Risiko und Nebenwirkung - G.C. Hüls v. Rathsberg - E-Book

Risiko und Nebenwirkung E-Book

G.C. Hüls v. Rathsberg

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Mord in der Gegenwart. Lang zurückliegende, ungeklärte Todesfälle. Was hat der Apotheker, den man erschlagen im Wald fand, damit zu tun? Um dies zu verstehen, ist das Ermittlerteam um Kriminalhauptkommissar Julius Emmeran gezwungen, tief in die Vergangenheit einzutauchen. Der Bogen, gespannt von den 1950-er Jahren bis heute, bringt erschütternde Details aus dem Leben des ermordeten Apothekers ans Licht - führt er die Polizei auch auf die richtige Spur? G.C. Hüls v. Rathsberg verwebt meisterhaft eine dramatische Familiengeschichte mit einer spannenden Kriminalstory. Die Autorin, deren bürgerlicher Name dem Verlag bekannt ist, verwendet, als Abgrenzung zu ihren bisher publizierten Genres Lyrik und Erzählungen, hier das Pseudonym G.C. Hüls v. Rathsberg. Der Urahn, dessen Namen sie geliehen hat, möge es ihr nachsehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 397

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


G.C. Hüls v. Rathsberg

Risiko und Nebenwirkung

Kriminalroman

© 2020 G.C. Hüls v. Rathsberg

Lektorat, Korrektorat: Ines Brodda - Sikora

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-01863-1

Hardcover:

978-3-347-01864-8

e-Book:

978-3-347-01865-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Mir fällt ein Apotheker ein; er wohnt

Hier irgendwo herum. – Ich sah ihn neulich,

Zerlumpt, die Augenbraunen überhangend;

Er suchte Kräuter aus; hohl war sein Blick,

Ihn hatte herbes Elend ausgemergelt;

Ein Schildpatt hing in seinem dürft'gen Laden,

Ein ausgestopftes Krokodil und Häute

Von mißgestalten Fischen: auf dem Sims

Ein bettelhafter Prunk von leeren Büchsen

Und grüne Töpfe, Blasen, müff'ger Samen,

Bindfadenendchen, alte Rosenkuchen,

Das alles dünn verteilt, zur Schau zu dienen.

Betrachtend diesen Mangel, sagt' ich mir:

Bedürfte jemand Gift hier, des Verkauf

In Mantua sogleich zum Tode führt,

Da lebt ein armer Schelm, der's ihm verkaufte…

William Shakespeare, Romeo und Julia

1

Er besuchte sie regelmäßig. Jeden Samstag. Es gab keine Ausnahme. Außer, es lagen wichtige Gründe vor, die ihn daran hinderten. Zum Beispiel, er hätte Dienstbereitschaft. Aber heute befand sich sein Name nicht auf dem Notdienstplan. Nichts stand seinem Besuch im Wege.

Um dreizehn Uhr hatten die Mitarbeiterinnen die Apotheke verlassen. Er zählte die Einnahmen – wie jeden Samstag eher spärlich – und schloss das Geld im Tresor ein. Seit er außer einem Päckchen Ritalin keine Betäubungsmittel mehr lagerte, war dort wirklich genug Platz vorhanden. Es bestand kein Grund, die Tageseinnahmen noch in eine Geldbombe zu packen und zum Nachttresor zu bringen. Und außerdem hatte er auch keine Lust, selbst dorthin zu gehen oder überhaupt irgendwohin zu Fuß zu gehen, wenn er genauso gut am Montag das Lehrmädchen schicken konnte. Bevor er sich zu seinem regelmäßigen Besuch aufmachte, wollte er lieber noch ein wenig ruhen.

Dann seine Utensilien, die für den Besuch unerlässlich waren, zusammenpacken. Dieses Mal steckte er auch Medizin für sie dazu. Allzu oft vergaß sie, sich selbst darum zu kümmern. Oder sie wollte einfach keine mehr nehmen und besorgte sich aus diesem Grund keine.

Gegen neunzehn Uhr überzeugte er sich, dass die Apotheke ordentlich versperrt war, fuhr den Porsche aus der Garage und machte sich auf den Weg durch die Stadt. Es war den ganzen Tag drückend schwül gewesen, und hier inmitten der City staute sich die Hitze ganz besonders.

Das Haus, in dem sie ihr Appartement hatte, lag am Stadtrand, nahe am Villenviertel. Aber doch nicht ganz dort, wo die wirklich wohlhabenden Bürger ihre protzigen Emporkömmlingshäuser errichtet hatten. Die meisten in den fünfziger Jahren und entsprechend geschmacklos. Ihr Appartement dagegen befand sich in einem der älteren, gut gepflegten und instand gehaltenen Jugendstilgebäude, das durch einen glücklichen Zufall von den Bomben des Zweiten Weltkrieges verschont worden war. Dort war die Luft weniger stickig. Es gab genügend hohe Bäume, die Sauerstoff produzierten. Er konnte dort freier atmen. Nicht nur wegen der Bäume.

Ohne auf die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit zu achten, donnerte er über die Stadtautobahn. Wagen, die auf der linken Spur langsamer fuhren, drängelte er rücksichtslos ab. Fast unablässig bediente er die Lichthupe.

Mit einem letzten satten Röhren des Motors bog er von der Stadtautobahn ab, fuhr mit angepasster Geschwindigkeit durch den Wohnbereich und stellte den Wagen auf dem Besucherparkplatz des Hauses ab. Er hätte ihn nicht absperren müssen, denn die Wagen der anwesenden Gäste wurden im allgemeinen gut bewacht. Tat es aber dennoch aus alter Gewohnheit. Und weil ihm sein Porsche doch sehr am Herzen lag.

Nachdem er durch die kleine, parkähnlich angelegte Gartenanlage geschritten war, betrat er den Empfangsbereich des Hauses durch ein großes, zweiflügeliges Portal. Dass er sich beim Portier eintragen musste, gefiel ihm schon die ganzen Jahre nicht, seit er dieses Etablissement besuchte. Er hatte es aber mittlerweile als Formsache akzeptiert. Und da er seit langem ein regelmäßiger Stammgast war, reichte es dem Pförtner auch heute, dass er sein Namenszeichen unleserlich in die dafür vorgesehene Spalte des Gästebuches kritzelte.

„Guten Abend, Herr Tillmann“, grüßte der Portier höflich. „Die gnädige Frau erwartet sie schon. Ich habe bereits gekühlten Champagner hinaufbringen lassen. Darf ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Danke, Paul, ich schätze, ich werde auch ohne deine Hilfe gut zurechtkommen.“ Tillmann grinste anzüglich. „Oder warte, doch. Ich nehme gleich eine Flasche Dimples mit nach oben, den kannst du auf meine Rechnung setzen.“

„Sehr wohl, Herr Tillmann.“

„Und keine Störung für den Rest des Abends, ist das klar?“

„So klar wie immer, Herr Tillmann. Übrigens, haben Sie vor, uns im Laufe der Nacht noch zu verlassen? Oder beabsichtigen Sie, ein wenig länger zu bleiben?“

„Hat sie etwa noch Termine nach mir?“

„Nein, nein“, versicherte Paul eilig. „Die Dame steht bis morgen früh zu Ihrer Verfügung, ganz wie Sie es gewohnt sind.“ Er reichte ihm die kantige Whiskyflasche über den Tresen.

„Dann ist es ja gut. Schönen Abend noch, Paul.“

„Ebenfalls, Herr Tillmann, ebenfalls! Und, wenn ich anfügen darf, viel Vergnügen.“

Obwohl er die letzte Bemerkung für überflüssig hielt, winkte er dem Pförtner freundlich zu. Er schritt an dem plätschernden Springbrunnen vorbei, der von mehreren nackten Marmornymphen umgeben war, die einem ebenfalls nackten Marmorfaun zu Füßen lagen. Er ging unter einem mächtigen Kristalllüster hinweg auf die geschwungene, breite Steintreppe zu, die nach oben zu den Appartements führte.

