Rocking the Forest - Cornelius Zimmermann - E-Book

Rocking the Forest E-Book

Cornelius Zimmermann

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Beschreibung

Ein so musikalisches Fleckchen Erde wie den Müützelwald gibt es nicht noch einmal: Knallfrösche verlieren sich in jazzigen Jam-Sessions, Muchtenknilche verfallen in meditative Singsänge, Riesenlibellen haben den Pop neu erfunden und die Quacksilberquallen haben sich mit ihrem alleszerstörenden Silver Howl selbst ins Abseits geschossen. Und Iggy, der Wolfmorf? Der ist einer der gegnadetsten Forest-Doom-Musiker überhaupt. Klar, dass er mit seiner Band, den Müützel Monotones, beim diesjährigen Rocking the Forest Band Contest unbedingt die »Goldene Dolde« gewinnen will. Zu dumm nur, dass seine Bandkollegen ihn elf Tage vor dem Festival aus der Band schmeißen. Dem Wolfmorf bleibt nichts anderes übrig, als sich auf eine Odyssee durch den gesamten Wald zu begeben, um den erfolgreichsten aller Musikproduzenten, Blubb die Pfütze, zu finden. Denn nur er kann Iggy helfen, seinen großen Traum zu verwirklichen. Dabei begegnet er allen möglichen und unmöglichen Wesen und zu allem Überfluss auch noch der allerschönsten und wunderbarsten Wolfmörfin der Welt, die ihm völlig den Kopf verdreht … »Rocking the Forest: Ein Müützelwald-Roman« ist ein einzigartiges Debüt: Abenteuerliche Funny Fantasy mit phantastischen Waldwesen und jeder Menge Musik – Made in Germany. Für alle Leser von Walter Moers und Terry Pratchett.

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Seitenzahl: 453

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Cornelius Zimmermann

Rocking The Forest

Ein Müützelwald-Roman

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Inhalt

I Noch 11 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band ContestKampf dem KitschII Noch 10 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band ContestWolfmorfjammerEin guter RatIII Noch 9 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band ContestFolge der TorffarnschneiseVon Pauken und KäfernIV Noch 8 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band ContestRiesendrillinge voraus!Wenn’s einem plötzlich mulmig wirdV Noch 7 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band ContestImmer Ärger mit den PoppernKlatsch und TratschVI Noch 6 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band ContestAls ob der Himmel voller roter Bommeln hingeNimm das, Hippie!RuhestörungVII Noch 5 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band ContestDie schon wiederQuacksilberunverträglichkeitSilbrige SymphonienVIII Noch 4 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band ContestO nein. Nicht so.MastermindSpäte ReueHimmelwärtsAnstrengende FlugreisenEiner ist immer der HeinerIch schau dir in die Augen, KleinesIX Noch 3 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band ContestSchwerer Kopf und leichte MuseWer hat uns verratenEine kleine BongobongoleiNächster!Genug jetzt mit der ZuckerwatteX Noch 2 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band ContestAuf der FluchtLauf, Wolfmorf, lauf!Findet IggyHöhlenmusikChlorophyta Müützeli tenacia maximaBlutprobeXI Der Festivaltag. Nur noch wenige Stunden bis zum237. Rocking the Forest Band ContestRumspinnenDie Adler kommen!Highway to hellDer Weg nach obenForest Doom SymphonicDas Leben ist ein WunschkonzertRauschhaftes FinaleLass das!Enthüllungen

INoch 11 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band Contest

Kampf dem Kitsch

Es ist ein dunkler, kalter Nachmittag im Müützelwald; dichte, reglose Nebelwände umstehen die Baumriesen, deren feierlich aufragende Stämme sich in den Schwaden verlieren. Feine Wassertröpfchen überziehen die dunklen Farben des stillen Waldes mit einem zarten Silberschleier. Ein Geschwader türkis-orange-lila-apfelsinenfarben gestreifter Libellen taucht in exakter Formation aus dem Nebel auf, taucht wieder in ihn ein und verschwindet. Wenig später kann man die Geräusche des Libellengeschwaders vernehmen, das sich in exakter Formation darin verfliegt und volle Lotte gegen einen Baumriesen kracht. Dem wüsten Schimpfen der Rieseninsekten folgen die Geräusche eines Faulrindenkäfers, der soeben von wütenden türkis-orange-lila-apfelsinenfarben gestreiften Libellen vermöbelt wird. Dann verliert sich das Brummen des – nun etwas zerknitterten – Geschwaders zwischen den Bäumen, und nur die weiche Stille des Nachmittags bleibt zurück.

 

Der Blick schweift weiter über die Szenerie, wandert über die stillen Bäume, deren knorrige, verschlungene Wurzeln im und über dem Waldboden Höhlen, Unterschlüpfe, Brücken und Leitern bilden. Nur ab und zu lässt sich ein kleiner Waldbewohner sehen, ein Eichhörnchen etwa, das in sein Versteck schlüpft und so tut, als habe es die Nüsse nicht aus Nr. 85 in der großen Eiche nebenan geklaut.

Der Blick wandert noch ein bisschen tiefer und findet am Fuße eines besonders stattlichen Baumriesen einen Wurzelvorsprung. Erst bei näherem Hinsehen kann man erkennen, dass der Vorsprung eine kleine Rindentür überschattet, die die dahinterliegende Höhle zwischen Wurzel und Waldboden sicher verschließt. Nur mit Mühe sind die Buchstaben zu entziffern, die in kantiger Schrift und roter Beerenfarbe auf ein Schild an der Tür gemalt sind.

Oben steht:

The Müützel Monotones

Und darunter, ein wenig kleiner:

Proberaum

Und darunter, noch ein wenig kleiner:

Nicht klopfen, hören eh nix. Einfach warten, bis wir rauskommen.

Nähert man sich vorsichtig und noch leiser als zuvor schon der Tür (man weiß ja in diesem geheimnisvollen Wald nicht, was plötzlich hinter einer solchen Wurzel hervorspringen könnte), kann man dahinter ein dumpfes Scheppern und Lärmen hören. Über einem rasenden Trommelrhythmus liegt das sirrende Kreischen einer Gitana, die typischen Riffs eines Forest Doom-Standards sind auszumachen. Die brodelnde, erdige Leadstimme, die sich mühelos gegen das Lärmen durchsetzt, peitscht die Musik immer weiter auf. Auf einmal jedoch bricht der Song ab. Aufgeregte Stimmen sind zu hören. Offenbar erhebt sich eine Diskussion, ein Streitgespräch. Immer mehr Ärger ist den Stimmen anzuhören, besonders eine ist immer klarer gegenüber den anderen zu erkennen, wobei nur schwer einzuschätzen ist, ob es sich um den Sänger handelt, die Sprechstimme ist nämlich viel höher und durchdringender als das erdige Grollen, das man eben noch vernehmen konnte.

Plötzlich fliegt die Tür auf, und ein kleines Wesen, das unschwer als ein Wolfmorf identifiziert werden kann, stürzt hinaus. Er dreht sich zitternd vor Wut um, blickt flammenden Blickes zurück auf die dunkle Türöffnung. Seine maulwurfsähnlichen Schaufelpfoten sind zu Fäusten geballt, die er wütend schüttelt.

»Bin ich denn der Einzige in diesem Scheißwald, dem noch etwas an einem künstlerischen Gesamtkonzept liegt?«, kreischt er. »Es wird doch wohl nicht so schwer sein, Forest Doom nicht in Kitsch abgleiten zu lassen!!!« Verzweifelt reckt er seine Fäustchen in die Luft, scheint den Baumkronen zu drohen. »Wir sind die Müützel Monotones und nicht irgendeine Mmrbflkrrrrrmmmm …« Die letzten Worte gehen in unverständliche Laute über, als sich ein ziemlich nasses, ziemlich schweres und ziemlich vermodertes Blatt über den armen kleinen Wolfmorf senkt.

Aus der noch immer geöffneten, dunklen Türöffnung tritt – wenn man das so sagen kann – ziemlich betretene Stille. Würde man sich vorsichtig und mit dem gebotenen Respekt ein wenig näher an das Blatt heranschleichen, könnte man kleine Fäuste hören, die auf den Boden trommeln, und ein Fluchen wie »Hat sich denn der ganze Scheißwald gegen mich verschworen …« Dann kehrt wieder Stille ein. Schließlich wird ein resigniertes Stöhnen vernehmbar. Das Blatt bewegt sich, und der Wolfmorf krabbelt ächzend darunter hervor. Missmutig pflückt er sich einige besonders hartnäckige Noten und Erdbrocken aus dem Pelz, schüttelt sich noch einmal und stapft dann – leise vor sich hin schimpfend – davon. Langsam, nach und nach, verschwimmen die scharfen Umrisse, die der kleine Musiker in der dicken Nebelsuppe hinterlassen hat, die Nebelwand schließt sich hinter ihm, und alles ist wieder ruhig.

