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Was zunächst wie ein ganz gewöhnlicher Geldraub aussieht, ist für Robert die gefährlichste Herausforderung, seit seiner ersten Begegnung mit dem Amulett. Unter dem Namen Phi hat sich der große Lapislazuli unbemerkt in Roberts Umgebung etabliert. Alle Menschen, die mit diesem Stein in Berührung kommen, unterliegen seinem dämonischen Einfluss. Das müssen auch der Hauptkommissar Werner und sein Assistent Fred Jarosch leidvoll erfahren. So baut sich Phi, mit Hilfe von Golubkardian, seinem menschlichen Helfer, eine alles beherrschende Organisation auf. Sie will immer mehr Menschen in ihren Bannkreis ziehen und durch ein raffiniert gestricktes Netzwerk an Verbrechen unermessliche finanzielle Mittel erlangen. Die Spur führt Robert völlig überraschend in das Machtzentrum von Phi, der Zitadelle in Mainz. Dort keimt in ihm ein ungeheuerlicher Verdacht auf. Auf sich allein gestellt hofft Robert, das Unmögliche schaffen zu können…
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Seitenzahl: 505
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Jo Hartwig
Robert im Bann des Lapislazuli
Inhalt
Überfall in der Schule
Eine erste Spur
Belastende Beweise
Geheimnisvolle Zitadelle
Mißbrauchte Magie
Geiselnahme
Verbrecherischer Organhandel
Phi`s Achillesferse
Maultrommeln greifen ein
Ein aussichtsloser Kampf
Robert im Bann des Lapislazuli
Jo Hartwig
Copyright 2012 Jo Hartwig
published at epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Überfall in der Schule
„Mann, Robert, da draußen ist tierisch was los!“, flüstert Tim seinem Banknachbarn Robert zu. „Die Wetterhexe verliert schon den Faden!“ Mrs. Weather, die Englischlehrerin mit dem Spitznamen „Wetterhexe“, wirkt tatsächlich so. Sie ist unkonzentriert und lässt, ganz gegen ihre Gewohnheit, Fehler in der Übersetzung durchgehen. Immer wieder fliegt ihr Blick nervös zur Tür, hinter der sich deutlich hörbar Unruhe breit macht. Endlich gibt sie sich einen Ruck, wirft ihre braune Haarmähne entschlossen nach hinten und geht auf den Flur hinaus. Die Tür schließt sie hinter sich. Alle in der Klasse spitzen die Ohren. Achim, normalerweise ein eher schwacher Typ, schleicht sich neugierig zur Tür und öffnet sie einen winzigen Spalt breit. Jetzt hören es alle: aufgeregt durcheinander redende Stimmen und Geräusche trampelnder Schritte. Stolz schaut Achim zu den anderen zurück, Anerkennung suchend für seinen Mut, doch plötzlich spürt er die Tür unsanft im Genick und taumelt. Die Wetterhexe kommt mit Elan in die Klasse zurück.
„Na, mein Lieber, was ist denn mit dir los, was machts du hier, hast du etwa gelauscht?“, wettert sie mit ihrer leicht rauchigen Stimme. „Bist du betrunken oder warum taumelst du so?”
Beschämt schleicht Achim wieder auf seinen Platz zurück. Er spürt das schadenfrohe Grinsen der anderen Schüler, als ob es wie Honig an ihm festkleben würde.
„Unser Schulleiter, Herr Direktor Gerlach, ist eben in seinem Büro überfallen und dabei verletzt worden. Gerade jetzt wird er mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht.“ Nervös hantiert die Lehrerin an ihrer Brille: „Well, wenn ich mehr Informationen habe, werde ich es euch sagen. Aber jetzt machen wir mit unserer Übersetzung weiter. Achim, bitte nimm du den nächsten Absatz !“ Allmählich kehrt wieder Ruhe in der Klasse ein. Doch kaum ertönt das Pausenzeichen, scharen sich die Schüler zusammen und diskutieren lautstark, was da eben passiert sein könnte. Robert kann es kaum erwarten, die Klasse zu verlassen. Durch die geöffnete Tür zum Lehrerzimmer sieht er den Hausmeister mit verbundenem Kopf am Konferenztisch sitzen. Ein Sanitäter macht sich gerade an seiner rechten Hand zu schaffen. Einige Referendare laufen aufgeregt durch die Gegend, als ob sie ihr Nest suchen würden. Was ist da bloß passiert?
„Zwei Männer sind einfach hier hereingekommen und ins Büro des Direktors gestürmt!“ Die Sekretärin, Frau Niemann, sitzt noch immer fassungslos an ihrem Schreibtisch. Normalerweise wirkt sie sehr gepflegt, doch jetzt hängen ihr einige Haarsträhnen unordentlich ins Gesicht und ihre Miene ist völlig aufgelöst. Es ist ihr nicht gelungen, die beiden Burschen aufzuhalten. Sie wurde einfach grob in die Ecke gestoßen und mit einem Messer bedroht. Danach sind die zwei Kerle, ohne sich weiter um sie zu kümmern, in Gerlachs Büro weitergelaufen. Robert sieht gerade noch, wie zwei ihm unbekannte Männer, sicher schon Leute von der Kripo, die Treppe hochkommen und im Lehrerzimmer verschwinden. Dann ist die Pause vorbei und er muss zurück in die Klasse. Der Unterricht geht weiter. Tim stupst ihn in die Seite. „Ein neuer Fall für uns?“, flüstert er.
Robert spürt einen zweiten Stoß im Rücken. Das ist Chris, der hinter ihnen sitzt. Robert nickt seinen beiden Freunden zu. So wie es momentan aussieht, bahnt sich hier größerer Ärger an. Das kann er unmöglich alleine schaffen.
„Gleich nach der Schule treffen wir uns bei mir zu Hause, okay?“, kritzelt er hastig auf einen Zettel und schiebt ihn zu Tim hinüber.
„Geht klar“, schreibt Tim darunter und lässt den Zettel unauffällig nach hinten zu Chris wandern. „Super, auf so eine Gelegenheit warte ich schon lange!“, flüstert Chris nach vorne. Roberts Freunde lauern tatendurstig darauf, dass der Unterricht endlich zu Ende geht. Kaum ist die Klingel zu hören, schnallen sie ihre Inliner an und skaten in Richtung Hochhaus. Oben im elften Stock gönnen sich die Freunde erst mal eine Cola und teilen kameradschaftlich den Hackbraten, den Roberts Mutter als Mittagessen für ihren Sohn vorbereitet hat, durch drei. Endlich sitzen sie in Roberts Zimmer. Tim und Robert hocken auf dem Bett, Chris hat sich hinter dem Schreibtisch breit gemacht. Robert überlegt sorgfältig, wie er beginnen soll. „Könnt ihr euch noch an das Theater erinnern, als ihr mich im Keller zum Rauchen verführen wolltet?“, fragt er.
„Logo!“ Tim richtet sich auf. „Du bist damals klugerweise abgehauen.“
Robert nickt. „Und ihr zwei habt euch alleine eine reingezogen, richtig?“
„Na und, was war denn daran so schlimm?“, fragt Chris abweisend.
Robert hebt abwehrend die Hände. „Reg dich ab Chris, darum geht’s gar nicht. Wichtig ist, was danach geschehen ist: Ungefähr eine halbe Stunde später bin ich nämlich noch mal in den Keller runter gefahren um zu schauen, ob ihr noch da seid. Aber es war zu spät, nur die Luft war voll kaltem Zigarettenrauch, dementsprechend widerlich hat es auch gestunken ...“
Verblüfft schauen ihn seine Freunde an.
„Hey Mann, willst du uns etwa hier ’ne Moralpredigt halten?“, mosert Tim und boxt ihm herausfordernd in die Rippen. Robert zögert unsicher und überlegt. Verflixt, die Sache ist doch schwerer als er dachte. Wie soll er seinen Freunden bloß erkären, was damals passiert ist, ohne dass sie ihn für einen Spinner halten? „Nein, nein, es geht um was ganz anderes. Aber zuerst müsst ihr mir hoch und heilig versprechen, niemandem ein Sterbenswörtchen von dem, was ihr jetzt hören werdet, zu sagen!“ Die beiden Freunde nicken nur neugierig und versprechen es mit sichtlicher Spannung.
„Als ich schon gehen wollte, habe ich plötzlich eine zarte Stimme gehört, die meinen Namen gerufen hat. Erst bin ich erschrocken, aber dann habe ich am Boden zwei Ratten gesehen, eine weiße und eine schwarze“, fährt Robert mit leiser Stimme fort, ohne seine Freunde dabei anzuschauen. Irgendwie kommt er sich total blöd vor. Warum eigentlich, es entspricht doch der Wahrheit.
„Sie – sie haben mit mir geredet und mir gesagt, dass ich um Mitternacht nochmals in den Keller kommen soll. Natürlich habe ich es erst nicht geglaubt, bin aber trotzdem wieder hinuntergefahren, weil ich neugierig war. Und sie waren wirklich wieder da. Richtig feierlich haben sie mir ein Amulett gegeben, ein Zauberamulett.“
„He, was soll der Müll?“ Tim springt ärgerlich auf. „Zwei sprechende Ratten und ein Zauberamulett!? Machst du hier Märchenstunde mit uns, oder was?“
Chris, wie immer der Ruhigere, macht eine beschwichtigende Handbewegung zu ihm hin und schaut Robert gespannt an. „Nun lass Robert doch erst mal weitererzählen!“
Robert zieht Tim wieder aufs Bett zurück. „Komm, Tim, hör erst mal zu!“ Jetzt macht es ihm richtig Spaß, seine Freunde so aufgeregt zu sehen. „Ich weiß, dass es absolut unwahrscheinlich klingt, aber ich schwöre euch, es ist echt so passiert. Die zwei Ratten haben gesagt, sie haben sich für mich entschieden, weil ich standhaft war und mich nicht von euch zum Rauchen verführen ließ.“
Jetzt blicken sich Tim und Chris verständnislos an.