Der weiche Orientteppich, über den wohl die meisten anderen Besucher gedankenlos gingen, weckte jedes Mal aufs Neue seine Bewunderung und gab ihm mit jedem Schritt ein angenehmes Gefühl von Luxus. Eines Luxus, der ihm gleichwohl zustand. Die Türen, die auf zwei Seiten des Eingangsbereiches abgingen, führten in die Fitnessräume des Hauses sowie in den Wohn- und Bürotrakt des Hausbesitzers.

Er war noch nie durch eine dieser Türen gegangen. Fitness und Sauna waren für ihn nicht von Interesse, und mit den Geschäften des Besitzers hatte er nichts zu tun.

Heidi erwartete ihn wie jeden Samstag in ihrem Appartement. Die halblangen blonden Haare zu einem losen Pferdeschwanz gebunden. Außer einer dünnen Silberkette und einem schmalen Armreif trug sie keinen Schmuck. Gekleidet in Jeans und T-Shirt, das Gesicht ungeschminkt. Lediglich die langen Fingernägel hatte sie in einem dunklen Rot lackiert.

Aus dem Lautsprecher des CD-Players drang leise seine Lieblingsmusik. Das Wiegenlied von Johannes Brahms, gespielt in einer Instrumentalfassung. Diese CD würde nun den ganzen Abend und, wenn er so wollte, auch die ganze lange Nacht laufen. So sehr ihr dieses Lied auch auf den Geist ging, es war sein Wunsch. Der Kunde war König, auch hier. Es gehörte zu dem samstäglichen Ritual ebenso wie alles andere.

Eigentlich war sie ganz froh darüber, dass heute Samstag war und damit Rudolf Tillmann ihr Gast, denn sie hatte die Woche über wirklich viel gearbeitet. Auch mit schwierigen Kunden hatte sie zurechtkommen müssen. Mit Kunden, die teils äußerst merkwürdige bis perverse Wünsche hatten. Und weil dieses Appartement teuer war und sie reichlich Geld für ihren Lebensstil benötigte, den sie mit ihrem Einkommen als Bibliotheksassistentin seit Jahren nicht mehr finanzieren konnte, richtete sie sich, so gut es eben ging, nach den Wünschen ihrer Besucher. Mit wenigen Ausnahmen. Es gab Dinge, die sie prinzipiell zu tun nicht bereit war. Praktiken, die mit Gewalt zu tun hatten, oder der in letzter Zeit wieder häufiger geäußerte Wunsch, auf das Kondom zu verzichten.Bei aller Liebe! So blöd war sie denn doch nicht. Sie war nicht überängstlich, was ihre körperliche Unversehrtheit anging. Doch hatte sie Angst, sich mit HIV zu infizieren.

Sie hatte in ihrem Beruf ein gewisses Ansehen erreicht und konnte es sich leisten, ihre Kundschaft auszuwählen. Uneinsichtige Freier schickte sie weg. Gelegentlich musste sie Paul über das Handy anrufen und ihn um Hilfe bitten. Der brachte es meist nur durch gutes Zureden fertig, derartige Herren ohne großes Aufsehen hinaus zu komplimentieren. Er konnte aber auch kräftig zulangen, wenn sich einer dieser Kerle sträubte oder handgreiflich wurde. Solche flogen gegebenenfalls auf recht schmerzhafte Weise nicht nur aus Heidis Bett, sondern auch gleich die prächtige Treppe hinunter und aus dem Haus. Und nur ganz ganz selten kam daraufhin eine Anzeige wegen Körperverletzung.

Im übrigen war Heidi stolz darauf, dass man ihr nachsagte, sie beherrsche jede oder zumindest beinahe jede Stellung des Kamasutra. Was natürlich beileibe nicht zutraf; vom Testosteron gesteuerten Männern konnte man schließlich jedes Märchen auftischen. Das brachte ihr die anspruchsvollsten Kunden ein. Anspruchsvolle Herren waren auch bereit, großzügige Geschenke zu machen. Dadurch verfügte sie nicht nur über ausreichend Bargeld, um ihre täglichen Kosten zu bestreiten (und wenn man darauf achtete, dass man gute Ware bekam, war der Stoff, den sie konsumierte, nicht gerade billig), sondern darüber hinaus besaß sie mehrere Pelze und hatte in einem Banksafe teuren Schmuck deponiert – das war ihre Altersversorgung. Denn sie war sich darüber im Klaren, dass ihr nur noch wenige Jahre blieben, in denen sie arbeiten konnte.

In wenigen Jahren würde sie sich zu Ruhe setzen. Die Vorstellung, eine ältliche, abgehalfterte Hure zu sein und nicht mehr die gefeierte Diva unter den Freudenmädchen, erschreckte sie. Aber so weit würde es nicht kommen. Das Geheimnis lag nur darin, rechtzeitig Schluss zu machen. Wie bei den meisten anderen Dingen.

Jetzt allerdings war angesagt, Rudolfs Wünsche zu befriedigen. Das hieß für sie, dass ihr ein ruhiger Abend bevorstand, vollkommen ohne Akrobatik. Rüdi, wie sie ihn nennen sollte, stellte wenig Ansprüche und war dennoch ausgesprochen großzügig, was Geldgeschenke anging. Er hatte aus ungenannter Quelle häufig auch Stoff für sie dabei. Erstklassigen, darauf konnte sie sich verlassen. Wenn sie sparsam war, reichte das Heroin die ganze Woche.

Andererseits war Rudolf Tillmann auch nicht gerade der Typ Mann, der bei Frauen, die Sex nicht verkauften und auch keine Geschenke erwarteten, besonders gute Chancen gehabt hätte: obwohl nahe dem Rentenalter, hatte er immer noch das Gesicht und den Rücken voller Aknepickel, auch die Pobacken waren davon übersät. Heidi vermied es, so gut es ging, ihn an diesen Stellen zu berühren. Meistens wollte er ohnehin nicht, dass sie ihn irgendwo anfasste. Er roch auch nicht gut. Ständig wehte aus seinem Mund ein Geruch nach angefaulten Zähnen und Alkoholdunst. Seinem unsteten Blick konnte sie in den ersten Wochen, in denen er sie besuchte, kaum Vertrauen abgewinnen. Er wirkte auf sie immer ein wenig irre. Mit der Zeit hatte Heidi aber erfahren, dass Rudolf zumindest harmlos war. Wenngleich nicht liebenswert im eigentlichen Sinn dieses Wortes. Wenn Rudolf Heidi mit seinen Händen berührte, hatte sie ständig das Gefühl weicher, schwammiger Würmer, die über ihre Haut krochen. Überhaupt war der ganze Mensch auf eine merkwürdige Art weich und schwammig, besonders der dicke, aufgeschwemmte Bauch. Leider begrapschte er Heidi bei seinen Besuchen oft und gerne, sodass sie sich manchmal fragte, ob während der Woche, die er in seiner Apotheke verbrachte, seine weiblichen Mitarbeiter nicht ständig auf der Hut sein müssten. Rudolfs Gang war eher schleichend, als wolle er vermeiden, dass jemand seine Schritte hörte. Die Stimme verwaschen, leise, hörte sich teilweise ängstlich, verschwörerisch an, wurde mit jedem Glas Alkohol nuschelnder und unverständlicher. Und er trank eine ganze Menge, nicht nur während seiner Bordellbesuche, sondern, wie sie herausgefunden hatte, auch die ganze Woche über. Tagsüber in der Apotheke, abends vor dem Fernseher, wohin er sich nach Feierabend alleine zurückzog.