IINoch 10 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band Contest

Wolfmorfjammer

Ein prächtiger Sonnenaufgang lodert hinter den fernen Gipfeln des Krazznuuf-Massivs empor. Die durch die Baumwipfel hereinflutenden Strahlenbahnen lassen die nächtliche Regenfeuchte des Waldes in einer Explosion von Glitzern und Gleißen aufleuchten. Im Morgenlicht brechen die Grüntöne des Waldes in ihren myriadenfachen Abstufungen hervor, als stünde man im Inneren eines riesenhaften Smaragdes.

»Danke für die Sonnenbrille, Alter«, schnauft Iggy der Wolfmorf.

»Keine Ursache. Immer gerne zu Diensten.« Das Eichhörnchen wirft sich die Tasche über die Schulter und macht Anstalten, den Stamm wieder hinunterzuklettern. Dann zögert es, dreht sich noch einmal um. »Äh, hör mal, Ig. Wenn ich du wäre, würde ich der Kriechspinne von der Pilzwaldlichtung nicht allzu deutlich auf die Nase binden, dass du eine neue Sonnenbrille hast. Bodo bringt, was Bodo hat, okay?«

»Kein Ding, Bodo. Jeder weiß, dass du ein gesetzestreuer Bewohner des Müützelwaldes bist.«

»Du bist ein Schatz, Iggy. Mach’s gut und bleib oben!« Mit diesen Worten schwingt sich Bodo über den Rand des Baumhausbalkons, und es sieht so aus, als wolle er auf den breiten Sonnenbahnen bodenwärts reiten.

 

Iggy seufzt, rutscht am Rand des Balkons hin und her, schiebt sich die Sonnenbrille auf der pelzigen Schnauze noch ein wenig höher und lässt die Hinterbeine baumeln, während er missmutig und mit schmerzendem Kopf in den anbrechenden Morgen schaut. Er fühlt sich, als habe man ihm eine dicke, dornenbesetzte Schlingpflanze um den Kopf gelegt und sie kräftig festgezwirbelt.

Wie viele »Rocking Dustbins« mögen das gestern Abend in Donnys Waldbar & Grill gewesen sein? Fünf? Sechs? Die Zahlen tanzen in seinem Kopf einen beunruhigend unkoordinierten Tanz und verlieren bald ihren Sinn.

Und das alles nur, um in den frühen Morgenstunden in einem Astloch aufzuwachen, umgeben von empört fiependen, nackten jungen Spechten, auf dem Kopf eine umgedrehte Eicheltasse?

Himmel, ich bin doch keine 80 mehr!, denkt er sich. Aber was hätte er denn anderes tun sollen, als sich zu betrinken, nach so einer deprimierenden Bandprobe?

Ein leises, aber deutlich ungestimmtes »Ping-Boink« lässt ihn zusammenzucken. Ärgerlich grollend schaut er an sich herunter, wühlt mit den Schaufelpfoten in seinem braunen Pelz herum, durchsucht den neben ihm liegenden buschigen Schwanz. Schließlich zieht er mit spitzen Fingern eine winzige, etwas ängstlich wirkende Note zwischen den Haaren hervor.

»Genau das meine ich. Wie soll man denn so arbeiten können?«, brummt er, hält die sich windende Note über den Rand des Balkons und lässt sie fallen. Er beugt sich ein wenig vor und beobachtet die Note, wie sie sich dem Waldboden entgegenschraubt und dabei ein leises, aber für Iggys feine Wolfmorfohren deutlich vernehmbares Jaulen von sich gibt. Mit seinen nicht minder scharfen Knopfaugen sieht er, wie sie federnd auf einem Moosbett aufkommt, sich kurz schüttelt und dann nach kurzem, zögerlichem Schnüffeln davonhoppelt.

Zugegeben, die Jungs haben Talent: Bapf der Hirschkäfer an der Gitana, Johnny-Bo der Wilde Weberknecht am Schlagzeug und Sichssss-P die Mondwespe am Sopran-Blip. Und sie spielen klassischen Forest Doom. Rocking the Forest ist ein Forest Doom Band Contest. DER Forest Doom Band Contest. Die Teilnehmer kommen sogar aus weit entfernten, exotischen Gegenden wie der Lichtung hinter dem Fluss. Sie sprechen oft kaum genug Müützel, um die Teilnahmeblätter auszufüllen. Aber was sie alle verbindet, ist die tiefe Liebe zum Forest Doom, da können die blöden Libellenpopper so viel Rabatz machen, wie sie wollen.

Und was tut die Band? Diskutieren. Iggy stöhnt auf bei dem Gedanken: »Neue Einflüsse.« – »Den Forest Doom revolutionieren.« – »Die Vermählung von Forest Doom und Mushrock.« – »Alte Zöpfe abschneiden.« Himmel, klassischer Forest Doom ist zeitlos!

Die Müützel Monotones sind auf dieser Seite des Flusses (also dort, wo nach gängiger Definition die Zivilisation zu Hause ist) zur Legende geworden, weil sie immer guten, zeitlosen, regentropfenreinen Forest Doom gespielt haben. Hierfür stehen die Müützel Monotones mit ihrem Namen, und hierfür haben die Müützel Monotones (in anderer Zusammensetzung) beim 227. Rocking the Forest die »Goldene Dolde« gewonnen.

Zugegeben, das ist mittlerweile zehn Jahre her, aber wir leben eben in verstörenden Zeiten, in denen Bands wie die Caterpillar Killers und die Dunklen Prinzen des Waldbodens die »Goldene Dolde« gewinnen können, Bands, die von Forest Doom ungefähr so viel verstehen wie … wie … na … naja, wie ein Libellenpopper von Forest Doom eben. Aber gerade deshalb muss man sich immer wieder aufs Neue für den echten Forest Doom in die Bresche werfen, das wäre doch gelacht. Und da können Bapf, Johnny-Bo und Sichssss-P noch so oft über ihn die Augen rollen und irgendwas von »konservativ« und »eh keine Chance« murmeln.

Die Morgensonne taucht Iggys Baumhausbalkon in ihre angenehm wohligen Strahlen, und er genießt die Wärme auf seinem Pelz und den Geruch des sich ausdehnenden Holzes. Die Luft ist erfüllt von Vogelgesang und -gekreisch, vom Kratzen, Scharren, Quietschen und Sägen aus den umliegenden Baumwipfeln. Vom fernen Waldboden ertönen die feinen Raschelgeräusche der Erdbewohner.

Iggy lässt noch eine Weile seine trüben Gedanken von den Strahlen dahinschmelzen, dann erhebt er sich ächzend und schlurft gemächlich durch die runde Tür in das Innere des Baumhauses. Geschickt in ein Astloch eingepasst, aus elastischen Rindenstücken und Zweigen zusammengefügt und mit dicken Blättern gedeckt, schmiegt es sich hoch oben an den Stamm des Baumriesen. Das Baumhaus selbst ist in seiner Form rundlich und umschließt einen einzigen kleinen Raum mit einem allerdings absolut ebenen Fußboden, der aus geraden, dünnen Zweigen geflochten ist und vor der Tür in einen halbkreisförmigen Balkon ohne jedes Geländer übergeht. An einer Seite des Raumes lagern in einem Nest aus frischen Zweigen Iggys Essvorräte: Nüsse, Wurzeln, winzige getrocknete Insekten, Insektenflügelchips, Nesselknäcke, Trockenbeerenspieße und was ein Wolfmorf sonst noch so alles zu vertilgen pflegt. Auf der anderen Seite steht ein behagliches wolfmörfisches Schlafnest aus frischem, duftendem Moos, mit weichen Flaumfedern durchflochten. Der Fußboden dazwischen ist, naja, in Gebrauch: Unzählige verschiedene Musikinstrumente liegen achtlos durcheinander, mehrere Blips in verschiedenen Stimmlagen und Stimmungen, Drumsticks, Rasseln, Gitanas und Uga-Ugas.

Iggy greift sich eine Nuss aus dem Vorrat und knuspert sie mit Behagen auf seinem Balkon. Dann rollt er sich auf dem warmen Holz in der Sonne zusammen und nickt ein.

 

Der Balkon liegt schon in kühlem nachmittäglichem Schatten, als Iggy erwacht. Er braucht eine Weile, um wieder in die Wirklichkeit zu finden, reibt sich mit den Schaufelpfötchen die Knopfaugen und rümpft etwas missmutig in die frische, schattige Waldesluft. Erst nach einer Weile bemerkt er die Flugfrucht, die neben ihm auf dem Balkon liegt. Das nussähnliche Gebilde, das ausschließlich an Postbäumen wächst, trägt einen Stempel vom heutigen Tage und ist adressiert an »Iggy Wolfmorf, An der Torffarnschneise, BR 23, ziemlich weit oben«. Misstrauisch, aber neugierig schnüffelt er an der unverhofften Sendung. Dann ergreift er sie, öffnet die Flugfrucht an der dafür vorgesehenen »Hier öffnen!«-Naht und zieht ein engbeschriebenes Standard-Postblatt heraus. Der Brief ist ebenfalls auf den heutigen Tag datiert.

