Riwan oder der Sandweg - Ken Bugul - E-Book

Riwan oder der Sandweg E-Book

Ken Bugul

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Beschreibung

Als Ken Bugul ernüchtert aus Europa in ihr Dorf zurückkehrt, ist sie zu einer Außenseiterin geworden. Sie ist die Gescheiterte, die mit leeren Händen nach Hause gekommen ist - ohne Geld, ohne Mann, ohne zu wissen, wie es weitergehen soll. Erneut macht sie sich auf die Suche. Fasziniert von Sanftmut und Toleranz des großen Serigne, zieht sie an seinen Hof und wird zu seiner achtundzwanzigsten Ehefrau. Dieser Roman erzählt mutig über afrikanische Traditionen und Polygamie, Verführung und Selbstbestimmung. Riwan oder der Sandweg wurde zu einem der hundert bedeutsamsten afrikanischen Bücher des 20. Jahrhunderts gewählt und mit dem wichtigsten afrikanischen Literaturpreis (Grand Prix Littéraire de l'Afrique Noire) ausgezeichnet.

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Seitenzahl: 276

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Über dieses Buch

Als Ken Bugul ernüchtert aus Europa in ihr Dorf zurückkehrt, ist sie eine Außenseiterin. Erneut macht sie sich auf die Suche. Fasziniert von Sanftmut und Toleranz des großen Serigne, zieht sie an seinen Hof und wird zu seiner achtundzwanzigsten Ehefrau.

Ein mutiger Roman über afrikanische Traditionen, Polygamie, Verführung und Selbstbestimmung.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Ken Bugul (eigentlich Mariétou Biléoma Mbaye, *1947) studierte im Senegal und in Belgien. Ihr Künstlername bedeutet »eine, die unerwünscht ist«. Nach ihrer Rückkehr aus Belgien heiratete sie und wurde die 28. Frau im Harem. Als ihr Mann starb, zog sie nach Benin und war als Kunsthändlerin tätig.

Zur Webseite von Ken Bugul.

Jutta Himmelreich studierte Romanistik, Amerikanistik und Ethnologie in Frankfurt, Tucson, Arizona und Paris. Sie ist seit 1985 als Übersetzerin und Dolmetscherin in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Farsi tätig.

Zur Webseite von Jutta Himmelreich.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Ken Bugul

Riwan oder der Sandweg

Roman

Aus dem Französischen von Jutta Himmelreich

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1999 bei Présence Africaine Éditions.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2016 bei AfricAvenir, Berlin.

Originaltitel: Riwan ou le Chemin de Sable

Übernahme der Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von AfricAvenir, Berlin

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Maxim Blinkov (123rf.com)  

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31001-8

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 21.06.2022, 23:22h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

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RIWAN ODER DER SANDWEG

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Über Ken Bugul

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Für Mame Yandé Fall, meine Freundin in der Stadt,und für meine Nichten Sokhna Mbayeund Mame Diarra Diagne, die ich sehr vermisseund denen ich dies hier heute erzähle.

An einem Montag.

An einem Markttag.

In Dianké.

Im so geordneten, so sorglosen, so friedlichen Leben auf dem Gehöft des Kalifen, des Serigne von Daroulère, war Außergewöhnliches geschehen. Der Serigne von Daroulère hatte ein großes Gehöft in der Ansiedlung, die immerhin groß genug war, um einen gewählten Bürgermeister zu haben. Die Ansiedlung Dianké also lag rund zwanzig Kilometer entfernt von des Serignes Feldern, in Daroulère.

Niemand wusste, woher die Worte gekommen waren:

»Es heißt, dass …«

»Es hieß, dass …«

Wobei allein die Kühnen das zu sagen wagten.

Was war geschehen?

Wer es wusste, wandte sich ab und ging seiner Wege.

Was war denn geschehen?

Die, die ihr Wissen durch Indiskretion – oder per Zufall – erworben hatten, musste man anflehen, um ihnen wenige, kaum hörbar gemurmelte Worte zu entlocken.

Tatsächlich war die Angst, die schreckliche Angst davor, über eine vermutlich furchtbare Sache zu reden, die sich beim Serigne, dem Großen Serigne, zugetragen hatte, ungemein groß.

Dabei geschah so Schreckliches beim Serigne höchst selten!

Seit Menschengedenken war so etwas noch nie passiert!

Nie!

Fast nie!

Was war denn nun geschehen?

»Es heißt, dass Sokhna Diw, wissen Sie, die aus …«

»Wie war sie noch gleich?«

»Weißt du nicht mehr, wie groß sie war, wie schön und …«

»Ah ja, die, die schon da war, als die andere kam, du weißt schon, die Adoptivtochter von einer der Haupt-Gattinnen des Serigne, weißt du, die Kleine, gertenschlank, helle Haut, fast noch ein Kind, beim Serigne aufgewachsen …«

»Ah, genau, jajaja, was ist ihr denn zugestoßen?«

»Nicht ihr, nein, sondern Sokhna Diw, die schon da war, bevor das junge Mädchen kam …«

»Die Kleine war also gar nicht mehr dort?«

»Doch, doch, sie war nirgends hingegangen.«

»Bevor das junge Mädchen kam« hieß: bevor sie des Serignes Frau wurde.

