Rocco di Palermo - Harry König - E-Book

Rocco di Palermo E-Book

Harry König

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Beschreibung

Das ist die unglaubliche wahre Geschichte von Rocco di Palermo. Seine Mutter verlor er bei der Geburt. Der Vater und zwei Bruder wurden vor seinen Augen abgeschlachtet. Mit noch nicht zwölf Jahren flüchtete er in die Berge. Dort bereitet er sich auf seine Rache vor. Wie ein Ehrenkodex es befiehlt. Die Mörder zu töten, egal wo. Es wird ein Kampf gegen die geheime Organisation Cosa Nostra. Gegen die Mafia.Die Schauplätze: Palermo, Neapel, New York, Miami, Havanna, Rio de Janeiro. Alles läuft auf eine einzige Frage hinaus. Wer stirbt zuerst, die Killer oder er?

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Seitenzahl: 177

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Rocco di Palermo

Mafia-Thriller nach Tatsachen

 

Von Harry König und Rocco di Palermo

 

 

IMPRESSUM

 

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (insbesondere durch elektronisches oder mechanisches Verfahren, Fotokopie, Mikroverfilmung oder Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages vervielfältigt oder verbreitet werden. Ausgenommen davon sind kurze Text-Zitate in Rezensionen.

 

Haftungsausschluss

Dieser Thriller dient ausschließlich Unterhaltungszwecken und ist frei von politischer Motivation. Die Handlung und Personen sind dichterisch ergänzt.

 

IGK-Verlag

22393 Hamburg, Deutschland

Copyright © 2019

ISBN: 9783966611497

Fotos: © Engel-Fotolia.com

 

 

Inhalt

 

Vorwort

Cannes

Mit dem Tod geboren

Palermo

Neapel

Little Italy, New York

Miami

Havanna

Rio de Janeiro

Epilog

Vorwort

 

Genau genommen wurde er zweimal geboren. Erst mit dem Tod, dann noch einmal durch den Tod und für den Tod. Die Welt erblickte er 1949 in Palermo. Die Mutter starb bei der Geburt. Mit noch nicht zwölf Jahren endete seine Kindheit abrupt. Die sizilianische “Ehrenwerte Gesellschaft” raubte ihm den Vater, die beiden Brüder und ... eine glückliche Jugend.

Aus einem Versteck heraus hat er alles gesehen.

Er entkommt nur knapp, flüchtet in die Berge, schwört blutige Vergeltung und startet schließlich seine gnadenlose Selbstjustiz. Angst und Hunger wurden sein neues Leben. Nur ein Gefühl war noch stärker. Rache.

Er verwendet kein Telefon, kein Internet, tätigt keine Banktransaktionen und wechselt die Identitäten. Er entzieht sich jeder modernen Ermittlungstechnologie. Niemand weiß, wer er ist. Er hinterlässt keine Spuren. Er ist ein Phantom.

Ein Hirte fragt ihn nach seinem Namen. Ursprünglich hieß er Marcello. Jetzt nennt er sich – für seine Vendetta – Rocco di Palermo. Fels von Palermo.

Das war seine zweite Geburt.

Alles lief auf eine einzige Frage hinaus: Wer stirbt zuerst, die Mörder oder er?

Cannes

Erzählt von Harry König

 

 

1

Wenn ich zurückblicke, kristallisiert sich aus meinen Erinnerungen an viele Menschen mit Abstand einer heraus: dieser Rocco!

Er und sein Freund Carlo waren große Begabungen für das Akquirieren von Luxuskarossen. Bei unserem letzten Coup (erzählt von dem Film “Car-Napping” Bestellt-Geklaut-Geliefert … mit der höchsten Zuschauerzahl des Jahres) war er mein gleichberechtigter Geschäftspartner.

Ich wusste nicht, wer er ist, bis zu jener Nacht von Freitag auf Samstag in Paris im November 1968, als er neben mir in einem der fünfzig Porschewagen saß, um die durch uns das Porsche-Zentrum Frankreich gerade erleichtert worden war.

Seitdem verbinde ich mit meinen Gedanken an ihn immer den Wunsch, sein Leben zu erzählen. Wie er es mir erzählte. Vor allem, wie es mit ihm weiterging.