Lieber Iggy,

wir hoffen, dass es dir heute ein bisschen bessergeht als gestern nach der Probe. Jedenfalls hat es uns großen Spaß gemacht.

Wir möchten dich loyalerweise davon unterrichten, dass wir drei uns heute als die Freaky Coconuts in der neuen Sparte Funky Forest Doom von Rocking the Forest angemeldet haben. Lieber Iggy, wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass wir deinen hohen Ansprüchen an den klassischen Forest Doom nicht genügen können. Wir möchten daher die Müützel Monotones verlassen. Es tut uns sehr leid, dass wir dich so kurz vor dem großen Auftritt mit dieser Entscheidung konfrontieren müssen, aber wir glauben nicht mehr daran, dass wir gemeinsam als Müützel Monotones erfolgreich sein können. Noch mal, uns allen tut die Entscheidung sehr weh, nicht mehr mit dir zu spielen. Vielleicht findest du ja noch kurzfristig Ersatz für uns. Bitte drücke uns aber auch als Freaky Coconuts die Daumen!

 

Viel Glück! Und liebe Grüße von

Bapf, Johnny-Bo und Sichssss-P

Iggy lässt das Blatt sinken und starrt für einige Minuten ins Leere. In seiner Kiefermuskulatur mahlt es. Der Schrei, der nun folgt, wird in die Geschichte des Müützelwaldes eingehen als der legendäre 10.745er Herbstschrei. Wolfmorfe, die zum Zeitpunkt dieses Schreis geboren werden, werden allgemein als neurotisch, zwangsbehaftet und mit einem Hang zum Dauermasturbieren gelten.

Ein guter Rat

»Du bist einfach zu streng mit den Jungs, Iggy. Ich weiß ja, wie wichtig dir der gute alte, klassische Forest Doom ist. Aber Forest Doom ist nicht in Stein gemeißelt. Der Wald wächst weiter, und wir müssen manchmal mit ihm mitwachsen.«

Gugu der Eulerich verlagert das Gewicht auf seinem Ast ein wenig, blinzelt einmal mit dem linken, zweimal mit dem rechten bernsteinfarbenen Auge und blickt Iggy dann wieder scharf an. Der kauert zusammengesunken auf einem Mooslager vor Gugu in dessen großzügiger Wohnhöhle. Der mächtige Eulerich kratzt sich bedächtig mit dem Schnabel unter dem rechten Flügel und starrt dann weiter wortlos auf den gebrochenen kleinen Wolfmorf.

Nach einigen Minuten des Schweigens schaut Iggy zu Gugu auf: »Ich verstehe das alles nicht. Was habe ich falsch gemacht? Habe ich die Müützel Monotones nicht erst zu dem gemacht, was sie waren? Den Fackelträgern des klassischen Forest Doom? Und war ich nicht immer ein geduldiger musikalischer Mentor für die Jungs? Womit habe ich das verdient?«

Gugu räuspert sich leise, öffnet seinen Schnabel, zögert, raschelt mit seinen Schwingen, räuspert sich wieder. »Naja, Iggy, ob ihr wirklich die Fackelträger des klassischen Forest Doom wart, das mögen die entscheiden, die zu diesem Urteil berufen sind. Ob du ein guter Mentor warst, das können nur Bapf, Johnny-Bo und Sichssss-P sagen. Und ob du ein geduldiger Mentor warst? Iggy. Lieber Iggy. Ich möchte nicht unsensibel erscheinen, aber du schuldest mir noch immer 230 Kröten aus dem Darlehen, das ich dir für die Renovierung des letzten Proberaums am Pinken Teich gewährt habe. Wobei mir auch immer noch folgende Punkte nicht gelöst erscheinen: 1. Warum hast du darauf bestanden, den Proberaum ausgerechnet am Pinken Teich einzurichten, direkt gegenüber der Pink-Wing-Libellenpop-Arena? 2. Ich bin immer noch nicht überzeugt davon, dass ein nagelneues, astreines, grundsolides Sopran-Blip schon kaputtgeht, wenn man es – ich zitiere – »den Jungs mal so vorspielt, wie es sich gehört«. Und schließlich 3. Wie um alles in der Welt hast du es geschafft, eine doppelt-geeichelte Eichentür alleine aus den Angeln zu heben? Iggy, du bist ein Wolfmorf. In euch stecken vielleicht manchmal ungeahnte Kräfte, aber nicht einmal Bapf hätte das alleine geschafft!«

Gugu macht eine lange Pause und richtet, während er umständlich sein Gefieder ordnet, wieder seinen starren Bernsteinblick auf Iggy. »Lass die Jungs sich erst mal austoben. Du wirst sehen, die kommen reumütig zu dir zurück. Die Konkurrenz ist eh zu groß. Ein kleines Waldvögelein hat mir gezwitschert, dass niemand Geringeres als die Prasselnden Rassel-Asseln es in diesem Jahr mit einer Single-Auskopplung bei Funky Forest Doom probieren wollen.«

Iggy schaut ungläubig zu dem großen Eulerich auf. »Die Prasselnden Rassel-Asseln? Ach komm. Ich verstehe ja nichts von …« (Ein Ausdruck unaussprechlichen Ekels tritt auf seine Züge, und er malt mit seinen Schaufelpfoten Anführungszeichen in die Luft.) »… Funky Forest Doom, aber wie wollen …« (Wieder Anführungszeichen.) »… PRA das denn bitte machen? Aus einem Baumriesen macht man keine Blumenwiese, indem man Blumen draufmalt. Die Prasselnden Rassel-Asseln spielen die härteste, steinigste, gerölligste und kälteste Interpretation von Forest Doom, die überhaupt nur denkbar ist! Eigentlich ist das schon Mountain Doom. Da kann man gar keinen Funk draus machen. Geht nicht.«

Gugu seufzt und raschelt mit seinem Gefieder. »Wie dem auch sei. Wie willst du jetzt weiter vorgehen? Ziehst du deine Anmeldung für den Wettbewerb zurück? Wirst du versuchen, dir Ersatzmusiker zu suchen? Oder willst du vielleicht sogar solo auftreten?«

»Ach, das ist doch alles zwecklos. Es sind noch zehn Tage bis zum Contest. Schon jetzt wäre die Vorbereitung mit diesen drei jungen Wirrköpfen sehr knapp gewesen. Wenn wir uns gegen die Zusammenstürzenden Baumriesen und Las and the Forest Five hätten durchsetzen wollen, hätten wir die zehn Tage komplett durcharbeiten müssen. Schau, drei Runden, drei Lieder: ›Smoking The Leaf‹ steckt interpretatorisch noch völlig in den Kinderschuhen. Bapf hadert immer noch mit seinem Part in ›What Is Wrong With Tossing Trees‹, und Johnny-Bo scheint es schier unmöglich zu sein (und zwar bei allen drei Songs!), den Unterschied zwischen einem klassischen Forest-Doom-Needle-Ground-Riff und einem einfachen Doo-Whap zu verstehen. Es ist einfach unmöglich. Ich werde die Anmeldung zurückziehen müssen. Ich werde das Gespött des gesamten Waldes sein. Die Libellenpresse wird über mich herfallen, und schon nach dem letzten Contest habe ich Wochen gebraucht, um die Schmierereien von meinem Baumhaus abzuwaschen: ›Iggy und die Zusammenstürzenden Baumhäuser‹. ›3 Runden, 3 Lieder, 3 Fans‹. ›Zuhörer: geschüttelt, nicht gerührt‹. Warum. Warum?«

Schluchzend bedeckt er das Gesicht mit den Schaufelpfoten.

 

Gugu hat die Augen geschlossen und rührt sich nicht. Erst als Iggys Schniefen ein wenig leiser wird, öffnet er sie wieder. »Ich finde, du solltest die Anmeldung noch nicht zurückziehen. Ich weiß, wie viel dir der Band Contest bedeutet. Ihr sturen Wolfmorfe seid nicht gerade bekannt dafür, schnell aufzugeben. Und ich muss dir sagen, ich wäre ehrlich enttäuscht, wenn du gerade jetzt aus deiner Art fallen würdest.«

Die letzten Worte waren streng, aber spürbar liebevoll gesprochen. Iggy hebt den Kopf ein wenig, in seinen großen, dunklen, tränenvernebelten Knopfaugen spiegelt sich Widerwillen, aber doch auch der sehnliche Wunsch nach einem Fünkchen Hoffnung.