»Ah so, jetzt versteh ichs! Und was ist dieser Sokhna Diw nun zugestoßen?«

»Diese Sokhna Diw, ah, ich weiß es vom Hörensagen, hm, mein Mund soll verflucht sein, weil ers weitergibt, oh, meine Ohren, es ging also das Gerücht, dass zwischen ihr und jemandem vielleicht etwas vorgefallen und sie, wohl aus Panik, davongelaufen war. Als sie in ihrem Dorf ankam, mitten in der Nacht, wollten ihre Eltern, überrascht, entsetzt, am nächsten Morgen entscheiden, was zu tun sei. Noch in derselben Nacht ist ihr Haus abgebrannt.«

Es gab nie eine Nacht.

Es gab nie einen Morgen.

»Was?«

»Was sagst du da?«

Hände ballten sich vor Mündern zu Fäusten.

Kopftücher wurden zu Schleiern.

Schuhe wurden ausgezogen.

Plötzlich ging ein jeder seiner Wege.

Schlagartig waren die Wege menschenleer.

Begrüßungen fielen kürzer aus.

Die vor den Häusern zum Verkauf angebotenen Waren verschwanden.

Der Brunnen schwieg.

Aus Worten wurden kurze Seufzer.

An einem Montag.

Markttag.

In Dianké.

Vor dem Tor zum großen Gehöft des Serigne, in Dianké, hatte ungewöhnlicher Lärm die Aufmerksamkeit jener Neugierigen erregt, die sich um diese Zeit in der Gegend aufhielten, um sich ihren Anteil an der riesigen Schüssel mit Essen zu sichern, die der Serigne möglicherweise stiften würde, oder gar – höchst seltener Segen –, um Geld zu ergattern, das er den Bedürftigen vielleicht sogar persönlich aushändigen würde, zum Unterhalt ihrer Familien. Das kam heutzutage häufig vor, hier wie andernorts. Die Ursachen dafür waren bekannt, doch den großen Verantwortungsträgern dieser Welt ging es nicht um die Bekämpfung der Ursache aller Ursachen, sondern vielmehr um die politische Vereinnahmung ihrer dramatischen Folgen. Und zum ohnehin schon grässlichen Vokabular dieser Zeit kamen Wörter wie Riss, Ausgrenzung, Obdachlose und ähnliche hinzu. Als hätten ethnische Säuberung, Genozid, Massaker an Frauen, Kindern, Intellektuellen, Touristen, Flüchtlingen den unmenschlichen Kreis unseres Jahrtausends im Todeskampf nicht längst geschlossen. Was die Verantwortungsträger dieser Welt allerdings nicht um ihre Arbeit gebracht hat. Während die Arbeitslosen arbeitslos blieben und Schinder und Scharfrichter weiterhin Menschen umbrachten.

In einem Winkel vor des Serignes Gehöft, in Dianké, ein wenig abseits, bemühten sich drei Personen nach Kräften darum, einen Hünen zu bändigen, der sich gegen sie wehrte:

»Halt ihn fest!«

»Richtig festhalten!«

»Pass auf, dass er dich nicht verletzt!«

»Der Kerl ist wahnsinnig, wahnsinnig verrückt, verrückt und gefährlich. Und so starke Verrückte sind noch gefährlicher.«

Der Mann war allerdings an Händen und Füßen gefesselt. Er trug eine halb zerrissene Pluderhose. Sein kräftiger Oberkörper war nackt. An seiner schweißnassen Haut klebte Staub. Wütend zerrte er an seinen Fesseln und schnaubte wie ein verwundeter Stier im Kampf. Er brüllte wie ein Raubtier, schaute jedoch ein ums andere Mal verängstigt um sich.

Er war attraktiv.

Ich fand ihn attraktiv.

Ich wartete seit dem Morgen hier, hielt ein Buch in der Hand. Ich war weder gekommen, um etwas zu essen, noch, weil ich Geld für Besorgungen auf dem Markt brauchte. Ich war einfach dort. Wenn auch nicht zufällig. Ich wollte den Serigne sehen, ohne besonderen Grund zwar, doch ich musste ihn sehen.

Das Tor zu des Serignes Gehöft war stets geschlossen.

Die drei Personen waren noch immer mit ihrem Verrückten befasst. Trotz ihrer übermenschlichen Anstrengungen vermochten sie nicht, ihn zu bändigen.

So hatten sich vor des Serignes Gehöft schon eine Menge Menschen eingefunden. Seine Gefolgsleute warteten darauf, dass das Tor sich öffnete, um ihm verschiedenste Klagen, Beschwerden und Beichten vorzutragen. Die Menge war ruhig, alle Blicke auf den Entfesselten in Fesseln gerichtet.

»Euer Kamerad sieht ziemlich müde aus«, befand ein Mann, der sich hier auszukennen schien.