Rudolf hatte Heidis Räume betreten. Er begrüßte sie flüchtig und stellte erleichtert fest, dass sie, gemäß seiner Anordnung, aussah wie eine x-beliebige Frau. Ihren Beruf als Prostituierte wollte er ihr nicht ansehen müssen. Prostituierte erweckten seinen Abscheu. Erst wenn er hier war, durfte sie sich verwandeln.

„Los, jetzt zieh dich um!“

Heidi zog sich das T Shirt über den Kopf, wobei Rudolf sich höflich umdrehte. Währenddessen nahm er die Champagnerflasche aus dem Kühler und öffnete sie. Er goss zwei schlanke Gläser voll und quengelte ungeduldig:

„Und, bist du fertig? Warum brauchst du heute so lange?“

„Einen winzigen Augenblick noch, Rüdilein, die Haare sitzen noch nicht richtig.“

Heidis Veränderung war verblüffend. Aus der flotten, modischen war nun eine hausbackene Frau geworden.

Doch trugen ganz bestimmt nur die allerwenigsten, selbst die bravsten und biedersten, Frauen nachts, wenn sie mit ihrem Ehemann(?) intim wurden, nicht so ein Zeug, wie es Rudolf von ihr verlangte. Nichts darunter, ganz besonders nicht Reizwäsche in irgendeiner Weise, und darüber ein wadenlanges Flanellnachthemd, so wie es wahrscheinlich in den fünfziger Jahren einmal in Mode gewesen war. Und damals auch nur dann getragen wurde, wenn die Eheleute keine nächtlichen Aktivitäten geplant hatten. Der Grund vanillegelb, mit neckisch verstreutem Blümchenmuster, dazu ein reizender kleiner Spitzenkragen und ein gelbes Bindebändchen aus Satin. Auf jeden Fall viel zu warm für diesen schwülen Sommerabend. Sie würde die Nacht über umkommen vor Hitze, das wusste Heidi jetzt schon. Auf keinen Fall durfte sie Parfüm auflegen, einige Spritzer Kölnisch Wasser dagegen waren gestattet. Unter der Perücke, die sie unter allen Umständen tragen musste, um bei Rudolf auch nur die kleinste Reaktion hervorzurufen, begann sie jetzt schon zu schwitzen. Sie war ebenfalls nach Art der Jahre, als Rudolf noch ein Kind gewesen war, geschnitten. Die durfte sie auf keinen Fall abnehmen, solange er bei ihr war. Dunkelbraun, vorne in einer flotten Welle nach hinten frisiert. Die halblangen Haare musste sie regelmäßig auf große Lockenwickler drehen, damit sie brav in weichen Wellen auf ihre Schultern fielen. Lockenwickler wollte Rudolf allerdings nicht bei ihr sehen. Als es trotzdem einmal passiert war, dass sie vergessen hatte, einen zu entfernen, hatte Rudolf sie geschlagen. Nicht sehr derb, aber trotzdem schmerzhaft. Hauptsächlich war sie aber erschrocken gewesen. Rudolf war im Bett sonst immer ein sehr braves Kind.

„Nun mach schon.“ Rudolf öffnete den Whisky. Er verzichtete darauf, ein Glas zu benutzen, und nahm einen kräftigen Zug direkt aus der Flasche.

„Kannst dich umdrehen, Schatz, jetzt passt alles.“

„Dann mach mich jetzt fertig, Mama.“

Von diesem Moment an nannte er sie stets Mama. Das hatte sie anfangs irritiert. Andererseits hatte sie wahrlich schon schlimmere Perversionen erlebt, als dass sie dies noch groß erschüttern konnte. Wenn er einen Ödipuskomplex hatte, hatte er eben einen, basta.

Jetzt war es Heidis Aufgabe, Rudolf zu entkleiden. Stand er in Socken und Unterhose vor ihr, ließ er sich gewöhnlich mit einem leisen Seufzen rücklings auf ihr Bett fallen. Sie kniete davor nieder und entfernte die Strümpfe. Bevor sie sich an der immer leicht angeschmuddelten Unterhose zu schaffen machen durfte, musste sein hellblauer Frotteeschlafanzug bereit liegen. Beim Ausziehen des Schlüpfers durfte sie ihn dann erstmals ein klein wenig streicheln. Das reichte meistens aus, um seine Erregung zu wecken.

Heidi erhob sich von den Knien und begann, Rudolf das Oberteil überzuziehen. Zuerst die Ärmel, dann über den Kopf. Die Frotteehose brauchte er erst später. Wenn sie ihre Arbeit getan hatte.

Während dieser Aktion hatte Rudolf gelegentlich am Champagner genippt und häufiger die Whiskyflasche angesetzt, sodass er nun schon reichlich angetrunken war. Auch Heidi forderte er auf zu trinken. Sie blieb beim Champagner. Whisky mochte sie nicht.

„So, und jetzt leg dich ins Bett und mach die Beine breit!“

Heidi tat wie geheißen. So war es immer, so war es auch heute. Blümchensex. Langweiliger Hausfrauensex. Ein bisschen fummeln, ein bisschen vögeln, und nach fünf Minuten würde sie ihren Job erledigt haben. Rudolf kletterte dann mit einem zufriedenen Grunzen von ihr herunter, drehte sich auf die Seite und schlief nach wenigen Augenblicken ein.

Obwohl sie um Himmels Willen keine Hausfrau diskriminieren wollte. Sie war sich der Tatsache, dass die meisten Hausfrauen durchaus ihre Fantasie benutzten und alles andere, nur nicht die Missionarsstellung bevorzugten, durchaus bewusst.

Hatte Rudolf später seinen Alkoholrausch ausgeschlafen, machte er sich, ohne sie aufzuwecken, auf den Heimweg. Morgens würde sie wie immer einige größere Geldscheine auf der Kommode finden. Die Höhe der Geschenke überließ sie stets dem Kunden.

Jetzt begann Rudolf zaghaft, ein wenig zwischen ihren Beinen herumzufummeln. Allerdings war bei ihm nicht die geringste Spur einer Erektion zu bemerken, sodass Heidi schließlich vorsichtig anfragte:

„Soll ich dir helfen, mein Liebling? Du weißt schon…“

„Sei still, ich schaff das schon“.

Tat er aber nicht, und als sich nach weiteren Minuten immer noch nichts tat, berührte sie ihn ganz vorsichtig mit der Hand.

„Hör sofort damit auf, sofort! Habe ich gesagt, du sollst mich anfassen? Du führst dich auf wie eine Hure, Mama!“

„Entschuldige bitte“, hauchte Heidi. „Lass dir doch helfen! Komm schon, du weißt doch, ich habe da ein paar Tricks auf Lager. Siehst du? So zum Beispiel…“ Heidis erfahrene Hände strichen liebkosend über ihn, mit dem Ziel, sein schlafendes Glied zum Leben zu erwecken.

Statt dessen fuhr Rudolf hoch und griff nach der Whiskyflasche.

„Rüdi?“

„Halt´s Maul und leg dich hin!“

„Willst du wirklich nicht…?“

„Nein, du alte Sau, halt bloß deine Pfoten von mir fern, sonst knallt es!“

Heidi wurde blass. Im nächsten Moment war Rudolf wieder ganz gelassen.

„Mach die Augen zu und schlaf jetzt, ist doch kein Problem! Wir ruhen uns jetzt aus!“ Er gab ihr lächelnd ein Küsschen auf die Nasenspitze und zog die Zudecke zurecht. „Vögeln wir eben später.“ Griff schon wieder zur Flasche und nahm einen tiefen Zug.