»Du hast noch zehn, nein, seien wir ehrlich, neun Tage, um dich auf den 237. Rocking the Forest Band Contest vorzubereiten oder zumindest nüchtern und mit klarem Kopf …« (Iggy wirft dem großen Eulerich einen etwas betretenen Blick zu.) »… eine Entscheidung zu treffen. Du bist Iggy ›der Frosch‹ Wolfmorf.« (Jetzt wirft Iggy dem großen Eulerich einen etwas irritierten Blick zu.) »Nein, warte mal, du warst Iggy ›der Frosch‹ Wolfmorf, bevor du Iggy ›der Vollmorf‹ Wolfmorf wurdest.« (Jetzt wirft Iggy dem großen Eulerich einen ziemlich bösen Blick zu.) »Nein, pass auf, das wurde ja vor Gericht geregelt, nachdem das passierte, warst du erst mal, nein, das war ja jemand anders …«

Der Eulerich sieht so peinlich berührt aus, wie eines der majestätischsten Wesen des Müützelwaldes nur peinlich berührt aussehen kann, und kratzt sich nervös mit dem Schnabel auf dem Rücken. »Ach, bitte entschuldige, ich war mit den Gedanken woanders.«

Er räuspert sich und hebt von neuem an zu sprechen: »Du bist – oder du warst, je nachdem, auf welchen Standpunkt man sich stellt und ob man die gute Milva vom Müützel Music Magnet nun mag oder nicht – Iggy ›Keeper of Doom‹ Wolfmorf. Und du wirst entweder obsiegen oder geschlagen, aber mit hocherhobenem Kopf von der Bühne gehen.«

Iggy sieht immer noch recht skeptisch drein, aber scheint doch wieder ein wenig besänftigt. »Ja, du hast ja recht«, seufzt er. »Aber was soll ich jetzt tun?«

»Ich sag dir was: Mach dich auf die Suche nach Blubb der Pfütze. Blubb war schon ein Großmeister des Forest Doom im Ruhestand, als ich noch an meinen Eierschalen herumgenagt habe. Er führt heute ein zurückgezogenes Leben, und viele haben ihn bereits vergessen, obwohl das eigentlich kaum möglich ist. Niemand weiß so viel über Forest Doom wie er. Er empfängt nicht gerne Besuch, aber er schuldet mir noch etwas. Ich werde ihm ausrichten lassen, dass du kommst.«

Iggys Knopfnase zuckt und rümpft in nervöser Neugier. »Aber … wo finde ich denn Blubb die Pfütze? Wo wohnt er? Was sage ich zu ihm? Und was ist das eigentlich für ein bescheuerter Name?«

»Blubb wohnt am jenseitigen Ufer des Wogenden Pilzmeeres, du weißt ja sicher, wo das ist. Folge der Torffarnschneise bis zu den Riesendrillingen, dann wende dich nach Norden, bis du auf den Maulebach stößt. Folge dem Bach bis zum Hagebeerendickicht; durchquere es, und du stehst am Ufer des Wogenden Pilzmeeres. Überquere es, und dann fragst du dich weiter durch. Was du zu ihm sagen sollst? Na, das wirst du selbst am besten wissen. Vertrau ihm. Wenn einer dir helfen kann, dann Blubb die Pfütze. Und was den Namen angeht: Namen sind Schall und Rauch, das weißt du doch. Du kennst ja die alte Forest-Doom-Weisheit: Traue keinem, der sich Baumriese nennt. Und jetzt geh schon. Du hast einen weiten Weg vor dir.«

»Danke, Gugu, du bist ein echter Freund.«

»Passt schon. Und jetzt hau ab.«

IIINoch 9 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band Contest

Folge der Torffarnschneise

»Okay, Bodo, ich geh dann mal. Ich denke, ich sollte in ein paar Tagen wieder zurück sein. Wäre toll, wenn du mein Baumhaus ein wenig im Blick haben könntest. Nicht, dass die Kriechspinne doch auf die Idee kommt, nach ihrer Sonnenbrille zu suchen, oder der Borkenschroll von gegenüber … Bodo? Bodo … Bodo, würdest du bitte deine Finger von dem Bass-Blip nehmen? Danke.«

»Oh, entschuldige. Wollte nur sehen, wie du dich so organisiert hast. Nur falls mal was wegkommt.«

»Is’ klar, Bodo. Wenn du hier Mist machst, zieh ich dir das Fell über die Ohren. Ich könnte auch versucht sein, mich mal mit der Kriechspinne über dich zu unterhalten.«

»Mach dir keine Sorgen. Wir sind doch Nachbarn.«

»Das ist genau das, was mir Sorgen macht. Also, halt die Ohren fluffig.«

»Du auch, Iggy.«

Und schon ist der Wolfmorf über den Rand des Baumhausbalkons geklettert und auf dem Weg erdwärts.

 

Als Iggy auf dem Waldboden ankommt, rümpft er zunächst ein wenig umher und schnüffelt in die frische Morgenluft. Verzweiflung, Trauer und Wut, die ihn noch gestern erfüllt haben, sind wie weggeblasen.

»Zum Teufel mit diesen drei Dilettanten!«, denkt er sich und rückt den kleinen, aus Weidenruten geflochtenen Rucksack ein wenig zurecht. Ein feiner, anregender Duft dringt daraus hervor: Er rührt von einer sorgfältigen Auswahl gerösteter Nüsse, Wurzelmurzeln und einiger besonders schöner und großer Pruppbeeren. Wolfmorfe können, wenn es darauf ankommt, in jeder denkbaren Situation mit Hilfe ihrer angeborenen Zähigkeit, Ausdauer, Geschicklichkeit und Genügsamkeit überleben. Aber Wolfmorfe würden auch alles daransetzen, dass es nicht zu solch katastrophalen Umständen kommt.

Die Torffarnschneise zieht als breiter Hohlweg an Iggys heimischem Baumriesen vorbei, wobei sie in der Richtung, die er eingeschlagen hat, stetig und gleichmäßig abfällt. An ihren hoch aufragenden Rändern bildet das dick bemooste Wurzelwerk der mächtigen Bäume gewundene und ineinander verschlungene schattige Arkaden. Sie verläuft in sanften Windungen lange in dieselbe Richtung, so dass Iggy ihr mit seinen scharfen Wolfmorfaugen folgen kann, bis sie sich in den sonnendurchtränkten Dunstschwaden des Herbstmorgens verliert.

Frohgemut zieht er los, tappt fröhlich durch die feuchten Blätter in der für Wolfmorfe so typischen unruhigen Mischung aus Trotten, Tänzeln, plötzlichem Ausscheren und, naja, irgendwie unerwarteten und ziemlich sinnlosen kurzen Sprints.

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Huhu. Na Sie? Ja, genau Sie. Tjaha, überrascht? Gestatten, der Autor. Höchstselbst. Passiert Ihnen nicht oft, was? Ja, denke ich mir. Wissen Sie, das Ding ist doch: Wenn man ein Werk vollendet hat, dann überkommt einen eine gewisse Leere. Das, worauf man so lange hingearbeitet hat, ist endlich da: Man hat mit einem heiligen Schauer der Freude, Rührung und Erleichterung das letzte Wort, den letzten Punkt gesetzt, und jetzt liegt es vor einem, neu, aber irgendwie doch gleichzeitig schon sehr alt. Denn das Buch ist wie ein Kind, das groß geworden ist und das Haus verlassen hat: Man hat getan, was man konnte, man kann – hoffentlich – zufrieden und dankbar sein, und im Herzen haben wird man es ohnehin immer. Aber trotzdem gehört es jetzt auch immer zu einem Teil nur noch sich selbst. Also, Sie ahnen es schon – mir ist ein bisschen langweilig. Keine Sorge, ich werde Sie schon weiterlesen lassen, dazu ist der ganze Zinnober ja schließlich da. Denn es interessiert mich natürlich brennend, was Sie jetzt mit meinem Opus magnum so anstellen, Sie in Ihrem harten Metal-Outfit mit den putzigen Lesepuschelpantoffeln. Deswegen brauchen Sie gar nicht zu glauben, dass Sie hier einfach so tranig runterlesen können, ich beobachte Sie genau! Ich habe nämlich einen teuflischen Plan ausgeheckt: Ich werde Ihr literarischer böser Geist sein. Der Geist, der stets verneint, wenn Sie das Buch weglegen wollen. Der Geist, den Sie gerufen haben, wenn die neun Euro neunundneunzig Taschenbuchpreis Sie wurmen. Das Gespenst der guten Literatur, gegen den sich alle Mächte des alten, literarischen Europas zu einer heiligen Hetzjagd verbündet haben. Und wenn die letzten Freudentränen über dieses endgültige Meisterwerk vergossen sind, werde ich wie der Geist Gottes über den Wassern schweben und Sie danach fragen, ob Sie alle vorherigen vier Anspielungen korrekt zuordnen konnten. Machen Sie es sich deshalb nicht allzu gemütlich in Ihrem Sessel, den Sie – übrigens – auch mal wieder von den Tempos in den Ritzen befreien könnten. Also, ich melde mich dann an geeigneter Stelle wieder. Das kann schon sehr bald oder auch nie passieren. Bis dann, wir lesen uns.

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Von Pauken und Käfern

Nachdem Iggy so für einige Stunden (Wolfmorfe können recht ausdauernd sein, wenn sie das wollen) der Torffarnschneise gefolgt ist, entschließt er sich zu einer kurzen Pause. Er wendet sich nach links, wo die Mittagssonne einen großen Stein am Rand der Schneise bescheint, dessen flache Oberseite eine gute Aussicht verspricht.