„Wegen so einem Mist bekommst du ein Zauberamulett?“, meint Chris schließlich.
„Das sollen wir dir abkaufen?“ Tim springt erneut voller Ungeduld auf. „Hey, du glaubst wohl, wir haben einen Getriebeschaden, was?“
Robert seufzt genervt. Er hätte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, seine Freunde einzuweihen. Sie sind zwar Schnelldurchblicker, aber das alles klingt zu unwahrscheinlich.
„So bringt das nichts“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Mir ist klar, dass ihr das nicht glauben könnt, aber bleibt cool und lasst mich erst einmal zu Ende erzählen.“
Tim lehnt sich ans Fenster. „Da bin ich aber mal gespannt“, erwidert er abwartend.
In diesem Moment ist hinter ihm ein Flattern zu hören. Robert dreht sich schnell um und sieht Dulgur auf dem Fensterbrett landen. Die kleine Taube schaut ins Zimmer, sieht Tim, dann auch Chris, tippelt ein paar Mal hin und her und fliegt wieder weg. „Das offene Fenster verlockt diese dämlichen Viecher zum Reinfliegen.“ Tim macht eine Bewegung, als wolle er die ohnehin wegfliegende Taube verscheuchen. „Pass bloß auf, diese blöden Tauben kacken dir alles voll.“
Robert winkt ab. „Ach, lass sie in Ruhe Tim, die tut nichts. Komm, hau dich wieder hin und hör weiter zu.“ Er wartet etwas und erhöht dadurch die Spannung. „Das Amulett hat mir ein Zauberwort gegeben, mit dem ich jeden Menschen ins Stolpern bringen kann: „stone!“
Jetzt sagt Tim nichts mehr, kein Wort. Er lässt sich voll erschlagen wieder aufs Bett fallen und schaut, als hätte er ein Kaninchen verschluckt. Auch Chris hält vor Überraschung den Atem an und streift sich mit der rechten Hand mehrmals über seine blonden Augenbrauen.
„Was?“ ist dann leise zu hören.
„Ich brauche nur jemand anzusehen“, fährt Robert fort, „und leise, ganz leise, das Wort stone zu sagen, und schon fällt der andere ganz einfach hin. Er stolpert über ein Hindernis, das er nicht sehen kann, weil es gar nicht da ist!“
„He, das ist mir auch mal passiert!“ Chris Stimme klingt heiser vor Aufregung. „Ich hab mir doch gleich gedacht, dass du dahinter steckst!“
„Voll krass!“ Tim hat seine Sprache wiedergefunden. „Immer, wenn uns irgendwelche Typen angestänkert haben und uns angreifen wollten, ist plötzlich einer von denen hingefallen. Zum Beispiel die Skinheads, die uns verprügeln wollten, eh, wisst ihr noch, das war die Schau!“
Robert nickt erleichtert. „Glaubt ihr mir jetzt, dass ich euch keine Märchen erzähle?“
Tim springt wieder auf. „Geil, absolut geil!“, ruft er. „Dass es so was gibt, das gibt es gar nicht!“
Auch Chris hält es nicht mehr hinter dem Schreibtisch. Er und Tim stehen kribbelig vor Robert „Das ist ja der absolute Wahnsinn: eh, wenn dir einer dumm kommt, lässt du den Typen einfach stolpern und hinknallen!“
„Ja, genauso.“ Robert erhöht wieder die Spannung, indem er sie nur schweigend anschaut. „Und jetzt darf ich euch beide mit ins Boot nehmen“, sagt er beiläufig. Augenblicklich stehen Chris und Tim still stramm da wie Zinnsoldaten.
„Wenn wir in Zukunft gemeinsam ein Problem lösen, könnt ihr ebenfalls mit dem Zauberwort „stone“ alle aufs Kreuz legen.“ Robert schaut von einem zum anderen und legt warnend den Finger auf den Mund. „Aber kein Mensch darf das wissen. Sonst verliert das Zauberwort sofort seine Wirkung für euch, und zwar für immer!“
„Wir halten den Mund, ist doch klar!“ – „Wir sind doch nicht verrückt und erzählen das weiter. Das glaubt uns ja sowieso kein Mensch!“, erwidern die beiden wie aus einem Mund.
Für eine Weile wird es still im Raum. Plötzlich hat Chris eine Idee. „Können wir dieses stone nicht mal testen? Zum Beispiel jetzt gleich unten im Einkaufszentrum?“
„Wow, affengeil“, stimmt Tim begeistert zu.
„Warum nicht?“ Robert nickt. „Jeder hat zwei Versuche, okay?“ „Yeah! Das ist, als hätte jeder eine Waffe mit zwei Patronen!“ Chris und Tim stehen schon an der Tür.
„Halt, da ist noch was“, bremst Robert sie. „Wenn ihr in Zukunft unerklärliche Dinge seht, die mit mir zu tun haben da – äh, dann akzeptiert das einfach. Okay?“
„Okay!“ Sie besiegeln das Versprechen mit einem feierlichen Händedruck. „Kannst dich voll auf uns verlassen, Robert!“ Gemeinsam fahren die drei mit dem Fahrstuhl nach unten und gehen in die Fußgängerzone. Ohne lange zu überlegen, schaut Tim einem Mann hinterher, der an ihnen vorbeigeht, und sagt sein erstes „stone“. Wie zu erwarten, fällt der Mann hart aufs Pflaster. Der Hut landet ungefähr zwei Meter weiter im Staub, die grauen Haare stehen jetzt wirr vom Kopf ab. Tim kichert und reibt sich die Hände. Aber der Mann bleibt am Boden liegen. Anscheinend hat er sich verletzt, denn er hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seine linke Schulter. Jetzt erst nehmen die drei den Gehstock wahr, der neben ihm am Boden liegt. Robert und Chris laufen sofort hin und helfen dem alten Mann wieder auf die Beine. Er ist verwirrt. Wieso liegt er plötzlich hier auf der Straße? Tim hat inzwischen den Hut geholt und hält ihn verlegen dem alten Mann hin. Der murmelt einen leisen Dank und wischt sich ein paar Tränen aus den Augen. Verunsichert, mit steifen Bewegungen, geht er weiter.
Die drei Freunde bleiben stehen. Tim schaut verlegen zu Boden. „Du bist ein Idiot!“, zischt Chris ihm zu. „Was hättest du getan, wenn der Alte sich die Schulter gebrochen hätte?“
„Sorry“, murmelt Tim kleinlaut. „Hab nicht groß nachgedacht. Beim nächsten Mal wird’s besser, okay?“ Robert setzt sich wieder in Bewegung. „Los, suchen wir uns ein lohnendes Motiv!“
Aufmerksam streifen sie durch das Einkaufszentrum. Vor dem Zeitschriftenladen steht ein kleiner Lieferwagen. Ein Mann mit dunkler Hautfarbe lädt einige, offensichtlich schwere, Pakete aus und schleppt sie in den Laden. Plötzlich wird ihm der Weg ins Geschäft von der dürren blonden Inhaberin versperrt. „Holen Sie sofort diese Pakete wieder aus dem Geschäft und bringen Sie sie hier durch diese Tür auf den Dachboden. Sofort!“ Ihre Stimme dringt schrill bis zu den drei Freunden herüber. „Sie hätten mich vorher fragen müssen! Und wenn ich nicht da bin, haben Sie zu warten!“ „Einen Teufel werd ich tun!“, gibt der Fahrer verärgert zurück. „Mein Job ist es, diese Pakete hier abzuladen, und damit basta!“
„Das ist ja unerhört!“, kreischt die Blonde. „Sie haben zu tun, was ich Ihnen befehle!“
Wortlos lädt der Fahrer die restlichen Pakete ab, stellt sie provokativ neben die anderen und steigt wieder in sein Fahrzeug. Die Ladeninhaberin tobt. „Ausländisches Gesindel! Kommen hierher und nehmen unseren Landsleuten den Arbeitsplatz weg! Stinkfaul sind sie alle, wollen nur unser Geld kassieren.“
Während das Auto wegfährt, schaut sie sich beifallheischend um. Aber keinen der Passanten scheint ihr Geschrei zu interessieren. Giftig vor sich hinmurmelnd trottet sie wieder in den Laden zurück. „Was macht diese blöde Tussi für einen Mordsaufstand!“, meint Chris kopfschüttelnd. „Ätzend.“
„Hat mich echt gejuckt, das schreiende Ungetüm mit „stone“ zu beglücken“, gesteht Tim.
„Ich weiß nicht ...“ Auf Roberts Stirn erscheint die steile Falte, wie immer, wenn er mit etwas nicht zufrieden ist. „Hier sind beide gleichzeitig ausgeflippt, dann finde ich es unfair, Partei zu ergreifen. Wenn der Bursche ein bisschen höflicher gewesen wäre, hätte die Frau sich bestimmt nicht so reingesteigert ...“
Hinter ihnen ist plötzlich lautes Geschrei zu hören. Zwei Mädchen mit bodenlangen blaugrauen Mänteln und großen, leuchtend gelb gemusterten Kopftüchern werden von pöbelnden Jungs bedrängt. Einer der drei Typen ist gerade dabei, einem der Mädchen das Kopftuch herunterzureißen. Es verfängt sich in einer Haarspange. Mit verzweifeltem Griff in das lange, schwarze Haar und schmerzhaft verzogenem Gesicht versucht das Mädchen, ihr Kopftuch festzuhalten.