»Er ist sogar mehr als müde, er ist verrückt. Er strapaziert uns. Wir sind seit gestern mit ihm unterwegs. Wir kommen aus Ndiambour, dort war er eine Weile bei einem Heiler in Behandlung, in Beureup, so heißt der Ort. Wir haben Unbeschreibliches durchgemacht. Seit gestern haben wir praktisch keinen Bissen mehr gegessen, und wir können nichts machen, weil wir ihn ständig beobachten müssen, und weil er so stark ist, der starke Verrückte, können wir ihn auch zu dritt kaum bändigen. Wir mussten ihn fesseln, was ihn wohl erst recht wahnsinnig gemacht hat. Weil sich in Beureup sein Zustand nicht gebessert hat und er im Gegenteil immer verrückter wurde, hat uns jemand geraten, uns hier an den Serigne zu wenden. Bei seinem Leben hat er uns geschworen, dass unser Mann geheilt würde.«

Der Verrückte war ein schöner Mann, stattlich schön sogar, und in seinem Wahnsinn scheinbar noch attraktiver. Seine Haut, von Schweißperlen übersät, schillerte wie tausend wilde Feuer.

Plötzlich ging ein Ruck durch die Menge: Das Tor zu des Serignes Gehöft hatte sich soeben von innen einen Spaltbreit geöffnet. Der mit der Örtlichkeit vertraut wirkende Mann erhob sich sofort unauffällig, zwängte sich durch den schmalen Spalt und schloss das Tor hinter sich. Die Person, die das Tor von innen geöffnet hatte, war nicht zu sehen gewesen. Wer schon aufgestanden war, setzte sich wieder. Nur der Verrückte hatte sich nicht gerührt. Er schien mit großer Neugier die halb mit Staub bedeckte Menge zu beobachten. Seine Bewacher wollten ihn zwingen, sich endlich hinzusetzen, vergebens. Stehend war er noch kraftvoller und faszinierte mich umso mehr.

Das Tor zu des Serignes Gehöft öffnete sich erneut, und der mit dem Ort Vertraute – der Wächter vielleicht – kam auf mich, die etwas abseitssaß, zu.

»Der Serigne bittet Sie herein.«

Ich stand auf, klopfte mir diskret den Staub aus den Kleidern. Beim Serigne saß man stets auf dem Boden.

Die Menge wurde plötzlich auf mich aufmerksam, und ich spürte neugierige Blicke auf mir.

Manche Leute warteten vielleicht schon seit dem Vortag. Sie mochten die Nacht im Gamat verbracht haben, einer großen Hütte vergleichbar, ohne Wände, mit Blechbahnen, manchmal mit Stroh gedeckt, oder sie hatten unter den Bäumen geschlafen, bei ihren Gespannen, unter freiem Himmel. Andere waren sehr früh an diesem Morgen hier eingetroffen. Vor dem Gehöft, etwas abseits, standen vereinzelte Karren, schräg gestellt, und Pferde senkten ihre Köpfe in Futtersäcke, ließen ihr Fell dabei zucken.

Ich traf den Serigne in seinem Zimmer an. Er trug gut gestärkte, frisch geplättete Kleidung. Der Raum roch intensiv und angenehm. Zweifellos ein Duft von Bourjois. Der Serigne mochte diese Marke sehr. Jicky von Guerlain hingegen war das Lieblingsparfum des Großen, des Größten Serigne. Man erzählt sich, er habe sein Bett damit beträufelt, bevor er den heiligen Koran darauf legte.

Jicky.

Von Guerlain.

Ich begrüßte den Serigne ehrerbietig, indem ich, mich mit beiden Händen abstützend, auf die Knie ging. Er reagierte mit einem »Bissimila« auf meine Begrüßung und bat mich, näher zu treten. Ich kam seiner Aufforderung nach, kroch auf ihn zu wie ein Baby und setzte mich schließlich auf meine Pohälfte, ein Bein über dem anderen.

»Hast du gefrühstückt?«, fragte er mich.

»Ja, ich habe bereits gefrühstückt«, antwortete ich.

»Was führt dich hierher?«, fragte er weiter, um den Grund für meinen Besuch zu erfahren. »Brauchst du etwas?«

»Nein, ich brauche nichts, ich wollte Euch nur besuchen«, sagte ich, mit gesenktem Kopf.

Er fuhr fort: »Du kommst erst jetzt? Seit wann bist du zurück?«

»Ich war schon einmal hier, doch man sagte mir, Ihr seid in Daroulère.«

»Du hättest nach Daroulère kommen sollen«, sagte er.

»Ja, das hätte ich tun sollen.«

Auch mit gesenktem Haupt spürte ich seinen strengen Blick auf mir ruhen. Seine Worte gaben mir zu denken.

Wo warst du so lange?

Kennst du Amerika?

Dort wird die Welt zu Ende gehen.

Dort wird das Jüngste Gericht stattfinden.

Kannst du mir sagen, wie Chinas Berge heißen?

Kennst du die Flüsse Indiens?

Kennst du Euphrat und Tigris?

