Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Berliner Kommissar Max Ritter ermittelt für das BKA. Sein Spezialgebiet sind ungelöste Mordfälle. Zwei Männer werden im Thüringer Wald nahe Suhl tot aufgefunden. Beide hatten sich in der rechtsextremen Szene engagiert, gleichzeitig standen sie aber auch in Verbindung zum Verfassungsschutz. Ein schier unlösbares Rätsel, denn die Ermittlungen der örtlichen Polizei wurden offenbar manipuliert. Ritter sucht in Jena, Weimar, Erfurt und Suhl nach der Wahrheit. Wird er den ungewöhnlichen Fall lösen?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
1. Auflage
© 2022 Max Müller
© Kurpark Verlag, Bad Wildbad Alle Rechte vorbehalten Sämtliche - auch auszugsweise - Verwertungen nur mit Zustimmung des Autors
Titelfoto: © Robbie Wilhelm
Autorenfoto: © Robbie Wilhelm
Foto Rückseite: © Max Müller
Covergestaltung: © Patrick Franke
Coveridee: Gabriele Morgenstern
Umschlaggestaltung: Urs Hall
Lektorat: Cornelia Schmalenbach
Satz: Urs Hall
www.kurparkverlag.de
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd (Konfuzius)
Der Sommer nahm in diesem Jahr kein Ende. Sonne und blauer Himmel über Berlin. Kommissar Max Ritter saß grübelnd an seinem Küchentisch. Er musste eine Entscheidung treffen. Nach dem Frühstück ging er entschlossen zu Achmed, seinem Friseur. Der war sehr überrascht, als Ritter ihm sagte, dass er die Haare kurz geschnitten haben möchte. „Abi, bist du sischa?“ fragte Achmed unsicher. „Ja, auch wenn ich lieber die langen Haare behalten würde. Aber mein nächster Job führt mich in eine Szene, wo es besser ist, nicht aufzufallen. Dort würde ich als „Linke Zecke“ gelten.“ Achmed antwortete nicht und begann mit seiner Arbeit. Fünf- zehn Minuten später betrachtete sich Ritter im Spiegel. Seriös und jünger empfand er sein Spiegelbild. Zumindest etwas jünger als einundfünfzig. Er war zufrieden. Achmed grinste ihn frech an: „Macht fünfzehn Euro.“ Ritter bezahlte und verließ den kleinen feinen Salon.
Zuhause betrachtete er sich erneut. Ungewohntes Spiegelbild. Kurze graue Haare, dazu seine JFK-Brille. Perfekte Tarnung für den nächsten ungelösten Fall. Der würde ihn nach Suhl in Thüringen führen. Dort wurden zwei tote Männer im Wald gefunden. Beide hatten nach bisherigen Ermittlungen eine Verbindung zur rechtsextremen Szene. Er grübelte und aß dabei ein Käse-Sand- wich, das er sich unterwegs mitgenommen hatte.
Vierzehn Uhr verließ Ritter erneut seine Wohnung im Stadtteil Wedding. Von der Grüntaler Straße lief er zum Bahnhof Gesundbrunnen und fuhr mit der S-Bahn nach Treptow. Der Allianz Tower am Treptower Hafen war sein Ziel. Das Bundeskriminalamt hatte dort Büros angemietet. In einem davon, in der sechzehnten Etage, war er mit seinem Chef verabredet. Der saß an einem schlichten Schreibtisch, als er eintrat. Walter Kiep sah ihn erstaunt an, machte aber keinerlei Bemerkung zu seiner neuen Frisur.
„Nehmen Sie Platz, Ritter. Gut erholt im Urlaub?“ „Ja, danke.“ Kiep hatte bereits Kaffee besorgt. Ritter trank einen Schluck und fragte: „Hatten Sie auch Urlaub?“ „Nein, leider nicht. Also, wie Sie mir bereits gesagt haben, geht es in den Thüringer Wald. Haben Sie deshalb ihre Haare abgeschnitten?“ „Ja. Es wird sicher heiß in der „Neonazi-Szene.“ Kiep nahm nun auch einen Schluck und bemerkte süffisant: „Mit den kurzen Haaren wollen Sie wohl ihre politische Gesinnung verbergen?“ „Ich bin ein Mann der Mitte, weder rechts noch links. Ich bin für Klimaschutz und echte soziale Gerechtigkeit. Mit den langen Haaren werde ich dort aber als linkes Gesocks eingestuft. Mit den kurzen Haaren kann ich bequem als „guter“ Deutscher in Erscheinung treten. Denn eins ist jetzt schon klar: Wir werden in diesem Milieu zum Teil verdeckt arbeiten müssen.“
Kiep reagierte nicht darauf, sondern fragte: „Also Ritter, Sie wollten mich sprechen. Warum?“ „Ich habe in den vielen Protokollen vom LKA Thüringen gelesen, dass der Verfassungsschutz, Staatsschutz, BND und einige andere Behörden in diesen Mordfall verstrickt waren. Außerdem wurden Ermittlungen behindert. Wie groß ist meine Befugnis, falls es nötig sein sollte, da tiefer zu graben? Kommissar Kranz in Erfurt waren ja offensichtlich die Hände gebunden. Wie hätte er diesen Fall jemals lösen sollen?“
