger; ein Tropfen blieb … und fiel.

Meister Til wischte sich über die Stirn, er hielt die Augen geschlossen. Stickig und schwer war die Luft in der Schlafstube. Das Traumbild verließ ihn nicht. Wieder sah er das Flirren in der Wolke, hörte das Brausen. »Bescheide dich«, flüsterte er. »Kein himmlischer Bote, der Rat hat dir den Auftrag gegeben. Nur die Herren vom Stadtrat …« Neben ihm seufzte seine Frau Anna im Schlaf, drehte sich schwer zur Seite. Wie ertappt schwieg Til, erst als sie den Atem wieder geräuschvoll und gleichmäßig durch die Lippen blies, öffnete er die Lider. Durch die Ritzen der Schlagläden schimmerte grau der Morgen. Was für ein Tag! Durfte er das Wagnis eingehen?

»Nackt?« »Ja, nackt sollen sie sein!« Unvermittelt war Tumult in der Ratssitzung entstanden. »Nackte vor dem Eingang?«, ereiferten sich einige fromme Gemüter und erhitzten sich: »Unsere Marienkapelle ist kein Frauenhaus!« Hohngelächter der anderen Stadtväter antwortete: »Nackt. Wie denn sonst?«

Mit erhobenen Händen versuchte der oberste Bürgermeister zu beschwichtigen, erst die Glocke verschaffte ihm Gehör: »Freunde! Werte Herren! Auch wenn das Wort erneut einige von uns erschreckt. Es muss so sein. Denkt doch ans Paradies, ans Feigenblatt.« Geschickt nutzte er die Erleichterung. »Außerdem will ich ihn ohne Bart. Nicht nur der Meister, auch ich will es! Sein Vorschlag ist gut. Ja, jung sollen die beiden sein.« Keine Proteste mehr, die Abstimmung brachte den Beweis, der Fortschritt hatte in Würzburg gesiegt. Und nur einer konnte das erste Menschenpaar erschaffen, darin waren sich die Herren nach wie vor einig.

Ohne seine Frau zu wecken, befreite sich Meister Til von der dünnen Zudecke, fand mit den Füßen die Maulschuhe, blieb aber auf der Bettkante sitzen. »Jetzt haben wir Anfang Mai«, rechnete er. »Vier Monate sind’s her. Keine lange Zeit für den Adam.« Sicher, es wäre leicht gewesen, eine Figur angetan mit Gewändern aus dem Sandstein zu hauen, und noch leichter, wenn er Holz statt Stein bearbeitet hätte. Aber den bloßen jungen Leib? »Und für einen Moment glaubte ich …« Er schüttelte über sich selbst den Kopf und schmunzelte. Damals war er noch abends spät, nur bekleidet mit dem Hausmantel, hinüber in die Werkstatt gegangen, hatte Lampen rechts und links des Spiegels gehängt und das Kleidungsstück abgelegt. Wähnt sich ein Mann von gut dreißig Jahren auch immer noch jung, der Blick des Künstlers entschuldigt keinen Makel. Til tätschelte seinen Bauch und lachte vor sich hin. »Nein, als Adam war ich mir zu unansehnlich.«

In seinem Rücken raschelte Stoff, die Matratze bebte. »Schäm dich!« Mit dem Vorwurf reinigte sich die Stimme seiner Frau vom Schlaf, wurde spitzer: »Du freust dich wohl, kannst es erst gar nicht abwarten?« Ein Aufstöhnen folgte. »O Heilige Mutter, wäre ich doch Witwe geblieben. Warum hast du es zugelassen, dass ich diesen Mann geheiratet habe?«

Meister Til bewegte sich nicht, er schwieg und wartete ab. Ihre Anklage war noch nicht beendet. Seit Tagen schon kannte er Satz für Satz und musste jeden über sich ergehen lassen, um nicht neue Sätze heraufzubeschwören.

»Holt sich ein Weib in die Werkstatt. Ein Bauernweib. Ich hoffe nur, dass mein Goldschmied, Gott hab ihn selig, dass mein Ewald heute nicht von oben zusieht, wie das Laster in unser Haus einzieht. Du willst ein ehrbarer Schnitzer sein? Alle hast du getäuscht mit deinen Heiligenfiguren, mit der schönen Muttergottes für die Prozession.« Ein Aufschluchzen, die Stimme sank von der Anklage zur Klage. »Und ich hab so fest an dich geglaubt, war stolz … stolz auf meinen Tilman Riemenschneider. Heute aber legt er die Maske ab. Und drunter steckt ein Lüstling …« Der Satz erstickte im nächsten Schluchzer. Stille.

Immer noch hütete er sich, etwas zu erwidern.

Frau Anna schlug mit den flachen Händen auf die Matratze, ihr Ton fand zur Schärfe zurück: »Wohin soll das führen? Erst müssen sich die Söhne meines Ewald vor dir ausziehen, meine drei Buben. Einer nach dem anderen. Aber sie waren dir nicht gut genug …«

»Zu dünn«, verbesserte er.

»Was?«

»Gut sind sie schon, aber sie sind mir zu dünn.« Meister Til wandte den Kopf und sprach ins Halbdunkel zu dem hellen Fleck des Nachthemdes. »Nur deshalb hab ich den Gesellen genommen. Der Tobias, der ist so ein Adam, so wollte ich den Körper haben.«

»Und was ist an diesem Weib besser? Was hat sie, was du nicht auch bei mir sehen kannst? Sag es mir.«

»Du bist …« Gerade noch rechtzeitig stockte er. »Weißt du, so eine Eva. Also, ich glaube nicht, dass der Schöpfer bei der Erschaffung der Menschen gleich solch eine reife Frau … Ich will sagen, dass du mir eine gute Frau bist, aber für die Eva …«

»Sag es doch! Ich bin zu fett.« Sie rutschte zur unteren Bettkante, der Nachttopf schepperte, es kümmerte Anna nicht, mit bloßen Füßen stampfte sie um das Lager herum, neben Til hielt die mächtige Gestalt an. »Ausreden! Mal zu dünn, dann wieder zu alt und zu dick. Ich sag dir was, Mann: Schlecht ist es, was du heute vorhast, und eine Sünde.« Sie stieß die Tür auf und schlug sie hinter sich zu. Von draußen hörte Til noch: »Jawohl, eine Sünde.«

Das morgendliche Unwetter war vorüber. »Besser jetzt als nachher, wenn Magdalena da ist.«

Er stand auf, in wenigen Schritten war er am Fenster, schob es hoch und öffnete mit beiden Händen langsam die Schlagläden. Licht flutete. »Willkommen.« Tief einatmend begrüßte er den klaren Morgen und kämmte mit den Fingern seine volle kupferfarbene Lockenmähne hinter die Ohren zurück. Unter ihm lag die Franziskanergasse noch im Schatten; auf den niedrigen Dächern gegenüber aber ließ die frühe Sonne den Tau funkeln. »Willkommen.« Dieser Gruß galt nicht dem Tag. Als es ihm auffiel, stahl sich wieder ein Lächeln in die Mundwinkel. »Ich gestehe es ja: Ich freue mich wirklich.«

Magdalena. Letzte Woche hatte er wieder das Pferd gesattelt, zum dritten Mal nun schon im April. »Will nach unserm Weinberg sehen«, so hatte er sich von Anna verabschiedet, »und danach auf dem Land ein wenig freie Luft atmen.«

Erneut eine Ausrede, doch wie die beiden Male zuvor bemerkte es seine Frau nicht. Zu sehr war sie mit Haus und Kindern beschäftigt. Kurzatmig flocht sie der gemeinsamen siebenjährigen Tochter Gertrud die Zöpfe und sah nur flüchtig über die Schulter. »Der Ritt wird dir guttun. Bei all dem Staub in der Werkstatt wirst du noch krank.« Und weil sie niemanden, ob nun Mann, Kind oder Geselle vom Hof Wolfmannsziechlein fortlassen konnte, ohne ihm einen Auftrag zu erteilen, setzte sie hinzu: »Aber bring uns einen Korb frisches Gras für die Hasen mit. Das vom Weinberg, das fressen sie so gern.«

Er war zum Hauger Tor in den Tag hinaus geritten. An den Rebstöcken brachen die Knospen auf, zeigten ihr Hellgrün der Sonne. »Ich hoffe auf einen guten Sommer. Für den Wein und auch für mich.« Keinen Blick verschwendete er fürs Hasenfutter und lenkte das Pferd weiter. »Bis zur Lese muss ich meinen Auftrag erfüllt haben.«

Heute nahm er sich vor, dem großen Lehnshof nahe Unterpleichfeld einen Besuch abzustatten. Oben auf der Höhe ließ er das Pferd traben. Seine Eva wollte er finden; eine, die unschuldig war oder wenigstens so aussah. »Unter den heiratsfähigen Jungfrauen in der Bürgerschaft gibt’s bestimmt die eine oder andere.« Er rundete die vollen Lippen und schüttelte den Kopf. Allein schon die Frage wäre ein unsittlicher Antrag und hätte in Würzburg einen Skandal ausgelöst.

»Welch eine Ehre. Der berühmte Bildschnitzer in meinem Haus.« Freundlich wurde er vom Verwalter begrüßt und bewirtet. Nur zu gern ließ sich Meister Til herumführen, lobte die Sauberkeit von Küche und Stallungen, während er unauffällig die Mägde betrachtete. Keine jedoch entsprach seiner Vorstellung.