Diese Gewässer bergen ein Geheimnis.

Er redete mit mir, angeregt und strahlend.

Ich hörte ihm zu, staunte darüber, wie viel er wusste, war von seinen Worten fasziniert.

Tigris und Euphrat … Vielleicht würde ich eines Tages, vor dem Ende der Welt, in sie eintauchen und die Geheimnisse lüften, von denen er sprach.

»Was hast du in der Hand?«, fragte er mich nach einer Weile.

»Ein Buch«, stammelte ich.

»Und was steht drin in diesem Buch?«

»Es handelt von Frauen«, erwiderte ich.

»Ein Buch über Frauen? Und was sagt man über sie?«

»Es geht um ihre Geschichte, seit dem Anbeginn der Zeit, um ihre Entwicklung …«

Statt mir Zeit für weitere Erläuterungen zu lassen, bat er mich, ihm zu berichten, was in diesem Buch stand. Der Serigne konnte das lateinische Alphabet nicht lesen. Meine Mutter auch nicht.

»Ich werde nicht alles erzählen können, weil ich das Buch noch nicht zu Ende gelesen habe, und es ist sehr umfangreich. Ich kann nur sagen, dass es um Frauenprobleme geht, dargestellt von anderen Frauen.«

»Soll das heißen, Frauen haben Probleme? Das sollten sie nicht, sie wurden nicht erschaffen, um Probleme zu haben, im Gegenteil«, sagte er amüsiert.

»Trotzdem«, fuhr ich fort, »scheinen sie viele zu haben, nicht direkt Probleme, eher Sorgen. Es gibt Frauenverbände, die solche Probleme oder Sorgen erfassen, Frauenverbände, die Lösungen für diese Probleme vorschlagen, Frauenverbände, die vor Ort arbeiten, Frauenverbände zum Schutz der Frauen. Mittlerweile wird viel für die Frauen getan: Studien, Forschung, Kolloquien, Foren. Es gab ein Internationales Jahr der Frau, dann das Jahrzehnt, dann …«

»Soso«, sagte er, »und dann, was kommt nach alledem?«

»Dann geht es darum, die Umsetzung der Empfehlungen sicherzustellen«, sagte ich.

»Das ist nicht dein Ernst«, sagte er, lachte beinahe laut auf und fragte dann: »Warum trägst du ein Buch mit dir herum?«

Mir wurde bewusst, dass ich keinen Grund hatte, ein Buch mitzunehmen, wenn ich aus dem Haus ging. Warum dieses Buch und warum, während ich den Serigne besuchte?

Damals interessierte mich alles, was Frauen betraf, besonders, doch das war nicht der Grund, weshalb ich dieses Buch auf Schritt und Tritt bei mir hatte. Musste ich etwas in der Hand halten, weil ich schüchtern war? Vielleicht war ich einfach der Marotte mancher Bürger verfallen, die gern ein Buch spazieren trugen, irgendeines, und seis ein kleines Wörterbuch. Ich weiß noch, dass die Bibliothek meines verstorbenen Bruders Malick so um ihre Meisterwerke kam. Neffen, deren Freunde, Leute, alle schauten vorbei, nahmen sich die Bücher, führten sie spazieren, und keines kehrte je an seinen Platz zurück. Sie alle verliefen sich in der Stadt.

Der Serigne unterhielt mich, und ich mochte seine einfache Art und seine Fröhlichkeit, die ihn mir unergründlich machten.

Plötzlich erschütterte ein lautes Quietschen den Blechzaun, der das Gehöft umschloss. Fragend sah der Serigne den etwas abseits von ihm, dennoch fast in Reichweite sitzenden Wächter an. Der stand rasch auf und ging ans Tor. Der Mann, der mit der Örtlichkeit so vertraut gewirkt hatte, war tatsächlich der Wächter. Das Geräusch wurde immer lauter, und die schweren Schläge drohten die schon schwankende Umzäunung zu Fall zu bringen.

»Wer so viel Lärm macht, muss sehr stark sein«, sagte der Serigne scheinbar zu sich selbst.

»Ja, er ist sehr kräftig«, sagte ich, laut nachdenkend.

»Du kennst ihn?«, fragte er.

»Ich kenne ihn nicht, ich habe ihn draußen gesehen, als er ankam«, entgegnete ich, ein wenig überrascht von des Serignes Frage.

»Warst du lange dort draußen?«, fragte er mich mit prüfendem Blick.

»Ja, ich kam sehr früh hier an, gleich nach dem Frühstück«, erklärte ich.

»Du hast also nicht gebetet?«, hakte er nach.

»Doch, ich habe gebetet, ohne Gebet darf ich nicht aus dem Haus«, setzte ich hinzu.

»Du betest?«

»Natürlich bete ich.«

»Was sagst du beim Beten?« Neugierig sah er mich an und lächelte.

»Ich sage: Gott, ich will an Dich glauben, deshalb überlasse ich mich ganz Dir allein.« Und nun lächelte ich.