Ganz plötzlich riss er die Decke weg und schlug mit der Faust in ihren Bauch. Heidi krümmte sich vor Schmerz.

„Du blöde, alte Hure, nicht einmal das kannst du“, kreischte er hysterisch. „Was glaubst du denn, wozu ich überhaupt hierher komme, du Aas? Aber das wird jetzt sowieso alles anders. Ich komme nämlich überhaupt nicht mehr zu dir. Ich habe jetzt schließlich Eva-Maria, die liebt mich wirklich. Ich werde sie heiraten, und dann ist Schluss mit dreckigen Nutten. Schämst du dich denn gar nicht? Alte, dreckige, verfickte Hurensau! Und für so etwas zahle ich einen Haufen Geld, nicht zu fassen!“ Er holte aus und versetzte Heidi einen kräftigen Fausthieb ins Gesicht, so dass ihre Oberlippe aufsprang und heftig blutete. In Sekundenschnelle verfärbte sich ihre Wange rotviolett. In panischer Angst angelte Heidi nach dem Handy, das gewöhnlich griffbereit neben dem Bett lag. Rudolf war schneller. Er ergriff das Handy und hatte mit einem Ruck den Akku entfernt.

„Ruf doch um Hilfe, doofe Kuh!“

Vor Angst und voller Schmerzen begann Heidi zu schluchzen. Höhnisch lachend hielt er das unbrauchbare Telefon in die Höhe, um es ihr gleich darauf mit voller Wucht gegen die Schläfe zu schlagen.

Er setzte sich rittlings auf ihren Bauch. Seine Oberschenkel umklammerten sie wie ein Schraubstock, sodass sie unfähig war, sich zu bewegen. Er versetzte ihr mit der Handfläche eine kräftige Ohrfeige.

„Rudolf, bitte, was tust du denn? Bitte, bitte beruhige dich! Ich mach bestimmt alles, was du möchtest, du musst es nur sagen. Tu mir bitte nicht mehr weh!“, flehte sie unter Tränen.

„Tu mir nicht weh, tu mir nicht weh!“, äffte er kindisch nach. „Keiner tut dir weh, wenn du machst, was du sollst. Sei jetzt ganz still und schlaf, dann tut dir niemand etwas.“

„Wirklich, Rudolf? Ist es vorbei? Rudolf, ist es vorbei?“ Angstvoll sah Heidi zu ihm auf. „Ich hatte solche Angst vor dir! Bist du jetzt wieder in Ordnung?“

Rudolf lockerte seinen Klammergriff.

„Aber sicher, Mama, dir passiert nichts mehr“, versicherte er. „Du kannst jetzt ruhig schlafen, ich versprech es dir.“

Er stand vom Bett auf und machte sich an seiner Ledertasche zu schaffen, in der er seine Ausrüstung mitzubringen pflegte. „Aber vorher musst du deine Spritze bekommen, Mama. Du weißt doch, ohne sie wirst du krank!“

Jetzt war er wieder ganz der brave kleine Junge.

„Hier, trink zuvor noch einen Schluck Champagner, dann spürst du den kleinen Piks nicht so sehr!“

Auch das war Bestandteil des Rituals. Nach erfolgter Befriedigung setzte Rudolf Heidi meistens eigenhändig einen Schuss. Heidi wollte heute lieber nicht. Rudolf war nicht wiederzuerkennen. Er war eigentlich kein gewalttätiger Mensch. Irgend etwas in ihm war ausgerastet. Er war unberechenbar, wie sie selten einen Menschen erlebt hatte. Wer konnte wissen, ob er sie nicht verletzte, ob er die richtige Dosis fand? Andererseits hatte sie Angst, dass er sie gleich wieder schlagen würde, wenn sie wagte, das Ritual zu unterbrechen. So hielt sie ihm gehorsam den Arm hin.

Heidi war nicht sicher, ob sie überhaupt richtig mitbekam, was Rudolf mit ihr tat. Der Schlag auf die Schläfe hatte sie beinahe bewusstlos gemacht. Jetzt war ihr schwindlig und sie spürte, dass sie nahe an einer Ohnmacht war. Sie hatte wahrscheinlich auch zu viel von dem Champagner getrunken.

Rudolf stach die aufgezogene Spritze in Heidis Armbeuge und drückte eine tödliche Dosis einer trüben Flüssigkeit in ihre Vene. „So, schon vorbei! War doch gar nicht schlimm, Mama! Und jetzt schlaf, ich bleib noch bei dir, bis du eingeschlafen bist.“

Irgendwie war es anders als sonst. Im ersten Moment spürte sie gar nichts, dann drehte sich auf einmal das ganze Zimmer um sie. Muss ein komisches Zeug gewesen sein, dachte sie verwirrt. Das Blut rauschte wie Meereswogen laut in ihren Ohren. Auf einmal wurde ihr schrecklich elend, und der kalte Schweiß brach aus allen Poren. Sie musste dringend ins Badezimmer gelangen, sie würde sich gleich übergeben müssen. Scheiße, das war eine gewaltige Überdosis! Mehr unterbewusst spürte sie, dass sie Hilfe brauchte.

„Muss Paul rufen…! Handy…! Wo…?“

Doch als sie versuchte, aus dem Bett zu kommen, gelang es ihr nicht. Einen Augenblick später wusste sie nicht, ob ihr nun schlecht war oder ob sie Heißhunger verspürte, und noch eine Sekunde später sank sie langsam durch eine weiche, wabbelige Masse in ein bodenloses Loch, bevor sie von einer tiefen Bewusstlosigkeit erfasst wurde. Heidi starb unter den lieblichen Klängen von Brahms` Wiegenlied.

„Siehst du, Mama, jetzt ist alles gut,“ flüsterte Rudolf. Mit einem Papiertaschentuch tupfte er vorsichtig das Blut von ihrer Lippe. Er befeuchtete die Ecke eines Handtuches und kühlte damit das Hämatom in ihrem Gesicht. Er legte sich zu ihr ins Bett und küsste sie sanft auf die Stirn. „Jetzt träum süß. Morgen haben wir alles vergessen!“

Rudolf Tillmann zog die Zudecke bis ans Kinn und kuschelte sich zufrieden an seine Mama, die ganz ruhig neben ihm schlief.

2

Rudolf zieht sich die Zudecke bis unter das Kinn und versucht einzuschlafen. Es ist kalt in dem Zimmer mit den hohen Wänden, denn der Onkel gestattet nicht, die Schlafräume zu heizen. Aber es nicht nur die Kälte, die Rudolf nicht einschlafen lässt. Aus dem Treppenhaus hört er wieder diese Stimmen, laut und böse. Die lassen ihn keine Ruhe finden. Er wundert sich, dass Nele schon eingeschlafen ist. Nele soll auch schlafen, schließlich ist sie ein Jahr älter als er und soll im nächsten Herbst eingeschult werden. Aber vielleicht schläft sie auch nicht, vielleicht hat sie die Decke nur bis über die Ohren gezogen, um nicht hören zu müssen, wie die Eltern sich gegenseitig anbrüllen, wie der Onkel dazwischengeht mit seiner lauten, herrischen Stimme. Rudolf kann das nicht, er will hören, will nicht hören, will hören, spitzt die Ohren, dass ihm nichts entgeht.