Walter Kiep sah ihn sorgenvoll an, runzelte die Stirn: „Der Verfassungsschutz! Die FIFA unter den deutschen Staatsorganen. Ich mag diese Organisation nicht. Und vor allem nicht ihre Landesvertretungen. Egal. Wir werden es dann spontan entscheiden müssen, wann immer es nötig sein sollte. Es geht schließlich um zweifachen Mord. Sie werden jede erforderliche Befugnis bekommen.“
Ritter nickte: „Okay, denn ich glaube, dass es dort einen tiefen Sumpf aus undurchsichtigen Verstrickungen gibt. Ich musste die Protokolle dreimal durchlesen, um ansatzweise durchzublicken.“ „Ja, Ritter. Es ist ein Sumpf aus Intrigen, Lügen und Verschwörungen. Denken Sie nur an Beate Tschäpe und den NSU. Es wird mit Sicherheit schwierig und vermutlich auch gefährlich.“
Ritter sah Kiep mit ernster Miene an: „Einer der beiden Toten war aus Frankfurt, Westdeutschland. Der andere aus Weimar, Ostdeutschland. Das passt nicht richtig zusammen. Gefunden wurden sie in einem Wald in Suhl. Von hinten in den Kopf geschossen und vornüber gekippt auf dem Bauch liegend. Sieht für mich wie eine Exekution aus.“
Kiep unterbrach ihn: „Ja, für mich sieht es auch so aus. Die Verräter beseitigen! Doch: Verräter von was? Einer Organisation? Einer Bande? Und genau diesen Verbund müssen Sie aufspüren. Denn dort werden Sie vermutlich den oder die Täter finden.“ „Ich weiß. Es war vermutlich nur ein Täter, denn die Tatwaffe war ein und dieselbe. Die Waffe wurde allerdings bis heute nicht gefunden, man konnte es also nur anhand der Kugeln rausfinden. Beide wurden nacheinander abgefeuert. Am Tatort waren kaum Spuren zu finden. Einiges zertrampelt und teilweise vermutlich beseitigt vom eintreffenden Personal des Thüringer Verfassungsschutz. Die Spurensicherung wurde dadurch behindert. Zudem regnete es heftig an diesem Tag. Immerhin konnte man einen Schuhabdruck sichern, der auf einen Bundeswehrstiefel hinweist. Na ja, wir werden das ja hoffentlich aufklären.“
Walter Kiep nickte. Er hatte nun eine betretene Miene und sagte: „Unsere Demokratie wird immer weiter unterwandert. Von den Rechten im Osten und den kriminellen arabischen Clans im Westen. Genauso von extremistischen Linken, den Reichsbürgern und natürlich auch von islamischen Extremisten. Die größte Gefahr für die Demokratie ist aber der ungebremste Kapitalismus.“ Ritter reagierte nicht, so fuhr Kiep fort: „Ich liebe die Demokratie. Sie ist für mich die beste Staatsform. Aber gut, viele sehen das inzwischen anders. Ich werde sie verteidigen! Unsere Demokratie.“
Kurz vor neunzehn Uhr erreichte Ritter seine Dreizimmerwohnung. Unterwegs hatte er noch eine Currywurst mit Pommes am Bahnhof gegessen. Er setzte sich auf die Wohnzimmercouch und begann erneut die Protokolle des ungeklärten Doppelmordes zu lesen.
Um neun Uhr erreichte Kommissar Ritter mit der U-Bahn den Stadtteil Steglitz. Eine Zweizimmerwohnung, die als Büro diente, war sein Ziel. In der großen Küche am Holztisch saßen bereits seine drei Kollegen mit Kaffeebechern vor sich. Sie sahen ihn erstaunt an, als er die Küche betrat. Es dauerte etwas, ehe Mandy Probst reagierte: „Oha. Das ist ja echt der Kracher. Total fresh, die neue Frisur. Sieht gut aus.“ Sie lächelte und zog ihre linke Augen- braue hoch.
Ritter setzte sich mit an den Tisch. Keiner sagte etwas. Probst fragte: „Auch einen Kaffee, Chef?“ „Klar, Frau Mandy“, antwortete Ritter. Sie stand auf und ging an den Herd. Die Sechsundzwanzigjährige hatte wie üblich eine knallenge Jeans an. Ihre blonden Haare leuchteten fast. Der Pagenschnitt stand ihr ausgesprochen gut.
Kevin Wagner zündete sich eine Zigarette an und sah zu Ritter: „Bereit für den nächsten Fall, Chef?“ „Klar, Wagner. Weiter geht’s. Nach dem Schwarzwald, unserem zweiten Fall, geht es erneut in den Wald. Diesmal in den Thüringer Wald.“ Wagner nickte. Seine schwarzen Locken standen in alle Richtungen ab. Er trug eine kleine John-Lennon-Gedächtnisbrille in seinem länglichen, schönen Gesicht. Wagner kam als Quereinsteiger zum BKA. Der Siebenundzwanzigjährige arbeitete längere Zeit in einer Abteilung für Internetkriminalität, ehe er Ritter zugeteilt wurde.
Die dritte im Bunde hieß Monika Rätsel. Ritter und Rätsel duzten sich, denn sie waren längst Freunde geworden. Die knapp Fünfzigjährige war sehr klein und dünn. Ihr markantes Gesicht faszinierte ihn immer wieder. Monika Rätsel war fünfundzwanzig Jahre im Innendienst für das BKA tätig gewesen, ehe sie dieses Jahr in Rit- ters Team kam.