Auf dem Rückweg durchs benachbarte Tal nagte Zweifel an ihm. »Du willst zu viel. Der Fehler liegt bei dir. Eva ist nicht unschuldig. Das ist es.« Gleich kamen ihm die Dirnen in Paulsen Wolfs Haus in den Sinn. »Für Geld stellt sich mir jede von denen zur Verfügung.« Nein, Gott bewahre, so eine darf ich meinem Adam nicht geben.

Ratlos, in Gedanken versunken, ritt er an einem ärmlichen Gehöft vorbei. Hühner flüchteten, ein Hund kläffte den Reiter an. Kaum nahm er es wahr. Hinter dem kleinen Haus führte der Weg wieder dichter am Bach entlang. Das klatschende Geräusch ganz in der Nähe schreckte ihn auf. Mit dem Rücken zu ihm stand eine Frau im seichten Wasser und schlug die Wäsche. »Gott zum Gruß.«

Sie wandte sich um und schaute auf. Ihr Blick war der Anfang gewesen.

Meister Til stützte beide Hände auf den Fenstersims und beugte sich vor. Niemand stand unten in der Gasse. »Es ist noch zu früh«, ermahnte er sich. Erst nach dem Morgenläuten werden die Stadttore geöffnet. »Der Bauer wird Wort halten, er wird seine Frau schon herbringen.«

Weil er nicht mehr gefragt hatte, wusste er nicht viel von Magdalena, nur dass sie erst im vergangenen Winter geheiratet hatte, dass sie die zweite Frau des Bauern war und dass trotz harter Arbeit kaum genug zum Leben übrig blieb. Angesehen hatte er sie. Keine strahlende Schönheit, aber Frau in jeder Geste, dennoch nicht erfahren. »Willst du mir Modell stehen?«

Sie hatte vorsichtig gelächelt, und mit dem Lächeln glitt helle Unschuld über ihr Gesicht, ließ das Grünblau der Augen aufleuchten. »Was heißt das?« Doch als sie begriff, erlosch das Strahlen. »Ich bin nicht so eine, Herr.«

»Dann hätte ich auch nicht gefragt.« Schwungvoll stieg Meister Til vom Pferd. Zu eilig, denn gleich hastete sie aus dem seichten Wasser und zog sich einige Schritte in Richtung des Bauernhauses zurück.

»So bleib doch. Bitte!« Der warme Klang seiner Stimme ließ Magdalena zögern.

»Es soll die Eva sein. Vor dem Südportal der Marienkapelle wird sie stehen, zusammen mit dem Adam.«

»Aber ich kann mich doch nicht so vor allen Leuten zeigen. Ich mein, so ohne was …« »Das musst du auch nicht.« Er bemühte sich, ernst zu bleiben, und zeigte ihr seine offenen Hände. »Ich werde ein Abbild von dir aus Stein schaffen.«

»Aber, Herr, wir leben hier. Und wenn unsere Nachbarn in Würzburg auf dem Markt sind und vor dem Heimweg schnell noch beten wollen? Dann erkennen die mich doch an der Tür von der Marienkapelle.«

»Nein, hab keine Furcht. Ich werde dein Gesicht verändern. Niemand wird dich in der Eva sehen. Außer deinem Mann …«, er zögerte, » … und mir.« Mit gewinnender Aufrichtigkeit setzte er hinzu. »Und ich betrachte dich nur mit den Augen eines Bildschnitzers.«

Eine Weile prüfte Magdalena sein Gesicht. »Ich muss fragen. Wartet, Herr.«

Bald kam sie zurück. Wenige Schritte hinter ihr folgte der Bauer. Jakob Lebart, ein ausgemergelter Mann, fast doppelt so alt wie Magdalena, tief lagen die Augen in den Höhlen. »Reitet weiter, Herr. Für so was hat meine Frau keine Zeit. Wir müssen arbeiten. Die Pfaffen vom Kloster nehmen uns fast alles weg …«

»Ich zahle einen Gulden.«

Der Bauer ballte die Faust, starrte den Fremden an. »Treibt keinen Scherz mit uns.«

»Mein Wort. Ich zahle einen Gulden, wenn deine Frau nach Würzburg zum Hof Wolfmannsziechlein in die Franziskanergasse kommt und mir Modell steht. Vielleicht benötige ich sie zwei Tage, mehr nicht. Überleg es dir.«

»Wenn es wahr ist, Herr, dann gibt es nichts zu überlegen.« Jakob betastete mit beiden Händen seine Wangenknochen, als wollte er sichergehen, dass er nicht träumte. »Das ist mehr, als wir im ganzen Sommer vom Feld heimbringen. Sagt, dass es wahr ist, Herr.«

Meister Til nahm einen Schilling aus der Gürteltasche und reichte ihn dem Bauern. »Nimm, mein Freund. Nur zum Beweis, dass ich es ehrlich meine. Den Gulden gibt es dennoch.« Er stieg wieder in den Sattel. »Sorge dafür, dass deine Frau nächste Woche zu mir in die Werkstatt kommt. Das ist der erste Dienstag im Mai.«

»Du kannst dich auf uns verlassen, Herr.« Jakob hatte den Schatz zwischen den schwieligen Fingern gerieben. »Ich … ich werde Magdalena selbst hinbringen.«

Sie sagte nichts zum Abschied, hob nur das Gesicht zu ihm auf, und Til hatte ihr Lächeln als Versprechen mit auf den Heimritt genommen.

»Erst eine Woche ist es her.« Unmerklich schüttelte er den Kopf. »Kaum zu glauben, aber mir ist, als kenne ich sie schon seit Langem. Als wäre bei der kurzen Begegnung ihr Bild in mir erwacht …«

Draußen vor der Schlafkammer hörte er eilige Schritte. »Vater!«, rief Gertrud, stieß die Tür auf. »Vater! Schnell!« Die Tochter war bei ihm, schluckte und schluchzte: »Komm schnell … Mama blutet.«

Mit hastigem Griff hob Til das Mädchen auf, war schon unterwegs. »Wo, Kind? Wo ist die Mutter?«

»In der Küche.« Die Kleine verbarg das Gesicht an seiner Brust. »Und Mama schnauft so.«

Die Wendeltreppe vom ersten Stock hinunter, zwei Stufen auf einmal, nur die linke Hand am Geländer gab Sicherheit, der lange Flur zum hinteren Teil des Hauses war düster, weit stand die Küchentür offen.

»Anna!«

Immer noch mit dem Nachthemd bekleidet, hockte sie in sich zusammengesunken nahe dem Tisch auf einem Stuhl, den Kopf über die ausladende Wölbung der Brüste geneigt, schlaff hingen die Arme, ihre rechte Hand stützte sich schwach auf den Blasebalg neben dem ausgestreckten nackten Bein. Blut quoll aus einer Wunde am Knie, aderte langsam über Schienbein und Wade und stockte schon an der Fessel.

Erleichtert setzte Til das Mädchen ab. »Meine gute Anna.«

Keine Antwort. Behutsam näherte er sich und legte die Hand auf ihre Schulter. »Was ist dir?«

Der mitfühlende Ton flößte Leben ein. »Das Herz, es ist das Herz«, flüsterte sie. »Erst war es nur ein Stich wie bei der Pfingstprozession, weißt du noch … Und vorhin wollte ich gerade das Feuer anblasen, da stach es immer wieder, so mitten in die Brust. Vor Schmerz bin ich gegen die Ecke vom Herd gestoßen … Ach, Liebster.« Sie wandte den Kopf, schmiegte die Wange an seine Hand. »Dann ist mir ganz schlecht geworden.«

Das Kind staunte mit geweiteten Augen die Eltern an. Til sah die Angst, wollte beruhigen, unterließ es aber, weil jedes Leid seiner Frau, und sei es auch noch so klein, nicht rasch geschmälert werden durfte. So gab er Gertrud den Auftrag, das Riechfläschchen drüben aus dem Wandregal herzubringen und den Kork herauszuziehen. »Nun halt es der Mutter unter die Nase. Aber vorsichtig.«

Beißender Geruch vermischt mit Lavendel breitete sich in der Küche aus. Anna nahm nur einen Atemzug der Dämpfe, ihr Kopf fuhr zurück. »Weg damit, Kind.« Sie kniff die Augen zusammen, rang vergeblich nach frischer Luft. »Willst du mich vergiften?« Husten folgte. »Weg damit. Sofort. Hörst du!«

Nun völlig verwirrt, begann Gertrud zu weinen. Der Vater nahm ihr das Fläschchen vorsichtig aus der Hand und verschloss es wieder. »Du hast der Mutter geholfen«, tröstete er leise. »Nun ist sie wieder gesund.« Damit ging er durch die Küche und stellte das Riechsalz zurück an seinen Platz. Als er sich umwandte, war Gertrud hinausgelaufen. Anna saß aufrecht da, den Blasebalg an die Brust gepresst, empfing sie ihn mit wehem Blick. »Tu es nicht, Mann! Ich bitte dich, lass kein fremdes Weib in deine Werkstatt.«

Eine steile Falte wuchs ihm zwischen den Brauen. »Es ist entschieden. Und damit soll es gut sein.«

»Wie redest du mit mir?« Ihr Busen hob und senkte sich. »Alles, was du besitzt, hast du von mir und meinem seligen Ewald. Das Haus, die Werkstatt. Und Meister bist du nur geworden, weil ich erlaubt habe, dass du mich heiratest …«

»Genug jetzt, Anna! Nicht schon wieder.« Er schloss die Augen, versuchte den Zorn zu unterdrücken. »Versteh doch: Adam und Eva sind mein erster großer Auftrag vom Stadtrat. Ich muss und werde das Menschenpaar aus dem Stein hauen, so schön, wie es noch nie vorher geschaffen wurde. Und nur damit die Arbeit gelingt, kommt Magdalena heute hierher.«

»Wie du den Namen schon sagst …«

»Bitte schweig! Wenn du weiter streitest, habe ich nachher keine ruhige Hand. Dann muss sie häufiger kommen, als wir ausgemacht haben.«

Diese Bedrohung zeigte Wirkung. Anna öffnete und schloss wortlos wieder den Mund.