Wir haben uns mehr als fünfzig Jahre nicht mehr aus den Augen verloren.

Mein zweites ICH war wie ein Dämon in mir, der nach einer geilen und turbulenten Zukunft drängte. Roccos Schicksal verwob sich eng mit meiner unverwechselbaren Auto-Biografie. Jeder von uns beiden hatte eigene Zukunftspläne. Für beide sollte der Porsche-Coup ein krönender Abschluss unserer gewagten Aktivitäten werden. Eine Art Gauner ade.

Die Männer, die in all den Jahren meinen Weg gekreuzt oder mich ein Stück weit begleitet haben, hatten meistens ihre eigene Moral. Auch Rocco. Aber nie würde mir über ihn je ein kritisches Wort in den Sinn kommen. Er hatte für all sein Tun ganz besondere Motive.

Ich kannte ihn flüchtig aus Rom. Mein Geschäftsfreund Roberto hat ihn mir gelegentlich vorgestellt. Das war im Sommer 1967.

Schicksalshaft begegnet sind wir uns am 4. Oktober 1968.

Genau genommen beginnt es mit dem Röhren eines Maserati. Es ist Musik in meinen Ohren und Schmerz zugleich. Der Sound reißt mich aus dumpfen Gedanken.

Was habe ich falsch gemacht?

Wie konnte es so weit kommen?

Noch brennender: Wie soll es weitergehen?

Meine Münchner Probleme haben mich in Cannes eingeholt.

Ich bin im „La Chunga“ beim dritten Glas Johnny Walker. Ohne Auto und mit dem letzten Geld sitze ich fest. Acht 500-Francs-Scheine mit Marie und Pierre Curie, Kaufkraft umgerechnet etwa 1.100 Mark. Langsam werden die Sorgen kleiner. Besser man stinkt nach Whisky als nach Armut.

Jetzt sehe ich also einen Maserati Ghibli. Der Fahrer stellt den Wagen wenige Meter neben der berühmtesten Bar in Cannes ab. An einem frühen Morgen in der Nachsaison ist der eine oder andere Parkplatz vor dem Gebäude Rue Latour Maubourg 24 tatsächlich schon wieder frei.

Zwei Typen steigen aus, kommen herein. Irgendwo habe ich die schon gesehen.

„Hallo, Amigos!“

Es sind Rocco und Carlo.

Ich sage: „Was habt ihr denn da für einen scharfen Maserati Ghibli?“ Und deute mit dem Whiskyglas in die Richtung. „Führt ihn mir doch einmal vor.“

Wir besehen das Prachtstück. Flaschengrün. Chromblitzend. Hammermäßig. Noch stärker als der Wagen selbst fesseln mich die Kennzeichen. Deutsche Zollnummern. Allerdings ohne den Zolladler. Aha, suboptimal. Schon abgeleuchtet.

Ich lasse mir nichts anmerken. Wir schauen uns an und gehen wieder ins „La Chunga“. An der Bar habe ich eine Idee. Ich investiere erst einmal eine Flasche Johnny Walker Black Label.

Vorsichtig klopfe ich auf den Busch.

„Sagt mal, was kostet der Wagen eigentlich neu?“

„Hunderttausend ...“

Sie reden von Francs.

„Dann seid ihr ja schwer gestopft. Habt ihr Gold gegraben? Oder gar Öl gefunden?“

„Leider nur Olivenöl.“

Wir lachen zu dritt. Die beiden allerdings ein wenig unsicher. Sie schauen sich an.

„Weißt du, Don Harry“, sagt Carlo, der kräftigere von beiden, mit tiefer Stimme. „Das täuscht ein wenig. So gestopft sind wir gar nicht. Im Gegenteil.“

Ich habe die Anrede Don sehr wohl gehört. Denk‘ mir nichts dabei. Blumige Sprache. Typisch Sizilianer.

Aber Carlo und der andere sendeten mir ein Signal mit dem Wort Don. Das habe ich später erst begriffen. Ein Angebot, wenn nicht sogar eine Bitte. Entscheide für uns. Wir folgen.

Carlo nach einer Pause: „Ich wäre froh, wenn wir die Kiste verkaufen könnten.“

So, so, dachte ich’s mir doch. Die Herren sind pleite wie ich.