Ritter begann: „Guten Morgen. Freut mich, euch wiederzusehen. Der nächste ungeklärte Mordfall steht auf dem Programm. Ihr könnt in den nächsten Tagen die Protokolle studieren.“ Seine Kollegen nickten. „Ich habe es bereits getan. Deshalb werde ich gleich morgen früh mit dem Zug nach Erfurt fahren.“ Probst fragte: „Und wann sollen wir kommen?“ „Am Montag treffen wir uns in Erfurt und entscheiden dann spontan, wie es weitergeht.“
Monika Rätsel jammerte: „Och menno, dann bin ich wieder ganz alleine hier im Büro.“ Probst jammerte ebenfalls: „Ja, und wir müssen schon wieder in den Wald.“ Wagner fragte: „Brauchen wir einen zweiten Wagen, wie damals im Schwarzwald?“ Ritter sah zu ihm: „Ja, irgendwann auf jeden Fall.“ Probst informierte: „Der Herbst kommt bald, also wärmere Kleidung nicht vergessen.“ Die Männer nickten und grinsten. Rätsel setzte nochmal Kaffee auf.
Kevin Wagner tippte kurz auf seinem Laptop, den er vor sich auf dem Küchentisch hatte. Dann sah er in die Runde: „Die beiden toten Männer, Tobias Tanner aus Frankfurt und Enrico Hellmann aus Weimar, wurden mehrfach mit dem Verfassungsschutz in Verbindung gebracht. Es gibt einige Zeitungsartikel dazu. Nach dieser brutalen Hinrichtung, recherchierte ein ganzes Heer Journalisten. Dennoch konnte die Presse nur häppchenweise einige Dinge aufdecken. Die sind aber sehr interessant.“ Wagner übergab ihm Ausdrucke. Ritter staunte: „Sie haben wohl schon vorgearbeitet?“ „Ja, hatte zeitweise etwas Langeweile im Urlaub. Ich habe das Internet nach Informationen über die Toten durchsucht.“
Dreizehn Uhr gingen die vier Beamten zum Italiener um die Ecke. Ritter war gut drauf: „Heute beginnt schon unser vierter Fall. Die ersten drei haben wir alle gelöst. Nun gut, der dritte wird ja erst im November vor Gericht verhandelt.“ Probst schmunzelte. Wagner fragte: „Ob wir diesen Doppelmord auch aufklären wer- den?“ Ritter sah zu ihm: „Keine Ahnung. Fakt ist aber, dass wir inzwischen als Team gut eingespielt sind. Das macht uns stärker. Na ja, wir werden sehen.“ Das Essen wurde serviert, es kehrte Ruhe ein.
Am späten Nachmittag trennten sich die Wege der vier Beamten wieder. Kevin Wagner fuhr mit seinem Fahrrad nach Dahlem, wo er mit seiner Mutter ein kleines Einfamilienhaus bewohnte. Mandy Probst fuhr mit ihrem weißen Volvo zurück nach Lichtenberg. Ritter und Rätsel nahmen die U-Bahn. Rätsel musste nach Friedrichshain. Sie bewohnte eine Zweizimmerwohnung in der Boxhagener Straße. Ritter fuhr ebenfalls nach Hause, in den Stadtteil Wedding.
Am Abend packte er seinen Reisekoffer und begann anschließend die Wohnung zu reinigen. Er dachte dabei an die nächsten Wochen. Erneut musste er Berlin verlassen, um seinen Job zu erledigen. Und wie lange würde es dauern? Würde sein Team diesen Fall überhaupt lösen? Wieder führte ihn eine Mordgeschichte in die Natur. Von der Hauptstadt in die Provinz. In den Wald.
Wanderschuhe und Regenjacke habe ich ja eingepackt, waren seine letzten Gedanken an diesem Abend.
Mit einem Taxi fuhr Ritter zum Berliner Hauptbahnhof. Um neun Uhr bestieg er den Intercity nach Erfurt, die Hauptstadt Thüringens. Zweieinhalb Stunden später erreichte er sein Ziel. Zwölf Uhr checkte er im Ibis Hotel in der Erfurter Innenstadt ein. Schlichtes Zimmer mit der üblichen Ausstattung. Fenster mit Ausblick in den Innenhof. Er stellte seinen Koffer ab und verließ das Hotel nach wenigen Minuten. Es war heute leicht windig bei warmen zweiundzwanzig Grad. Ziellos lief er durch die Straßen der Altstadt, die im Stadtkern noch erhalten waren. Er überquerte eine enge Brücke und folgte den Wegschildern in Richtung Dom. Als er um eine Ecke bog, sah er überraschend einen großen freien Platz, an dessen Rand sich historische Gebäude erhoben. Viele Touristen fotografierten die geschichtsträchtige Kulisse. Am Ende des Domplatzes führten viele Treppenstufen nach oben. Hier stand der Dom und die Severikirche. In einer Kapelle des Doms war Martin Luther zum Priester geweiht worden. Beindruckt von diesem über achtzig Meter hohen Gebäude mitten im Stadtzentrum lief er weiter durch die mittelalterlichen engen Gassen. Er wollte zur Dienststelle der Kriminalpolizei in der Andreasstraße. Die war hier ganz in der Nähe. Ritter hatte sich mit dem damals zuständigen Kommissar Kranz verabredet. Der Bau hatte vier Etagen und an den vier Enden war jeweils ein Turm integriert, dekoriert mit einem Turmhäubchen.