Zu Beginn seiner Reise waren ihm allerlei Bekannte begegnet, aber während der letzten zwei Stunden war der Wolfmorf, von einer kurzen Plauderei mit Bille der Brachmöwe abgesehen, allein unterwegs gewesen. Das war ihm auch ganz recht so, hat ihm die Wanderung entlang des Grundes der Torffarnschneise doch die Gelegenheit gegeben, seinen Kater endgültig hinter sich zu lassen, die Gedanken ein wenig zu ordnen und mit kühlerem Kopf über die Ereignisse des gestrigen Tages nachzusinnen.

Was war er doch nur für ein verheulter Schwachkopf gewesen! Gugu hatte völlig recht: Er würde sich nicht so einfach von ein paar grünen Jungs, die kaum ihre Instrumente halten können, unterkriegen lassen. Er ist immer noch (und die Schmierfinken von Waldgeräusche können sich auf den Kopf stellen und mit den Pfoten wackeln) Iggy »Keeper of Doom« Wolfmorf. Er macht die Musik, und niemand anders.

Nun steht er vor dem Stein, der ihn um ein Vielfaches überragt. Beherzt springt er an der glatten Oberfläche empor und erklettert behände die steile Wand, indem seine kleinen Schaufelpfoten jede noch so kleine Unebenheit ausnutzen, um daran Halt zu finden. Mit Schwung setzt er über den Rand auf die flache Oberseite des Steins – und prallt mit einem spitzen Schrei zurück.

Majestätisch thront vor ihm in der Mitte der dachbalkonartigen Oberseite ein Käfer. An seinen kräftigen Ärmchen, von denen sich immer jeweils zwei in ständiger rhythmischer Bewegung auf seinem kreisrunden Bauch befinden, ist er unschwer als Paukenkäfer zu erkennen. Der große Trommelbauch schimmert in einem kräftigen Smaragdgrün, die zusammengefalteten Flügel dagegen in den unterschiedlichsten Bronzetönen. Die kräftigen Fühler befinden sich ebenfalls immer in neugieriger Bewegung und richten sich nun dem Neuankömmling entgegen.

»Hören Sie, guter Mann, ich will doch sehr hoffen, dass Sie nicht immer, und hier nur ausnahmsweise, die wohlverdiente Mittagsruhe eines Musikers in so impertinenter Art und Weise stören. Hat man Ihnen denn in Ihrem unaufgeräumten Teil dieses ansonsten so bezaubernden Waldes überhaupt keinen Benimm beigebracht?«

»Ich, äh, ’tschuldigung, Mann, ich dachte, dieser Stein wäre …«

»Stein? Stein!? Sie nennen das hier einen Stein? Dieses Monument des symphonischen Waldmurmelns? Diesen mystischen Tempel der Waldklassik? Diese heilige Geburtsstätte ewiger Musik? Stein?? Stein?!? Das hier ist – WALDHALL!«

O Scheiße, denkt Iggy. Ein klassischer Musiker.

 

Der Paukenkäfer ist jetzt richtig in Fahrt. Während er sich mehr und mehr in Rage redet und seine sonore Stimme dabei zunehmend eine hysterische Färbung annimmt, trommelt er auf seinem Bauch ein aufgeregtes, rhythmisch verwirrendes Staccato.

»Guter Mann, ich weiß ja, dass es mit Kultur in diesem Wald seit vielen Jahren nicht mehr weit her ist. Der Müützelwald war einst, vor vielen Jahren, ein Hort der Kultur. Manche sagen, hier sei die Musik selbst entstanden, als das erste fallende Blatt, auf einem zarten Windhauch dahingleitend, das erste melodiöse Rascheln von sich gab. Ja, mein Herr, ich weiß, dass diese Zeiten längst vorbei sind. Ja, und ich weiß auch, dass ich und meinesgleichen, die sich nicht dafür schämen, sich um Werte wie Geschmack, Disziplin, künstlerische Tiefe und musikalische Konzeption zu scheren, inmitten des kulturellen Morasts, der uns in diesem verfaulenden Forst umgibt, seit vielen Jahren ins Hintertreffen geraten sind. Aber, mein Herr, und merken Sie wohl auf, noch immer gibt es im Müützelwald Orte wie diesen, wo der Musik gefrönt wird, und ich meine damit nicht jedes unmotivierte Trommeln eines Borkenschrolls auf einer kürzlich ausgeschiedenen Nussschale, was in diesem Wald gemeinhin auch als Musik durchzugehen pflegt. Dies hier, mein Herr, ist Waldhall! Hier habe ich, Kroptok der Paukenkäfer, die Anemonenserenade geschrieben; hier, in Waldhall, habe ich, Kroptok der Paukenkäfer, die ulmharmonische Verschiebung erdacht; und hier, von diesem Stein herunter, habe ich die Symphonie der Zehntausend Frühlingsblüten dirigiert, zu einer Zeit, als Sie, mein Herr, noch nicht einmal den Weg aus Ihrem felligen Ei gefunden hatten!«

Es folgen mehrere Minuten der Stille, in denen Iggy in einer Art Schamstarre gefangen ist, während der mächtige Paukenkäfer streng auf ihn herunterblickt.

»Entschuldigen Sie bitte, ich wusste nicht … ich dachte … ich wollte eigentlich nur … ich sollte wohl gehen.«

Ein schwerer, dramatischer Seufzer und ein irdenes Klappern lassen Iggy scheu aufblicken. Er blickt – in eine große, dampfende Teetasse.

»Ach, schon gut. Tee? Soeben frisch aufgebrüht. Pruppbeere, mit einem Hauch Zitrone. Kommen nicht viele Besucher nach Waldhall, und Wolfmorfe schon gar nicht.«

Mechanisch kauert sich Iggy auf dem glatten Stein zusammen, umklammert zitternd, aber dankbar die große Teetasse und rümpft neugierig in den aromatischen Dampf.

»Willst du dich nicht endlich mal vorstellen?«

»Iggy. Iggy Wolfmorf.«

»Iggy? Aber nicht Iggy ›Keeper of Doom‹ Wolfmorf?«

»Ich … du kennst mich? Woher …«

Aber der Paukenkäfer lässt ihn nicht ausreden. »Natürlich bist du Iggy ›Keeper of Doom‹ Wolfmorf! Sag, wie geht’s Gugu dem Eulerich? Hast du ihn kürzlich mal wieder gesehen?«

»Du kennst Gugu?«

»Na klar kenne ich Gugu. Hör mal, wer kennt Gugu denn nicht? Junger Freund, ich bin schon so lange im Musikgeschäft, ich habe Forest Doom kommen sehen, und ich werde ihn auch wieder gehen sehen, mach dir da mal gar nix vor. Und glaub ja nicht, dass Gugu sein ganzes Leben nur mit dem Coaching dilettierender Waldbodenbands verbracht hat.«

»Wir sind aber keine …!«

»Ich weiß, was du bist und was du nicht bist, Iggy Wolfmorf. Im Gegensatz zu vielem, was in diesem Wald herumkraucht, bist du ein Musiker. Ich kenne dich und deine Musik gut. Wenn du so willst, kenne ich dich sogar besser als du dich selbst. Und wenn ich noch weiter gehen wollte, könnte ich sogar sagen, dass ich auch ein bisschen du bin. Siehst du diesen Paukenbauch? Ich gebe zu, ich bin mittlerweile ein wenig zerhauen, und ich war rhythmisch schon einmal präziser als heute. Aber was glaubst du, wer die Drums bei den Dicken Ricks gespielt hat? Hm?«

»Du hast bei den Dicken Ricks gespielt? Aber du bist doch …«

»Ein Klassiker. Na und? Glaubst du, Forest Doom gehört dir allein? In deiner Musik steckt so viel von meiner, dass du eigentlich gar nicht mehr auftreten dürftest. Und ich bin, wie gesagt, mittlerweile etwas zerhauen und außerdem auch etwas eingerostet, aber das hier kriege ich immer noch hin!«

Plötzlich setzt ein fürchterlicher Höllenlärm ein, so dass Iggy vor Schreck die Hälfte seines Tees verschüttet. Kroptoks acht Arme haben sich in eine wirbelnde Wolke aus härtesten Schlagwerkzeugen verwandelt, mit denen er seinen Paukenbauch zum Dröhnen bringt. Ein harter, rasender, klassischer Forest-Doom-Needle-Ground-Rhythmus bringt den großen Stein zum Vibrieren. Ein Schwarm Waldvögel erhebt sich kreischend aus dem Unterholz und bringt sich in Sicherheit. Unbarmherzig treibt Kroptok den Rhythmus voran, zwei, drei, vier Nebenrhythmen flechten sich in verwirrenden Patterns wie mit Meißelschlägen hinein. Iggy klammert sich mit den Schaufelpfötchen instinktiv am Steinboden fest, obwohl Waldhall so fest im Boden verankert ist wie eh und je. Sein kleines Herz schlägt ihm dumpf bis zum Hals – aber es ist nicht nur sein Herz: Unter das wirbelnde Lärmen hat sich ein pulsierendes Wummern geschoben, dessen sich stetig steigernde Intensität die Haare des Wolfmorfs zu Berge stehen lässt: Mountain Doom. Nur wenige können heute noch diese urtümliche Kraft erzeugen, die direkt aus dem tiefen Fels unter den tiefsten Wurzeln der Baumriesen zu kommen scheint. Und immer noch steigert sich das dröhnende Wummern, bis es Iggys Gedanken wie mit einer himmelhohen Eisenmauer umschließt und alles Licht aussperrt.