Chris gibt Tim einen leichten Stoß in die Seite. „Dein Auftritt!“, flüstert er.
„Stone“, schreit Tim voller Entrüstung.
Der Bursche greift prompt ins Leere und ist voll damit beschäftigt, seinen Sturz mit beiden Händen aufzufangen. Erstaunt schauen seine beiden Kumpel auf den am Boden Liegenden, während die Mädchen die Chance nutzen und schnell weglaufen. Robert zieht seine beiden Freunde erschrocken aus dem Blickfeld.
„Hey, Tim, kannst du dir nicht merken, was wir verabredet haben? Es darf doch niemand hören, was du sagst. Und was tust du Pappnase? Posaunst wie mit einem Lautsprecher das Zauberwort durch die Gegend!“
„Mist, vergessen!“ Zerknirscht senkt Tim den Kopf. „Es musste doch ganz schnell gehen, sonst hätte ihr der Typ noch die Haare ausgerissen!“
„Okay, okay. Aber pass nächstens auf!“, lenkt Robert ein. „Das Problem ist, niemand darf wissen, dass wir diese Zauberkraft haben. Absolut niemand, kapiert? Sonst ist stone futsch!“
„Wird nicht wieder vorkommen“, brummt Tim. „Garantiert!“
Chris schaut sich suchend um. „Jetzt werd ich mal mein Glück versuchen ...“
Robert nutzt die Gelegenheit, um sich zu verdrücken. Dulgur war vorhin nicht umsonst am Fenster, sicher will sie etwas von ihm. „Okay, viel Glück, ich muss jetzt weg. Wir sehen uns!“ In der Grünanlage hinter dem Hochhaus sieht er die Taube schon wartend im Kreis tippeln.
„Dulgur! Hey, komm her, Kleines, komm!“ Robert hält ihr beide Hände entgegen. „Was hast du denn? Schon vorhin am Fensterbrett hab ich gemerkt, dass irgendetwas mit dir los ist.“
„Robert!“, gurrt Dulgur und fliegt auf seinen Unterarm. „Ich habe einen Überfall gesehen, und danach sind die Täter hier ins Hochhaus geflüchtet.“ Die Worte kullern förmlich aus ihrem kleinen Schnabel, so aufgeregt ist sie. Robert streichelt beruhigend über ihre zarten Federn. Sicherheitshalber geht er weiter hinter die dichten Büsche, um nicht gesehen zu werden, während er mit dem Vogel redet.
„Ruhig, ganz ruhig, Kleines! Was genau hast du gesehen?“
Dulgur kuschelt sich in seine Hand, die er leicht auf ihrem Rücken liegen hat.
„Auf der Straße durch den Gonsenheimer Wald ist ein Geldtransporter plötzlich stehen geblieben. Der Fahrer ist ausgestiegen. Dann ist aus einem Waldweg ein kleiner weißer Renault gekommen, und auch da ist ein Mann ausgestiegen.“ Vor Aufregung kann sie nicht weiterreden. Sie gurrt nur noch unverständlich vor sich hin. Robert streichelt wieder beruhigend über ihren Rücken. „Ganz ruhig Dulgur, ich bin ja bei dir. Erzähl schön weiter!“
„Sie haben den Beifahrer aus dem Geldtransporter gezerrt und ihm die Hände hinter dem Rücken gebunden. Danach haben sie die beiden hinteren Türen geöffnet, vier graue Metallkästen herausgezogen und den gefesselten Mann hineingeschubst. Sie haben auch seine Füße festgebunden und die Türen wieder verschlossen. Der Geldtransporter steht bestimmt immer noch dort am Waldrand. Dem weißen Auto bin ich nachgeflogen. Ich habe es bis hierher zum Hochhaus verfolgt. Er steht auf dem Parkplatz drüben, die beiden Männer sind hier ausgestiegen und ins Haus gegangen. Da bin ich sofort zu dir raufgeflogen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du Besuch hast ...“
„Das hast du ganz super gemacht, Dulgur!“ Robert hält die kleine Taube direkt vor sein Gesicht und schaut sie liebevoll an. „Beobachte das kleine Auto weiter und sag mir rechtzeitig, wenn sich da was bewegt. Ich bin jetzt oben in meinem Zimmer. Allein. Du kannst jederzeit zum Fenster hoch fliegen und mich informieren.“ Mit sanftem Schwung wirft er Dulgur in die Luft, und schon fliegt sie los. Robert ist mit seinen Schulaufgaben fast fertig, als Dulgur auf dem Fensterbrett landet. Sofort klappt er seine Hefte zu und wartet, bis sie vom Fenster auf seinen Schreibtisch gehüpft ist.
„Robert, die beiden Männer von vorhin haben jetzt die vier Metallkästen aus dem Renault ausgeladen und ins Hochhaus gebracht“, gurrt sie und nickt dabei eifrig mit ihrem kleinen Kopf. „Wohin sie im Haus gegangen sind, konnte ich natürlich nicht sehen. Tut mir echt Leid!“
„Du hast mir auch so schon super geholfen, Kleines. Danke!“ Robert verabschiedet Dulgur mit einem zarten Streicheln, und sie schwingt sich in den Abendhimmel. Es schaut aus, als würde sie direkt in die untergehende Sonne fliegen. Mittlerweile sind auch Roberts Eltern nach Hause gekommen. Gut gelaunt erzählt sein Vater, als Versicherungsmann selbstständig, von einem großen Abschluss, der ihm heute, nach langer Vorbereitung, endlich gelungen ist. Jetzt ist ihm nach Feiern zumute. Roberts Mutter deckt den Tisch fürs Abendessen. Es ist einer der seltenen Abende, an denen die ganze Familie gemeinsam um den Tisch sitzt. Beim Essen erzählt Roberts Mutter schmunzelnd eine Episode aus dem OP-Alltag: Bei einem Patienten wurde erst nach dem Zunähen der Wunde bemerkt, dass eine Klammer in seinem Körper zurückgeblieben war. Ihr als OP-Schwester war aufgefallen, dass da etwas nicht stimmte, und sie hat dem Dienst habenden Chirurgen damit einen gehörigen Schrecken eingejagt. Der hat ziemlich blöd aus der Wäsche geschaut, aber es ging noch mal alles gut.
Mitten im Erzählen klingelt es an der Tür. Tim und Chris stehen da und wollen unbedingt noch zu Robert. Kaum sitzen sie in seinem Zimmer, legt Chris auch schon los:
„Hey, Robert, das war die Megaschau! Gleich nachdem du weg warst, haben wir zwei komische Typen in der Fußgängerzone gesehen. Die müssen neu hier auf dem Lerchenberg sein. Wir haben sie angeschaut, und da sind die plötzlich auf uns losgegangen. Die wollten uns wirklich angreifen, obwohl wir absolut nichts gemacht haben!“
„Warum habt ihr sie denn angestarrt?“, fragt Robert mit skeptischer Stirnfalte.
„Du hättest sie sehen müssen!“, mischt sich Tim ein. „Sie haben sich so steif bewegt wie Roboter. Sie haben ausgesehen wie Zombies!“
„Als sie auf uns losgegangen sind, habe ich sie nur angeschaut und ganz leise „stone“ gesagt“, erzählt Chris weiter und reibt sich dabei vergnügt die Hände. „Es war einfach sensationell! Schlagartig sind beide gleichzeitig gestolpert und hingefallen – als ob die das fürs Ballett geübt hätten, richtig schön synchron!“
„Ohne „stone“ wäre es uns nicht so leicht gelungen, denen zu entkommen. Sie hätten uns bestimmt erwischt, und da hätten wir keine Chance gehabt. Die beiden waren auch ganz schöne Schlägertypen!“ „Super, dann war der Test ja ein voller Erfolg!“, erwidert Robert zufrieden.
Er begleitet seine Freunde noch im Fahrstuhl nach unten zum Ausgang und läuft dann die Treppe hinunter in den Keller. Bevor er sein Amulett hervorzieht, überzeugt er sich, dass sonst kein Hausbewohner in der Nähe ist. Kaum hat er das Amulett gerieben, kommen schon die beiden Ratten zwischen den Holzleisten hervor, welche die Kellerabteile voneinander trennen. „Hallo Robert!“, piepst Arix erfreut und schaut aus seinen klugen schwarzen Augen zu ihm hoch. Alban reibt sein seidiges weißes Fell an Roberts Fuß. „Hast du wieder was für uns zu tun?“
„Hmm ... Irgendetwas tut sich hier im Hochhaus, ich weiß nur noch nicht, was!“ Robert geht in die Hocke und streichelt beiden Tieren nachdenklich übers Fell. „Ein Geldtransporter wurde überfallen und vier graue Metallkästen ins Hochhaus gebracht. Könnt ihr bitte mal alle Keller kontrollieren? Ich melde mich morgen früh vor der Schule wieder bei euch. Dann könnt ihr mir sagen, ob euch irgendetwas aufgefallen ist!“ „Geht klar, Robert! Jetzt hüpf in die Falle und schlaf gut.“ Damit drehen beide Ratten, wie auf ein unsichtbares Kommando hin, gleichzeitig um, und verschwinden wieder in der Tiefe des Kellers.
Kaum ist Robert eingeschlafen, sieht er im milden Licht das Amulett vor sich. Es schwebt vor seinem Gesicht und strahlt große Ruhe aus.