»Wo hast du dieses Gebet gelernt?«

»Nirgends, das ist mein Gebet.«

»Recht hast du. Die Wege zu Gott sind so zahlreich wie die Geschöpfe. Wir gehen alle zu Ihm, die einen gehen voran, die anderen werden folgen.«

Dieses Gebet war das Gebet meiner persönlichen Askese auf dem Weg zu Gott.

Oh, dieser Mann gefiel mir, weil ich mit ihm über andere Dinge reden konnte.

Genau das brauchte ich.

Jemanden, mit dem ich über andere Dinge reden konnte.

In diesem Augenblick kehrte der Wächter aufgeregt zurück und stammelte: »Da ist jemand, jemand, der, nicht aussieht als …, der …, der …, drei Männer sind bei ihm, bei dem, der …, der …, dem …, die drei Männer möchten Sie sprechen.« Der Wächter war völlig kopflos.

»Sie sollen warten, ich werde sie rufen«, sagte der Serigne. Kaum aber hatte er seinen Satz beendet, brach der Lärm umso lauter los. »Der hat Charakter«, befand der Serigne und befahl umgehend: »Er soll vortreten.«

Was sollte ich tun?

Gehen oder bleiben?

Vielleicht sollte ich die Anweisungen des Serigne abwarten. Den Wahnsinnigen, den ich draußen gesehen hatte, wie würde der Serigne ihn empfangen und wo?

Hier, in diesem Zimmer?

In diesem nicht sonderlich großen Zimmer, in dem ein Holzbett stand, bedeckt mit einem Seidenlaken, in dem Gelb und Rot vorherrschten, von Grün und Weiß durchzogen. Eher ein orientalischer Bettüberwurf. An einer Wand stand eine alte Kommode, typisch für die Region. Sie war verschlossen. Am Boden lagen mehrere Teppiche und gegerbte Schaffelle. Die Wände waren blau gestrichen, in einem Überseeblau, frei und verwegen.

Sollte ich hier im Zimmer bleiben?

Ich zögerte noch immer.

Hatte ich Angst, in diesem reich ausgestatteten Raum zu sein, wenn auch der so kräftige Wahnsinnige mit nacktem Oberkörper hier wäre?

Wenn ich aber beschloss, das Zimmer zu verlassen, welchen Weg würde ich nehmen? Es gab nur zwei Ausgänge: den, durch den ich das Zimmer betreten hatte und durch den wohl auch der Wahnsinnige eintreten würde. Die andere Tür führte in eine mir unbekannte Welt. Durch einen Tüllvorhang hindurch ließ sich unschwer ein Hof mit Bäumen ausmachen. Diese Schwelle hatte ich noch nie übertreten.

In diesem Moment aber hörten wir dumpfes Poltern und schwere Schritte immer deutlicher.

Der Verrückte, seine drei Begleiter und der Wächter kamen näher.

Sollte ich bleiben oder gehen?

Wohin mit mir, falls ich bliebe?

Dort in die Ecke vielleicht?

Und sie, wo würden sie sitzen?

Das Zimmer war nicht sehr geräumig und enthielt allerlei Gegenstände: Vasen, Schüsseln, Töpfe, Flaschen und zumeist alte Bücher.

Der Serigne saß noch immer auf seinem Bett. Seine Füße standen fest auf dem Teppich, und er war gefasst.

Auch er war beeindruckend, so beeindruckend wie der Verrückte. Plötzlich wollte ich nicht mehr weg.

Der Verückte und der Serigne ähnelten einander.

Machte der Verrückte mir Angst?

Nein.

Jetzt ganz und gar nicht mehr.

Und plötzlich stand der Verrückte im Türrahmen.

Er sah den Serigne an.

Der Serigne sah ihn an.

So verharrten sie einen Moment, und der Serigne befahl: »Macht ihn los.«

Der Wächter und die drei Begleiter schienen das soeben Gehörte nicht genau verstanden zu haben, taten aber, wie ihnen geheißen.

Der Wächter stellte sich zwischen den Verrückten und den Serigne, während die drei Begleiter den Mann losbanden. Unterdessen hielt der Wahnsinnige den Blick starr auf den Serigne gerichtet. Der sah nun den drei Begleitern dabei zu, wie sie seiner Anweisung Folge leisteten. Offenbar ließen sich die Schlösser an den Ketten nicht einfach lösen. Deren Klirren war das einzige Geräusch im Raum.

Ich saß da, entschlossen zu bleiben. Ich wollte wissen, was sich in diesem Zimmer noch ereignen würde. Jenseits der Tür mit dem Tüllvorhang, die vermutlich in einen Hof führte, sah ich vereinzelte Frauen und Kinder kommen und gehen. In meiner Neugier hätte ich gern auch gewusst, was sich dort zutrug.

Nun hatten die drei Begleiter dem schönen, eindrucksvollen Hünen die Ketten abgenommen. Plötzlich stand er da, ruhig und gefasst, anscheinend am Ende eines langen Leidenswegs angelangt.

»Willst du mich nicht begrüßen?«, fragte der Serigne ihn.

Er lächelte und reichte ihm zögernd die Hand.