„Wie viel soll er denn bringen?“

„Fünfundzwanzigtausend.“

Fünfundzwanzig Telofen. Lächerlich. Der Wagen ist fast neu. Eben nur geklaut. Aber ansonsten perfekt.

„Wie ist es mit den Papieren? Vielleicht kauf’ ich die Gurke. Zeigt mal her ...“

Carlo zieht seine Brieftasche, kramt den Kraftfahrzeugschein heraus und reicht ihn mir.

Ich lese Carlo DeMarcos als Halter mit Münchner Anschrift. Unsere berühmte Münchner Leopoldstrasse steht da mit „t“! Bingo! Beinahe hätte ich laut gelacht. Obwohl ich mich bis zu diesem Augenblick wenig mit Autos befasst habe, begreife ich sofort: Fälschung!

„Folgendes“, sage ich und setze eine ernste Miene auf.

„Euer Maserati ist geklaut. Vermutlich in Italien. Ihr macht deutsche Zollnummern drauf. Und wollt ihn in Frankreich verkaufen. Aber aus zwei Gründen geht ihr beim Deal hoch. Erstens, die Papiere sind mies gefälscht. Leute mit Deutschkenntnissen brechen in hysterisches Gelächter aus, wenn sie Leopoltstrasse lesen. Stempel und Siegel müssen perfekt sein. Zweitens, bei dem niedrigen Preis wird jeder sofort misstrauisch. Wenn ihr schon linke Autos anbietet, dann aber zum normalen Preis. Und der liegt bei fünfzig- bis fünfundfünfzigtausend.“

Die beiden starren mich aus großen Augen an. Sie sind total verunsichert. Und jetzt kommt das unmoralische Angebot: „Harry, kannst du uns nicht helfen?“

Genau das wollte ich gerade erreichen. Jetzt baue ich sie wieder auf.

„Ich kann euch aber beruhigen. In Paris weiß ich einen, der ist heiß auf so ein Auto. Ich wollte eh gerade hinfliegen. Also fahre ich halt mit eurem Ghibli und verkaufe ihn dort. Mit dem Preis machen wir Kippe. Dann kriegt ihr eure fünfundzwanzigtausend. Ohne Lampe. Und ich auch. Wenn ihr jetzt stier seid, geb’ ich euch erst mal zwei Mille á conto.“

Du solltest so etwas nicht tun, sagt mir eine innere Stimme. Ich weiß, ich weiß, sagt eine zweite Stimme. Aber tu mir einen Gefallen. Sei still!

Wie sagte Berthold Brecht so treffend? „Erst kommt das Fressen und dann die Moral.“

Carlo und Rocco sind sichtlich unschlüssig. Der zweite schaut mich ein wenig listig an, sagt aber nichts. Sicher, sie kennen mich aus Rom. Sie wissen, ich habe immer Geld. Sie denken, er führt uns sicher nicht vor. Aber, weiß man’s? Am besten, sie rufen Roberto an.

Carlo geht zum Telefon und wählt Rom, Anschluss 00396154 ... Er hat Glück. Roberto ist am Apparat. Sie palavern ein paar Minuten. Immer wieder Seitenblicke zu mir.

Ich betrachte beide jetzt in Ruhe: beeindruckende sizilianische Köpfe. Langweilige Männer sind immer auf die gleiche Weise langweilig. Aber durchtriebene Sizilianer sind jeder immer auf eigene Art durchtrieben. Sicher sind beide furchtlos wie Dobermänner oder Pitbulls. Es genügt, die Nase von Carlo zu sehen, die bei unzähligen Schlägereien mehrfach Brüche erlitten hat, bis sie einer wüsten Buckelpiste glich. Es genügt auch die lange Narbe auf seiner rechten Wange, um in Sorge zu sein. Und nicht genug: links am Hals die grausig zerfleischte Hautpartie, die ein mit Sicherheit sicher längst verstorbener Widersacher ihm beigebracht hat.

Carlo weckt in mir die Assoziation zu einem römischen Mastino. Jede Narbe ist mit Gewissheit ein Orden aus einer Kampfhandlung und hat ihre Geschichte.