 

Der kleine Wolfmorf umklammert noch immer zitternd und mit glasig-starrem Blick die Scherben seiner Tasse, als Kroptok der Paukenkäfer schon längst den verschütteten Tee weggewischt und neuen aufgesetzt hat. Während der Käfer geduldig wartet, bis Iggy langsam wieder zu sich kommt, trommelt er mit einer Hand einen leisen, beruhigenden Rhythmus.

»Na? Beeindruckt?«, fragt er grinsend.

»Tatsache«, haucht Iggy. »Ich …«

»Sag nix. Ich weiß, dass ich gut bin. Oder, naja, gut war. Ich bin leider nur noch ein Schatten meiner selbst. Aber Freude macht mir Forest Doom noch immer.« Kroptok massiert sich selbstzufrieden die Handgelenke, was bei acht Ärmchen an sich schon ein recht beeindruckendes Schauspiel ist. »Aber nachdem ich jetzt genug angegeben habe, erzähl mir mal, was Iggy Wolfmorf an Waldhall vorbeiführt.«

Der lässt sich das nicht zweimal sagen, und nach wenigen Minuten sind Iggy und Kroptok über dampfenden Teetassen ins Gespräch vertieft. Noch nie hat jemand einem Wolfmorf vorgeworfen, sich mit dem Wesentlichen zufriedenzugeben, und so dämmert bereits der Herbstabend, als Iggy unter Kroptoks mehr oder weniger hilfreichen Kommentaren mit seiner Erzählung zum Ende gekommen ist.

»Ich sehe, du hast einen weiten Weg vor dir. Aber Gugu hat wie immer recht: Wenn es um einen guten Rat geht, bist du bei Blubb der Pfütze bestens aufgehoben. Mehr kann ich dazu eigentlich nicht sagen. Außer diesem: Sei unbesorgt. Gute Musik ist ewig. Schlechte Musik ist vergänglich. Und wenn du Hilfe brauchst, dann steht dir Waldhall immer offen.«

»Danke, Kroptok, das werde ich nicht vergessen. Ich sollte jetzt wohl langsam gehen, es ist schon spät. Und danke auch für den Tee.«

»Gern geschehen. Ich würde dich einladen, hier auf Waldhall die Nacht zu verbringen, aber ich weiß, dass Wolfmorfe ungern auf Steinen nächtigen. Aber ich möchte dir trotzdem noch etwas mit auf den Weg geben, was vielleicht ebenso gut ist wie ein warmes Wolfmorf-Moosnest zur Nacht. Hör zu.«

Kroptok bedeutet Iggy mit einer Handbewegung, auf dem hinteren Teil des großen Steines, mit dem Rücken zur nun im Dunkeln schwarz aufragenden Wand der Senke Platz zu nehmen. Während Iggy sich auf seinen Hinterpfoten erwartungsvoll zusammenkauert, lockert und massiert der Paukenkäfer mit sanften Streichbewegungen seine Hände und Ärmchen und verharrt dann schweigend, die Arme gesenkt, auf seinem Platz. Schließlich gibt er einen leisen, anschwellenden Pfeifton von sich, der aber nach kurzer Zeit wieder in der kühlen Nachtluft erstirbt.

 

Rings um Waldhall ist völlige Stille eingekehrt. Iggy wagt kaum zu atmen, während Bäume, Pflanzen und Wesen in erwartungsvollem Schweigen verharren. Schließlich hebt Kroptok langsam seine Ärmchen, und aus der Dunkelheit erscheinen über dem Rand des Steines kleine Lichter, schwach zuerst, dann immer heller leuchtend. In gleichmäßigen Bahnen aufgereiht steigen sie empor, wie funkelnde, goldweiße Edelsteine auf einem schwarzen Vorhangstoff emporgezogen, und erfüllen Stein und Schneise mit einem warmen, zarten Leuchten. Ein leises Klingen setzt ein, ein einziger, gleichmäßiger, reiner Ton, wie von einer und vielen Stimmen gleichzeitig. Bald setzen weitere Stimmen ein, mit einem ähnlich feinen, klingenden Ton, und je polyphoner der Gesang, desto wogender wird das zuerst so gleichmäßige Bild des leuchtenden Lichterteppichs. Auf und ab schwillt das Klingen, in beruhigenden Wellen ziehen die feinen Melodien ihre Kreise, in denen immer mehr Einzelstimmen erkennbar werden, die sich durchziehen, sich zusammenführen, wieder auseinanderstreben, aber dennoch in einem harmonischen Wirbel miteinander tanzen. Die Lichter haben nun ihr gleichmäßiges Muster verlassen und sich zu tanzenden, wogenden Wirbeln und Wellen verbunden, die den Stein, Iggy und Kroptop umspielen.

Atemlos, mit großen Augen verfolgt der Wolfmorf das Spiel der kleinen Glühkäfer (denn darum handelt es sich). Mal verfällt er selbst in ein leises Summen, wenn eine Melodie ihn umspielt, mal streckt er träumerisch eine Pfote aus und lässt einen kleinen Wirbel aus Käfern nur für sich tanzen. Schließlich vereinigen sich alle zu einem einzigen großen Wirbel aus Licht, in dessen Mitte ein Einzelner – der Kleinste von ihnen – Platz genommen hat. Leiser und leiser wird der Gesang des Käferchores, während sich gleichzeitig das zarte, reine Stimmchen des winzigen Artgenossen über die Musik erhebt und einen wortlosen, zugleich klagenden und hoffnungsfrohen Gesang anstimmt. Iggy kann nicht sagen, wie lange das Käferchen so gesungen hat, begleitet vom wogenden, pulsierenden Reigen der anderen. Leiser und leiser wird schließlich sein Gesang, und mit dem letzten Ersterben seines Stimmchens erlöschen auch die Lichter der anderen Käfer, bis nur noch samtige Dunkelheit und die dankbare Stille des Waldes zurückbleiben.

Später, viel später tappt Iggy durch das Dunkel die Torffarnschneise entlang, und der Gesang der Glühkäfer ist auch dann noch in ihm, als er schon längst, unter einer schützenden Wurzel zusammengerollt, in tiefen Schlaf gefallen ist.

IVNoch 8 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band Contest

Riesendrillinge voraus!

Erfrischt kriecht Iggy des Morgens aus seiner Wurzelhöhle. Es ist ihm, als habe er zwei Tage am Stück tief und fest geschlafen, in den Schlaf gesummt von den Glühkäfern und beruhigend umtanzt von ihren Melodien. Er rümpft nach Art der Wolfmorfe in die würzige Luft, als er ein kaum hörbares Klingen vernimmt. Einige winzige goldene Noten haben sich in sein Fell verirrt; vorsichtig und liebevoll lässt er sie auf seinen Finger und von seinem Finger schließlich in das taufeuchte Gras hoppeln, wo sie flink und mit einem letzten zarten Bimmeln zwischen einer Gruppe prächtiger Morcheln verschwinden.

»Folge der Torffarnschneise bis zu den Riesendrillingen, dann wende dich nach Norden, bis du auf den Maulebach stößt«, so hat es Gugu gesagt.

Bis zu den Riesendrillingen ist es nicht mehr weit, das weiß er. Er frühstückt ein paar Nüsse und eine Wurzel-Murzel aus seinem Rucksack und genehmigt sich ein paar Schlucke frischen Taus aus einer der in der Torffarnschneise so häufigen Kelchmoosblüten.

Die Luft ist kalt und klar, milchiger Herbstsonnenschein fällt blitzend durch die Zweige, und so trabt Iggy frohgemut die Torffarnschneise hinab. Neugierig späht er durch die dichten Wipfel voraus, und schon nach kurzer Zeit kann er sie tatsächlich sehen: die Riesendrillinge, die vor ihm zwischen und über den Wipfeln erkennbar werden. Drei gewaltige, zusammenstehende Baumriesen sind es, die die umstehenden Baumkronen weit überragen. In mehreren übereinandergeschichteten Ebenen winden sich ihre Blätterdächer pagodenartig in die Höhe und verbinden sich an der Spitze zu einem weiten, auseinanderstrebenden Blätterdach, das seine Zweige wie beschützend über die umliegenden Bäume breitet. Höher und höher ragen die Riesendrillinge vor dem Wanderer auf, die Baumriesen, die die Torffarnschneise überdachen, scheinen zusehends zu schrumpfen, während Iggy, wie von unsichtbarer Hand gezogen, immer schneller läuft und bald in einen aufgeregten Trab verfällt, als plötzlich …

Wenn’s einem plötzlich mulmig wird

»He! Sag mal, kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst?«

Iggy prallt zurück, als wäre er gegen eine Wand gelaufen, versucht hektisch, mit den Schaufelpfötchen das unsichtbare Hindernis wegzuwischen, stolpert rücklings über eine kleine Wurzel und sitzt im nächsten Augenblick auf seinem Allerwertesten, in den sich sofort ein unangenehm spitzer Stein bohrt. Er windet sich, keuchend. Sterne tanzen ihm vor den Augen. Als der Schmerz ein wenig nachgelassen hat, blickt er sich um.