Ritter betrat das Gebäude und lief gemächlich die Treppen nach oben in die erste Etage. In Zimmer 113 saß Kranz an seinem Schreibtisch als er eintrat. Kranz stand nicht auf, bat aber Ritter auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. „Jürgen Kranz. Und Sie sind Herr Ritter?“ „Ja. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen.“ „Eigentlich hatte ich keine Lust, schon wieder mit einem Wichtigtuer zu reden. Denn das mache ich bereits seit zwei Jahren. Seither habe ich mit gefühlt tausend besonders wichtigen Beamten aus allen möglichen Staatsorganen gesprochen.“
Kranz sah ihn frustriert an. Der Erfurter Kommissar hatte seine kurzen schwarzen Haare streng nach hinten gekämmt und ein schmales längliches Gesicht. Ritter schätzte ihn auf Anfang 40. Mehr konnte er noch nicht erkennen, da Kranz erstmal sitzen blieb. Ritter begann zögernd: „Ich setze jetzt blind auf Sie. Ich kenne hier niemand. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich Ihnen trauen kann.“ Kranz sah ihn erstaunt an: „Okay. Überrascht mich jetzt etwas. Bisher lief es immer umgekehrt. Zugehört und vertraut hat mir niemand. Das freut mich natürlich.“
Er grübelte kurz, ehe er sagte: „Wenn Sie lange und ausführlich mit mir sprechen wollen, dann kommen Sie am besten heute Abend zu mir nach Hause. Meine Frau ist auf Forschungsreise in Südamerika. Ich koche uns was und Rotwein habe ich auch zu Hause.“ Nun war Ritter erstaunt: „Gut, machen wir. Danke für die Einladung. Das freut mich jetzt auch.“
Am frühen Abend lief Ritter vom Hotel durch die Innenstadt zum Bahnhof. Er durchquerte den Park hinterm Bahnhof. Einige junge Leute lagen in Gruppen auf dem Rasen, es war noch warm an diesem schönen Sommerabend. Schlendernd erreichte er zwanzig Uhr die Robert-Koch-Straße, direkt am Ausgang des Parks, und klingelte bei Kranz. Der Berliner Kommissar betrat das dreistöckige Mietshaus. Schön gelegen mit Aussicht auf den Park. In der zweiten Etage stand die Tür offen, er trat ein. Ein wunderbarer Geruch wehte ihm entgegen. Ritter schloss die Wohnungstür und folgte dem Duft in die Küche. Dort stand Kommissar Kranz mit Schürze am Herd und drehte sich zu ihm. Er war ungefähr so groß wie Ritter, eins achtundachtzig.
„Dauert noch einen Moment. Nehmen Sie sich ein Glas aus dem Schrank und schenken sich ein. Der Wein steht auf dem Küchentisch.“ Ritter wollte nicht gleich Rotwein auf seinen nüchternen Magen schütten und fragte deshalb: „Könnte ich erstmal ein Glas Wasser haben, bitte?“
Zwanzig Minuten später saßen sie am Küchentisch und verspeisten genüsslich die Rindsrouladen mit Kartoffelbrei und Rotkohl. Es schmeckte vorzüglich und deshalb lobte Ritter schon nach den ersten Bissen: „Unglaublich, Mister Kranz. Absolut lecker. Ihre Rouladen schmecken besser als die meiner Oma, und das will was heißen.“ Dieses Lob zauberte Kranz ein breites Grinsen ins Gesicht. Er prostete Ritter zu: „Vielen Dank. Es freut mich, dass es Ihnen schmeckt. Trinken wir auf einen spannenden Abend. Prost.“ „Prost.“ Ritter nahm nur einen sehr kleinen Schluck, Kranz hatte einen ganz anderen Zug drauf.
Nach dem Essen nahmen die beiden Kommissare auf der Wohnzimmercouch Platz. Ihre Gläser und die Flasche hatten sie mitgenommen. Kranz sah ihn mit ernster Miene an: „Wissen Sie eigentlich, auf was Sie sich da einlassen?“ „Nein, wie meinen Sie das?“ Kranz zögerte etwas: „Na ja, ich weiß jetzt gar nicht, womit ich anfangen soll. Welche Befugnisse haben Sie denn überhaupt?“ Ritter antwortete selbstsicher: „Ich habe die Befugnis der Bundesregierung, diesen Doppel-Mord aufzuklären.“
Kranz schenkte Wein nach und bemerkte: „Diese Befugnis hatten die Beamten anderer Staatsorgane auch. Also erstmal keine Besonderheit. Und warum wollen Sie nur mit mir sprechen?“ „Weil ich glaube, dass Sie der Richtige für mich sind. Sagt mir mein Instinkt. Sie haben damals straight ermittelt, aber Sie hatten kaum eine Chance.“ Beide schwiegen einen Moment.