„Mitspracherecht, ha, dass ich nicht lache! Alles willst du an dich reißen! Die Apotheke soll ich dir überschreiben! Lange Finger machst du nach meinem Eigentum! Meinem Eigentum, merk es dir genau! Alles hier gehört mir, du bist ein armer Schlucker!“

„Ist ja gut, Onkel! Wir sind dir wirklich sehr dankbar, dass du uns damals aufgenommen hast, aber…“

Dann die grobe Stimme des Vaters:

„Klara, das geht dich nichts an! Du kannst ja schließlich den ganzen Tag machen, was du willst.“

„Was? Ich kann machen was ich will? Du erlaubst mir ja nicht einmal, dass ich die Kinder in den Kindergarten bringe. Du sperrst mich hier ein! Weißt du eigentlich, wie lange ich schon nicht mehr vor der Haustür war? Nein? Seit Rudolf geboren ist, sitze ich nun schon hier in diesem alten Kasten fest! Das raubt mir die Luft, verstehst du?“

„Wie? Willst du damit sagen, ich raube dir die Luft? Ich raube dir irgendetwas? Du bist anscheinend zu blöd zu begreifen, dass ich dich zu deinem Schutz einsperren muss. Denkst du etwa, das fiele mir leicht? Sag noch ein einziges Mal, ich beraube dich, dann kracht es aber gewaltig.“

Zur Unterstützung seiner Worte gibt Johannes Tillmann seiner Frau eine laute Ohrfeige.

Dann wieder der Onkel:

„Da siehst du es ja! Nicht einmal deine eigene Frau hast du im Griff! Schlagen musst du sie! Etwas anderes fällt dir wohl nicht ein?“ Er lacht höhnisch. „Wie denkst du denn, dass du Personal führen könntest? Oder mit den Vertretern verhandeln? Willst du die ebenfalls schlagen, wenn sie nicht nach deinen Wünschen tanzen?“

„Ach, Onkel, es ist schon in Ordnung so. Du kannst Johannes ruhig mehr vertrauen, sieh, ich vertrau ihm doch auch. Er schlägt mich nicht absichtlich! Nicht wahr, Johannes, das war nur ein Ausrutscher. Es hat auch nicht sehr weh getan.“

„Was, nicht sehr weh getan?“

Unbeherrscht schlägt Johannes abermals zu. Dieses Mal platzt ihre Lippe auf. Mutter schluchzt leise auf.

„Das hast du davon, dich in geschäftliche Gespräche einzumischen, blödes Weib. Mehr kannst du nicht! Kein Wunder, hast ja auch nichts gelernt“.

Zaghaft die Mutter: „Du weißt sehr gut, dass ich etwas gelernt habe.“

„Tanzen, ja? Dass ich nicht lache, ha ha, tanzen! Und saufen, jawohl, das kannst du auch! Und dich an meinen Medikamenten vergreifen! Oder denkst du, ich merke nicht, wie häufig der Bestand an Tranquilizern nicht stimmt? Aber meinetwegen, mach dich doch ruhig kaputt, ist schon ein Schmarotzer weniger in meinem Haus. Johannes hat ganz recht, dich einzusperren. Schande brächtest du über mein Haus. Nicht auszudenken, sähe dich einer meiner Kunden betrunken durch die Gegend torkeln, randvoll mit Beruhigungsmitteln.“

„Das reicht, Onkel, das ist ungerecht. Wer hat mir denn die Medikamente gegeben, als es mir während der Schwangerschaft nicht gutging? Die nehmen dir die Angst, hast du gesagt, dann bräuchte ich nicht so nervös zu sein. Und Johannes hat es gewusst und nichts getan, mich davon abzuhalten. Geradezu gefördert hat er es noch! Hat mir eingeredet, zwei, drei Gläschen Wein jeden Tag und einige Schnäpse würden dazu beitragen, dass das Kind nicht zu groß würde und ich nach der Entbindung gleich wieder meine schlanke Figur hätte. Und du, Johannes, hast mir versprochen, nach dem dritten Kind darf ich wieder tanzen.“

„So? Dann geh doch tanzen! Hier, ich schlage den Takt dazu, du Miststück!“ Er schlägt wieder zu.

„Onkel, hilf mir bitte“, fleht die Mutter leise.

Aber Onkel Adolf stapft die Treppe hinauf in Richtung seiner Wohnung. Unterwegs schimpft er über die Schulter zurück:

„Macht euren Ehekrach gefälligst alleine aus! Geht mich doch nichts an“, und knallt die Türe hart hinter sich ins Schloss.

„Hast du es wieder einmal geschafft, mich aus dem Haus zu jagen, ja? Gut, wenn du es nicht anders haben willst! Huren wie dich finde ich an jeder Ecke! Dich brauche ich ganz sicher nicht.“

Der Vater trampelt die Treppe hinunter. Kurz darauf hört Rudolf, wie die Haustür hinter ihm zuschlägt.

Rudolf hört die Mutter weinen. Er hat ganz stark das Bedürfnis, sich irgendwo anzukuscheln. Nele, die wirklich schon schläft, brummelt ärgerlich, als er zu ihr ins Bett kriechen will und schubst ihn hinaus.

Zu Ulrich will er lieber nicht. Der hat sein eigenes Zimmer nebenan, weil er der Älteste ist und schon aufs Gymnasium geht. Ulrich bekommt von den endlosen Streitereien im Haus wohl am allermeisten mit, aber ihm scheint das egal zu sein. Er kümmert sich auch nicht darum, was der Vater oder der Onkel von ihm verlangen, und Verbote ignoriert er meistens. Ulrich ist das einzige der drei Kinder, das ein klein wenig Freiheit hat, auch wenn er diese häufig mit einerTracht Prügel bezahlt. Auch das scheint ihm egal zu sein. Ulrich geht mit den anderen Jungs Schlittschuh fahren, er hat sogar Schwimmen gelernt. Seit Jahren geht Ulrich wann und wohin es ihm einfällt, und seit Jahren steckt er ohne zu jammern Prügel dafür ein. Trotzdem lacht Ulrich häufig. Keines der kleineren Geschwister kann so lachen wie er. Und lautes Lachen hat der Onkel sowieso verboten, lautes Lachen stört seine Ruhe. Wie überhaupt alles, was die Kinder machen, seine Ruhe stört. Der Onkel kann Kinder im Grunde nicht ausstehen.

Also, jedenfalls zu Ulrich kann Rudolf auch nicht kuscheln gehen; Ulrich lacht ihn immer aus und sagt Baby zu ihm.

Mama sagt auch Baby zu ihm. Aber die sagt es in einem ganz anderen Ton. Nicht spöttisch, sondern liebevoll. Rudolf schleicht über den kalten Flur hinüber ins Elternschlafzimmer. Die Mutter liegt in dem wuchtigen Ehebett. Er klettert zu ihr. Sie ist schön warm und weich, ihr hellgelbes Nachthemd mit den niedlichen Blümchen duftet leicht nach Kölnisch Wasser. Sie weint jetzt nicht mehr. Nur ab und zu seufzt Mama schwer in sich hinein. Er kuschelt sich eng an sie, und sie streichelt ihm zart mit der freien Hand über den Kopf.

„Schlaf, mein süßes Baby, sei ganz ruhig. Siehst du, die Mama schläft auch gleich. Soll dir die Mama ein bisschen Musik machen, ja?“

Rudolf flüstert freudig:

„Ja, Mama, mach für mich Musik!“

Die Mutter steht auf und geht mit unsicheren, kleinen Schritten zur Musikkommode. In einer Hand die Whiskyflasche, sucht sie im Plattenfach nach der Scheibe mit dem Wiegenlied, das ihr kleiner Junge so gerne hört. Schon als Baby schlief er immer sofort ein, wenn sie diese Platte abspielen ließ.

Leider sind ihre Bewegungen fahrig, sodass ein ganzer Stoß Schallplatten aus dem Fach auf den Fußboden rutscht. Aber jetzt hat sie die richtige gefunden. Während Mama die Scherben der heruntergefallenen Platten einsammelt, schläft Rudolf bei den Klängen des Wiegenliedes glücklich ein.