Ohne den kleinen Sieg auszukosten, fragte er: »Soll ich dein Knie verbinden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Beeil dich, sonst hast du nur das Hemd an, wenn diese …« Nein, kein neuer Vorwurf, tapfer ergänzte sie: »Gleich kommen die Mägde und deine Gesellen vom Speicher runter, auch meine Buben. Ich muss das Feuer anfachen für den Brei.« Das Leid schwang in der Stimme mit. »Ankleiden muss ich mich. Und meine Wunde versorge ich selbst. Ach, Riemenschneider, was für ein trauriger Morgen.«

Alle Hausbewohner hatten sich im geräumigen Speisesaal um den Tisch versammelt. Mit gesenktem Kopf, Nase und Lippen berührten die zusammengelegten Hände, lauschten sie dem Gebet. Meister Til sprach langsam und fest, sein Amen schwang kräftiger als gewöhnlich zur getäfelten Decke hinauf. Stumm nahm jeder seinen Platz ein. An den Kopfenden saßen sich Hausfrau und Hausherr gegenüber. Gertrud hockte links der Mutter, die drei schmalbrüstigen Söhne zu ihrer Rechten, zwei von ihnen spross bereits dichter Flaum an Oberlippe und Kinn.

Warten, bis der Vater sich genommen hatte. Und er verlangte von jedem Geduld, achtete streng auf die Sitten bei Tisch: Wer sich zu gierig benahm, der musste aufstehen, der durfte erst nach der Mahlzeit essen, was übrig geblieben war. Dies war die Regel, doch bisher hatte niemand die Strafe vollends abbüßen müssen. Stets hatte ihn nach kurzer Zeit ein mitleidiger Wink wieder zurück auf den Hocker befohlen. So verlockte das väterliche Gebot zum Ungehorsam. Den Blick fest auf ihn gerichtet, schoben Gertrud und der jüngste Bruder so unauffällig wie möglich ihre Essnäpfe zur dampfenden Schüssel hin. Von den vier Mägden neben ihnen drohte kein Verrat, auch nicht von den älteren Brüdern. Tobias und die beiden anderen Gesellen unterstützten sogar das Spiel, beugten sich vor und behinderten die freie Sicht über den Tisch.

Endlich stellte der Meister seine gefüllte Schale vor sich hin, da schnappten die Finger gleichzeitig nach der Kelle. Der Bruder umklammerte als Erster den Stiel, und wie immer hatte Gertrud verloren. »Du bist gemein.«

»Still!«, ermahnte die Mutter. Mit erhobener Hand drohte sie ihrem Sohn, nahm den Schöpfer an sich und teilte den Brei aus.

Eine Zeit lang schabten nur die Löffel in den Holznäpfen, dann räusperte sich Meister Til vernehmlich. »Wie ihr wisst, erwarte ich heute eine Frau. Eine Bäuerin.« Er sah in die Runde. »Sobald sie da ist, darf keiner von euch mehr die Werkstatt betreten. Habt ihr mich verstanden: Ich will keine Störung.«

»Aber, Riemenschneider …« Anna schnaufte, verschluckte den Satz und presste die Lippen aufeinander.

»Aber, Meister«, neben ihm warf Tobias mit Schwung das dunkle Lockenhaar zurück, »ich muss doch dabei sein. Du hast mir versprochen, dass ich bei der Eva mitarbeiten darf …«

»Zur Hand gehen«, verbesserte er, »nur zur Hand gehen, und das wirst du auch. Aber glaub nicht, weil du der Adam bist, wärst du schon so weit, die Eva zu schaffen. Nein, keine Widerworte. Ich weiß, was ich sage.« Til fasste ihn an der Schulter, wohlmeinender Spott schwang im Ton mit: »Aber du sollst für deine Eva sorgen. Geh rüber und entzünde Feuer. Nicht in der Steinhalle. Die Schnitzwerkstatt wird schneller warm.«

Gehorsam verließ Tobias den Tisch, war schon an der Tür, als der Meister ihm nachrief: »Und stell das Zeichenbrett auf. Denk auch an genügend Papier!«

Ein Blick hinüber zu seiner Frau. Anna stemmte bereits beide Fäuste auf die Tischplatte, schnell wandte er sich an die anderen Gesellen: »Ihr werdet heute Zeit haben, das Steinlager beim Stall aufzuräumen und zu ordnen. Die großen Blöcke kommen nach hinten. Deckt sie nachher gut mit den Leinenplanen ab.« Seine Frau hob und senkte den Busen. Er ließ keine Pause: »Wenn Tobias zurück ist, beginnt ihr. Und haltet mir die Knaben in Schach. Ich will nicht, dass sie zu den Werkstattfenstern hochklettern. Das Beste wäre, ihr fangt die kleinen Teufel gleich am Tor ab, sobald sie auftauchen. Nehmt sie mit zu den Steinen. Schadet nichts, wenn sie vom Arbeiten mal Blasen an den Händen bekommen. Und merkt euch, wer von ihnen der Fleißigste ist, den nehme ich vielleicht zum neuen Lehrbuben. Und …« Weil ihm kein weiterer Auftrag für die Gesellen einfiel, hielt er inne, ergeben sah er über die Breischüssel hinweg zum jenseitigen Tischende. »Verzeih, meine Liebe, du wolltest etwas sagen.«

»Es ist warm. Wir haben Anfang Mai. Draußen scheint die Sonne.« Anna bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Darf ich fragen, wieso du die Werkstatt heizen lässt? Holz ist teuer und Kohle erst recht.«

»Das ist wahr«, nickte er zustimmend, gab aber keine Antwort, stattdessen stand er auf und blickte zur Decke. »Lasst uns danken!«

Sofort erhoben sich Kinder, Mägde und Gesellen, sichtlich schwer fiel es der Hausfrau, die Empörung niederzukämpfen, doch schließlich wuchtete sie schweigend den fülligen Leib aus dem Lehnstuhl. Das Frühmahl war beendet.

2

Vorbei an den neugierigen Gesichtern im Hof. Magdalena sah nicht zur Seite, die Augen fest auf den breiten Rücken vor ihr gerichtet, folgte sie dem Meister zum Querhaus. Er öffnete die Pforte in der hohen Flügeltür und lächelte seinem Gast zu. »Verzeih, dass es kein prächtiger Saal ist. Ich weiß, beim ersten Hinschauen möchte sich jede Hausfrau gleich die Haare raufen. Doch die Unordnung ist eine wohl durchdachte Ordnung. Steine, die Holzblöcke, auch jeder Meißel, jeder Hammer, alle Dinge hier haben ihren festen Platz.« Eine weiche Geste lud sie ein. »Sei willkommen in meinen guten Stuben.«

Etwas befangen erwiderte sie das Lächeln und schlüpfte an ihm vorbei. Leicht streifte der Ärmel ihres hellen Kittelkleides sein Wams. Nach wenigen Schritten blieb sie stehen. Meister Til folgte ihr, drückte die schmale Tür zu und schloss ab. In das laute Schnappen rief sie erschrocken: »Nein!«

Er wandte sich um. »Ich verstehe nicht …?«

»Warum tut Ihr das?« Heftig schüttelte sie den Kopf und wartete die Antwort nicht ab. »Nein, lasst mich gehen, Herr. Bitte, ich sage niemandem davon.«

Erst die Furcht in ihren Augen ließ ihn begreifen, sein Lächeln erstarb. »Du kennst mich nicht, denn sonst … Nein, jedes Wort darüber ist unnötig.« Er reichte ihr den Schlüssel. »Bewahre du ihn auf. Ich habe uns nicht eingeschlossen, sondern uns nur vor Störungen geschützt. Jederzeit darfst du die Werkstatt verlassen.« Ein beinah jungenhafter Blick, ein besorgtes Heben der Brauen. »Ich hoffe nur für mein Glück, dass du erst gehst, wenn ich genügend Skizzen angefertigt habe.«

Magdalena nahm den Schlüssel nicht, sah ihn verwundert an. »Ihr seid so freundlich zu mir. Fast glaube ich, dass Ihr mich wirklich braucht … dass die Einladung nicht nur eine Laune von Euch war.«

»Gesucht habe ich nach dir.« Das Braun seiner Augen verdunkelte sich. »Und als ich dich am Bach traf, da …« Er räusperte sich und straffte den Rücken. »Ich danke dir für dein Kommen.« Zielstrebig ging er an ihr vorbei auf das lodernde Kaminfeuer zu. »Deine Aufgabe ist nicht schwer. Du müsstest dich nur …« Wieder blieb der Satz unbeendet. Ehe er den Zeichentisch erreicht hatte, kehrte er um. »Vielleicht sollte ich dich erst ein wenig herumführen. Möchtest du?«