»Wie heißt du?«, fragte ihn der Serigne und hielt die Hand des Mannes kurz fest.

»Massamba«, gab der Mann zur Antwort.

Des Serignes Gesicht hellte sich plötzlich auf: »Ha, dir schuldet man Respekt! Du trägst den Namen des Serigne Massamba, und Serigne Massamba ist für mich nicht irgendjemand. Du bist der Ältere von uns beiden, mein Meister, mein Führer. Komm, nimm Platz, trink einen Kaffee, iss etwas.« Der Serigne wurde zusehends lebhafter. »Hol mir Sokhna Xat«, befahl er dem Wächter. Der, wie gewohnt, rannte vielmehr, als gemessenen Schrittes zu gehen, und verschwand durch die Tür mit dem Tüllvorhang.

Ich schaute ihm nach.

Ich saß nach wie vor an meinem Platz. Das Buch in meiner Hand war mir im Weg. Dieses Buch, in London erworben, unweit von Regent’s Park, so fern von diesem Marktflecken hier, so fern von dieser Gegend, von diesem Land, ich bedauerte wirklich, dass ich es mitgenommen hatte.

Meine Hände waren schweißnass. Doch wohin mit dem Buch?

Es war in englischer Sprache verfasst, und auf dem blauen Einband war eine Wäscheleine zu sehen, auf der Männerhemden in allen Farben hingen, manche kariert. In diesem Moment erschien, im Gefolge des Wächters, eine zarte Frau. Sie grüßte zurückhaltend, ohne sich direkt an jemanden zu wenden, und kauerte sich sofort vor den Serigne, hielt den Kopf gesenkt, war ganz Ohr. Der Serigne gab Anweisungen: »Mach Kaffee, rasch, guten Kaffee, und schick jemanden Brot holen. Heute haben wir einen Gast von Rang«, setzte er hinzu, während er in einer weiten Tasche seines Gewands kramte.

Er förderte einen Schein zutage, warf ihn der zarten jungen Frau zerknüllt hin, die nahm ihn an sich, wandte sich um und verließ das Zimmer durch die Tür mit dem Tüllvorhang.

Die drei Begleiter des Verrückten schienen verblüfft. Der Wächter sah den Serigne unverwandt mit großen Augen an.

Der Wahnsinnige hingegen lächelte traurig.

»Nun, Massamba, sprich, rede mit mir, sag ein Wort«, wandte der Serigne sich erneut an seinen Gast.

Er saß noch immer in derselben Position da, die Füße fest auf dem Bettvorleger. Seine Unterarme ruhten auf seinen Knien, der Oberkörper war dem am Boden sitzenden Hünen zugeneigt.

Mir hatte niemand Gelegenheit gegeben, ein Wort zu sagen. Ich wechselte oft meine Position, bedingt durch starke Krämpfe, vor allem in den Füßen. Der Verrückte schwieg weiterhin, lächelte nach wie vor traurig.

Kurz darauf traf Sokhna Xat mit einer vollen Kanne Kaffee ein, deren dampfende Tülle einen starken Duft nach Diar, einer Nelkenart, im Zimmer verbreitete. Der Wächter erhob sich umgehend, um den Kaffee zu servieren.

Der Serigne lehnte dankend ab.

Massambas drei Begleiter nahmen die Gläser heißen Kaffees und das angebotene Brot ehrerbietig entgegen und beugten sich vollends nach vorn, um die Gläser mit der einen Hand zum Mund zu führen und vom Brot in der anderen Hand abzubeißen.

Massamba hatte Kaffee und Brot vor sich, schien beidem jedoch keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken.

»Massamba, trink deinen Kaffee, solange er noch warm ist«, sagte der Serigne. Der Mann rührte sich nicht und schwieg weiterhin. Nach einer Weile beugte der Serigne sich nach vorn und nahm Massambas Glas Kaffee. Er trank einen Schluck und behielt das Glas in der Hand. Der Wächter kam, um mir Kaffee zu servieren, ich lehnte dankend ab. Der Serigne wandte sich mir zu: »Möchtest du keinen Kaffee? Hier, trink«, sagte er und reichte mir das Glas, das er in der Hand hielt.

Ich legte das Buch, das ich noch immer in der Hand hatte, neben mich, nahm das Glas mit beiden Händen entgegen und trank einen kräftigen Schluck. Der Kaffee schmeckte gut, war heiß, sehr heiß. Ich stellte das Glas vor mich hin.

»He, gib mir meinen Kaffee zurück«, sagte der Serigne lachend.

Wieder nahm ich das Glas in beide Hände, kroch auf den Serigne zu und reichte es ihm. Er trank mehrere Schlucke und bat Massamba dann, das Glas zu leeren. Der nahm es diesmal mit einer Hand entgegen und trank es in einem Zug leer.

Er behielt das Glas in der Hand und betrachtete es aufmerksam.