Der Kämpfer beendet sein Telefonat. Wie ich es erwarten durfte, ist die Auskunft von Roberto positiv. Anschließend der Austausch breiten Lächelns, ewige Freundschaft bahnt sich an, und dabei sind wir nichts anderes als drei Wölfe, die sich in Südfrankreich zu einer Interessensgemeinschaft trafen.

„Bene, Don Harry“, sagt Carlo. „Scheiß der Hund drauf, wir machen das. Du verkaufst für uns das Auto.“

Na, bitte. Ich gehe freudig auf diesen faustischen Handel ein. Wir trennen uns.

Ich starte den Maserati und fahre erst einmal, begleitet von all meinen Überlegungen, ins „Whisky à gogo“. Geld ist Freiheit, Harry. Je mehr man davon hat, umso vielfacher die Wahlmöglichkeiten.

Eine denkwürdige Stunde.

 

 

2

Winston Churchill, Symbol des Widerstandswillens der britischen Nation, hat einmal gesagt: „Ein Pessimist sieht in jeder Chance eine Schwierigkeit, ein Optimist in jeder Schwierigkeit eine Chance. Das Leben muss man nüchtern betrachten, also schlag dich einfach durch!“ Und er hat auch gesagt: „Wenn du durch die Hölle musst … nicht anhalten, immer nur durch!“

Moralische Bedenken kann ich mir aus Mangel an Alternativen ohnehin nicht leisten. Ich werde nun das Falsche tun, um das Richtige zu erreichen.

Was soeben seinen Anfang nimmt, wird später für Schlagzeilen in aller Welt sorgen. Gut, dass ich es in diesem Augenblick noch nicht weiß. Ich habe nun diesen Teufelspakt per Handschlag geschlossen, ich habe alles vorbedacht und das Ergebnis mit meinem Gewissen verrechnet. Was die Betrüger in den Versicherungskonzernen, die Räuber in den Banken und die korrupten Politiker ohne Not illegal tun, während sie sich die Taschen füllen, kann der kleene Harry von neben an auch.

Sogar das Datum passt. Der Sommer ist unwiederbringlich vorbei.

Hier versäume ich nichts mehr, denke ich, als ich an diesem Freitagmorgen meine Sachen in den Maserati werfe, einsteige, starte und langsam losfahre. Ich rolle die Croisette entlang. Ich passiere das „Martinez“, die Terrasse vom „Hôtel Carlton“, komme am Palais des Festivals vorbei, an den Edelboutiquen, rechts ist jetzt die Terrasse der Bar vom „Hôtel Majestique“. Am alten Jachthafen wende ich. Noch einmal schaue ich auf die Palmen, den Strand, das Meer.

Genug.

Dass just in diesem Augenblick die beiden Italiener erscheinen, ist Gottes Art uns zu sagen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Eines ist klar. Geld löst Probleme. Natürlich schafft das neue.

Meine Gedanken reisen noch schneller als der Maserati.

Paris, die größte Freiluftgarage Europas für Sportwagen, verspricht mir ein volles Winterprogramm. Das Startkapital wird der Ghibli bringen. Mindestens fünfzigtausend müssen es sein.

Paris, ich komme. Champs-Elysée. Tour Eiffel. Das Quartier Saint-Germain-des-Prés im vierundzwanzigsten Arrondissement. Place Pigalle. Montmartre. Und, und, und.

Ich bin aber nicht als Tourist im Anflug. Auch die Studentenunruhen sind nicht mein Ding. Luxusautos umstürzen und mit Molotowcocktails anzünden. Nein, sie umparken lassen und versilbern!

Ein silbergrauer Ferrari 330 GT bringt Carlo und Rocco drei Wochen später ebenfalls nach Paris. Ich nehme sie unter meine Fittiche. Ab jetzt bin ich für sie wirklich Don Harry. Ich entscheide. Sie führen aus. Der Wagen ist die Anzahlung für unser munteres Leben.

Die Italiener arbeiten wie besessen. Fast jede Nacht ein, zwei, drei Luxuskarossen. Schließlich arbeitet das ganze Team auf den Höhepunkt hin. Mein Porsche Coup.