»Gern. Die Räume sind beinah so hoch wie eine Scheune.«

Nicht neben ihr, stets einen Schritt voraus, deutete er auf Stemmeisen und Messer, Sägen und Äxte, er führte sie an den Werkbänken der Schnitzerei vorbei. »Hier arbeiten zur Zeit meine Gesellen. Während ich drüben den Stein behaue.« Seine Hand strich über einen an beiden schmalen Enden eingespannten Holzblock. Grob war schon der Umriss einer Gestalt zu erkennen. »Noch verbirgt sich Johannes Evangelista im Lindenholz. Aber in den nächsten Tagen werden wir ihn aus seinem Versteck herausschälen.«

Magdalena beugte sich über das Stück und sog den Atem durch die Nase ein. »Wie gut er schon riecht. Nein, das war dumm. Verzeiht. Ich wollte nur sagen, ich liebe den Duft von Holz.«

Die Bewegung ihrer Lippen, das leichte Beben der Nasenflügel, nichts entging ihm. »Komm. Lass uns noch einen kurzen Blick in die zweite Halle werfen, dann aber müssen wir mit der Arbeit beginnen.«

Kühler war es, obwohl das Sonnenlicht ebenso hell durch die hohen Fenster strahlte. Auch hier standen Werktische, sie waren schwerer und breiter als drüben. Meister Til wies auf einen Stein, fein geformt war üppiges Blattwerk herausgearbeitet. »Das ist der Sockel für den Adam. Du wirst … nein, du natürlich nicht, sondern die Eva wird auch auf solch einem … Was ist dir?«

Magdalena streckte behutsam den Zeigefinger, dabei wich sie einen halben Schritt zurück. »Da. Der Mann«, flüsterte sie und rundete die Augen.

Er folgte ihrem Blick, gleich stahl sich ein Schmunzeln in die Mundwinkel. »Das ist dein Mann. Was erschreckt dich?« Til ging zu der schlanken, hohen Gestalt aus weißgrauem Sandstein, ihre Lockenpracht überragte ihn eine Handbreit; er strich beide Schultern bis zu den Oberarmen und fuhr mit der Fingerkuppe vom Hals das Brustbein hinunter. »Gefällt er dir etwa nicht?«

»O doch.« Weil die Antwort viel zu rasch hinausgerutscht war, stieg ihr Röte ins Gesicht. »Aber er ist so nackt, deshalb hab ich mich erschreckt. Verzeiht, ich wollte Euch nicht kränken.« Tapfer bemühte sie sich, die Verlegenheit zu überspielen. »Ich mein, schön ist der Adam, wirklich. Und wie er so dasteht, so … Ich mein, traurig ist er.«

»Du kennst die Geschichte von Adam und Eva?«

»Ihr wollt sagen, dass er traurig ist, weil die beiden aus dem Paradies gejagt werden?« Unvermittelt lebhaft trat sie näher. »Hat er denn schon den Apfel gegessen, den ich ihm …? Nein, nicht ich.« Sie lachte leise. »Ach, Ihr versteht schon.«

»Adam hat vom verbotenen Baum der Erkenntnis gegessen. Die Strafe ist noch nicht ausgesprochen, aber er ahnt sehr wohl, was ihn erwartet.«

Magdalena nickte und sah der Figur eine Weile zu. »Ich verstehe. Deshalb setzt er auch den Fuß vor, nur gehen will er nicht.«

»Wenn die Stadtväter dies auch so verstehen, bin ich mehr als zufrieden. Gern wüsste ich, wie meine heilige Magdalena auf dich wirkt. Doch seit letztem Jahr schwebt sie nun schon in Münnerstadt über dem Altar. Eine Engelschar geleitet deine Namenspatronin hinauf.« Til zog einen Kohlestift aus dem dunkelgrünen Wams. »Wir geraten ins Schwatzen. Dabei sollten wir die wertvolle Zeit nutzen. Komm!«

Während er schon auf dem Weg zurück in die Schnitzwerkstatt war, trat sie rasch ganz dicht an den Adam heran, beugte sich zur linken Hüfte und wagte einen Blick auf seine glatte weiße Rückansicht. »Oje. Ich hab’s befürchtet. Kein zweites Feigenblatt. Oje.« Heftig atmete sie aus und huschte dem Meister nach.

Neben der gemauerten offenen Feuerstelle breitete Til eine Leinenplane auf dem Boden aus, sah hinauf zu den Fenstern, verrückte das Tuch so weit, bis die Sonnenstrahlen es nicht mehr erfassten. Ohne Mühe hob er den schweren Zeichentisch und stellte ihn so, dass er das Tageslicht im Rücken hatte. Noch die richtige Schräge der Arbeitsplatte, auch das Papier war nach wenigen Handgriffen eingespannt.

Erst jetzt sah er sie wieder an. »Du musst dich dahin stellen.« Er sprach sanft, dennoch suchte er nach Worten. »Damit du nicht frierst, hab ich Feuer machen lassen …« Noch ehe er weitersprach, zeigte ihre Miene, dass sie wusste, worum er sie jetzt bitten würde. »Ich will dich zeichnen wie im Paradies. Du warst damit einverstanden.«

»Aber ich kann mich doch nicht vor Euch ausziehen?«

Verblüfft rieb er das Kinn, dann heiterte sein Gesicht auf. »Ja, du hast recht. Eva kannte bis dahin keine Kleider, wusste auch nichts vom Reiz, den das Ablegen verursachen kann. Geh dort drüben hinter den Johannes Evangelista. Und keine Furcht. Er ist noch blind.«

»Macht Euch nicht lustig.«

»Gott bewahre.« Seine Stimme blieb leicht. »Eher wundere ich mich über mich selbst. Weil ich ebenso befangen bin wie du. Wir sollten uns beide davon befreien.« Damit drehte er sich ab und legte neue Scheite aufs Feuer.

Magdalena kehrte zurück. Sie hielt das Kittelkleid schützend vor den Leib. Barfuß trat sie auf die Plane, blieb in der Mitte stehen und sah zum Zeichentisch. »Bin ich hier richtig?«

Als wäre er mit dem Blatt vor sich beschäftigt, hob Til nur kurz den Kopf, er nickte und kümmerte sich nicht weiter um sie.

Nach einer Weile warf sie das Kleid mit Schwung zur Seite. »Redet Ihr nicht mehr mit mir?«

»Entschuldige.« Til öffnete leicht die Lippen. Sein Blick umfasste die Gestalt, das gelöste lange Haar, er ahnte den hellen Samt der Haut. Mit dem nächsten Lidschlag begann er wieder von Neuem, er wollte mehr begreifen und betrachtete die schlanken Beine, die warme Form des Beckens, über dem Haarvlies verweilte er an ihrem sanft schwellenden Bauch, ehe er hinaufglitt zu den festen Brüsten. »Du bist Eva.« Er sah in ihre Augen. »Ganz selten übertrifft die Natur meine inneren Bilder und Wünsche. Doch du bist mehr.«

»Wenn Ihr weiter so schmeichelt, ziehe ich mich besser wieder an.«

»Untersteh dich«, drohte ihr der Meister; mit einem Kreidestück in der Hand verließ er seinen Platz und war bereits am Rande der Plane.

»Nein, bleibt da, Herr!«

»Es geht nicht anders. Ich muss die Position festlegen. So, wie du von nun an stehen sollst. Dafür zeichne ich einen Kreis um deine Füße, mehr nicht.«

»Kann ich das nicht auch? Bitte!« Sie schlug sich mit den Fingerknöcheln an die Stirn. »Ach, verflucht, ich schäme mich, weil ich mich so schäme. Ihr hättet Euch eine andere suchen sollen.«

»Nein, schon gut«, tröstete er, »ich bin ganz zufrieden.« Das Kreidestück rollte zu ihr. »Wir versuchen es.«

Auf seine Anweisungen hin musste Magdalena niederkauern und die Umrisse ihres rechten Fußes auf die Plane zeichnen. Sie war bemüht, jeden Zeh zu malen, dabei erschien ihre Zungenspitze zwischen den Lippen und die Scheu löste sich. Angespornt durch das Lob, wurden ihre Bewegungen freier.

»Nun setzt du den linken Fuß einen halben Schritt vor. Etwas mehr zum rechten Bein.« Ohne sie aus den Augen zu lassen, stellte er sich auf gleiche Höhe mit ihr seitlich an die Plane. »Ich bin jetzt dein Adam. Nein, schau nicht her, winkle aber das linke Knie etwas an, als wolltest du gleich weitergehen und zu mir kommen.« Er begutachtete ihre Haltung. »Sehr schön. Und nun markiere auch den linken Fuß.«

Kaum beugte sich Magdalena vor, drohte sie das Gleichgewicht zu verlieren, nur ein entschiedener Schwung mit Hüfte und Po bewahrte vor dem Sturz. »So helft mir doch, Herr!«

Seine Miene veränderte sich nicht, wie selbstverständlich trat Meister Til zu seinem Modell, kniete neben dem linken Bein nieder, drückte das Knie noch ein wenig nach innen, setzte den Fuß allein mit Ballen und Zehen auf und zeichnete die Position ein.