„Okay. Also, es erwartet Sie so einiges. Gut organisierte verschwiegene Parallelwelten. Kennen Sie ja bestens in einer anderen Variante aus dem Westen. Bewaffnete Mitglieder rechter Gruppierungen. Die sind jederzeit gewaltbereit, wenn es darauf ankommt, ihr Vaterland zu verteidigen. Viele dieser Gruppen werden entweder von den Geheimdiensten hofiert oder unterwandert. Da blickt keine Sau durch, vermutlich nicht einmal die Staatsakteure selbst. Die lassen sich benutzen oder spielen am besten gleich mit. Viele dieser Geheimagenten sind selbst „rechts“. Manche von denen denken sogar, sie arbeiten für den FSB, dem ehemaligen KGB. Ich sage Ihnen, da sind einige Spinner dabei, besonders beim Verfassungsschutz unserer Landesregierung.“ Ritter hörte zu und fragte: „Aber niemand er- zählt die Wahrheit und keiner verrät keinen? „Ja, genau. Die Kameraden verraten sich sowieso nicht gegenseitig. Niemals. Diese Leute schweigen lieber. Es wird für Sie also fast unmöglich sein, in diese Kreise einzudringen.“
Kranz nahm einen weiteren Schluck des exquisiten Rotweins. Ritter überlegte etwas, ehe er antwortete: „Vielleicht kümmere ich mich gar nicht so sehr um diese Gruppierungen und deren politische Gesinnung. Es geht um zweifachen Mord. Ich werde vermutlich direkt draufgehen.“ „Wie meinen Sie das denn jetzt?“ Kranz runzelte seine Stirn, war gespannt auf Ritters Taktik.
„Das kann ich noch nicht so genau sagen. Hatten Sie eigentlich je einen Verdächtigen?“ „Nein. Nicht mal ansatzweise. Alptraumermittlung. Dann lieber einen normalen Mord, aber dieser politische Kram, anstrengend und nicht zu lösen. Mein Vater sagt immer, dass hätte es bei der Stasi nicht gegeben. Erich Mielke war immer über alles informiert. Gesteuert wurde zentral. Gesamtdeutschland aber ist völlig überfordert mit seinen Diensten und Landesorganisationen.“
Ritter kratzte sich am Hinterkopf. Er vermisste seine langen Haare.
„Keine Sorge, Ritter. Mein Vater war kein Stasi, er war Tischler und kam aus einfachen Verhältnissen. Wir lebten damals in Gotha. Er glaubte fest an den Sozialismus, stellte ihn nie in Frage. Den Kapitalismus findet er schlimm, die Demokratie gefällt ihm aber.“ „Seit dem Mauerfall sind fünfundzwanzig Jahre vergangen.“ „Genau, Ritter. Und weder Ost noch West haben sich jemals richtig kennengelernt und respektiert. Ist doch so, oder?“ Ritter sah ihn an: „Ja, so ist es. Wir beide tun dies aber in diesem Augenblick.“ Kranz hob sein Glas: „Prost. Auf unsere neue East-West-Connection.“
Ritter lachte, während Kranz aufstand und zu einem Schränkchen lief. Darauf stand ein Plattenspieler, den er in Gang setzte. Es erklang die Musik von Pink Floyds Album „Wish you were here“ aus den Lautsprechern. Kranz brachte einen Joint mit, den er aus einer der Schubladen geholt hatte. Er setzte sich wieder auf das Sofa und rauchte genüsslich. Ritter war erstaunt. Schnell war der süße Duft des Marihuanas im Raum verteilt. „Wollen Sie auch mal ziehen, Ritter?“ „Nee, nee, lieber nicht. Ist schon lange her seit meiner Jugend damals.“ Kranz bemerkte: „Ist das herrlich. Pink Floyd hören und kiffen. Ritter, wir sollten unseren Job kündigen und uns an den Strand in Griechenland legen. Pink Floyd hören und den Tag genießen.“ „Ja, das wäre schön. Endlich mal wieder am Meer zu sein“, seufzte Ritter tief.
Sie ließen die Musik wirken. Ritter nahm einen weiteren Schluck Rotwein. Es war bereits sein drittes Glas. Kranz hatte eins mehr getrunken. Ritter wurde etwas lascher und nun schnell müde. Kranz stand auf, da die Platte zu Ende war. Er drehte sie um, die Nadel setzte auf und es begann aus den Boxen zu knistern. Ritter legte sich auf die Couch und starrte an die Decke. Kranz kam zurück und setzte sich zu ihm auf einen Wohnzimmersessel. Sie lauschten beide der Musik. Zehn Minuten später schnarchte Ritter auf dem Sofa. Kranz schmunzelte und verschwand in sein Schlafzimmer.
Ruckartig setzte sich Ritter auf. Er fühlte sich etwas verballert und legte den Kopf in seine Hände, die ihn stützten. Er rieb sich im Gesicht und anschließend am Kopf. Seine Haare waren kurz. Er erinnerte sich nun rasch an gestern und sah sich um. Seufzend legte er sich wieder hin. Schlafen ging aber nicht mehr. Er hatte Kopfweh und musste zudem dringend auf die Toilette.
„Guten Morgen, Ritter. Kommen Sie in die Küche, ich mache Frühstück für uns.“ „Bin gleich da.“ Als Ritter die Küche betrat, duftete es herrlich nach Kaffee. Kranz legte gerade tiefgefrorene Brötchen in den Backofen. Dann deckte er den Küchentisch und servierte den Kaffee. Erwartungsvoll nahm Ritter Platz und trank einen Schluck. „Danke. Tut gut jetzt.“ „Gerne doch. Haben Sie gut geschlafen auf meiner alten Couch?“ „Ja, klar. Nach drei Gläsern Wein war ich echt platt.“ Kranz schmunzelte: „Ich war auch erledigt. Normaler Weise trinke ich nicht so viel und so schnell. Aber ich hatte eine wirklich harte, beschissene Woche.“ „Ich hatte zehn Tage Urlaub, davor allerdings einen echt schwierigen Fall zu kna- cken.“ Die Brötchen waren fertig, hungrig stürzten sich die Beamten drauf.