Ihm ist, als sei er plötzlich gegen ein aufrechtes, durchsichtiges Hindernis gestoßen, oder vielmehr in es hineingefallen, wie in eine unsichtbare Wand aus Wasser. Irritiert rümpft er in die Richtung des seltsamen Hindernisses, und als die verschiedenen, aufregenden Gerüche des Waldes durch seine Nase strömen, drängt sich ihm eine Erkenntnis langsam, aber doch unaufhaltsam auf: Er ist auf eine unüberwindbare Wand aus, naja, »Mulmigkeit« gestoßen: das intensive Gefühl, dass etwas nicht stimmt, der Geruch von namenlosen Gefahren, bedrohlich Unerkennbarem. Eine unsichtbare Suppe aus Gefühlen und Bildern, mit Zutaten wie dem muffigen Wildgeruch eines Fuchses, der Schimmeligkeit einer dunklen, unerforschten Höhle, dem Gestank von Angstschweiß und dem unhörbaren Geräusch eines Baumes, der plötzlich fallen wird.

Iggy hat sich kaum an den Gedanken gewöhnt, dass ihm gerade wirklich mulmig ist, als er wieder diese seltsame, körperlose, aber ungemein durchdringende und tatsächlich mulmige Stimme hört: »Ich weiß ja, dass ihr Festen eure Köpfe immer sonstwo habt, aber hätte dir nicht ein wenig früher auffallen können, dass dir mulmig wird?«

»Ich …«

»Du weißt doch genau, dass es hier Mulme gibt, dann achte doch ein wenig darauf, wie mulmig dir gerade ist, und halte ein bisschen die Nase auf.«

Nun regt sich in Iggy aber doch der plötzlich aufflammende Wolfmorf-Zorn, der gleichermaßen von himmelschreiender Ungerechtigkeit wie von einer überhöhten Kneipenrechnung entzündet werden kann.

»Hör mal, ich weiß immer noch nicht, was du bist, und wusste überhaupt nicht …«

»Und was ist das da?« Der Mulm deutet schroff auf ein großes, an einem schlanken Baum mitten auf dem Grund der Schneise angebrachtes Schild.

Vorsicht! Mulme!

steht darauf in großen schwarzen Lettern geschrieben.

Iggy schaut von dem Schild zu dem unsichtbaren mulmigen Wesen vor ihm und wieder zurück zum Schild. Wie kann es überhaupt sein, dass der Mulm schroff auf dieses Schild deuten konnte? Iggy kann den Mulm doch gar nicht sehen. Aber je länger er darüber nachsinnt, desto mehr wird ihm bewusst, dass der intensive Eindruck von – genau – Mulmigkeit ein Bild in ihm entstehen lässt; ein Bild, das nicht aus Formen und Farben besteht, sondern aus Gerüchen und Gefühlen, das deswegen aber nicht weniger plastisch ist. Und so sieht er bereits das seltsame Wesen vor sich sitzen: eine große, ungefähr zylindrische, oben offene Wand aus Mulmigkeit, über die selbige Mulmigkeit wie in konzentrischen Strömen wellenförmig hin- und herzieht. Lange, schlanke Tentakel gehen da und dort von der Wand ab, wirken aber nicht bedrohlich, sondern scheinen die Kommunikation des Mulmes nur je nach Stimmung zu untermalen.

Ein Schwall Mulmigkeit trifft Iggy im Gesicht, als der Mulm ihn mit der peitschenden Bewegung eines Tentakels an seinen Gesprächspartner erinnert.

»Hast … du … das … Schild … nicht … ge-se-hen?«, raunzt ihn der Mulm an.

»Nein … ich … habe … das … blöde … Schild … nicht … ge-se-hen …«, äfft Iggy den Mulm nach. »Ich bin nicht aus diesem Teil des Waldes, und in meinem Teil des Waldes kann man die Waldbewohner sehen, bevor man sie riechen kann, okay? Naja, meistens. Das ist ja nett, dass ihr hier Schilder aufstellt, um vor den Einheimischen zu warnen, aber hättet ihr vielleicht die Güte, das den Touristen ein wenig eher mitzuteilen? Himmel, was ist das denn für ein Marketingkonzept bei euch?«

Für einen Moment tritt Stille ein, als sich die beiden ungleichen Wesen taxieren. In einer feinen Bewegung beginnt der Mulm sich leicht zusammenzuziehen. Iggy denkt noch darüber nach, was das jetzt nun wieder zu bedeuten hat, als sich der Mulm unvermittelt erhebt und sich mit überraschender Geschwindigkeit auf ihn zubewegt. Die Wand aus Mulmigkeit rast ihm entgegen, und mit einem harten, fast physischen Aufprall trifft sie auf ihn. Ihm wird schwarz vor Augen, und er verliert das Bewusstsein.

 

Als er wieder erwacht, greift er sich unwillkürlich an den Kopf, als habe er einen schweren Schlag bekommen. Dann erinnert er sich, dass er soeben mit einem nichtkörperlichen Wesen zusammengestoßen ist und er somit weder Wunden noch Beulen oder ähnliche Folgen eines echten Aufpralls hätte davontragen können. Er schüttelt sich und schaut sich um. Seine scharfen Wolfmorfsinne haben sich nun endgültig an die ganz eigene Wahrnehmung eines Mulms angepasst. So sieht er nun, dass er im fast kreisrunden Inneren des seltsamen Wesens auf dem Waldboden hockt. Der Innenraum ist mehrere Quadratmeter groß, so dass er bequem einige Schritte in jede Richtung tun könnte. Es ist ihm zwar immer noch recht mulmig zumute, aber in einer Weise, die er alles in allem als erträglich empfindet. Allerdings bleibt ein seltsamer, irritierender Eindruck. Zunächst kann er die Ursache der Irritation nicht genau festmachen. Dann aber wird es ihm bewusst: Er hört Musik! Tatsächlich, im Inneren des Mulms ertönt Musik. Er sieht zwar, dass der Mulm nach oben hin offen ist, aber von außen war nichts zu hören. Er hört nun genauer, mit einer gewissen Anstrengung, hin und erkennt, warum er die Musik zunächst nicht bemerken wollte. Ja, wirklich, das muss es sein: Die Musik ist – seicht. Ganz fürchterlich seicht sogar. Eine banale, dahinplätschernde Melodie, uneinprägsam, aber trotzdem immer präsent, nicht zu laut und nicht zu leise, nicht zu einschläfernd, aber auch nicht zu aufgeregt. Sie ist ziemlich deutlich mit unaufgeregten Instrumenten vertont, mittleren Schilfflöten, ein paar Bachrohrstilzen, mittleren Streichern, nichts Besonderes also.

Bislang lehnte Iggy mit dem Rücken an einem flachen Baumstumpf, nun erhebt er sich aber und setzt sich darauf. Auf dem Baumstumpf liegt ein aufgeschlagenes Buch. Er stutzt und rümpft misstrauisch prüfend über die Seiten. Dann fasst er sich ein Herz, dreht das Buch um und wirft einen Blick auf den Titel: Der Forest Doom – Die Goldenen Jahre 9827–9998 in Text und Bildern. Donnerwetter. Das Buch kennt er ja noch gar nicht! Neugierig legt er es vor sich hin und fängt an zu blättern.

Schon nach kurzer Zeit ist er ganz in die Geschichte des Forest Doom vertieft, sieht, nein, verschlingt die Bilder seiner Heroen, kann ihre Musik förmlich hören: Magag der Erdmorf, der seine grollende, erdige Stimme den Zuhörern so entgegenschicken konnte, dass sie sich unwillkürlich aneinander festhielten, um nicht von der Wand aus tiefer Schwingung hinweggedrückt zu werden. Gim das Maulfier, dessen rasende Geschwindigkeit auf dem Blip nie mehr erreicht worden ist. Sip der Iseltink, dessen Liedtexte bis heute unübersetzbar geblieben sind, aber trotzdem von jedem seiner Zuhörer verstanden werden konnten.

Iggy liest und schaut und liest. Den Wald um ihn herum gibt es nicht mehr. Der Mulm ist vergessen. Die seichte Musik, so stellt sich heraus, ist gar nicht so störend. Ganz im Gegenteil, noch nie hat er sich in einer so angenehmen Leseatmosphäre befunden.