»Ich glaub nicht, dass ich lange so stehen kann.«

»Warte. Halt bitte einen Moment aus.« Er wählte ein Scheit vom gestapelten Kaminholz. Wenige Schläge mit dem Beil genügten, und er konnte ihr einen Stützkeil unter die Ferse des linken Fußes schieben. »Ich denke, jetzt ist es erträglicher für dich.«

Meister Til kehrte zum Zeichentisch zurück. Ruhe überkam die große Gestalt. Er blickte Magdalena an, seine Augen öffneten sich neu und ließen das Bild ein. Leicht glitt der Kohlestift über das Blatt, nur selten hob der Meister das Haupt, so sicher war er sich, so vertraut mit der Form. Die Geräusche der Stille wurden deutlicher: Das strichelnde Schaben auf dem Papier, hin und wieder knackte es in der Glut. Unmerklich ließ er den Arm sinken. »Ist dir warm genug?«

Überrascht von der Frage, fuhr sie zusammen, vollendete den Schritt mit dem linken Fuß, musste weitergehen. »O verzeiht, Herr.«

Schnell kehrte sie zu den Markierungen zurück. Der rechte Fuß, die Zehen und Ballen des linken, ihr Körper fand die Mitte nicht, wankte und wieder verließ sie die vorgezeichnete Position. »Verflucht, ich schaffe es nicht mehr. Mein Bein tut weh vom Stillhalten.«

Er nickte voller Mitgefühl. »Möchtest du dich sehen?«

Die Neugierde war stärker als der Kummer. Magdalena kam auf ihn zu, stockte, raffte das Kittelkleid vom Boden und presste den Stoff nur notdürftig an den Busen, dicht neben ihm betrachtete sie die Zeichnung. »Bin ich so? Und die langen Haare. Versteht, ganz hab ich mich noch nie gesehen. Weil wir daheim nur eine kleine Spiegelscheibe haben.« Sie runzelte die Stirn. »Aber wo ist mein Gesicht, Herr?«

»Das erfinde ich später.«

Magdalena nagte an der Unterlippe, überlegte, sagte dann: »Ich würde es doch gerne mal sehen. Wie es so passt. Ich weiß, wir haben was anderes ausgemacht, aber hier auf dem Papier hätte ich nichts dagegen.« Aus der ersten Regung heraus wollte Til den Arm um sie legen, besann sich rechtzeitig und schmunzelte vor sich hin. »Gut. Ich helfe dir.« Nach seiner Anleitung war die Haltung bald wiedergefunden.

Er glättete noch den Bogen auf dem Brett, als sie ihm zuwinkte. »Wartet, Herr. Damit ich nicht nur einfach gucke, wollte ich fragen: Was soll ich denn denken?«

Mit einer Raspel spitzte er den Stift. »Eva wusste, was sie tat. Ich bin fest davon überzeugt, sie bereut nichts. Und deshalb ist ihr auch nicht bang vor dem, was jetzt droht. Sie will Adam aufmuntern, ihm Mut machen.«

»Also soll die Frau stärker sein als der Mann.« Magdalena krauste die Nase, ihre Augen leuchteten. Sie hob den Busen, die linke Hand berührte fast das Haarvlies über den Schenkeln. Er zeichnete schon, da winkelte sie den rechten Arm an und führte ihn zum Rippenbogen unter der Brust und öffnete die Handmulde. Ein schalkhaftes Lächeln umspielte den Mund.

Er hielt inne. »Du hast dich verändert. Nein, bleib jetzt so. Es gefällt mir. Ich muss mich nur rasch darauf einstellen.« Während seine Finger ein neues Blatt einspannten, ließ er sie nicht aus den Augen, bemühte er sich, ihr Vergnügen zu erraten, und musste dann doch fragen: »Was belustigt dich?«

»Ihr habt gesagt … Ach, ich hab mir nur vorgestellt, was ich machen würde.«

Til wartete.

»Na ja, wenn wir schon vom verbotenen Baum gegessen haben und es eh schon zu spät ist. Da hab ich mir gedacht, gut geschmeckt haben die Äpfel. Und warum sollen wir nicht noch einen essen? Also bringe ich dem Adam noch einen Apfel. Deshalb.«

»Meine Eva.« Mehr sagte er nicht dazu; er rundete die Lippen, zeichnete, und ihre wissende Heiterkeit spiegelte sich in seiner Miene.

Noch eine Skizze von der Seite, gleich danach trug Meister Til das Zeichenpult hinter sie, doch ihre Kraft erlahmte, sie vermochte nicht mehr still zu stehen, das Lächeln erlosch, Magdalena wollte sitzen und hatte Durst.

In einem Zug leerte sie den Becher. »O verzeiht.« Sie sprang auf, nahm ihr Kittelkleid und floh hinüber zum Johannes Evangelista. Während sein Modell sich ankleidete, legte er beide Bögen nebeneinander auf die Plane und betrachtete die Zeichnungen wie ein Geschenk. »Soll ich jetzt gehen?«

»Nein.« Er wandte den Kopf, benötigte einige Augenblicke, um sich wieder an das hochgesteckte Haar, den hellblauen Stoff, die Schnürsandalen zu gewöhnen.

»Was sage ich da? Entschuldige. Natürlich darfst du jetzt gehen.« Er rieb sich die Stirn. »Wir haben länger gebraucht, als ich deinem Mann zugesagt habe. Sicher wartet er schon ungeduldig. Komm rasch!«

Ehe er die Pforte aufschloss, sah sie zu ihm auf. »Darf ich … Ich mein, braucht Ihr mich noch mal?«

Sein Blick wurde streng. »Die Skizzen sind nicht vollständig. Mindestens zwei Besuche haben wir verabredet. Ich hoffe, dein Mann hält sich daran.«

»Ganz sicher.« Das schalkhafte Lächeln kehrte zurück. »Schließlich bin ich die Eva.«

Niemand war im Hof zu sehen, und doch waren die Blicke hinter den Fensterscheiben des Wohnhauses zu spüren. Er brachte sie nur bis ins Dunkel der überdachten Einfahrt. »Denk daran, dass ihr nicht darüber sprecht.« Für einen Moment schloss Til ihre Hand in beide Hände. »Morgen. Ich erwarte dich morgen um die gleiche Zeit. Lebwohl.«

Er wandte sich um und eilte zur Werkstatt zurück.

Aus dem Schutz des Schattens sah ihm Magdalena nach. Wie groß er ist, dachte sie, und doch so fein und freundlich. Eigentlich passt das gar nicht zusammen. Oje, ich glaub, ich bin ganz durcheinander. Unmerklich schüttelte sie den Kopf. »Besser, du denkst erst mal nicht drüber nach.« Als müsste der Ort bewahrt werden, zog sie das Tor nur einen Spaltbreit auf, trat hinaus und schloss es gleich wieder.

Schmerzhaft blendete die Sonne. Abwehrend hob sie den Arm. Da rumpelten Räder übers Pflaster. Gefährlich nah holperte ein hoch beladener Karren an ihr vorbei, fluchend führte der Kramhändler den Ochsen am Maulriemen, sein Hund kläffte und kläffte, für einen Moment überfüllte Lärm die Franziskanergasse, dann bog das Fuhrwerk ab, und Stille blieb. Magdalena wischte sich die Stirn.

»He, Frau. Hier bin ich.«

Beim Klang der vertrauten Stimme atmete sie aus, schirmte die Augen gegen das grelle Licht, nicht weit entfernt sah sie ihren Mann auf der anderen Gassenseite mit der Kappe winken. Sie lief hinüber. »Hast du schon lange gewartet?«

Wortlos setzte Jakob Lebart die Kopfbedeckung auf, nahm ihren Arm und zog sie weiter. Über die Schulter blickte er zum Hof Wolfmannsziechlein zurück und wagte nur leise zu sprechen. »Ich traue den feinen Leuten nicht, auch nicht dem Schnitzer.«

»Das kannst du aber, denn er …«

»Hast du Geld bekommen?«

»Nein. Er braucht mich noch mal.«

Jakob ließ sie los. »Die Hälfte; oder wenn er wenigstens fünf Schillinge gegeben hätte, dann würd ich ihm glauben.« Sein Kinn bebte vor Unruhe. »Und wenn er sich nicht an sein Versprechen hält? O Gott, Frau. Du hättest ihn fragen sollen.«

»Nun sorg dich nicht. Meister Til ist ein guter Mensch.«

Ein Schatten auf dem Pflaster neben ihr, gleich erschien ein schlanker Mann, leichtfüßig eilte er vorbei, nach wenigen Schritten aber wandte er sich jäh um, versperrte den Weg, stemmte beide Fäuste in die Seiten und feixte. »Nein, ich habe mich nicht getäuscht.« Eine biegsame Gestalt, kaum zwanzig Jahre alt.

Die großen Augen richteten sich auf Magdalena.

Kalt wurde ihr. Sie sah die scharfen Punkte im blassen Blau der Pupillen, fühlte, wie der Blick ihr das Kleid an den Brüsten, am ganzen Leib zerschnitt. »Was … was willst du von uns?«

»Etwas von eurem Glück.«

Jakob Lebart hob versöhnlich die Hand. »Aus dem Weg, Freund. Wir haben kein Glück. Heutzutage geht es uns auf dem Land viel schlechter als euch in der Stadt.«

Der Fremde tänzelte auf der Stelle, wich aber nicht zur Seite, dabei umspielten seine Finger den Dolchgriff.