Eine Seitenstraße im sechzehnten Arrondissement. Im Erdgeschoss der Porschezentrale stehen fünfzehn fabrikneue Exemplare. In der Etage darüber weitere fünfunddreißig. Die Autoschlüssel stecken. Ich besitze Nachschlüssel für die Eingangstüre, für den Lastenaufzug, für das Ausfahrtstor. Außerdem habe ich dabei: Kennzeichen mit TÜV-Plakette für alle fünfzig Fahrzeuge. Papiere für die Verschiffung nach Übersee.

In dieser Nacht brauche ich viele Helfer. „Viele Hände, leichtes Tun.“ Wurde mir im Elternhaus schon beigebracht.

Wir treffen uns in einem Club in der Avenue de Wagram, von der Place de Wagram zur Place de l’Etoile, heute Place Charles-de-Gaulle. Um drei Uhr früh brechen wir auf. Um vier Uhr ist alles schon gelungen.

Paris liegt schnell hinter uns. Neben mir sitzt Rocco. In den turbulenten Wochen seit seiner Ankunft in Paris wurde er mein underboss. Mein Stellvertreter während einer Abwesenheit. Sozusagen der Vizepräsident unserer kleinen Gesellschaft. Für eine jetzt vor uns liegende lange Fahrt nach Antwerpen ist er mein Beifahrer, mein Kopilot.

Wir kommunizieren halb italienisch, halb deutsch. Ich weiß so gut wie nichts von ihm.

Carlo deutet seine Vergangenheit wenigstens mit beeindruckenden Narben an. Roccos junges Antlitz behält alles für sich.

Alles beginnt mit einer gedankenlosen Bemerkung

„Rocco, erzähl‘ mir doch was aus deinem Leben.“

„Was möchtest du hören, Don Harry?“ Seine Stimme klingt gelassen.

„Na, von Sizilien. Palermo, deine Jugend, deine Familie ...“

„Ich habe keine Familie.“

Die Kontur seines Gesichts verhärtet sich wie seine Stimme.

Nach kurzem Zögern: „Wenn du schwörst, kein Wort weiterzutragen, erzähle ich dir meine Geschichte.“

Ich bestätige: „Kein Wort.“

Rocco leitet etwas Frischluft an die Innenseite der Windschutzscheibe. Er verzögert merklich den Beginn seiner Schilderung. Muss er sich den Einstieg noch überlegen? Wie auch immer, plötzlich hält ihn nichts mehr zurück. Zu lange hat er seine Geheimnisse mit sich herumgetragen.

 

*

 

Dezember 1990. Es ist jetzt mehr als zweiundzwanzig Jahre nach dem Porsche-Coup. Endlich löse ich meine Zusage ein. Ich mache mich in Berlin auf nach Miami. Dort bin ich mit ihm verabredet.

Unser Car-Napping-Erlebnis hat uns irgendwie untrennbar miteinander verbunden. Rocco verschwand sofort danach in die U.S.A. Bereits am folgenden Tag flog er mit TWA von Brüssel nach New York.

Stolz zeigte er mir sein Visum. Er hatte es sich in der Pariser Botschaft besorgt. Den großen, dreifarbigen Stempel in Blau-Rot-Grün habe ich selbst gesehen. B1-B2-Visa. Multiple. Indefinitely. Wiederholt. Unbefristet. Fürs ganze Leben.

Um ihn machte ich mir nie Sorgen. Ich dachte damals: Die amerikanischen Großstadthaie frisst Rocco alle auf. Denn er war hungrig. Gefährlich hungrig.

Der Erlös aus unseren einträglichen Aktionen war sein Startkapital drüben.

Nach Miami fliege ich bewusst über Palermo. Ich muss seine Stadt einmal selbst erleben. In einem Talkessel, auf drei Seiten von Bergen umgeben, die aus einem Vulkan geboren wurden, im Nordosten vom glitzernd blauen Mittelmeer begrenzt.

Im Flieger schließe ich die Augen.

In meinen Gedanken sitze ich mit Rocco wieder im Wagen wie in jener Novembernacht … und ich höre noch einmal seine unfassbaren Schilderungen.

 

 

 

Rache ist eine Mahlzeit, die kalt am besten schmeckt.