Seine drei Begleiter hatten ihr Brot gegessen und ihren Kaffee getrunken, Worte des Dankes gemurmelt. Der Serigne bat sie, sich in den vorderen Hof zurückzuziehen, den Hof, über den sie zum Gehöft gelangt waren. Er wies den Wächter an, die Kaffeekanne und die Gläser wegzuräumen. Als er Massamba das Glas abnehmen wollte, das der noch immer in der Hand hielt, hinderte der Serigne ihn daran: »Warum willst du ihm sein Glas wegnehmen? Hat er dir gesagt, dass er fertig ist?« Der Serigne war beinahe wütend.

Der Wächter erschrak, stürzte fast, stammelte kopflos eine Entschuldigung und verließ, mit dem Tablett in der Hand, das Zimmer durch die Tür mit dem Tüllvorhang. 

Der Serigne machte es sich auf seinem Bett bequemer, er streckte sich aus, legte sich ein Kissen unter den Kopf.

Ich betrachtete meine Hände, wollte mich anders hinsetzen, sah jedoch davon ab. Ich sah den Serigne verstohlen an. Er lag auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen, die Hände über der Brust verschränkt. Er war wirklich groß, nahm fast die gesamte Länge des Bettes ein. Sein frisches, gestärktes Gewand umgab ihn. Ein schönes, weites Gewand aus hochwertigem Bazin-Stoff, himmelblau. Ein wenig korpulent war er, doch das stand ihm sehr gut. Unauffällig wanderte mein Blick zu Massamba. Der hielt das leere Glas noch immer in Händen, drehte es nach allen Seiten und starrte es an. Dieser Mann war so anders als der, der sich am Tor des Gehöfts eingefunden hatte, in Ketten, begleitet von drei Personen, die ihn fest im Griff hatten. Massamba war vermutlich fast so groß wie der Serigne. Er war hochgewachsen, jung, muskulös, die Muskeln lang gestreckt, straff und prall, die Haut schwarz. Seine Augen strahlten lebhaft. Sein Haar hatte einen natürlich schönen Schnitt. Auch wenn er nicht gekleidet war wie der Serigne, ähnelte er ihm doch.

Der Serigne schnarchte leise.

Ich hob den Kopf, um ihn anzusehen.

Er war eingeschlafen.

Was sollte ich nun anfangen, allein mit Massamba und dem Serigne im Dämmerschlaf?

Der Wächter kam wieder, sah, dass der Serigne die Augen geschlossen hatte, schien Abstand zu nehmen von dem, was er eigentlich hatte tun oder sagen wollen, und ließ sich neben der Tür nieder.

Da saßen wir drei nun, wach, vor dem Serigne, der weiter sanft schnarchte.

Wie lange wohl?

Und dann fasste ich plötzlich den Entschluss, durch die Tür mit dem Tüllvorhang zu gehen, und fand mich auf einer Veranda wieder, die in einen sauberen, zu sauberen Hof führte. Einem Blatt, das ich auf der dichten Krone eines Niembaums bemerkte, fehlte der Mut zu fallen.

Um den Hof zog sich ein Zaun aus Blech, mit zwei Türen. Die linke führte vermutlich zu Toiletten, vom leichten Geruch nach Urin her zu schließen. Die rechte Tür war mit einem Haken verschlossen. Sie führte gewiss in einen Hof, in dem es lebhaft zuging, weil aus dieser Richtung laute Stimmen herüberdrangen.

Ich fasste mir ein Herz, ging auf diese Tür zu und zog den Haken aus der Verriegelung, langsam, doch die Tür sprang auf, brachte mich leicht ins Wanken, und tausend Gesichter schienen sich gleichzeitig nach mir umzudrehen.

Gesichter.

Antlitze.

Frauengesichter.

Frauenantlitze.

Sitzende Frauen, stehende Frauen.

Kommende Frauen, gehende Frauen, liegende Frauen.

Überall Frauen.

Nur Frauen.

Ich ging auf sie zu.

Sollte ich einer jeden die Hand schütteln?

Hände in allen Farben, Größen, vermutlich auch nach allem riechend, streckten sich mir entgegen.

Frauenhände!

So viele Botschaften, so viele Zeichen, so viele Symbole!

Ich schüttelte Hände, Hände, Hände.

Große Hände, raue Hände, zierliche Hände, trockene Hände, zarte Hände, Hände mit gesprenkelten Handflächen, Hände mit roten Handflächen, Hände mit schwarzen Handflächen.

Die ausgestreckten Hände waren begleitet von Lächeln, stummen Fragen, bedeutungsschweren Blicken. Hände, Masken, Gesichter, Antlitze.

Während ich weiter Hände schüttelte, erschien der Wächter und bat mich diskret, ihm zu folgen. Der Serigne verlangte nach mir. Ich schüttelte die letzte Hand und folgte dem Wächter ungern. Ich hatte nur Hände geschüttelt. Hatte kein Wort, keinen Satz mit einer der Frauen gewechselt.

Der Wächter schloss die Tür hinter mir, kaum dass ich die Schwelle übertreten hatte.

Der Serigne saß mittlerweile in diesem makellosen Hof, auf einem Klappstuhl, einen nackten Fuß über den anderen geschlagen. Er schien wohlauf und kaute etwas. Kolanuss-Raspeln vermutlich.