Magdalena spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Zeig keine Angst; das ist nur ein ekelhafter Kerl; und es ist helllichter Tag; und wir sind in Würzburg. Zeig keine Angst.

»Mein Mann hat recht, wir haben nichts.« Sie deutete auf seinen lehmbraunen Überrock, die Kniehosen, die blauen Strümpfe und weichledernen Kuhmaulschuhe. »Du brauchst nichts von uns. Bettler sehen anders aus.«

»Aber du hast wirklich alles, was nötig ist.« Er kicherte vor sich hin, brach ab, und seine Stimme wurde scharf: »Wie viel hat Riemenschneider bezahlt?«

Gleich wollte sich Jakob vor seine Frau stellen, doch sie ließ es nicht zu. »Scher dich weg, Kerl. Sonst schreie ich, bis die Büttel kommen.«

»Aber bitte.« Eine schnelle Armbewegung, und er hatte eine Flöte in der Hand. »Oder soll ich helfen? Ich pfeife euch die ganze Stadt hierher. Seit heute früh hab ich euch beobachtet und weiß genau, was ihr hier treibt.«

»Du …« Magdalena schwieg ertappt und stampfte mit dem Fuß auf. »Verfluchter Kerl.«

»Sag ruhig Hans zu mir. Denn so schnell werdet ihr mich nicht mehr los.« Er kratzfußte spöttisch. »Hans Bermeter, der Spielmann, mit den besten Verbindungen. Nicht nur hier unten in der Stadt.« Die Flöte wies über den Main hinauf zur Marienburg. »Die frommen Herren und Adligen da oben lassen sich gerne von mir den Wein einschenken, noch lieber aber nehmen sie meine diskreten Dienste in Anspruch.«

Jakob Lebart ergriff den Arm seiner Frau. »Hör gar nicht hin.« Weil der Weg nach vorn versperrt blieb, wollte er zurück, in die andere Richtung. Halb schon abgewandt, entschuldigte er sich bei dem Spielmann: »Sei nicht böse. Aber bei uns ist Weineinschenken keine Arbeit. Und wir wissen auch nicht, was für Dienste du meinst. Besser du erzählst davon jemand anderem, der mehr davon versteht.«

In federnden Schritten war Bermeter an dem Paar vorbei und stellte sich erneut in den Weg, gleich setzte er einen Fuß vor, schob sich näher an Magdalena heran. »Du bist ein schönes Weib. Ich könnte vergessen, was du bei unserm berühmten Schnitzer getrieben hast, wenn du für mich arbeitest.« Sein Atem roch nach schalem Wein.

Angeekelt bog sie den Oberkörper zurück, dann erst begann sie zu ahnen, was er meinte, kam jedoch nicht zu Wort, schon rieb er vertraulich Daumen und Zeigefinger unter Jakobs Nase. »Und dein Schade wäre es nicht. Ganz gleich, was der Schnitzer dir bezahlt. Meine Prälaten und Höflinge da oben geben das Doppelte. Da fällt für mich und auch für euch genug ab. Du lieferst dein Weib, und ich knüpfe die Verbindungen.« Jetzt schnippte Bermeter. »Ein gutes Geschäft.«

Zunächst vermochte der Bauer nur fassungslos den Kopf zu schütteln, die Kinnlade war ihm gesunken, endlich fand er Worte. »Du … du bist schlechter noch als die Steuerknechte vom Kloster … Meine Frau … Ja, arm sind wir, aber so tief werden wir nie sinken …«

»Ach, ach, hör auf mit den Lügen.« Vergnügt lachte ihm der Spielmann ins Gesicht. »Da kommt ein Bäuerlein gleich beim Öffnen der Tore mit seinem Weib nach Würzburg. Und das an einem gewöhnlichen Dienstag. Nein, er hat keinen Karren oder Sack dabei, keine Kiepe. Also dachte ich mir: Kaufen will er nicht und verkaufen auch nicht. Tatsächlich: Er geht nicht einmal auf den Markt, nicht zum Fischmarkt, nicht in die Domstraße, stattdessen aber liefert er sein schönes Weib beim Hof Wolfmannsziechlein ab.«

Magdalena hatte begriffen, ihre Augen sprühten, sie drohte mit beiden Fäusten. »Wag es nicht … Besucht habe ich den Meister. Jawohl, einen Besuch hab ich gemacht. Nichts sonst.«

»Na, ausgezogen hast du dich.«

»Woher weißt du das …?« Entsetzt hielt sie inne. Gleich hämmerte das Herz. Verraten, du hast dich verraten. Blutrot stieg ihr die Hitze ins Gesicht.

»Jetzt weiß ich es.« Schnell ließ er die nasse Zungenspitze an den Schneidezähnen hin und her schlagen. Das Geräusch schmerzte ihr in den Ohren. Bermeter nutzte den Sieg. »Du kannst dich nennen, wie du willst, in Wahrheit bist du eine Hure. Und das gefällt mir. Jetzt kommen wir doch ins Geschäft …«

»Du verdammter Kerl!« Magdalena war bei ihm, ohrfeigte Bermeter mit aller Kraft. »Nichts weißt du! Gar nichts!«

Er wich nicht einmal zur Seite, nahm die Schläge hin, verhöhnte sie weiter.

»Warum hast du dich wohl sonst ausgezogen? Na, sag es mir. Sag’s doch, du Hure.«

»Weil …« Die Enge wurde zu groß. »Weil er mich gezeichnet hat, deshalb! Weil ich sein Modell bin …« Sie brach ab, aber zu spät. Magdalena wusste, längst war es zu spät.

Die Lider halb geschlossen, verharrte Bermeter einige wenige Atemzüge, dann tänzelte er Schritt für Schritt rückwärts. »Auch nicht schlecht. Unser gottesfürchtiger Riemenschneider lockt eine arme junge Frau in seine Werkstatt. Sie muss sich nackt vor ihn hinstellen, und er zeichnet sie. Er nimmt sich ein lebendes Modell für die Heilige Jungfrau.« Der Blick griff noch einmal nach Magdalena. »Nein, es ist die Eva. Das ist sein Auftrag. Natürlich, er hat dich für die Eva gebraucht. Da wird sich aber der Stadtrat freuen, auch die Herren vom Domkapitel werden Augen machen. Einen Skandal will keiner. Mal sehen, wie viel ihnen mein Schweigen wert ist.« Vergnügt kratzfußte der Spielmann wieder. »Danke. Es war mir ein Vergnügen mit euch beiden. Und nichts für ungut.« Er schlenderte in Richtung Fischmarkt davon.

Magdalena sah ihm nach, die Schultern sanken, helle Tränen liefen ihr über die Wangen, sie suchte nach Jakobs Hand. »Ich hab alles verdorben, jetzt wird die Eva vor allen Leuten schlechtgemacht.«

Schweigend verließen die beiden Würzburg, sprachen auch nicht, als sie am Bachlauf das Tal hinaufwanderten. Als das Haus der Schwägerin in Sicht kam, blieb Magdalena stehen. »Meister Til möchte, dass ich morgen wieder hinkomme. Aber ich gehe nicht.«

»Aber du musst, Frau.« Jakob nahm die Kappe ab und wischte sich damit den Nacken. »Wir brauchen das Geld.«

Ihre Stimme wurde fester: »Auch ohne den Gulden geht es weiter.«

»Geplant haben wir, wollten die Schulden ans Kloster bezahlen, wollten das Dach ausbessern, und einen neuen Pflug wollten wir … So schön war es, Frau, daran zu denken, und nun wird das Elend noch schlimmer.«

»Sag das nicht. Wir schaffen es schon. Aber ich kann dem Meister nicht noch mehr antun, deshalb bleib ich hier. Den Adam hat er fertig. Und für die Eva reicht es ihm bestimmt, weil er sich gut auskennt mit mir. Das weiß ich.«

Erst spät am Abend kehrte Hans Bermeter ins elterliche Haus nahe dem Judenkirchhof zurück. Kaum vermochte er die Hintertür aufzuschieben, er tappte durch den dunklen Flur, auf der Stiege musste er zweimal stehen bleiben, erstickte das Stöhnen im Wamsärmel und horchte, unvermindert laut drang das Schnarchen des Vater aus der Schlafstube. Ihn zu wecken hätte erneutes Übel heraufbeschworen, Fragen, Vorwürfe, vielleicht sogar Stockhiebe … 

Mühsam schleppte sich Hans Bermeter weiter. Oben in seiner Dachkammer drehte er die Öllampe höher. »Verfluchter Tag«, zischte er durch die Zähne. Das sonst stets spöttisch überlegene Grinsen war erloschen. Jede Bewegung schmerzte.

Aus dem Wamsärmel zog er Stücke seiner zerbrochenen Holzflöte und ließ sie vor der Wand zu Boden fallen, an der seine übrigen Instrumente hingen, Trommel, Laute und die große Flöte. »Na und? Dann besorg ich mir eben eine neue.« Behutsam nestelte er die Kleider vom Leib, versuchte auch Strümpfe und Schuhe abzustreifen, weil aber schon das leichte Vorbeugen ihm einen Schrei abrang, verzichtete er darauf. Nackt bis hinunter zum Knie, trat er vor den Spiegel. »Diese verdammten Kerle.« Im flackernden Schein betastete er die dunkel angelaufenen Striemen an Schultern und Armen; auf Bauch und Brust prangten dicht an dicht blaugrün verfärbte Flecken. »Das werd ich euch heimzahlen. Wartet nur ab.« Er griff nach einem Lappen, nässte ihn in der Waschschüssel und kühlte die Schwellungen.