Ritter ging anschließend auf den kleinen Balkon mit Blick auf einen großen grünen Innenhof. Er rauchte eine, dabei wurde ihm leicht schwindelig. Kranz räumte inzwischen das Frühstück ab und setzte neuen Kaffee auf. Beide nahmen wieder am Küchentisch Platz und Kranz fragte: „Wie wollen Sie das ganze Manöver denn beginnen?“ Er musste einen Moment auf Ritters Antwort warten.
„Ich habe absolut keine Ahnung. Keinen Plan. Muss mir was überlegen. Werden Sie mir denn helfen?“ „Nur aus dem Hintergrund, ich werde mit Sicherheit nicht aktiv werden. Ich kann Sie mit Informationen versorgen und auch beraten, wenn Sie das möchten.“ Ritter nickte: „Ja, das wäre klasse. Denn ich fühle mich etwas ratlos.“
„Starten Sie doch bei der damaligen Freundin des Opfers Enrico Hellmann. Der Tote aus Weimar. Sie lebt jetzt hier in Erfurt. Ihr Name ist Britta Neumann, sie ist absolut Rechtsextrem und mehrfach vorbestraft. Die geht ab wie ein Zäpfchen. Ursprünglich ist sie aus Zwickau. Ihr Vater, Hans Neumann, war 1992 in Rostock bei den Krawallen dabei. Sie erinnern sich noch?“ „Ja, das war schlimm damals.“ „Die zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber und das Wohnheim für ehemalige DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam wurde mit Molotow-Cocktails in Brand gesetzt. Mehrere hundert Rechtsextreme waren daran beteiligt. Dreitausend Passanten stan- den dabei und applaudierten den Randalierern. Die Polizei zog sich teilweise komplett zurück. Die Feuerwehr wurde behindert. Das waren damals die massivsten rassistisch motivierten Angriffe in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg.“
Ritter schwieg. Die Erinnerung kam zurück.
Kranz trank einen Schluck Kaffee und fuhr fort: „Bereits 1991 war Hans Neumann im sächsischen Hoyerswerda dabei gewesen. Dort wurden damals tagelang Wohnheime für Asylbewerber und mosambikanische Vertragsarbeiter angegriffen. Die Gewalt endete erst, als die Angegriffenen unter Polizeischutz mit Bussen aus der Stadt abtransportiert worden waren. Hoyerswerda wurde von den Neonazis als erste ausländerfreie Stadt in Deutschland gefeiert.“
Ritter erinnerte sich auch daran. Ihm wurde schlagartig klar, dass er sich in eine extrem gewaltbereite Szene begeben würde.
Kranz sagte nach einer kleinen Pause: „Wissen Sie, Ritter. Ich habe mich mit diesem Thema intensiv beschäftigt und lese immer wieder neueste Studien über den Rechtsextremismus. Es gibt auch Literatur über die Netzwerke dieser Gruppen, Biographien wichtiger Anführer dieser Vereinigungen. Einer davon war Hans Neumann.“ „Danke für all diese Informationen.“
Kranz lächelte ihn an: „Britta Neumanns Vater war damals in Hoyerswerda Mitte zwanzig, heute ist er fünfzig Jahre alt. Seine Tochter ist also mit diesem Gedankengut aufgewachsen und erzogen. Sie kennt nichts Anderes. Diese Gesinnung ist völlig normal für sie. Die Feinde sind die Ausländer, inzwischen aber auch die Demokratie und die Presse. Britta Neumann ist jetzt auch Mitte zwanzig, wie ihr Vater damals, und hat bereits zwei Söhne im Alter von fünf und sechs. Was glauben Sie wohl, wie die Jungs dann in der dritten Generation erzogen werden? Die bekommen das praktisch mit der Muttermilch. Ihr Vater organsiert übrigens immer noch Treffen verschiedener rechtsextremer Gruppen.“
Ritter nickte benommen nach dieser Realität, die ihm Kranz da vermittelte.
Kranz trank einen weiteren Schluck Kaffee. „Damals in den 90ern, dem Jahrzehnt der Glatzen, wurden in ganz Ostdeutschland Angriffe auf Wohnheime und Ausländer verübt. Aber nicht nur hier, auch im Westen wurde gewütet und getötet. Die meisten Taten wurden nie aufgeklärt. Es wird vermutet, dass diese Leute noch immer organisiert und aktiv sind. Und es gibt viele von ihnen. Sie sitzen inzwischen im Parlament, sind bei der Polizei, Richter, Lehrer und, und, und.... Es ist ein Geflecht, das nicht mehr zu lösen ist. Vergessen Sie das niemals bei diesen Ermittlungen.“
Ritter wurde immer tiefer in eine Welt gezogen, die im Gedankengut der westdeutschen Behörden und Menschen gern verdrängt wird. Dabei ist auch im Westen Deutschlands die Szene der Rechten sehr groß und gut organisiert. Große Teile der Bevölkerung interessiert das nicht, die meisten sind noch nicht einmal informiert.