„Auf dich kommen schwierige Zeiten zu, Robert.“
Nach einer kleinen Pause, Robert hat das Gefühl, dass das Amulett ihn sinnend betrachtet, ertönt wieder die sanfte Stimme: „Ich habe dir ja die Erlaubnis gegeben, deine Freunde in das Zauberwort „stone“ einzuweihen. Und du hast genau den richtigen Zeitpunkt dazu gewählt. Tim und Chris werden dich in Zukunft stark entlasten und dir den nötigen Freiraum für andere Aufgaben geben. Du selbst kannst nach wie vor außer „stone“ auch über die Zauberkräfte „invisible“, „remember“ und „pierce“ verfügen. Aber ich befürchte, du wirst bald an Grenzen stoßen, wo deine Fähigkeiten dir nicht mehr helfen können. Nutze sie, solange es geht, und setze sie sinnvoll ein!“ Langsam verblasst die Erscheinung.
Robert erwacht viel zu früh und innerlich total aufgewühlt. Was hat das Amulett eben gesagt? Dass er an Grenzen stößt? Was für Grenzen? Wieso redet es so geheimnisvoll zu ihm und nur in Andeutungen? Bisher hatte er immer das beruhigende Gefühl, das Amulett ist als Hilfe im Hintergrund. Aber jetzt hört es sich fast so an, als ob es sich von ihm zurückziehen wollte. Robert kann einfach nicht mehr einschlafen und grübelt. So eine merkwürdige Situation hat es bisher nicht gegeben. Das Amulett wird ihn doch nicht im Stich lassen?
Eine erste Spur
Kaum das Robert die stählerne Tür zum Keller geöffnet hat, piepst Alban sofort „Wir haben die vier grauen Kästen gefunden, Robert!“ Arix drängt die weiße Ratte zur Seite, um näher bei Robert zu sein.
„Du weißt doch, dass hier zwei Kelleretagen sind“, berichtet er aufgeregt. „Hier in der oberen Etage war nichts zu sehen. Also haben wir weiter unten gesucht und ...“
„Da wurden wir fündig!“ Alban setzt sich triumphierend auf die Hinterfüße. „Es ist der Keller mit der Nummer 85, der zu einer Wohnung im achten Stock gehört. Der Eigentümer hat die Lattenwände mit Holzplatten zugenagelt, so dass niemand mehr durchblicken kann.“
„Für uns ist das natürlich kein Hindernis“, setzt Arix selbstbewusst nach.
„Ihr seid echt Spitze!“ Robert beugt sich zu den beiden hinunter. „Am besten, ich schau mir das gleich mal an. Kommt ihr mit?“ Begeistert wenden sich die beiden ab und wieseln davon. „Wir kommen hier innen schneller durch! Du musst über die Treppe nach unten gehen“, fiepen sie im Chor und sind schon verschwunden.
Robert schließt die Stahltür hinter sich und steigt eine Etage tiefer nach unten. Wieder ist da eine Stahltür zu öffnen. Als er das Licht andreht, sieht er Alban und Arix bereits wartend in der Ecke sitzen. Sie geben ihm ein Zeichen, ihnen zu folgen, und schon huschen sie vor ihm her, bis sie in einen engen, geraden Flur kommen. Vor einer Tür, die absolut blickdicht ist, stoppen die beiden Ratten. Auch von der Seite kann Robert nicht durchschauen. Die Tür wird von einem massiven Schloss versperrt.
„Also dahinter ist das Geld versteckt?“, murmelt Robert, und auf seiner Stirn vertieft sich wieder die steile Falte. „Schon komisch, dass sich hier im Hochhaus immer so merkwürdige Dinge abspielen ...“
„Kein Wunder, bei neunzehn Stockwerken! Da kommen halt eine Menge Menschen mit ganz unterschiedlichen Interessen zusammen.“ Alban reibt seinen Kopf aufmunternd an Roberts Hosenbein. „Mach dir mal keine Sorgen, du hast ja uns.“
„Mach dir keine Sorgen, be ratty!“, wiederholt auch Arix und seine schwarzen Äuglein funkeln unternehmungslustig. „Macht doch Spaß, Verbrechern auf die Schliche zu kommen!“ Als Robert wenig später zur Schule kommt, steht Hauptkommissar Werner in seinem üblichen Jeanslook vor dem Klassenraum und wartet auf ihn. „Hallo Robert, ich untersuche den Überfall auf Direktor Gerlach“, sagt er gleich zur Begrüßung. „Gibt’s schon irgendwelche Hinweise, wer dahinter stecken könnte?“, fragt Robert wie aus der Pistole geschossen. Werner will etwas sagen, doch der Krach und die lärmenden Stimmen der eintreffenden Schüler übertönen alles.
„Es ist sinnlos! Bei diesem Wirbel können wir nicht reden“, stöhnt der Hauptkommissar. „Wir treffen uns nach der Schule, ich bin dann im Wagen und warte auf dich!“
Enttäuscht geht Robert in die Klasse. Zu gern hätte er Näheres über den Überfall erfahren. Jetzt muss er sich noch ganze sechs Schulstunden lang gedulden! Aber dass Werner ihn so prompt einweihen will, freut ihn. Offensichtlich zählt die Polizei wieder mal auf ihn.
Kaum hat er die Klasse betreten, fangen ihn seine beiden Freunde ab.
„Hey, Robert, wir haben die komischen Zombie Typen von gestern wieder gesehen“, erzählt Tim. „Stell dir vor, die sind dicht an uns vorbeigegangen und haben so getan, als ob sie uns noch nie gesehen hätten!“
„Ein „stone“ hätte ich noch in Reserve gehabt“, fügt Chris vergnügt hinzu. „War aber diesmal nicht nötig.“
Auf Roberts Stirn erscheint wieder die steile Falte. „Schon eigenartig, diese Vögel“, murmelt er. „Ich ...“
Weiter kommt er nicht. Dr. Bachty betritt die Klasse. Irgendetwas liegt wieder in der Luft, das ist sofort zu spüren. Bachty beginnt nicht wie erwartet mit einer Lobeshymne auf Pythagoras und seinen Dreiecken, sondern wendet sich mit besorgter Miene den Schülern zu.
„Langsam wird es bei uns in der Schule kriminell“, sagt er und streicht sich über seinen schwarzen Bart. „Gestern wurde unser Direktor in seinem Büro niedergeschlagen, und heute hat es wieder eine heftige Schlägerei im Flur gegeben. Die Gewalt nimmt immer mehr zu! Wir können nur gemeinsam versuchen, diesen dramatischen Trend zu stoppen. Nur wenn wir alle zusammenhalten, können solche Prügelszenen verhindert werden. Diese Burschen müssen merken, dass die anderen Schüler dagegen sind, dann wird sie das schon nachdenklicher machen ...“
Bachty schaut abwartend in die Runde. Doch von der Klasse kommt keine Reaktion. Seufzend wendet er sich ab und beginnt mit dem Unterricht. In der großen Pause verziehen sich Robert und seine beiden Freunde in die Nische hinter der Turnhalle, abseits vom Gewühl, um ungestört reden zu können.
„Haben wir jetzt jeden Tag zwei Mal stone zur Verfügung?“, will Tim sofort wissen.
Robert nickt bestätigend. „Das wird nötig sein. Sonst kriegen wir den Laden hier nicht sauber!“ „Haben wir völlig freie Hand und können tun, was wir für richtig halten?“ vergewissert sich Chris. „Absolut!“, ist Roberts knappe Antwort. „Wow!“ Die beiden schlagen sich begeistert mit der Hand ab.
Auch Robert schlägt ein. Er ist froh, dass er nicht mehr alles alleine tun muss. Diese ewigen Schlägereien in der Schule sind ein Riesenproblem, dass immer gravierender wird. Ätzend, ohne Verstärkung kommt er nicht mehr dagegen an. „Hey, Chris, am besten bleiben wir zwei nach der Schule noch ein bisschen da und beobachten, was sich so tut“, schlägt Tim vor. „Vielleicht können wir noch eine Schlägerei verhindern.“ „Gebongt.“ Chris wiegt bedächtig den Kopf. „Da könnte noch ganz nett was auf uns zukommen ...“
Der Hauptkommissar hält Wort. Pünktlich nach Schulschluss steht er wartend neben seinem grünen 5-er BMW auf dem Schulparkplatz. „Komm, Robert, setzen wir uns kurz in den Wagen!“ Neugierig steigt Robert ein. Der Hauptkommissar kommt wie üblich ohne Umschweife zur Sache.
„Wie es momentan ausschaut, ist die Tochter eures Direktors Mitglied einer dubiosen Sekte in der Altstadt“, beginnt er.
„Was, die Svenja Gerlach?“, unterbricht Robert verblüfft. Ausgerechnet diese arrogante Type, für die alle Schüler hier immer Luft gewesen sind! Werner nickt und blättert in seinem Notizbuch. „Die junge Dame ist sogar schon mit Rauschgift aktenkundig geworden. Bei einer Razzia wurde sie mal verhaftet, sie war absolut high durch die Augustinerstraße getorkelt. Ist natürlich keine Topvisitenkarte für einen Schulleiter, wenn alle Welt erfährt, dass seine Tochter in solch üblen Kreisen verkehrt.“
„Aber ... wer hat Direktor Gerlach niedergeschlagen und warum?“, überlegt Robert laut. „Waren Sie schon im Krankenhaus und haben mit ihm gesprochen?“
„Ja, natürlich. Er konnte nur sagen, dass zwei Männer ins Büro gestürmt sind und ihn niedergeschlagen haben. Es ging alles zu schnell. Er vermutet aber, dass es Schläger dieser Sekte waren. Zwei Tage vorher hatte er einen Riesenkrach mit seiner Tochter und ihr ganz energisch verboten, sich weiter in diesen Kreisen herumzutreiben.“ Herr Werner streicht sich über das graue Haar. „Übrigens, euer Direktor ist schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Seine Verletzung war nicht so schlimm. Jetzt hat er aber Angst, dass die Sektentypen ihm wieder an den Kragen wollen. Anscheinend ist ihnen Rauschgift verloren gegangen und sie vermuten, dass diese Svenja es geklaut hat.“
„Was ist das denn für eine Sekte?“, erkundigt sich Robert.