In der Nacht zuvor hatte er oben auf der Burg ungewohntes Pech beim Würfelspiel gehabt. Dieser Ritter gehörte zu einer Delegation des Bistums Eichstätt und war ein zäher Gegner gewesen. Der Plan, ihn mit Wein abzufüllen, um leichter an sein Geld zu kommen, schlug fehl. Im Gegenteil, je mehr der Gast seiner Eminenz Fürstbischof Rudolf von Scherenberg trank, umso genauer zählte er die Wurfaugen. Bermeter hatte jeden Schilling verloren. »Noch ein letztes Spiel. Um den ganzen Topf.«

»Das kostet dich eineinhalb Gulden. Wo ist dein Einsatz?«

»Geld hab ich keins mehr.«

»Du bist nur eine Hofratte, frisst was vom Tisch gefallen ist.« Der Ritter lachte und trank. »Und du wagst es, einen Mann wie mich zum Würfelspiel herauszufordern. Bei mir zu Hause …«

»Ich setze eine Frau.«

Das Gelächter brach ab. »Wie meinst du das?«

Bermeter schnippte mit den Fingern. »Bei meiner Ehre. Wenn ich verliere, lege ich Euch morgen eine junge Frau ins Bett.«

»Du meinst, hier in meiner Kammer? Hier oben, wo hinter jeder Ecke ein Kuttenkittel weht?«

»Aber ja. Ich verstehe mich auf solche Dienste.«

»Seit ich von Eichstätt weg bin, hab ich kein Weib mehr gehabt. Morgen ist unsere letzte Nacht. Ja, einverstanden, Hofratte.« Der Ritter rief seine beiden Knappen als Zeugen. Kräftige Kerle mit kantigen Gesichtern und kaltem Blick.

Bermeter hatte die beinernen Glücksbringer angehaucht, zwischen den Händen gerieben und doch nur drei niedrige Zahlen geworfen, die geforderte Fünf war nicht einmal dabei. Keinen Punkt durfte er sich mit Kreide gutschreiben. Lange hatte sein Gegner den erhobenen Lederbecher geschüttelt und ihn dann mit Wucht auf die Tischplatte gestülpt. »Drei Fünfer. Das ist ein großer Bock. Jetzt schuldest du mir eineinhalb Gulden oder bringst mir ein Weib. Morgen. Du hast Zeit bis Sonnenuntergang.«

Das war gestern gewesen.

In der Dachkammer drehte sich Hans Bermeter zur Seite. Auch über den Rücken zogen sich dicke Striemen. Seine Lippen wurden schmal. »Schuld hat dieses Weib. Und auch der Schnitzer.«

Spielschulden waren für ihn noch nie Grund zur Sorge gewesen, immer hatte er sich zu helfen gewusst. Insgeheim führte er eine Liste über Schwächen und Verfehlungen der vornehmen Herrschaften an der Tafel des Bischofs, selbst die Fehltritte seiner Nachbarn um den Judenfriedhof notierte er sich. Geriet Bermeter in Geldnot, so wandte er sich an einen der Sünder, schilderte dessen Frevel in düsteren Farben und endete: »Nein, hab keine Angst. Ich bin ein Freund, niemand erfährt von dieser Sache.« Dann wartete er geschickt, bis Erleichterung den Schreck aufgelöst hatte, und setzte in treuherzigem Ton hinzu: »Jetzt, da wir uns vertrauen, könntest du mir aus einer Verlegenheit helfen …«

Meist gelang die Erpressung, meist erhielt er aus Dankbarkeit sogar mehr. Nur heute nicht. Dabei hatte der Tag so leicht begonnen. Auch als er sich in seinem Opfer getäuscht hatte und die junge Bäuerin nicht, wie so viele der armen Frauen vom Lande, nach Würzburg gekommen war, um sich als Hure etwas Geld zu verdienen, auch zu diesem Zeitpunkt war er noch guter Dinge gewesen.

»Meister Tilman Riemenschneider nimmt sich eine nackte Frau als Vorlage für die Eva.« Diese Information sollte genug einbringen, um die Spielschulden zu begleichen.

Beschwingt war Bermeter über den Fischmarkt geeilt, hatte sich in der Straße vom Dom zur Mainbrücke hin keine Zeit genommen, bei den Buden der Krämer, Sattler, Seildreher oder Tuchhändler stehen zu bleiben, um vielleicht die eine oder andere Neuigkeit aufzuschnappen.

Ehe er das Rathaus erreichte, stieg ihm schon der Duft nach Gebratenem in die Nase. Vor dem Grafeneckartturm und dem angrenzenden Stadthaus wendeten die Garköche auf Rosten große Fleischstücke, rührten in Suppenkesseln und priesen lautstark ihre Speisen an. Plagte ihn Hunger, blieb Hans Bermeter gewöhnlich bei ihnen stehen, erzählte hinter vorgehaltener Hand unzüchtige Einzelheiten über die Vornehmen aus der Umgebung des Bischofs und ließ sich mit Braten und Eintopf entlohnen.

Obwohl der Magen knurrte, verlangsamte er heute nicht den Schritt und betrat die Schenke des Stadthauses. Noch an der Tür stehend, genügte ihm ein schneller Blick, sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Das Glück war auf seiner Seite. »Ich hab’s geahnt.« So früh am Tag war kein Tisch in der Hauptstube besetzt, im offenen Nebenraum aber hockten einige Ratsherren bei Wein, Schinken und Brot, mit hochroten Gesichtern palaverten sie, einer übertönte den anderen; und vor Kopf der Tafel thronte der oberste Bürgermeister.

Leichtfüßig glitt Hans Bermeter durch die Schenke, dabei putzte er mit kurzen Fingerschlenkern seine Rockärmel. Einer der Stubenknechte hielt ihn auf. »Wo willst du hin? Die wollen ungestört bleiben.« »Ich muss mit dem Bürgermeister reden. Hab ihm was Wichtiges zu melden.«

»Aber, ich … der Befehl …«

»Die Sache ist heikel.« Bermeter tippte gegen die Brust des Dieners. »Hol ihn her, oder ich schreie es laut raus. Du kannst wählen.«

Mit hochgezogenen Schultern wagte sich der Stubenknecht ans Kopfende der Tafel, flüsterte, deutete auf den Spielmann, und wenig später verließ Bürgermeister Georg Suppan die Runde. Sichtlich verärgert kam er auf den Störenfried zu. »Was gibt es?«

Dem Kratzfuß schenkte der oberste der Stadtväter keine Beachtung, und bis auf ein kurzes Heben der Brauen schien ihn die Information kaltzulassen. Als Bermeter jedoch für sein Schweigen eineinhalb Gulden verlangte, schnaufte er, bewahrte dennoch Ruhe und faltete die Hände vor dem Bauch. »Also ein Modell, sagst du? Warst du dabei? Hast du zugesehen?«

Bürgermeister Suppan wartete nur das Kopfschütteln ab, zu Wort ließ er den jungen Erpresser nicht kommen. »Ich kenne deinen Vater. Mag der alte Hans sich auch hin und wieder vor dem Wachdienst drücken, mag er auch des Öfteren zu viel trinken. So einer ist mir immer noch lieber als solch ein aalglatter Taugenichts, wie du es bist. Nein, halt jetzt dein Lästermaul, sonst lasse ich dich sofort ins Loch sperren. Keinen Pfennig ist mir das Gerücht wert. Und jetzt verschwinde.«

Das war heute Mittag gewesen.

Hans Bermeter schleppte sich vom Spiegel hinüber zum Bett, stöhnend ließ er sich auf die Matratze sinken. »Diese feigen Köter. Zu zweit waren sie.« Er starrte zum zuckenden Lampenschein an den Dachbalken hinauf.

Bis spät in den Nachmittag hatte sich Hans Bermeter vergeblich in der Stadt bemüht, die Summe aufzutreiben, und sein Schwung war längst erlahmt. Er wollte hinauf zur Burg, vielleicht konnte er sich von einem der frommen Herren die Summe borgen. Obwohl er sich im Schutz eines Fuhrwerks bewegte, gelang es ihm auf der Mainbrücke nicht, unbemerkt am Zollhaus vorbeizukommen. Die Frau des Zöllners entdeckte ihn im letzten Moment. Alles Bitten und Schmeicheln half nichts, sie blieb hart, und er musste den üblichen Pfennig bezahlen wie jeder Fußgänger. Nur wer Bürgerrecht in Würzburg besaß, durfte kostenlos über die Brücke.