„Wie genau ist dabei die Rolle des Verfassungsschutzes in Thüringen?“ Kranz lachte lautstark und erklärte dann: „Die haben mir keine Informationen gegeben und mich behandelt wie einen Idioten. Das Thema ist so vielfältig und kompliziert, da sollten Sie eher mit einem Politikwissenschaftler oder Journalisten sprechen.“
Max Ritter bedankte sich erneut und verabschiedete sich. Er lief gemächlich durch den Park zum Bahnhof. Dort kaufte er sich Zigaretten und ging durch die gut besuchte Fußgängerzone zurück zum Hotel. Er war schlapp und legte sich deshalb aufs Bett. In Gedanken wiederholte er, was ihm Kommissar Kranz alles erzählt hatte. Er fühlte sich zunehmend unwohler.
Er fragte sich: Bin ich fremd im eigenen Land?
Diese Frage kannte man im Westen auch.
Wie sollte er vorgehen? Wo anfangen? Er nahm sich die Akte und begann sie erneut zu lesen. Am späten Nachmittag legte er eine Pause ein. Nachdem Ritter in der Innenstadt köstliche Sushi gegessen hatte, verbrachte er den restlichen Abend desillusioniert vor dem Fernsehgerät in seinem Hotelzimmer.
Ritter hatte gut geschlafen und betrat den Frühstücksraum des Hotels schon um acht Uhr. Der Kaffee brachte ihn auf Touren. Er nahm sein Handy und verabredete sich für den Nachmittag. Elf Uhr bestieg der Kommissar am Erfurter Bahnhof den Intercity nach Frankfurt. Frankfurt am Main. Drei Stunden später sah er aus dem Fenster die beeindruckende Wolkenkratzer-Silhouette des deutschen Finanzzentrums. Die Sonne schien am blauen Himmel. Er nahm seinen Rucksack und verließ zusammen mit vielen anderen Passagieren den Zug. Vor dem Bahnhof bestieg er ein Taxi und ließ sich in die Wöllstädter Straße im Stadtteil Bornheim fahren.
Walter Tanner bewohnte eine Zweizimmerwohnung. Der Vater des erschossenen Tobias Tanner bat ihn freundlich herein. Er war groß, hatte kurze graue Haare und war schlicht gekleidet. In der großen Küche servierte er Schokolade, Kekse und Kaffee.
Tanner begann das Gespräch: „Ich musste mich wirklich sehr überwinden, um mit Ihnen über meinen Sohn zu sprechen. Denn das mache ich bereits seit zwei Jahren. Seit seiner Ermordung. Ich möchte endlich zur Ruhe kommen, obwohl ich es wohl niemals vergessen werde.“ Ritter wusste zunächst überhaupt nicht, was er sagen sollte und nahm einen Keks. Deshalb fuhr Tanner fort: „Meine Frau hat es nie verkraftet, sie ist letztes Jahr gestorben. Autounfall. Mein Leben ist völlig ruiniert.“
Tanner sah ihn ausdruckslos an. Ritter war geschockt, musste sich sammeln.
„Das, das tut mir alles unendlich leid, Herr Tanner.“ Er ließ eine Pause entstehen. „Wie war denn der Kontakt zu Ihrem Sohn?“ Zögernd kam eine Antwort: „Eigentlich immer ganz normal, gut. Als er noch hier in Frankfurt wohnte, sahen wir uns regelmäßig. Vor sechs Jahren zog er dann nach Ostdeutschland. Zunächst nach Jena, anschließend lebte er wohl in Weimar. Über seine neue Arbeit durfte er uns nichts berichten. Es sei alles geheim, er arbeite für eine Staatsbehörde.“ „Und welche Behörde?“ Tanner sah zu Ritter: „Hat er uns nicht gesagt. Wenn wir ihn danach fragten, schwieg er immer.“ „Hatte Ihr Sohn eine Freundin im Osten?“ „Das weiß ich nicht. Mit Frauen klappte es nicht so gut bei ihm. Das hielt meistens nicht lange. Keine Ahnung warum.“
Ritter grübelte und machte sich Notizen in seinem Block. Schließlich fragte er: „Wie war die politische Gesinnung Ihres Jungen?“ Tanner sah sorgenvoll aus: „Er driftete in den letzten Jahren in die rechte Szene ab. Das begann, als er bei Eintracht Frankfurt in den Hooligan-Fanblock geriet. Dort begann seine Radikalisierung. Zunächst kamen von ihm nur flapsige Bemerkungen, doch schon bald wollte er mit mir diskutieren. Über Politik. Ich bin Demokrat, durch und durch. Wir gerieten oft in Streit in dieser Phase, bevor wir beschlossen, dass am Küchentisch das Thema Politik ab sofort tabu ist. Daran hielten wir uns dann als Familie.“
„Glauben Sie, dass er in seiner Zeit in Thüringen in der rechten Szene war? Vielleicht wirklich im Auftrag einer Staatsbehörde tätig war?“ Ritter wartete jetzt gespannt auf die Antwort.