Aber er schläft nicht sehr lange. Die Türe wird aufgerissen, der Vater steht schwankend im Türrahmen.

„Welches verfluchte Miststück hat meine Schallplatten kaputt gemacht?“ Seine Stimme ist nicht mehr ganz klar. Drohend hält er ein zackiges Stück schwarzen Vinyls in der Hand. Er muss es wohl im Abfalleimer gefunden haben.

„Entschuldige bitte, Johannes, es war ein Versehen! Ich hab das nicht gern getan“.

Mama hält abwehrend die Hand vor ihr Gesicht. Sie weiß, dass nun Prügel auf sie zukommen. Vater schlägt so brutal zu, dass die Lippe wieder aufreißt. Mutter versucht nicht, sich zu wehren. Hat ja ohnehin keine Chance. Boxhiebe und Ohrfeigen hageln auf sie herab.

Dann entdeckt Vater Rudolf, der sich ganz klein zusammengerollt hat, um möglichst wenig aufzufallen. Er zerrt ihn aus dem Bett.

„Aha, die kleine Memme in Mamas Bett! Habe ich dir nicht verboten, bei deiner Mutter zu schlafen? Hier, du hast es nicht anders verdient!“

Auch Rudolf bezieht jetzt eine Tracht Prügel, die geeignet ist, einem Fünfjährigen das Rückgrat ein für allemal zu brechen. Zumal wenn er ein so sensibles Kind ist wie Rudolf.

Aber damit nicht genug. Der Vater schleudert Rudolf achtlos in die Zimmerecke wie einen alten Sack, und genauso bleibt Rudolf dort liegen. So sieht er durch einen Tränenschleier, wie der Vater den Gürtel aus den Schlaufen zieht. Er öffnet die Knöpfe seiner Hose und wirft sich mit Wucht auf die Mutter, die entsetzt aufschreit. Dann hört er Mama wimmern und Vater grunzen. Rudolf weiß nicht, was da geschieht. Es sieht aus, als rängen seine Eltern in einem erbitterten Kampf. Dann stöhnt Vater laut auf und wälzt sich von Mama herunter.

„Hör auf zu flennen! Das hast du doch gebraucht, du Flittchen!“, fährt er sie an. „Du kannst mir dankbar sein, dass ich zu dir komme zum Vögeln und nicht ins Hurenhaus gehe, wie du es eigentlich verdient hast.“

Mama sagt nichts. Sie steht wortlos auf, zieht ihr hochgeschobenes Nachthemd zurecht, fasst Rudolf bei der kleinen Hand und führt ihn in sein Zimmer.

Am nächsten Morgen ist alles wie immer. Der Vater ist schon unten in der Apotheke, wo er zusammen mit dem Onkel und zwei Frauen arbeitet. Mama sitzt am Esstisch im Wohnzimmer. In der Kaffeetasse vor sich eine Flüssigkeit, die wie Tee aussieht und einen stechenden Geruch hat. Auf dem Ecktisch eine halbvolle Flasche mit der gleichen Flüssigkeit. Über das Blümchennachthemd hat sie einen schäbigen gestreiften Morgenmantel aus Frottee gezogen. Der ist nicht besonders elegant, wärmt sie aber wenigstens ein bisschen auf, denn in der schlecht geheizten Wohnung friert Mama immerzu. Aber sie lächelt wieder, so gut das mit der aufgeplatzten Lippe geht, streichelt Rudolf den Kopf.

„Alles in Ordnung, Rüdi, mein kleines, süßes Baby. Vater ist in der Apotheke. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.“

3

Als er erwachte, war es draußen noch stockfinster. Er griff nach der teuren Armbanduhr, die er vor dem Schlafen achtlos neben das Bett hatte fallen lassen. Die Zeiger standen auf zwei Uhr dreißig. Dunkel erinnerte er sich, dass die Sache mit dem Sex vorhin wohl nicht so gut gelaufen war. Nun, jetzt fühlte er sich fit genug! Und schließlich hatte er Heidi ja versprochen, das Versäumte nachzuholen. Er rüttelte sie leicht am Arm.

„Heidi, mein Vögelchen, wach auf! Dein kleiner Junge möchte jetzt gern ein Nümmerchen mit dir schieben“, raunte er. Nichts regte sich. „Heidi? He, wach auf, ich bin’s, dein Rüdi! Heidi? Warum schläfst du denn so furchtbar tief?“

Er knipste den Deckenfluter an, der neben dem Bett stand und bei Bedarf gedämpftes Schummerlicht verbreiten sollte. Bei Licht, besonders bei dieser düsteren Beleuchtung, sah Heidi irgendwie bleich aus.

„So, nun ist es aber genug. Heidi, aufwachen! Ist dir nicht wohl? Heidi! Wach auf!“ Er schüttelte jetzt kräftig an ihrem Arm, der, sowie er ihn losließ, kraftlos auf die Bettdecke fiel. Langsam wurde er zornig. Heidi lag da wie tot. Und er wollte sie doch jetzt vögeln! Das konnte sie wirklich nicht bringen. Letztendlich war er der zahlende Kunde, und das nicht zu knapp! Rudolf Tillmann erhob sich vom Bett, tappte zum Lichtschalter und schaltete die helle Deckenbeleuchtung an.

Der Raum sah aus wie immer. Seine Kleidung lag,ordentlich zusammengelegt, wie Mama es immer tat, wenn sie ihn zu Bett brachte, auf dem mit königsblauem Samt bezogenen Sessel, der auf Heidis Seite neben dem breiten französischen Bett stand, das mit ebenfalls königsblauem Satin bezogen war. Die zu zwei Dritteln geleerte Whiskyflasche stand auf dem zierlichen, weißen Tischchen mit den geschwungenen Beinen, das sich auf seiner Seite des Bettes befand.

Auf dem Tischchen lag außerdem noch das Spritzbesteck, das er für Mamas allabendliche Insulininjektion benutzt hatte, sowie die leere Durchstechampulle. Was? Wieso denn leer? Er hatte doch nur die nötigen Einheiten Insulin aufgezogen und Mama gespritzt. Da war er sich ganz sicher, oder? Doch, er war sich sicher. Hinterher hatte er Heidi ihren Schuss gesetzt.

Irgendetwas konnte daran allerdings nicht stimmen. Heidi und Mama hatten sich noch nie im selben Raum aufgehalten. Er konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob Mama Heidi jemals kennen gelernt hatte. Schließlich war Mama schon viele Jahre tot.

Sein Blick wanderte zurück zum Bett, wo Heidi zwischen edlem blauem Satin lag. Und wie es den Anschein hatte, ebenfalls tot war. So ein Unsinn! Heidi war gesund und munter, jedenfalls war sie das gestern Abend noch gewesen. Um sich zu überzeugen, beugte Rudolf sich über ihr Gesicht und lauschte nach ihrem Atem. Nichts zu hören. Er legte seinen Finger auf die Schlagader an ihrem schlanken Hals, um den Puls zu fühlen. Kein Puls, Scheiße! Was war da nur schief gelaufen? Oh je, oh je!

Was war eigentlich genau passiert? Er versuchte, die Ereignisse in seinem Kopf zu rekonstruieren, doch er konnte sich nicht recht konzentrieren. Vielmehr vermengte sich die Gegenwart und die Erinnerung in seinem Kopf zu einem zähflüssigen, undurchdringlichen Brei, und er verlor jede Übersicht. Dazu spürte er, er würde gleich kotzen müssen. Er taumelte ins Badezimmer. Mit einem bitteren Geschmack im Mund und brennendem Hals blieb er am Rand der Schüssel liegen und wartete darauf, wieder Klarheit in seine Gedanken zu bekommen.