Sizilianisches Sprichwort

Mit dem Tod geboren

Erzählt von Rocco di Palermo

 

 

1

No’ lo so, Don Harry. Vor neunzehn Jahren wurde ich in Palermo geboren. Schon meine Geburt war äußerst kompliziert. Gefährliche Steißlage. Ich kam mit den Füßen zuerst. Die Nabelschnur hätte mich beinahe stranguliert. Nachdem ich bläulich verfärbt, aber gerade noch im letzten Augenblick herausgekommen war, beendete ich das Leben meiner Mutter. Die Hebamme konnte nur hilflos zum Allermächtigsten lamentieren. Infektion, Überanstrengung, was weiß ich. Ich bekam den Namen Marcello, nach dem ältesten Bruder meiner Mutter. Alle bei uns vermissten sie schmerzlich und verzweifelt. Das ist kein Leben ohne Mutter, ohne Hausfrau, ohne Geliebte. Mein Vater wies mir mit unverhohlener Strenge die Schuld am Tod meiner Mutter und seiner Frau zu.

Schon ganz jung lernte, ich meine Gefühle zu verbergen. Schweigen und schmuggeln. Damit wuchs ich auf.

An einem Freitagnachmittag, es war der 24. Juni 1960, hörte ich heimlich ein paar Gesprächsfetzen mit. Ich war elfeinhalb. Mein Vater besprach mit meinen beiden älteren Brüdern einen nächtlichen Einsatz. Er nannte den Namen einer Bucht. Worum es ging, bekam ich nicht genau mit. Das machte mich umso neugieriger. Wenigstens unbemerkt, wollte ich dabei sein. Ich war überzeugt, nicht erwischt zu werden.

Als erste verließen Vater und mein Bruder Francesco - er war gerade siebzehn - das Haus. Mit großem Abstand folgte ich ihnen heimlich und erregt. Über der linken Schulter trug ich, wie sonst auch immer bei Streifzügen in der Nacht, eine Decke. Sie gab mir das Gefühl, irgendwie verborgen zu sein. Am Halfter führte ich Toto mit, unseren Maulesel.

Den Weg hinaus aus der Stadt zu der abgelegenen Bucht kannte ich gut. Viele unserer Fischfänge, aber auch Schmuggelfahrten haben hier ihren Ausgang genommen. Oft durfte ich beim Umladen das Ruder halten oder mich sonst wie nützlich machen.

Oben auf den Hügeln, unter denen das Meer lag, band ich Toto an einem Baum fest. Ich selbst versteckte mich im Gestrüpp. Immer wieder ging mein Blick zu den Sternen und zurück aufs Wasser. Aber nirgendwo konnte ich Positionslichter erkennen.

Auf der kurvenreichen Küstenstraße aus Richtung Stadt kamen zwei abgeblendete Scheinwerfer. Ich erkannte das Motorengeräusch sofort: Das war unser Dodge-Lastwagen. Er bog in den unbefestigten Sandweg zur Anlegestelle ein. Ich sah jetzt auch meinen ältesten Bruder Salvatore, wie er den Wagen rückwärts bis dicht ans Wasser manövrierte. Dann sprang er heraus. Im Mondschein spiegelten sich die Umrisse seiner Lupara.

Porco dio!, dachte ich. Die abgesägte Doppelflinte hat er nur bei wirklicher Gefahr dabei.

Mein Herz pochte heftig. Jetzt näherte sich aus der Dunkelheit mit gedrosselten Motoren ein Boot. Meistens haben diese Fischkutter zwei PS-starke Volvomaschinen unter der Wasserlinie. Anders hat man gegen die Guardia di Finanza, gegen den Zoll, keine Chance. Salvatore gab mit einer Taschenlampe ein Lichtzeichen. Dann wurden ihm vom Bug der „Santo“ die Leinen zugeworfen.

Jetzt sah ich Francesco im Wasser stehen. Er streckte seine Arme dem Boot entgegen, nahm Kartons „Amerikanischein Empfang und brachte sie zu Salvatore. “ Schöne, blonde Marlboro-Zigaretten. Der verstaute sie mit raschen Bewegungen auf der Ladefläche.

Ich dachte jetzt daran, hinunter zu gehen und mich nützlich machen. Dem Maulesel gab ich ein Zeichen. Ruhig, ich komme wieder.

Ich näherte mich geräuschlos der einzigen Zufahrt in die Bucht. Doch sehr weit kam ich nicht mehr.