Werner zuckt die Achseln. „In der Altstadt haben sie ein Haus gemietet, bei der Zitadelle. Sind aber bisher kaum aufgefallen.“ Er blättert wieder in seinem Notizbuch. „Sie dürften schon weit über hundert Mitglieder haben. Aber das ist ja nicht strafbar.“
Robert kommt ein Gedanke. „Wieso hatte der Hausmeister eigentlich einen verbundenen Kopf? War er auch bei dem Überfall auf den Direktor dabei?“
Ärgerlich lacht der Hauptkommissar auf. „Er hat versucht, die Burschen aufzuhalten! Aber sie haben ihn einfach niedergeschlagen und sind verschwunden. Im Büro des Direktors waren alle Schränke aufgebrochen, aber es hat nichts gefehlt. Alles spricht dafür, dass die beiden etwas gesucht haben. Drum ist auch klar, dass euer Direktor Angst hat, dass sie wieder zu ihm kommen werden.“
Robert nickt. „Herr Werner ... gestern wurde doch ein Geldtransporter überfallen und ausgeraubt, richtig?“, wechselt er das Thema.
Der Hauptkommissar zuckt leicht zusammen. „Woher weißt du denn davon? Das habe ich doch gerade erst auf den Tisch bekommen?“
Robert geht nicht auf die Frage ein. „Aus dem Wagen wurden vier Geldkassetten geraubt“, fährt er fort und hofft, dass der Hauptkommissar sich an sein Versprechen hält, nicht nachzubohren. „Diese Kassetten sind jetzt im Keller von unserem Hochhaus.“
Für eine Weile ist es still im Wagen. Dann startet Werner den Motor. Seine Hände umklammern das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß durch die Haut scheinen.
„Okay, Robert, ich habe dir versprochen, nicht nachzufragen, woher du deine Infos hast. Also reden wir nicht mehr drüber“, presst er schließlich mühsam beherrscht hervor. „Kannst du mir den Keller zeigen?“
„Kein Problem, fahren wir gleich hin!“, gibt Robert erleichtert zurück.
Das Hochhaus hat eine zentrale Schließanlage, jedes Schloss zu den Gemeinschaftsräumen lässt sich mit demselben Schlüssel öffnen. Jetzt um die Mittagszeit sind die meisten Bewohner noch bei der Arbeit. So kann sich Robert ungesehen mit dem Hauptkommissar in den Kellergängen bewegen. Er führt Werner zu dem blickdicht verkleideten Keller im zweiten Tiefgeschoss.
„Da hinein haben die Burschen die vier Metallkisten aus dem Geldtransporter geschleppt.“
„Uff!“ Werner atmet hörbar aus und fährt sich über die Stirn. „Okay. Als Erstes muss ich wissen, wem dieser Keller gehört. Also werde ich mich sofort an die Hausverwaltung wenden.“ Er schaut Robert ernst an. „Sobald ich Näheres über den Besitzer dieses Kellers weiß, werde ich mit Kollegen herkommen und mir Zutritt verschaffen. Das kann ich tun, wenn ich davon überzeugt bin, dass du glaubwürdig bist – und das bin ich einfach aus meinen Erfahrungen mit dir! –, und wenn Gefahr im Verzug ist. So heißt das bei uns im Fachchinesisch“, setzt er schmunzelnd hinzu. „In so einem Fall brauche ich nicht unbedingt einen Durchsuchungsbefehl.“
„Gehen wir doch jetzt gleich in den siebten Stock zu Herrn Bertram, unserem Hausmeister!“, schlägt Robert vor. „Der kann Ihnen sicher auch sagen, wem der Keller gehört.“
„Zu Befehl!“, witzelt Werner und schlägt scherzhaft die Hacken zusammen. „Junge, Junge, was würde ich bloß ohne dich machen?“
Rasch fahren sie ins siebte Stockwerk hoch und klingeln an der Hausmeisterwohnung. Sie haben Glück, Herr Bertram ist zu Hause. Nachdem der Hauptkommissar sich ausgewiesen hat, lässt er die beiden herein und erzählt bereitwillig, was es mit der Kellernummerierung auf sich hat: Die Nummer 85 bedeutet, dass der Keller zur Wohnung Nummer fünf im achten Stock gehört. Dort wohnt seit etwa einem Jahr ein gewisser Cemal Gulay, zusammen mit seinem Bruder. Er ist bisher kaum aufgefallen, man sieht ihn selten im Haus. Wovon Gulay lebt, will der Hauptkommissar wissen.
„Keine Ahnung.“ Bertram zuckt die Achseln. „Wissen Sie, in so einem Hochhaus leben die meisten Mieter ziemlich anonym. Oft wohnen Leute jahrelang in einer Etage und kennen nicht einmal ihre nächsten Nachbarn.“ Wenig später sitzt Robert allein in seinem Zimmer im elften Stock und brütet angestrengt über den Hausaufgaben. Die Wetterhexe hat wieder mal voll zugeschlagen. Eine Bildbeschreibung sollen sie machen, auf Englisch natürlich, zum „Schneesturm auf dem Meer“, einem Ölgemälde ihres Lieblingsmalers William Turner. Nichts gegen Turner, der Mann war bestimmt gut, denkt Robert, aber dieses Bild zu beschreiben ist schwerer, als einen Mord aufzuklären! Auf den ersten Blick ist da gar nichts zu sehen, außer ein paar Farbklecksen. Kein Meer, kein Himmel, alles ist vermischt. Zu Turners Lebzeiten, im achtzehnten Jahrhundert, war es bestimmt mutig, so etwas ernsthaft zu malen ...
Je länger Robert das Bild anschaut, desto besser gefällt es ihm eigentlich und desto mehr sagt es ihm auch. Turner hatte den Ruf, die lichtdurchflutete Landschaft als Vision zu sehen, so hat die Wetterhexe geschwärmt. Er war ebenfalls ein Meister der Aquarelle. Da lässt es sich schon eher nachvollziehen, dass sich Farben vermischen und ineinander überlaufen. Langsam kommt Robert in Fahrt. Das Ganze auf Englisch zu schreiben fällt ihm nicht schwer, was er auf seine Spezialmethode zurückführt: jeden Tag zwei neue Englischvokabel dazuzulernen. Sehr einfach und sehr wirkungsvoll. So hat er sich mit der Zeit einen hübschen Wortschatz angeeignet, und das, ohne sich groß anstrengen zu müssen. Erledigt! Robert räumt erleichtert seinen Schreibtisch auf und plant sein weiteres Vorgehen. Erst will er noch mal runter in den Keller und sich davon überzeugen, dass die Geldkisten wirklich dort gelagert sind. Wäre ganz schön peinlich, wenn der Hauptkommissar mit großem Personaltrupp in voller Montur angerückt käme und dann einen leeren Keller vorfände! Dann muss er noch mit seinen beiden Freunden besprechen, wie sie mit diesen Rowdies in der Schule weiter vorgehen wollen. Es wäre auch bestimmt nicht verkehrt, sich einmal näher mit der Sekte zu befassen, in der diese Svenja Mitglied war oder ist. Aber dazu müsste er erst in die Innenstadt kommen ...
Noch ganz in seine Planung versunken, fährt Robert mit dem Fahrstuhl ins zweite Kellergeschoss hinunter. Unten überzeugt er sich vorsichtig davon, dass niemand sonst in der Nähe ist. Erst dann geht er zum Keller mit der Nummer fünfundachtzig weiter. Leise flüstert er: „pierce“ Was für ein Genuss, endlich mal wieder durch eine verschlossene Tür zu gleiten! Echt eine Superfähigkeit, die er da vor einigen Monaten vom Amulett bekommen hat. Seither gibt es für ihn keine verschlossenen Türen mehr! Ohne den geringsten Widerstand kann er durch jede noch so massive Tür gehen, wie durch ein Hologramm.
Schon steht er im Kellerabteil. Es ist nicht ganz finster. Obwohl alle Öffnungen zum Gang hin abgedichtet sind, dringt diffuses Licht durch die Ritzen herein, das den Raum schwach erhellt. Robert sieht an der Wand eine Lampe unter starkem Glas. Also muss hier auch irgendwo ein Lichtschalter sein. Er folgt mit den Augen der Leitung und findet den Schalter auch prompt.
Zwischen den Stellagen links und rechts führt ein schmaler, kurzer Gang nach hinten an die Rückwand. Und da stehen die vier Metallkästen schön säuberlich übereinander geschichtet! Sie sehen aus wie kleine, transportable Geldschränke. Fest in die Behälter eingefügt sind Schlösser, die einen massiven Eindruck machen. Robert kombiniert blitzschnell: Offensichtlich ist es den beiden Dieben noch nicht gelungen, die Behälter zu öffnen. Jetzt werden sie überlegen, wie sie das bewerkstelligen könnten, ohne dass die Geldscheine Schaden erleiden. Robert hat genug gesehen. Rasch löscht er wieder das Licht und gleitet mit „pierce“ aus dem abgedunkelten Kellerabteil in den hell beleuchteten Gang hinaus. Kaum hat er kurz sein Amulett gerieben, raschelt es auch schon hinter den Holzleisten und Alban und Arix kommen hervor.