Langsam formte sich der Morast in seinem Kopf zu einer halbwegs plausiblen Reihenfolge. Er hatte - wie er verschämt glaubte, erfolglos - versucht, mit Heidi zu schlafen. Dann hatte Vater Mama geschlagen, und zwar hart und brutal wie immer. Rudolf hatte nicht mehr geweint, er war ja inzwischen beinahe erwachsen. Er hatte Mama aber auch nicht geholfen.

Dann hatte Vater Heidi verprügelt. Erst als Vater gegangen war, hatte er sie getröstet, hatte ihre blauen Flecke gekühlt und das Blut abgewischt. Er hatte Heidi zugedeckt und ihr ihren Schuss gesetzt. Er hatte Mama ihr Insulin verabreicht, wie er es immer tat, seitdem ihre Hände so stark zitterten, dass sie dazu nicht mehr alleine imstande war.

Oder war es doch irgendwie anders gewesen? Ganz allmählich wurde es etwas heller in seinem Gehirn, ohne dass er jedoch wirkliche Klarheit gewann. Jetzt jedenfalls lag Heidi tot auf dem Bett, und wie es aussah, war sie gestorben, während er neben ihr lag und schlief.

Ihm dämmerte, dass ihm irgendwo ein schrecklicher Fehler unterlaufen sein musste. Das war nicht gut! Er sollte lieber zusehen, dass er verschwand, bevor jemand die Tote fand.

Rudolf zog sich hastig an. Er nahm seine Ledertasche und verstaute darin den Schlafanzug und die leere Ampulle, warf auch das Spritzbesteck hinein. Die leere Champagnerflasche nahm er am besten auch mit, denn es waren seine Fingerabdrücke daran. Er holte die CD aus dem Abspielgerät und packte sie ebenfalls ein. Das war immerhin seine; er wollte sie nicht zurücklassen, obwohl er die gleiche auch bei sich zuhause hatte.

Rudolf Tillmann löschte die Lichter und ging mit leisen Schritten auf den Flur. In der Tür drehte er sich noch einmal um. Er warf einen letzten Blick auf Heidi, die nun, da nur der schwache Schein einer weit entfernten Straßenlaterne auf sie fiel, aussah, als schliefe sie.

„Machs gut, Baby!“, flüsterte er, als er die Tür leise hinter sich in das Schloss zog. Auf halbem Weg zur Treppe fiel ihm ein, dass er die Flasche Dimples Old Scotch Whisky auf dem Tisch vergessen hatte. Sie hier zu lassen, wäre nun wirklich zu blöd gewesen! War immerhin ganz schön teuer, das Zeug. Er würde den Whisky eben alleine zuhause trinken.

Er ging noch einmal zurück, schlich in das Zimmer und griff sich die Flasche. Im Wagen würde er sie in die Tasche zu den anderen Sachen packen. Jetzt war es erst einmal wichtig, möglichst unauffällig aus dem Haus hinaus zu seinem Parkplatz zu gelangen.

Er hatte Glück. Paul, der Portier, der jeden Samstag hier Nachtdienst tat, saß nicht hinter seinem Tresen. Auch im Fitnessbereich war Ruhe. Ungesehen erreichte er durch den dunklen Garten den Parkplatz. Wenn die Männer des Sicherheitsdienstes, die das Haus nächtens bewachen sollten, gerade auf der anderen Seite ihrer Runde angelangt wären, würde er unbemerkt wegfahren können.

Der scharfe Rottweiler, der von einem der beiden Wachmänner geführt wurde, spitzte die Ohren, als er vom hinteren Bereich des Hauses, wo die Besucherparkplätze lagen, einen Motor starten hörte, und knurrte leise. „Ist gut, Anton, wir gehen nachsehen!“ Max Jobst, einer der beiden Männer, tätschelte beruhigend Antons Hals.

Rudolf gab sich Mühe, den Porsche so leise wie möglich aus der Einfahrt zu bringen. Er verzichtete darauf, aus purer Freude an dem tiefen Aufbrummen des PS-starken Motors beim Starten kräftig das Gaspedal duchzutreten, wie es sonst seine Gewohnheit war. So kam er problemlos weg und war schon um die Ecke in die Mozartstraße gebogen, ehe Max, sein Kollege Gerd Franke und der Hund Anton das Haus umrundet hatten und auf dem Parkplatz nach dem Rechten sahen.

In der Stadt war um diese Zeit wenig Verkehr. So konnte Rudolf Tillmann kräftig Gas geben, kaum dass er das Wohnviertel verlassen hatte, das von den Anliegern liebevoll „Komponistenviertel“ genannt wurde und für seine ruhige Lage und, dank der großen Gärten, die die Häuser umgaben, auch für seine gute Luft geschätzt wurde. Hier wohnten bevorzugt Ärzte, Professoren und andere gut verdienende Leute, die sich wegen der hohen Mieten kein Kopfzerbrechen machen mussten.

Nach wenigen Minuten konnte er auf die Stadtautobahn fahren, die Sonntag Morgen, kurz vor vier Uhr, geisterhaft leer war. Dort gab er Vollgas. Nach den wenigen Kilometern bis zu seiner Ausfahrt war es nicht nötig, dass er für den Weg durch die Stadt die Geschwindigkeit deutlich drosselte. Die Ampeln waren fast noch alle abgeschaltet. Erst ab halb sieben, wenn werktags der Berufsverkehr die Straßen verstopfte, wurden sie in Betrieb genommen.

Ein wenig befürchtete Rudolf, dass er möglicherweise von einer Polizeistreife gestoppt würde. Nicht der toten Heidi wegen, es würde noch Stunden dauern, bis die Leiche entdeckt werden würde, wenn überhaupt so bald. Aber er fürchtete, dass der Restalkohol in seinem Blut locker für drei Monate Führerscheinentzug ausreichte. Das musste er auf jeden Fall vermeiden.

Gerade heute Abend würde es von besonderer Wichtigkeit sein, dass er die Fahrerlaubnis behielt und so Eva-Maria mit seinem wunderschönen schwarzen Porsche, in dem er sie nach dem Essen nach Hause bringen wollte – möglichst zu sich nach Hause – tief beeindrucken konnte.

Seufzend verringerte er deshalb die Geschwindigkeit nun doch. Ein Jammer, dieses Auto nicht so fahren zu dürfen, wie es das verdiente! Dann erreichte er das nur werktags halbwegs attraktive Innenstadtgebiet, das durch fantasievoll dekorierte Schaufenster und Straßencafés mit bunten Markisen versuchte, so etwas wie südländisches Flair zu verbreiten. An einem frühen Sonntagmorgen, ohne die Betriebsamkeit der Woche, sah es hier eher trist und öde aus.

Beinahe die komplette Innenstadt war damals im Krieg zerstört worden. Lieblose Städteplaner hatten gesichtslose Betonhäuser hochgezogen, eines am anderen, jedes drei bis fünf Stockwerke hoch. In den unteren Etagen befanden sich ausnahmslos Läden oder Restaurants, Videotheken und Stehcafés. Darüber lagen Verwaltungsräume, Arztpraxen und Wohnungen für die Familien, die es sich nicht leisten konnten, hinaus an den Stadtrand zu ziehen, oder die aus anderen Gründen lieber hier wohnen wollten. Manche der Häuser hatten nach hinten hinaus eine kleine Grünanlage, obgleich die Geschäftsinhaber die allermeisten Grünflächen sofort wieder zupflastern ließen und den so gewonnenen Raum als Parkfläche oder Abstellplatz, bevorzugt für Müllcontainer oder Palettenstapel, nutzten. Wo dann nicht selten Schädlingsbekämpfer gerufen wurden, um die Ratten zu vernichten, die sich dort immer wieder gerne ansiedelten.