„Ja, das glaube ich. Wobei ich eben bis heute nicht verstehe, wie er mit seiner rechten Gesinnung bei einer Staatsbehörde eingestellt werden konnte. Das ging mir nicht in den Kopf.“ „Hat er auch Namen genannt? Namen von Freunden oder Mitarbeitern?“ „Nein, nie. Er war schon immer ein verschlossener Einzelgänger. Ich vermute, er hat sich mit den falschen Leuten eingelassen.“ Ritter blieb stumm. Tanner wurde dagegen etwas lauter: „Er war einfach nur mein Junge. Verstehen Sie? Aber im Lauf der Jahre wurde er mir immer fremder. Haben Sie auch Kinder, Herr Kommissar?“ „Nein, habe ich nicht.“ Tanner sah ihn verzweifelt an: „Es ist ein zutiefst schockierendes und machtloses Gefühl, wenn der eigene Sohn am Esstisch ein Fremder ist.“
Max Ritter hatte keine Kraft mehr, um diese schwer depressive Stimmung zu ertragen. Er verabschiedete sich freundlich und lief mit energischem Schritt die Wöllstädter Straße entlang. Endlich wieder frische Luft und durchatmen. An der nächsten Straßenecke entdeckte er ein U-Bahn-Schild. In der Station Seckbacher-Landstraße betrat er den Zug und fuhr mit der U4 zum Frankfurter Hauptbahnhof. Achtzehn Uhr startete der Intercity pünktlich zu seiner Fahrt nach Erfurt. Ritter schaute gedankenlos aus dem Zugfenster. Die Landschaft rauschte vorbei. Die Bilder verschwammen. Er wurde schläfrig. Kurz nickte er ein, doch dann stand er ruckartig auf und besorgte sich einen Kaffee.
Hungrig erreichte er um einundzwanzig Uhr die Hauptstadt Thüringens. Mit schnellen Schritten lief er in die Innenstadt und kaufte sich bei Koko Sushi einige Leckereien. Im Hotelzimmer genoss er die japanischen Köstlichkeiten.
Seine Gedanken drehten sich um die verstörenden Informationen, die er dieses Wochenende erhalten hatte. Die musste er erstmal sacken lassen und auch einordnen.
Ritter saß um neun Uhr im Frühstücksraum, als sein Telefon klingelte. Mandy Probst! „Hey, Frau Mandy. Schon unterwegs?“ „Guten Morgen, Chef. Ja wir sind jetzt losgefahren. Gegen zwölf werden wir wohl ankommen. Wo sollen wir uns treffen?“ „Bei mir im Hotel. Denn wir haben viel zu besprechen. Und danach entscheiden wir, wie es weitergeht.“ „Okay, dann bis später.“
Er setzte sein Frühstück fort und studierte eine Broschüre über Erfurt. Zweihundertvierzehntausend Einwohner hat die Stadt und liegt im Thüringer Becken, dem Vorland des Thüringer Waldes. Das Bundesarbeitsgericht und der Verfassungsschutz des Landes sind hier ansässig. Erfurt beheimatet zudem eine der ältesten Uni- versitäten in Deutschland, und ihr berühmtester Student hieß Martin Luther.
Nach dem Frühstück lief Ritter ein wenig durch die schöne Altstadt und bestaunte die in der Broschüre beschriebene Krämerbrücke. Sie ist die längste durchgehend beidseitig mit Häusern bebaute Brücke Europas. Bebaut mit Fachwerkhäusern. Das Bauwerk zählt zu den bekanntesten Wahrzeichen dieser Stadt. Viele Touristen drängten sich bereits auf der Brücke. Die schön anmutenden Lädchen auf der engen Gasse luden zum Stöbern ein. An einer Eisdiele auf der Brücke kaufte er sich ein Eis. Erdbeere und Mango in der Waffel.
Kurz nach zwölf Uhr trafen Mandy Probst und Kevin Wagner im Hotel ein. Ritter stand gerade an der Rezeption, als sie eintraten. Freundlich begrüßten sich die Beamten. Er erklärte den beiden, dass sie erstmal in Erfurt bleiben werden.
Nachdem Probst und Wagner im Hotel eingecheckt hatten, trafen sie sich in Ritters Zimmer. Der begann zu berichten, was er mit Kommissar Kranz besprochen hatte. Und das war eine ganze Menge. Gespannt lauschten sie seinen Ausführungen. Anschließend besorgte Mandy Probst belegte Brötchen in einer na- hegelegenen Bäckerei. Als sie zurück im Hotel war, informierte Ritter die beiden: „Ich bräuchte als erstes die Meldedaten der beiden Toten aus ihren letzten fünf Jahren. Ebenso von dieser Britta Neumann und ihrem Vater. Sie soll die Freundin des Toten Enrico Hellmann aus Weimar gewesen sein. Vielleicht gibt es auffällige Überschneidungen. Das andere Opfer, Tobias Tanner aus Frankfurt, war vermutlich ein Einzelgänger. So erzählte es mir sein Vater.“ Ritter berichtete nun von seinem gestrigen Ausflug nach Frankfurt.
Wagner fragte: „Glauben Sie, dass es da eine Verbindung gibt?“ „Keine Ahnung. Irgendeine Verbindung wird es wohl geben, aber ob die etwas bedeutet, wissen wir nicht. Irgendwo, irgendwie müssen wir anfangen. Gute Ideen sind also willkommen.“ Probst grinste: „Okay, Chef. Jetzt checken wir erstmal die Meldedaten und Sonstiges über diese Personen. Und dann sehen wir weiter.“ Ritter nickte.