„Na, Robert, alles paletti?“, fragt Alban, während Arix sich mit beiden Vorderpfoten heftig die Schnauze reibt.
„Ja. Dank eurer Hilfe kann die Polizei morgen die Beute kassieren.“ Robert geht in die Hocke, um den beiden näher zu sein. „Jetzt hab ich noch eine Bitte: Könnt ihr wieder eure Freunde mobilisieren? Wenn ganz viele von euch zusammen sind, könntet ihr dafür sorgen, dass die Geldkästen nicht in der Zwischenzeit von hier weggebracht werden. Ich schätze nämlich, dass die zwei Typen genau das in der Nacht versuchen werden.“
Erfreut bewegen die beiden Ratten ihre kleinen Ohren. „Klar, Robert, du kannst dich auf uns verlassen. Wofür hat man schließlich Freunde?“ Damit verschwinden so geräuschlos, wie sie gekommen sind. Beschwingt fährt Robert wieder in die Wohnung hoch. In seinem Zimmer blinkt ihm der Anrufbeantworter entgegen.
„Robert, kannst du mich zurückrufen? Danke.“ Das ist typisch Hauptkommissar Werner: kurz und bündig, kein Wort zu viel!
Der zweite Anrufer ist Chris. Auch er will zurückgerufen werden. Aber schön der Reihe nach.
„Hallo, Herr Werner, ich sollte Sie anrufen!“
„Hallo Robert, vielen Dank für deinen Rückruf. Morgen Vormittag wollen wir den Keller öffnen und dann diesen Cemal Gulay aus dem achten Stock festnehmen. Er hat auch den Geldtransporter gefahren. Wir haben mittlerweile ein Foto dieses Mannes. Meine Bitte an dich ist nur, dass du dich aus der Sache raushältst. Ich will nicht, dass dir etwas geschieht.“
Robert spürt ernste Sorge aus Werners Worten. Ob er dem Hauptkommissar von seiner Befürchtung erzählen soll, dass die Gangster ihre Beute heimlich über Nacht in Sicherheit bringen könnten?
„Wir wollen vermeiden, dass der Mann uns entkommt“, unterbricht Werner seine Gedanken. „Noch heute schicke ich einen neutralen Wagen zu euch. Die beiden Beamten werden nur das Haus über Nacht unauffällig beobachten. Ich informiere dich morgen nach der Schule über unsere Aktion!“ Robert ist erleichtert. Jetzt kann er sich gut raushalten, alle wichtigen Maßnahmen sind eingeleitet!
Der zweite Anruf ist dran. Kaum hat er Chriss Nummer gewählt, wird auch schon der Hörer abgehoben, Chris ist selbst am Apparat.
„Hallo Robert, können wir uns so schnell wie möglich treffen?, fragt er aufgedreht. „Tim ist auch da.“
„Na klar, kommt zu mir hoch. Mit den Hausaufgaben bin ich schon fertig.“
„Echt? Hast du schon die Bildbeschreibung für die Wetterhexe gemacht? Die Tante spinnt doch! In diesem ‚Schneesturm’ kann keine Sau was erkennen!“
„Jetzt kommt erst mal hoch“, sagt Robert. „Dann können wir ja noch drüber reden.“
„Was hast du denn da für einen Kanister?“, fragt Robert überrascht, als Chris und Tim bald darauf in die Wohnung stürmen. „Es stinkt ja alles nach Benzin! Komm, gib her, ich stell ihn auf den Balkon.“ Chris hebt abwehrend die Hände. „Sei bloß vorsichtig wegen der Fingerabdrücke!“ Als er Roberts fragenden Blick sieht, setzt er nach: „Wart’s ab, Robert, ist ’ne heiße Story!“
Kopfschüttelnd öffnet Robert die Balkontür, Tim stellt den Kanister draußen ab und geht ins Bad, um sich die Hände zu waschen.
„Los, haut euch hin und erzählt!“, drängt Robert ungeduldig, als sie endlich in seinem Zimmer sind. „Tja, also ...“ Chris räuspert sich bedächtig. „Wir haben uns viel zu lange in der Schule aufgehalten und ganz vergessen, dass wir noch diese blöde Bildbeschreibung machen müssen. Aber dafür waren wir mit „stone“ erfolgreich. Sehr erfolgreich sogar!“ Er macht eine Kunstpause.
„Na los, erzählt schon!“ Robert ärgert sich, dass sie ihn so zappeln lassen. Sonst ist er immer derjenige, der die Informationen hat! Klar, dass seine Freude es jetzt auch einmal genießen, in der Übermittlerrolle zu sein. Diesmal sitzt Tim am Schreibtisch. Er nimmt seine Brille ab und putzt sie umständlich. „Nachdem du weg warst, sind wir wieder zurückgegangen und haben uns im ersten Stock auf die Lauer gelegt“, erzählt er wie nebenbei. „Irgendwann ... also so nach einer halben Stunde ungefähr ging unten das Tor auf und wir konnten von oben sehen, wie zwei Fremde reingekommen sind. Sie haben sich hochgeschlichen, an unserer Klasse vorbei und weiter nach hinten zum Direktionsbüro ...“
„Geschlichen?“, unterbricht Robert alarmiert.
„Exakt“, bestätigt Chris. „Drum sind sie uns sofort aufgefallen. Ständig haben sie ihre Köpfe nach allen Seiten gedreht. Für uns war klar, dass das keine Schüler waren. Beide hatten Jeans und auffallend bunte Hemden an.“ Tim ist aufgestanden, zieht den Kopf ein und ahmt das vorsichtige Schleichen der beiden nach. Robert und Chris müssen lachen. Es sieht zum Piepen aus, wie der lange Lulatsch da durchs Zimmer schleicht!
„Der Größere hätte mit seinem Kinnbart jeder Ziege Konkurrenz machen können. Das war gar kein Bart, nur ein paar dünne Fäden“, grinst Chris. „Und unter den Arm hatte er eine schwarze Ledertasche geklemmt!“ Tim lässt sich wieder am Schreibtisch nieder. „Wir sind den beiden natürlich unbemerkt gefolgt“, erklärt er.
„Als wir an der Ecke waren, du weißt schon, kurz vor Gerlachs Büro, haben wir gesehen, wie der Lange seine Tasche geöffnet hat“, erzählt Chris weiter. „Stell dir vor, der Typ nimmt zwei schwarze Stoffmasken heraus, die ziehen sich die beiden über den Kopf. Dann reißen sie die Tür zum Büro auf und stürmen rein.“
„Wow!“ Robert ist beeindruckt. „Und ihr? Was habt ihr gemacht?“
„Natürlich hinterher!“, sagt Tim stolz. „Als wir ins Büro kamen, hat gerade einer der Gangster die Niemann mit einem Messer bedroht, der andere ging weiter in Gerlachs Büro. Dort hat er einen kleinen Kanister aus seiner Ledertasche geholt und angefangen, den Verschluss zu öffnen. Ich kann dir sagen, das stank sofort widerlich nach Benzin!“
„Die Niemann hat bleich wie eine Wachsfigur in ihrem Sessel gehangen!“, ergänzt Chris.
Prompt lässt sich Tim auf dem Schreibtischsessel zusammensinken, dass seine langen Arme fast bis zum Teppichboden baumeln, reißt die Augen weit auf und mimt das bedrohte Opfer.
„Sie war vor Schreck völlig fertig. Hat sich wohl schon aufgeschlitzt am Boden liegen sehen!“ Robert kann es kaum fassen. Da haben die beiden einen megaspannenden Krimi erlebt, und er war nicht dabei! „Und weiter?“
„Die zwei Typen haben sich blitzschnell zu uns umgedreht, als sie gehört haben, dass die Tür aufgeht“, fährt Chris fort. „Der eine Typ setzt der Niemann das Messer an den Hals, der andere faucht uns aus Gerlachs Büro heraus an: „Ihr zwei kommt sofort herein und stellt euch dort in die Ecke.“ Er wollte auf uns zukommen, da hab ich ganz leise und schnell „stone“ gesagt. Fast nur gedacht, nicht gesagt“, verbessert er sich rasch.
„Der Komiker ist voll hingedonnert“, kichert Tim und springt wieder auf. „Der hebt seinen Fuß zum ersten Schritt – so, und dann: Paff!“ Er lässt sich in voller Länge auf den weichen Teppichboden fallen. Alle lachen. Robert kann sich die Szene nur zu gut vorstellen. Der schlaksige Tim hat echt das Zeug zum Schauspieler!
„Dabei ist ihm das Benzin aus dem kleinen Kanister voll über die Jeans gelaufen“, gluckst Tim und sucht im Aufstehen seine Brille, die ihm von der Nase gefallen ist.
„Der Typ mit dem Messer hat die Niemann sausen lassen und wollte auch auf uns zustürmen“, grinst Chris. „Das war Tims Auftritt. Also, ich hab kein „stone“ gehört, nicht mal ein Flüstern! Aber plötzlich fällt der Typ in diesem engen Büro ganz komisch über seinen Kumpel und verletzt sich dabei mit seinem eigenen Messer!“ Tim hat seine Brille gefunden und setzt sie erleichtert wieder auf. „Die waren bedient, kann ich dir sagen! Haben sich nur noch aufgerappelt und verdrückt.“
„Die hatten es so eilig, dass sie ihren Benzinkanister liegen gelassen haben“, sagt Chris. „Den kannst du jetzt mit freundlichen Grüßen an die Polizei weitergeben.“
„Wahnsinn“, sagt Robert anerkennend und hält die rechte Hand hoch, um mit den beiden abzuschlagen. „Ihr seid echte Profis!“
Tim und Chris schlagen mit Siegermiene erst bei Robert ab, dann untereinander.