Vor Jahren hatte man halbherzig begonnen, die schlimmsten Bausünden durch Stadtbegrünung zu vertuschen. Doch die Bäume, die man hier und dort gepflanzt hatte, und die Sträucher, die die wenigen leeren Flächen auflockern sollten, wuchsen mickrig und krank vor sich hin und wirkten selbst jetzt im Sommer irgendwie tot und verstaubt. Die kleinen Rasenflächen, die man hauptsächlich in der Nähe der Bushaltestellen angesät hatte, wirkten ungepflegt und wurden gerne als Hundetoiletten missbraucht.

Sein Haus bildete allerdings eine Ausnahme. Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte der Onkel, der den größten Teil seines Vermögens hatte retten können, ein Grundstück erworben und angefangen, seine Pläne für eine neue Apotheke zu verwirklichen. Er brachte den Architekten dazu, das Gebäude nicht auf die ganze Grundfläche auszudehnen, sodass die Mahlersche Apotheke als einziges Haus in der Zeile frei stand. Durch einen schmalen Bogengang erreichte man an der rechten Seite den Eingang zum Treppenhaus, von dem man sowohl in die Apotheke als auch in die Wohnbereiche gelangte, sowie zu der winzigen Gartenfläche, die hinter dem Gebäude angelegt war. Auf der anderen Seite des Hauses hatte man den Platz genutzt, um eine Garage zu errichten, in welcher früher die wuchtigen Wagen des Onkels, der Marken wie Opel Admiral oder Ford Konsul bevorzugte, standen, und die heute ausreichend Platz für Rudolfs heißgeliebten Porsche 911 bot. Das flache Garagendach war vom ersten Stockwerk aus begehbar und wurde damals als Terrasse genutzt. Das war die einzige Möglichkeit für Mama gewesen, gelegentlich etwas Luft und Sonne mitzukriegen. Sie verließ niemals das Haus. Der Haupteingang für die Kunden befand sich, groß und einladend, auf einer Seite von drei kleineren, auf der anderen von einem großen Schaufenster flankiert, an der der Hauptstraße zugewandten Frontseite.

Wie die meisten anderen Gebäude in diesem Straßenzug besaß auch das der Apotheke drei Geschosse. Die beiden oberen waren Wohnungen. Genutzt wurde nur eine davon. Die andere, früher von Onkel Adolf bewohnte, hatte Rudolf Tillmann abgeschlossen, als damals auch der Onkel gestorben war, und hatte seitdem die Räume nicht mehr betreten. So verstaubten seit vielen Jahren Möbel und längst vertrocknete Pflanzen im obersten Stockwerk des großen Hauses.

Eine Zeitlang hatte Rudolf erwogen, diese Räume in eine Arztpraxis umbauen zu lassen und zu verpachten, hatte es aber immer wieder aufgeschoben, weil ihm vor den vielen fremden Menschen graute, die dann alle seinem Privatbereich nahe kämen. Als sich dann im Nachbarhaus ein Urologe niederließ, der sich um keine Kostendämpfung scherte und großzügig und teuer verordnete, hatte er die Idee gänzlich verworfen.

Die Wohnung im ersten Stock, die einst die Familie Tillmann beherbergt hatte, stand nun Rudolf ganz alleine zur Verfügung. Doch, ihm gefiel es hier in diesem Haus. Hier war er für sich und hatte seine Ruhe, wenn abends das Geschäft geschlossen war.

Er ließ den Motor laufen, während er das Garagentor öffnete. Rudolf spürte nun, nach der Fahrt hierher zurück, eine bleierne Müdigkeit in sich aufsteigen. Kaum stand der Wagen unter Dach, griff er nach der Tasche, die hinten auf dem schmalen Rücksitz lag, stieg aus, sperrte ab und ging mit schlurfenden Schritten zur Eingangstür.

Es war inzwischen taghell geworden, aber das konnte ihn hier, in seiner Wohnung, nicht stören. Sommers wie Winters hielt er in allen Räumen die Fensterläden geschlossen. Ein klein wenig frische Luft drang lediglich durch das gekippte Wohnzimmerfenster durch die Ritzen im Holz der Läden.

Müde, wie er war, verzichtete er auf jede Form der Körperpflege und ließ sich aufatmend auf die breite Bettcouch fallen, die sich in seinem großen Wohnzimmer befand. Das war eindeutig sein allerliebstes Möbelstück. Eines der wenigen, die er sich damals neu angeschafft hatte, nachdem er so überraschend alleiniger Besitzer dieses Hauses geworden war. Die meisten Möbel seiner Eltern hatte er einfach dort stehen lassen, wo sie auch früher schon standen. Stabile, deutsche Nachkriegswertarbeit. Mode und Stil waren für ihn in keiner Weise von Bedeutung. Nun ja, Eva-Maria würden die Sachen wahrscheinlich nicht so gut gefallen. Rudolf hatte sich aber vorgenommen, großzügig zu sein und ihr zu gestatten, das eine oder andere Stück auszutauschen.

Herrlich, so ein Sonntag ohne Pflichten, so ganz für sich alleine und wie gemacht, den ganzen Tag durchzuschlafen! Es war ja ohnehin einer seiner letzten Sonntage, die er ohne Anhang genießen durfte. Bald schon kam der Tag, an dem er Eva-Maria heiraten würde und sie hier bei ihm wohnen würde! Heute Abend wollte er ihr einen förmlichen Antrag machen. Da würde sie aber nicht schlecht staunen. Wahrscheinlich weinte sie sogar vor Glück! Die erste Reaktion würde natürlich Überraschtheit sein. Eva-Maria ahnte noch nicht einmal, welche Freude ihr bevorstand! Sie rechnete damit, bei einem gemeinsamen Abendessen in dem Nobelrestaurant und Landhotel Kupferpfanne, wo er einen Tisch hatte reservieren lassen, von ihm im Rahmen eines Einstellungsgespräches über ihre berufliche Qualifikation verhört zu werden.

Als sie vor wenigen Wochen in seine Apotheke kam, um ihn um ein paar Fachzeitschriften zu bitten, damit sie die Stellenangebote darin auswerten konnte, hatte er sich sofort in sie verliebt. Er hatte aber nicht den Mut gefunden, sich ihr zu offenbaren, und so war in den vergangenen Wochen der Plan in ihm gereift, ihr zunächst einen Arbeitsplatz anzubieten.

Und dann, heute Abend…! Zuerst müsste noch eine winzige Kleinigkeit zwischen ihnen ausgeräumt werden: Er wusste nicht genau, was sie damals mitbekommen hatte, als sie als Mitarbeiterin des Onkels in der Apotheke beschäftigt gewesen war. War sein Privatleben und besonders das seiner Familie gut genug geschützt gewesen? Oder waren Sachen ans Licht gelangt, die niemanden etwas angingen? Sollte sie damals Verdacht geschöpft haben, als er sie kurzerhand entlassen hatte, und mit ihr das komplette Team, als er die Apotheke übernommen hatte? Falls ja, so hatte sie jedenfalls seitdem geschwiegen. Das wiederum brachte ihn zu der Auffassung, dass die Antwort höchstwahrscheinlich nein lautete. Nein, sie hatte nichts gemerkt. Nun, heute Abend erfuhr er die Wahrheit, er musste nur seine diesbezüglichen Fragen sorgfältig genug formulieren.

Rudolf erhob sich noch einmal kurz von dem Sofa, um zur Toilette zu gehen. Auf dem Rückweg startete er die CD – die einzige, die er besaß, jetzt in doppelter Ausführung. Er machte es sich auf der Couch bequem, um den Rest des Tages durchzuschlafen, einem höchst erfreulichen Abend entgegen.

4