Ohne bei den Wächtern am unteren Tor auf einen Schwatz zu bleiben, stieg Bermeter den buschgesäumten Pfad hinauf zum Schloss. Er hatte bereits die Hälfte der steilen Steigung geschafft, als sich rechter Hand aus dem Strauchwerk einer der Knappen des Ritters löste und ihm den Weg versperrte. »Wo ist die junge Frau?«

»Das mit dem Weib hat nicht geklappt.« Auf dem Absatz drehte Bermeter um, wollte wieder hinunter. Doch der zweite Waffenknecht stand da, breit, kaum bewegte er die Lippen. »Hast du das Geld?«

»Ich kann’s erklären, glaubt mir. Gebt mir noch etwas Zeit.«

Sie aber wollten nichts hören, wollten nicht warten. Die Knappen packten ihn, zwei gewaltige Fausthiebe genügten, um jedes Schreien zu verhindern, sie schleiften Bermeter durch die hell grünenden Büsche auf einen geschützten Wiesenfleck und richteten ihr Opfer zwischen sich auf. Schleuderte der eine Hieb den Spielmann zurück, so trieb ihn der nächste wieder nach vorn, Fußtritte zwischen die Beine, in den Leib; als er in die Knie brach, nicht mehr aufstehen konnte, prügelten sie mit Stöcken auf ihn ein, bis er zusammengekrümmt auf der Wiese lag. Sein Gesicht hatten die Knappen verschont.

Einer von ihnen riss den Kopf an den Haaren hoch. »Du hast Glück, Hofratte, dass wir das Gastrecht nicht brechen dürfen. Deshalb haben wir dir nur einen freundlichen Abschiedsgruß von unserm Herrn verabreicht. Aber sollten wir dich irgendwo außerhalb von Würzburg treffen, dann zahlst du deine Spielschulden, oder wir reißen dich an den Füßen in zwei Hälften auseinander.«

Erst nach einer Stunde gelang es Bermeter, sich aufzurichten. Immer wieder knickte er ein, musste sich an den Sträuchern festhalten, um nicht den abschüssigen Pfad hinunterzustürzen. Auf die Fragen der Torwächter sagte er nur, dass ihm elend sei, und erst auf der anderen Seite des Mains, innerhalb der Mauern von Würzburg, hatte er gewagt, sich auszuruhen. Viel später dann war er Schritt für Schritt eng an Hauswänden entlang zum Judenkirchhof getappt.

3

Seit dem frühen Vormittag brannte die Julisonne unbarmherzig vom blauleeren Himmel; das Weinlaub an den Hängen atmete Hitze aus, und träge zog unten der Main. Kein Lufthauch brachte Linderung in die Stadt. Von Stunde zu Stunde mehr wurde Licht zur Qual und Schatten zum Geschenk. Sommertag in Würzburg.

Weit standen die hohen Flügeltüren der Werkstatt offen. Im Eingang zerteilten zwei Gesellen einen mannshohen Lindenstamm. Sie hatten ihre Kittel abgelegt, mit bloßem Oberkörper trieben sie Keile ins Holz, sägten und schwangen die Axt. Weiter drinnen, in der Steinhalle, stieg feiner Staub von der breiten Werkbank auf, legte sich grau auf Lippen und Brauen.

Erneut setzte Meister Til den Spitzmeißel neben der Kniewölbung an, kurz, beinah behutsam, waren die Schläge mit dem hölzernen Klüpfel, in kleinen Splittern wichen nach und nach die Überstände. Schweiß tropfte ihm von Nase und Kinn, bildete dunkle Flecke auf dem schon freigelegten weißen Oberschenkel und vertrocknete gleich wieder. »Gib mir das Zahneisen.«

Während ihm Tobias das Werkzeug reichte, ließ er den Blick langsam vom rechten Bein über den liegenden Block gleiten. Halb bedeckt schlief Eva noch im Stein. Deutlich zeigte sich schon die Wölbung des Bauches, leicht umschloss die rechte Hand den Granatapfel. Ihre Brüste, der Schoß und das Gesicht aber waren verborgen unter einer nur roh behauenen Schicht. »Hab Geduld, meine Schöne«, murmelte Til. »Bis ich dich aufwecke, wird es noch einige Zeit dauern.«

Er löste sich und befahl seinen Gesellen mit einem Wink zum benachbarten Werktisch. »Beim Schienbein brauche ich dich nicht. Es dauert, bis ich vom Grat genug abgetragen habe. Inzwischen kannst du am Sockel weiterarbeiten. Da ist noch kein Leben drin.«

Nur zögerlich ging Tobias hinüber, kratzte das Kinn und starrte auf den Block in der Sandkiste. Die achteckige Standfläche hatte er bereits geglättet, das Geflecht des Laubwerks, auch viele der Blätter waren ausgestaltet. Tobias griff nicht nach dem Klüpfel. »Meister …? Nur mit Durchbrechungen wird das Laub lebendig.«

»So ist es, Junge.« Die Stimme schien unbeteiligt, Til verglich die aufgemalten Umrisse des Unterschenkels mit der Kohlezeichnung seiner Vorlage.

»Meister …? Da muss ich bohren.«

»Richtig, Junge.«

Tobias sah Hilfe suchend hinüber. Gleich beugte sich der Meister noch tiefer über das Bein der Eva. Sein Geselle schluckte, ehe er wagte weiterzusprechen: »Und wenn ein Blattmotiv abbricht? Ich mein, beim Bohren.«

»Wehe dir …« Keine zornige Warnung, eher eine Mahnung. Ohne aufzublicken, setzte Til hinzu: »Dann beginnst du wieder von vorn. Den neuen Block werde ich dir vom Lohn abziehen. Aber Schluss damit. Sobald ein guter Bildhauer den Stein berührt, darf er nicht mehr ans Versagen denken. Nicht das Werkzeug, Junge, der Kopf zerstört. Und nun beginn endlich.«

Tobias seufzte schwer, griff nach dem Bogen und drehte das Spindeleisen in die Sehne: Bald sirrte die Spitze. Heftig blies er gegen den aufsteigenden Staub, hustete, doch seine Führungshand zitterte nicht. Unbemerkt beobachtete ihn sein Meister aus den Augenwinkeln. Als Tobias das erste Loch mit Wasser ausspülte, die Ränder des zarten Blattes daneben prüfte und erleichtert nickte, nickte auch Til vor sich hin und setzte das Kammeisen an Evas Schienbein. Schweigend arbeiteten sie weiter. Axtschläge, das Pochen des Klüpfels vermischt mit dem Schaben des Bohrers wurden Rhythmus und Melodie der Werkstatt und erfüllten den Vormittag.

Später, gut eine Stunde vor dem Mittagsläuten, kam Anna eilig ins Querhaus, eilte durch die Schnitzerei und rief vom Durchgang zur Steinhalle aus: »Besuch! Hörst du nicht, Mann? Besuch ist da!«

Keine unnötige Störung bei der Arbeit. Wie oft schon hatte er seine Frau darum gebeten, sie ermahnt, manchmal sogar war er laut geworden, doch ohne großen Erfolg. Ungehalten wandte Til den Kopf. »Wer es auch ist, er soll warten.«

»Aber, Riemenschneider!« Anna kam schnaufend zur Werkbank. »Sei nicht unhöflich. Unser oberster Bürgermeister will dich sprechen.«

Die Faust mit dem Klüpfel sank. »Du meinst Georg Suppan? Er ist hier?«

Anna nickte, bedachte die Skulptur mit einem kurzen empörten Blick, dann verschränkte sie die Arme unter dem Busen. »Und sehr vergnügt scheint er mir nicht zu sein.«

»Daran ist die Hitze schuld«, murmelte Til und legte das Werkzeug beiseite. »Nur die Hitze, Frau, was sollte sonst schon sein?«

»Hoffentlich, Mann.« Annas Stimme sank ins Düstere. »Nicht dass er wegen dieser … dieser Schandtat hergekommen ist.«

»Schweig.« Sein Finger deutete mehrmals auf sie. »Ich bitte dich, schweig.« Mit großen Schritten eilte Til aus dem Steinsaal, und so rasch es ihre Körperfülle erlaubte, folgte ihm Anna wie ein mahnendes Gewissen.

Vom Schweiß schier aufgeweicht, stand der Bürgermeister im Innenhof. »Verzeih, Meister, wenn ich störe …«

»Aber nein, Georg.« Til sah ins gerötete Gesicht, die Augen wichen seinem Blick aus. »Komm in den Schatten.« Er führte den Gast zu Tisch und Bank vor dem Haupthaus.

Ächzend ließ sich der Bürgermeister nieder, öffnete den Kragen und trocknete sich mit dem Schnupftuch Hals und Nacken. »Ich will dich nicht lange aufhalten …«

»Ist schon in Ordnung«, unterbrach Til hastig, er spürte das Unangenehme und wollte Zeit gewinnen. Schuf er eine Skulptur, so öffnete er ihr sein Innerstes, war verwundbar, und er benötigte genügend Atem, um sich zu lösen und wieder zu wappnen. »Möchtest du Wein?«

Der Besucher schüttelte den Kopf. »Du weißt, wie sehr ich einen guten Tropfen schätze, aber …«

»Du hast recht, es ist auch viel zu heiß.« Til sah seine Frau an. »Dann also Wasser.«

Anna rührte sich nicht.

»Bitte«, betonte er.

Ohne Erfolg. Sie hielt den Mund erwartungsvoll geöffnet und schien bereit, jedem Vorwurf oder gar einer Anklage des Bürgermeisters beipflichten zu wollen.

Til hob die Stimme. »Die Magd soll uns Becher und einen Krug Wasser bringen. Und nun lass uns allein.« Härter noch setzte er hinzu: »Bitte, meine Liebe!«

Wie nach einem Schlag trat Anna zur Seite, lächelte erschrocken, nur mühsam bewahrte sie Würde und eilte ins Haus.