„Tja, nur die Niemann ...“, druckst Tim plötzlich und kratzt sich über das kurz geschorene Haar.
„Was ist mit ihr? Steht sie noch unter Schock?“, fragt Robert sofort.
„Nein, nein, das ist es nicht. Sie war natürlich voll happy, dass wir gekommen sind, und sie hat sich auch schnell wieder von dem Schock erholt. Aber sie kam nicht drüber weg, dass die beiden so plötzlich hinfallen konnten, wo doch gar kein Hindernis da war. Hoffentlich plaudert sie jetzt nicht gegenüber der Polizei, und wir sind unser schönes „stone“ los!“
Robert winkt ab. „Selbst wenn sie was sagt – bei der Polizei kommt doch niemand auf die Idee, dass ein Zauberwort hinter dem Stolpern der beiden Gangster stecken könnte! Ihr sagt ja, es hat ja keiner im Raum das Wort gehört.“ Chris und Tim nicken heftig.
„Dieses „stone“ ist echt stark“, sagt Chris. „Aber trotzdem ... Es war das erste Mal, dass einer so direkt auf uns losging. Immerhin hatte diese Pappnase ein Messer in der Hand. Da kann man auch mit „stone“ ganz schön weiche Knie kriegen.“
Robert grinst. „Das war bei mir am Anfang auch so“, sagt er und ist auf einmal richtig froh, dass er nicht mehr allein mit dem Geheimnis des Amuletts ist. Im Team mit Tim und Chris macht das Ganze viel mehr Spaß, und zu dritt kann man auch mehr bewegen als allein.
„Den Kanister gebe ich an den Hauptkommissar weiter, der wird alles Weitere veranlassen“, beschließt er und springt auf. „Und euch gebe ich jetzt ’ne Runde Cola aus.“
„Wie wär’s mit ’ner Runde William Turner dazu?“, lacht Tim und verdreht gleichzeitig die Augen. „Ich hab zwar absolut keinen Bock auf ‚Schneesturm am Meer’, aber wenn wir morgen ohne Hausaufgabe in Englisch hocken, veranstaltet die Wetterhexe Schneesturm nebst Donnerwetter in der Klasse!“ „Da kannst du aber Gift drauf nehmen“, bestätigt Chris überzeugt. Robert bringt die Cola, und dann gehen sie gemeinsam an die Bildbeschreibung. Sie hätten nie gedacht, dass sie so viel Spaß dabei haben würden! Und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Es gefällt Robert noch um einiges besser als das, was er zuvor allein verzapft hat. Teamarbeit hat wirklich was! Robert begleitet seine Freunde noch mit dem Fahrstuhl bis ins Erdgeschoss. Kaum sind sie aus dem Blickfeld, läuft er die eine Etage in den Keller hinunter und berührt kurz das Amulett. Schon sitzen Alban und Arix vor ihm.
„Hi Robert, wir sind bereit! Willst du mal sehen, was wir gemacht haben?“
„Logo!“ Robert hebt die beiden hoch und geht mit ihnen eine Etage tiefer. Kaum hat er das Licht angedreht und Alban und Arix abgesetzt, drängen aus allen Öffnungen Ratten hervor. Es müssen Hunderte sein! Robert hätte nie gedacht, dass in einem Haus so viele Ratten leben können. „Wir haben die ganze Nachbarschaft mobilisiert“, piepsen Alban und Arix, als hätten sie seine Gedanken gelesen. „War kein Problem – alle haben sich gefreut, dass sie dir helfen können!“ Für Augenblicke ist Robert sprachlos. Um ihn herum ist plötzlich eine große Schar Ratten, und noch immer kommen neue dazu. Sie wieseln so dicht an ihn heran, dass Alban und Arix abgedrängt werden. Robert blickt in ein Meer von kleinen Köpfen mit lustig funkelnden schwarzen Augen. Alle piepsen wild durcheinander. Es ist absolut nichts zu verstehen. Robert hebt beide Arme. Da wird es schlagartig still.
„Ich freu mich wahnsinnig, dass ihr alle da seid und mir helfen wollt!“, beginnt er. „Und ich bin riesig stolz, dass ihr meine Freunde seid ...“
Ein durchdringend schriller Laut unterbricht ihn. Alle Ratten huschen blitzschnell weg. Nur Alban und Arix sind zurückgeblieben. Doch sie wirken plötzlich wie elektrisiert.
„Achtung Robert, gleich geht’s los! Wir haben eben das Signal bekommen, dass zwei Männer herunterkommen. Du kannst zuschauen, was wir machen, aber sei uns nicht im Weg!“
Robert hat verstanden. Sofort läuft er einige Schritte zurück und biegt in einen Seitengang ein, der vom Keller mit der Nummer 85 wegführt. Er löscht das Licht und wartet. Es dauert keine Minute, da geht das Licht schon wieder an und er hört Schritte, die rasch näher kommen.
Robert macht sich mit „invisible“ unsichtbar und schaut vorsichtig um die Ecke. Zwei Männer gehen direkt auf Keller 85 zu. Das muss dieser Cemal Gulay mit seinem Bruder sein! Aber im Haus hat Robert die beiden bisher noch nie gesehen. Er prägt sich die beiden Gestalten gut ein: mittelgroß, schwarzhaarig, schlank. Beide tragen blaue Jeanshemden und Jeans, beide haben den gleichen kleinen Höcker am Nasenrücken. Unverkennbar, dass sie Brüder sind. Aber die dunklen Augen in ihren schmalen Gesichtern findet Robert irgendwie merkwürdig. Sie wirken stumpf, fast leblos. Die beiden sind bei ihrem Keller angekommen. Sie wollen eben den Schlüssel ins Schloss stecken, als es losgeht: Aus allen Öffnungen drängen die Ratten herbei, sogar von oben nach unten kommen sie gehuscht. Dabei geben sie plötzlich ein schrilles Kreischen von sich, mit dem selbst Tote geweckt werden könnten. Die Brüder Gulay stehen eine Weile wie erstarrt da. Dann geht ein Ruck durch sie, als würden sie aus einem tiefen Schlaf erwachen. Sie schauen entsetzt um sich, machen blitzschnell kehrt und laufen den Weg zurück zum Kellerausgang. Sie nehmen sich nicht einmal mehr die Zeit, das Licht zu löschen. Die schwere Tür fällt mit lautem Knall hinter ihnen zu. Jetzt sieht Robert auch, wie perfekt seine Ratten alles berechnet haben: Nur der Weg zurück war für die beiden Gangster frei, keine einzige Ratte stand ihnen im Weg. Clever! Robert macht sich mit „invisible“ wieder sichtbar und wartet, bis die Ratten sich allmählich wieder beruhigen. Alle blicken erwartungsvoll zu ihm auf. „Ganz großes Kompliment, Freunde, das habt ihr echt riesig gemacht!“, sagt er stolz. „Eine Supertaktik: Ihr habt euch nur sehen lassen, das alleine schon hat seinen Zweck erfüllt!“ „Du kannst jetzt beruhigt nach oben gehen“, piepst Alban, der sich endlich nach vorn zu Robert durcharbeiten konnte. „Die beiden haben bestimmt die Hosen gestrichen voll und werden heute nicht mehr runterkommen.“
Robert folgt Albans Rat, aber beruhigt ist er nicht. Irgendetwas stimmt da nicht bei den beiden Brüdern! Warum haben sie so unnatürlich gewirkt, als ob sie gerade erst aufgewacht wären? Ob er mal mit dem Hauptkommissar über das seltsame Verhalten der beiden reden sollte?
Belastende Beweise
Gleich nach dem Frühstück ruft Robert im Polizeipräsidium an und lässt sich mit dem Hauptkommissar verbinden.
„Robert, so früh schon?“, meldet sich Werner gut gelaunt. „Wo brennt’s denn schon wieder?“
„Gestern Nachmittag hätte es beinahe gebrannt“, erwidert Robert locker. „Bei uns in der Schule. Meine Freunde Chris und Tim konnten den Brandanschlag gerade noch verhindern. Darf ich Ihnen heute Nachmittag Beweismaterial vorbeibringen, das die beiden sichergestellt haben?“ Am anderen Ende tritt eine kleine Pause ein. Dann holt der Hauptkommissar hörbar Luft.
„Nein, Robert, du musst nicht extra ins Präsidium kommen. Ich bin sowieso bei euch auf dem Lerchenberg. Wir stellen ja heute Vormittag die Beute aus Gulays Keller sicher. Ich hol dich wieder von der Schule ab.“
„Okay, bis gegen eins“, sagt Robert. „Das Beweismaterial hab ich dann dabei.“
Auf dem Weg zur Schule wird Robert schon von Tim und Chris erwartet. Die beiden registrieren sofort den Kanister, den er in einer großen Tüte bei sich trägt. Tim platzt beinahe vor Neugier. „Triffst du heute den Hauptkommissar?“
Robert nickt. „Gleich nach der Schule. Ich hab ihm am Telefon schon von dem Brandanschlag erzählt, den ihr verhindert habt. Ihm blieb erst mal die Spucke weg.“
Kurz vor dem Schultor bleibt Robert stehen. Die tiefe Falte auf seiner Stirn zeigt an, dass er ein Problem auf sie zukommen sieht.