Massamba war also allein in dem blauen Zimmer. Hielt er das leere Glas noch immer in Händen und drehte es nach allen Seiten?

Der Serigne lud mich ein, neben ihm Platz zu nehmen. Er hatte den Wächter gebeten, die Tür zu öffnen, durch die wir eben gegangen waren.

Der Sand in diesem Hof wurde sicher täglich fein gesiebt. Nicht das kleinste Steinchen, kein Zweig, kein Halm lag dort. Ich hatte Lust, mich darauf auszustrecken, splitternackt.

Und in diesem Hof entdeckte ich, mit dem Serigne, den rosafarbenen Sand, das Azurblau, und ich hatte das Gefühl, die Luft, die ich atmete, riechen zu können, scheinbar zum ersten Mal.

Jetzt wurden im Hof der Frauen laute Stimmen gedämpft, Haltungen korrigiert, Gesichter und Antlitze lachten nicht mehr schallend, sondern lächelten sanft.

»Welcher Tag ist heute?«, fragte der Serigne.

»Montag«, entgegnete ich und fügte hinzu: »Markttag.«

»Ah! Montags versammeln sich die Dschinn, die Geister, irgendwo in Marokko oder in Indien«, warf er ganz selbstverständlich ein.

Ich sagte ihm, dass ich bei deren Zusammenkünften gern dabei wäre. Auf meine verwegene Feststellung reagierte er nicht.

Massamba kam mir wieder in den Sinn, und ich fragte mich, ob er noch immer im blauen Zimmer saß, das leere Glas noch immer in den Händen hielt und ob er es noch immer um und um drehte.

Wie das herausfinden?

Aufzustehen wagte ich nicht.

Stattdessen versuchte ich, mir die Versammlung der Geister auszumalen, irgendwo im Atlasgebirge oder am fernen Ganges. Gern hätte ich gefragt, wie die Dschinnen aussahen, unterließ es aber.

Unterdessen hatte der Serigne einem der Antlitze im Hof der Frauen unauffällig ein Zeichen gegeben. Eine zarte junge Frau trat barfuß vor, kauerte sich geschmeidig neben den Serigne, mit gesenktem Haupt, aufmerksam. Auch ich kauerte dort, hielt den Blick auf meine Hände gesenkt, während es im Hof immer stiller wurde.

Wir saßen unter Niembäumen, die man seit mehreren Jahren überall im Land pflanzte, um das Vorrücken der Wüste aufzuhalten. Es gab sie überall. Sobald eines seiner Samenkörner den Boden berührte, würde ein Baum gewiss jeder Gefahr trotzen, um eines Tages dort zu wachsen und alle zu überragen. Wo ein Niembaum stand, starben die anderen Bäume ringsum, resigniert, stillschweigend. Die Niembäume in diesem Hof waren gut gepflegt und trugen ein sehr dichtes Blätterdach.

»Was essen wir heute?«, fragte der Serigne die zarte junge Frau, beinahe laut.

»Das weiß ich noch nicht, Yadiw hat jemanden geschickt, aber ich glaube, es gibt Reis mit Erdnusssauce«, antwortete sie.

»Du«, sagte der Serigne, an den Wächter gewandt, »geh mir Massamba holen.«

Noch bevor der Serigne seinen Satz beendet hatte, war der Wächter schon unterwegs.

Massamba erschien.

Ah ja! Jetzt konnte ich es sehen, er war genauso groß wie der Serigne, er sah aus wie er. Massamba glich dem Serigne tatsächlich, er war nur jünger, schwärzer. Er ging unmittelbar neben ihm in die Hocke, lauschte. Der Serigne sagte etwas zu ihm, er stand sofort auf und entfernte sich rasch.

Die zarte junge Frau war immer noch da.

Es wurde Nachmittag.

Massamba war gezähmt.

Massamba war von nun an Riwan.

»Du kannst nach Hause gehen und morgen ganz früh wiederkommen«, sagte der Serigne, an mich gewandt, mit ausgestreckten Armen, die Handflächen gen Himmel gekehrt. Ich tat es ihm sofort gleich: Eine Flut unausgesprochener Gebete überschlug sich in unseren Handflächen.

Ich ging nach Hause, mit meinem Buch und den Schatten der Dinge.

So war Riwan beim Serigne angekommen, in Ketten, vor Jahren. Er stammte aus der Region um Ndiarème (heute Djourbel), die einen großen Teil des Erdnussbeckens des Landes ausmachte. Ndiarème war in der Kolonialzeit berühmt und ist es übrigens bis heute. Es war die Hochburg des Serigne Touba – möge Gott mit ihm zufrieden sein –, einem erbitterten Gegner der Kolonialmächte, mittels Gebetskette und harter Arbeit. In Ndiarème wurde eine der ersten Muriden-Moscheen errichtet.

Riwan erhielt Anweisungen, von jenem ersten Tag, jenem ersten Abend an: »Geh Feuerholz holen.«