 

Wolfmorfe sind in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Wesen und nicht immer das, was sie bei äußerer Betrachtung zu sein scheinen. Auf den ersten Blick sind sie recht knorzige, knurrige Geschöpfe. Der gemeine Wolfmorf ist leicht reizbar, ungeduldig, unleidig. Er ist meist ein guter Kumpel, aber sprunghaft, mal einsiedlerisch, mal eine geradezu entnervende Partykanone, dann aber mit einem nicht geringen Hang zum schweren Trinken, woraufhin er regelrecht lästig werden kann. Wolfmorfe erzählen gerne Geschichten, lange Geschichten, ausufernde Geschichten, und dann meistens immer dieselbe, immer wieder. Ihre Musikalität ist legendär, aber man hat ihnen noch nie nachgesagt, in Fragen des persönlichen Geschmacks besonders tolerant oder gar nachsichtig zu sein. Wolfmorfe sind alte Geschöpfe, ihr Ursprung liegt in dunkler Vergangenheit begraben, aber das ist Wolfmorfen herzlich egal, denn was kümmern sie ihre Ursprünge, schließlich haben sie höchstwahrscheinlich schon damals gute Musik gemacht, und nur darauf kommt es an. Wolfmorfe leben meistens alleine, sie sind die treuesten Freunde, die man sich vorstellen kann, wobei sie allerdings gerne selber entscheiden, wann man sich auf sie verlassen kann und wann nicht. In Gruppen möchte man Wolfmorfen eher nicht begegnen, denn dann bilden sie im Wesentlichen Banden, die das ruhige, abendliche Bier in der Baumwurzelkneipe durch lautes Geraunze und hemmungsloses Saufen unmöglich machen.

Aber irgendwo in ihrer dunklen Vergangenheit müssen sie auch noch etwas anderes als Vollblutmusiker gewesen sein. Tief in ihnen schlummert ein wacher, misstrauischer Instinkt. Dieser Instinkt ist langmütig. Er war schon immer dort und kann warten. Möglicherweise regt er sich nie und entschwebt zusammen mit dem Morf am Ende seiner Tage unbeachtet in das Andere Erdreich zu den zahllosen musizierenden Seelen toter Wolfmorfe. Aber da ist er immer.

 

Mit einem Ruck schreckt Iggy hoch. Was ist das? Irgendetwas stimmt nicht. Wie eine Ohrfeige schlägt es ihm ins Gesicht: Das Buch ist fort. Dunkelheit umgibt ihn, im Wald draußen ist es Nacht geworden. Und Iggy ist so mulmig zumute, dass der Eindruck drohender Gefahr wie eine Zange an seinen Schläfen liegt. Er kann sich nicht bewegen, er ist eingeschnürt. Der offene Raum im Inneren des Mulmes hat sich eng um ihn geschlossen und quetscht ihn langsam immer weiter zusammen. Er bekommt kaum noch Luft und kann weder Arme noch Beine bewegen. Er spürt, wie sich die Tentakel des Mulms auf seinen Kopf legen und die nunmehr enge Öffnung zum freien Himmel verschließen. Panik, kalte, heiße, lähmende Panik ergreift ihn. Er denkt nicht mehr.

Aber etwas erwacht in dem kleinen Wolfmorf, eine Kraft, die sonst nur in der Musik aus seinem kleinen, pelzigen Körper strömt und jetzt ihre ursprüngliche, urzeitliche Macht entfaltet. Sie hat lange genug geruht und auf genau diesen Moment gewartet. Sie richtet sich in ihm auf, streckt sich, weitet sich, eine Urkraft wie die eines alten Baumes, dessen Wurzeln über Jahre hinweg langsam und beharrlich Stein zum Brechen und zum Weichen bringen.

Nun aber ist keine Zeit für die Beharrlichkeit von Jahren, mit einem glücklichen Ächzen drängt sie zur Freiheit, fühlt die wilde, herrliche, gerechte Wut über ihr Kerkerdasein, und mit einem Triumphschrei bringt sie ihre Ketten zum Bersten, als wären es trockene Zweige.

 

Irritiert bemerkt der Mulm, dass sein vermeintlich wehrloses Opfer so wehrlos nicht ist. Etwas regt sich, das er nicht erwartet hat. Eine unheimliche Kraft wehrt sich gegen seine Umklammerung, spät, zu spät hält der Mulm dagegen, presst seine zylindrischen Körperwände, die er über Stunden hinweg langsam hat fest werden lassen, dem Widerstand entgegen, aber die Kraft hält stand. Sie ist stark, zu stark. Angst, ja Panik ergreift den Mulm, er beginnt zu zittern, die festen, gelierten Wände seines Körpers beginnen sich unter dem Angriff wieder zu verflüssigen und dann körperlos zu werden. In einem letzten Aufbäumen ziehen sich die geheimnisvollen Säfte noch einmal um den Wolfmorf zusammen, aber es ist zu spät: Der Mulm gibt ein hohles Seufzen von sich, als der Morf die Umklammerung durchbricht. Mit einem leichten Sausen verschwindet der Mulm gebrochen und wieder körperlos in der Nacht, und ein dumpfer Aufprall ist zu hören, als Iggy erschöpft auf dem Waldboden zusammenbricht.

Lange, lange später erhebt er sich. Mit letzter Kraft schlurft er ins Unterholz, gräbt mit fahrigen Bewegungen eine Höhlung in das tote Laub, rollt sich darin zusammen, zieht ein Blatt über sich und schläft sofort ein.

VNoch 7 Tage bis zum237. Rocking the Forest Band Contest

Immer Ärger mit den Poppern

Tastende Sonnenstrahlen wecken Iggy in seinem Laubhöhlenversteck. Es ist noch sehr früh, aber er fühlt sich erfrischt und ausgeruht. Er muss geschlafen haben wie ein Toter. Nach und nach dringt die Erinnerung an die Begegnung mit dem Mulm in sein Bewusstsein vor, ihm schaudert. Es ist warm und behaglich in seiner kleinen Laubhöhle, und so gönnt er sich den Luxus, noch ein wenig liegen zu bleiben und im Schutze seiner vorübergehenden Behausung die Ereignisse des vergangenen Tages zu durchdenken.

Von jetzt an aber Vorsicht!, denkt er sich. Ich kann mir keine weiteren Verzögerungen leisten. Ich muss Blubb die Pfütze finden!

Nach einer Weile wühlt er sich aus seinem Versteck und macht sich auf den Weg. Im Wandern frühstückt er ein wenig von den Vorräten aus seinem Rucksack, er ist von drängender Eile erfüllt. Die Luft ist immer noch herbstlich frisch, der Himmel wolkenlos und klar, ein milchiges Licht dringt in breiten Bahnen durch das Blätterdach. Gegen Mittag nähert sich Iggy der großen Lichtung um die Riesendrillinge. Schon von weitem vernimmt er ihre brausende Geschäftigkeit.

Mehrere bedeutende Pfade, die den weiten Müützelwald durchkreuzen, treffen hier zusammen, und so ist die Riesendrillingslichtung seit Wesengedenken ein Ort der Begegnung für die Bewohner des Müützelwaldes: Hier werden Nachrichten aus allen Teilen des Waldes ausgetauscht und weitergetragen, Händler bieten ihre Waren feil, Reisende finden ein Lager für die Nacht, umherziehende Musiker bringen den müden Reisenden Neukomponiertes zu Gehör. Die Lichtung selbst ist ein unübersichtliches, sich stets veränderndes Gewirr von Wesen aller Art, zu Lande, aus dem Wasser und in der Luft: Manche errichten Hütten, Buden und Zelte, andere werfen Erd- oder Laubhügel auf, wieder andere spinnen Netze und Kokons, dazwischen wuseln Waldbewohner, sitzen, stehen, flattern, gleiten, krakeelen, sprechen, singen, grölen, saufen, handeln, feilschen, spielen, schlafen, essen, vögeln, gebären und laichen. Die gewaltigen Stämme der Riesendrillinge in der Mitte der Lichtung sind nicht weniger belebt: Die breiten Äste der drei Bäume bieten Platz für Behausungen und Nester aller Art, manche dauerhaft, manche nur für wenige Tage oder gar nur Stunden angelegt. Bis in die höchsten Bereiche der Bäume ziehen sie sich empor, so dass aus den Riesendrillingen stets ein auf- und abschwellendes Brausen von Stimmen und Geräuschen zu hören ist, während die Äste und Blätter von vielerlei Gestalten durch- und überkrabbelt, umschwirrt und umflogen werden.

Iggy ist schon viele Male hier gewesen, er liebt die Lichtung, fürchtet sie aber auch ein wenig: Sie ist ein faszinierender Ort, von dem er nie genug bekommen kann; die Stimmen und Gerüche kitzeln seine Abenteuerlust und nagen aufreizend an wolfmörfischer Behaglichkeit, stacheln Begehrlichkeiten an, die ein ordentlicher Wolfmorf besser unterdrückt oder in einer Baumwurzelkneipe auslebt. Und so mancher Wolfmorf hat sich schon an Orten wie diesem in gefährliche Händel verwickeln, sich zu Abenteuern hinreißen lassen, die an fernen Orten mit schlechter Musik endeten.