„Ihr könnt wirklich super mit „stone“ umgehen“, sagt er zögernd. „Aber wenn ihr in der nächsten Zeit noch ein paar dieser Krawallheinis erwischt und flachlegt, werden sich ganz rasant Legenden um euch bilden. Es wird dann immer schwerer für uns, das Geheimnis zu bewahren. Mein Tipp: drängt euch nicht in den Vordergrund! Wer so ein Zauberwort beherrscht, muss lernen, im Hintergrund zu bleiben.“ Bevor Tim und Chris antworten können, kommt ihnen Direktor Gerlach mit einem breiten Lächeln entgegen. Er geht mit ausgestreckten Händen auf die beiden zu. „Ihr seid die zwei, die gestern diesen Überfall vereitelt haben!“, ruft er aus und schüttelt beiden die Hand. „Frau Niemann hat mir von euerm Einsatz erzählt.“ Robert hat sich zurückgezogen und beobachtet zufrieden die Lobeshymne auf seine beiden Freunde aus einiger Entfernung.
„Nach dem Unterricht müsst ihr mir genau erzählen, was da abgelaufen ist!“ Der Direktor klopft beiden auf die Schulter. „Jetzt schon mal vielen Dank an euch. Wir sehen uns dann kurz nach eins in meinem Büro!“ Verlegen kommen Tim und Chris auf Robert zu. Doch der grinst nur. „Tja, da muss man durch auf dem Weg zum Helden“, zieht er sie auf. Dann setzt er ernst hinzu: „Denkt dran: kein Wort von „stone“ gegenüber dem Direktor!“
Der Vormittag zieht sich zäh wie Kaugummi. Der Zeiger scheint an der Uhr festzukleben! Roberts Gedanken schweifen immer wieder ab. Ob die Polizeiaktion im Hochhaus erfolgreich über die Bühne gehen wird? Und wie kann er helfen, das Problem mit dem Direktor zu lösen? Was haben die Einbrecher nur in Gerlachs Büro gesucht? Auch Chris und Tim sind abgelenkt. Im Unterricht sind ihre Gedanken bei dem bevorstehenden Gespräch im Allerheiligsten des Direktors, in den Pausen werden sie permanent belagert und müssen immer wieder erzählen, was gestern passiert ist. So gelingt es Robert leicht, sich in der großen Pause unbemerkt von seinen Freunden abzusetzen. Er geht zur Toilette, macht sich dort mit „invisible“ unsichtbar und läuft auf den Flur hinaus zum Direktionsbüro – das heißt, er will loslaufen, aber es scheint, als hätten sich alle Schüler gleichzeitig im Flur versammelt. Durch dieses Gewühl kann man unmöglich durchkommen, ohne einen anderen zu berühren. Vorsichtig schleicht Robert wieder zur Toilette zurück, überzeugt sich davon, dass er allein ist, und macht sich wieder sichtbar. Schon ertönt das Zeichen, dass die Pause vorbei ist. Aber das ist wohl der richtige Weg, denkt Robert: Er muss im Büro rumschnüffeln. Am besten wird er gleich nach dem Gespräch mit dem Hauptkommissar wieder in die Schule zurückkommen, vielleicht findet sich eine Spur. Endlich ist dieser Vormittag zu Ende. Alles drängt erlöst aus der Klasse und ins Freie. Chris und Tim geben Robert Bescheid, dass sie nach dem Gespräch mit Gerlach noch länger auf dem Schulgelände bleiben werden. Sie hoffen natürlich auf neue Zwischenfälle. Der Hauptkommissar wartet schon neben seinem BMW. Robert will sich sofort nach dem Stand der Dinge im Hochhaus erkundigen, aber Werner hebt abwehrend die Hände: „Steig erst mal ein, in diesem Affenzirkus kann sich ja kein Mensch unterhalten!“
Er startet den Motor und fährt ein paar Straßen weiter. Nachdem Werner den Wagen geparkt hat, mustert er sofort die große Plastiktüte mit dem Kanister. Robert folgt seinem Blick.
„Damit sollte wohl die Schule abgefackelt werden. Meine Freunde konnten es gerade noch verhindern“, erklärt er. „Die Täter haben sich verdrückt, aber den Kanister haben sie in der Eile im Büro liegen gelassen. Hoffentlich finden Sie noch Fingerabdrücke von den Burschen darauf!“ „Scheinst ja tüchtige Freunde zu haben. Die haben jedenfalls einiges riskiert“, erwidert der Hauptkommissar anerkennend. „Und offensichtlich habt ihr auch darauf geachtet, dass keine Spuren verwischt wurden. Super, morgen wissen wir mehr.“
Behutsam nimmt er die Tüte mit dem brenzligen Inhalt und legt sie nach hinten. Dann lehnt er sich gemütlich zurück und dreht sich zu Robert hin. „Am Morgen haben meine Leute die Geldkästen im Keller sichergestellt und Cemal Gulay und seinen Bruder Hassan in ihrer Wohnung verhaftet.“ Erleichtert atmet Robert auf. Irgendwie hatte er gefürchtet, dass doch noch etwas dazwischenkommen könnte. Trotzdem wirkt der Hauptkommissar nicht zufrieden.
„Merkwürdig ist, dass sich die beiden angeblich nicht erklären konnten, wie diese vier Metallkästen in ihren Keller gekommen sind. Sie beteuerten immer wieder, nichts davon zu wissen. Müssen grandiose Schauspieler sein!“ Mit einer müden Geste streicht sich Werner über die Stirn und fährt fort: „Aber wir haben ja noch den Mann, der im Geldtransporter gefesselt zurückgelassen wurde. Bei der Gegenüberstellung wird er hoffentlich bestätigen, dass Cemal Gulay der Fahrer war und dass Cemal und ein zweiter Mann, wohl dieser Hassan, ihn matt gesetzt haben und dann mit dem Geld abgehauen sind. Also wird ihnen all ihr Lügen nicht helfen. Aber mich macht es doch etwas nachdenklich, dass die beiden so einen absolut verwirrten Eindruck machen. Das kann doch nicht so einfach gespielt werden!“
In Gedanken vertieft, schaut der Hauptkommissar Robert an. Für eine Weile schweigen beide. Robert sieht wieder die merkwürdig abwesenden Augen der Brüder vor sich. Irgendetwas stinkt da gewaltig!.
„Der kleine weiße Renault gehört übrigens Hassan, aber auch er will nichts von einem Überfall auf einen Geldtransporter wissen.“ Werner seufzt resigniert. „Wirklich verrückt: Auf der einen Seite ist für uns alles klar, der Schuldige steht fest... auf der anderen Seite ist dieser Fall noch immer ziemlich undurchsichtig!“ Werner strafft sich und schaut Robert direkt an. „Hast du Lust, mit aufs Präsidium zu kommen und dir die beiden mal anzuschauen? Vielleicht fällt dir noch etwas Ungewöhnliches auf?“
„Logo“. Robert nickt zustimmend „Fahr’n wir los!“
Im Präsidium bringen die Beamten zunächst Hassan Gulay in das Büro des Hauptkommissars hoch. Robert sitzt hinter einem schnell hingestellten Wandschirm, so dass Hassan ihn nicht sehen kann. Werner und zwei Beamte nehmen mit dem unbeteiligt dreinblickenden Türken am runden Tisch Platz. Eben bieten sie ihm eine Zigarette an, als das Telefon, das vor ihnen auf dem Tisch steht, klingelt. Werner nimmt ab, lauscht kurz, dann hält er Hassan den Hörer hin. Gleichzeitig schaltet er den Lautsprecher an: „Herr Gulay, ein Gespräch für Sie.“
Teilnahmslos, ohne eine Miene zu verziehen, nimmt Hassan den Hörer entgegen. Robert wundert sich, dass der Hauptkommissar ihm, ohne nachzufragen, so einfach den Höhrer gibt. Er muss sich doch fragen, wer Gulay so einfach im Präsidium anrufen will. Kaum gedacht, hört er schon die eintönige Stimme des Mannes: „Ja, wer ist da?“ Alle im Raum hören gespannt zu.
„Adebar!“, sagt eine dunkle, raue Stimme.
Nur dieses eine Wort, danach ertönt sofort wieder das Freizeichen. Der Anrufer hat aufgelegt.
Alle schauen sich verblüfft an.
„Was war d...?“
Werner bleibt das Wort im Halse stecken, denn Hassan ist abrupt aufgesprungen und wirft den Telefonhörer weg. Sein Stuhl kippt nach hinten und fällt mit Gepolter zu Boden.
Robert beugt sich vor und sieht gerade noch, wie Hassan zum geschlossenen Fenster läuft und ohne zu zögern mit voller Wucht gegen die Scheibe springt. Mit lautem Klirren splittert das Glas, als der schwere Körper dagegen prallt. In einem Regen von Scherben verschwindet Hassan nach unten. Das alles hat sich innerhalb von Sekunden abgespielt, bevor irgendjemand eingreifen konnte. Einige blutverschmierte Glassplitter sind auch nach innen gefallen.
Voller Entsetzen sprinten die beiden Beamten zum Fenster und starren hinunter, während der Hauptkommissar reaktionsschnell von seinem Platz aus zum Telefon greift und die Rettung alarmiert. Dann ruft er die zwei vom Fenster weg.
„Holen Sie mir sofort diesen Cemal Gulay! Sagen Sie ihm aber noch nicht, dass sein Bruder eben aus dem zweiten Stock gesprungen ist. Bringen Sie ihn in den Nebenraum.“
Besorgt wendet er sich Robert zu. „Verdammt, das hätte ich dir gern erspart, das ist keine Kost für einen Vierzehnjährigen. Wie fühlst du dich? Bist du einigermaßen okay?“
Robert gibt sich gewollt lässig: „Keine Sorge, Herr Werner, ich bin doch kein Baby mehr“, wehrt er schnell ab. „Ich frag mich nur, was da gerade abging.“