Plötzlich näherte sich von der Abzweigung an der Straße ein weiteres Fahrzeug. Salvatore sprang blitzschnell hinters Lenkrad. Bereit zur Flucht. Den bulligen Geländewagen stoppt keiner so schnell. Francesco befand sich zwischen dem Lastwagen und dem Boot, blickte fragend zu seinem Bruder.

Ich fieberte geduckt in einem Gebüsch direkt neben der Straße den nächsten Augenblicken entgegen.

Ein dunkler Fiat 1100 hielt einige Meter neben mir an. Drei Männer stiegen aus. Einer schulterte ebenfalls eine doppelläufige Lupara. Ein Vierter blieb am Steuer. Salvatore erkannte und begrüßte sie. Die Stimmen drangen bis zu mir. Eine gehörte Gevatter Domenico. Ein Bekannter meines Vaters, häufiger Gast bei uns. Wir achteten ihn wie einen Onkel. Ich hörte den Namen Pietro. Die beiden anderen konnte ich nicht so genau ausmachen. Einer zog ab und zu hastig an einer Zigarette.

Schweigend schauten die drei zu, wie mein Vater und meine Brüder den verbliebenen Teil der Fracht an Land brachten und auf der Ladefläche des Dodge verstauten. Nach dem letzten Karton tarnten sie die Ladung mit Kisten voll Tomaten und dichten Fischernetzen.

Gevatter Domenico war wohl der Abnehmer der Zigaretten. Er nahm meinen Vater beiseite. Sie machten ein paar Schritte genau in meine Richtung. Ich verstand jedes Wort.

„Massimo“, sagte Domenico, „hast du es dir noch einmal überlegt?“

„Ja, ich bleibe dabei“, antwortete mein Vater. „Meine Söhne sollen nicht auch noch ihren Vater verlieren. Kein Heroin, Domenico. Niemals! Das ist mein letztes Wort.“

Gevatter Domenico trat näher an ihn heran, nahm ihn wie bei einer Verabschiedung üblich in die Arme und küsste ihn auf die Wange. Es wirkte sehr versöhnlich auf mich. Doch in derselben Sekunde rammte er ihm mit der rechten Hand rückwärtig ein Stiletto durch den Oberkörper ins Herz! Tödlich verletzt, brach mein Vater unter meinen Augen zusammen.

Wie auf ein verabredetes Zeichen sprang in diesem Augenblick der Unbekannte aus dem Fiat und schoss sofort meinem Bruder Salvatore in den Rücken. An der geschulterten Lupara vorbei drang die Schrotladung durch seinen Körper von hinten ebenfalls ins Herz. Francesco erfasste sofort die Situation und flüchtete mit einem Hechtsprung in Richtung Boot. Aber der Schütze mit der Doppelläufigen brachte kaltblütig sein Gewehr in Anschlag. Eine tödliche Zwillingsladung zerfetzte den jungen Körper meines Bruders kurz vor dem rettenden Bootsrand.

Diese rasch aufeinanderfolgenden Morde machten mir sehr schnell klar, dass ich im Augenblick nichts anderes tun konnte, als verborgen zu bleiben und zu hoffen, dass ich nicht entdeckt werde. Als Augenzeuge des Massakers und einziger Überlebender meiner Familie hätte man mich sofort ebenfalls hingerichtet. Aber, selbst wenn ich irgendetwas gewollt hätte - vor Angst und Entsetzen war ich völlig gelähmt.

Der Fahrer sprang aus dem Wagen. Dann sah ich, wie sie die Körper meines Vaters und meiner Brüder zum Kutter schleppten und auf das vordere Deck warfen. Die Schiffsmotoren wurden angelassen, der Anker eingeholt. Der Kutter legte ab und drehte in Richtung offenes Meer. Im Mondlicht sah ich, wie einer der Unmenschen einen ganzen Benzinkanister über die Leichname kippte. Dann ging er bis ans Heck, zündete sich eine Zigarette an und warf sie auf die toten Leiber. Eine Stichflamme erhellte die gespenstische Szene, während der Mann jetzt ins Wasser hechtete. In diesem Moment konnte ich ihn erkennen. Dieses Gesicht werde ich nicht vergessen.